DeutschlandRadio Kultur Literaturredaktion Dorothea Westphal

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Author: Maike Meinhardt
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COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung COPYRIGHT nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden.

DeutschlandRadio – Kultur Literaturredaktion Dorothea Westphal

"Wie der Schatten eines Vogels über dem Herzen" – Zum 100. Geburtstag des japanischen Schriftstellers Yasushi Inoue von Astrid Nettling

Sprecherin Zitatsprecher Zitatsprecherin Jap. Zitatorin (schon aufgenommen) O-Töne/Musik

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Musik (1): Der leere Himmel, Shakuhachi, Track 4, Reibo Nagashi, kurz allein und unter den Zitatorinnen leise stehen lassen

Jap. Zitatorin (1. Text) (Inoue "Herbstanfang" auf Japanisch): Japanischer Text ein Stück allein und gegen Ende mit deutschem Zitatsprecherinnentext überblenden

Zitatsprecherin (Inoue "Herbstanfang"): Als ich mich morgens vom Lager erhob, strich etwas wie der Schatten eines Vogels über mein Herz. Bedeckte mein Herz für eine Sekunde und verschwand. War es ein Lichtes, ein Dunkles, ein Heißes, ein Kaltes? Ich wußte es nicht. Etwas wie der Schatten eines Vogels, und ließ mich den ganzen Tag nicht los.

Musik (1): Der leere Himmel, Shakuhachi, Track 4, Reibo Nagashi, kurz hochziehen und unter Sprecherin ausblenden

Sprecherin: Ein Prosagedicht wie ein japanisches Tuschebild. Mit sparsamen, schwarzen Pinselstrichen auf weißem Grund gemalt – einfach und unergründlich zugleich. Yasushi Inoue war ein Meister solcher Bilder.

O-Ton (1) Manfred Osten: Ich habe Inoue damals kennengelernt in meiner Eigenschaft als Leiter der Kulturabteilung in der deutschen Botschaft. Das war im Jahr 1990. Er war ein

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Mann, ich glaube, er war 83 damals, der sofort auf mich den Eindruck machte eines Mannes, der letztlich ein abgründiges lyrisches Ich war. Also, was er sagte, waren nicht die Worte eines Mannes, der ein Prosaist, ein reiner Prosaist war oder ein Essayist, sondern er rang im Grunde um Bilder.

Sprecherin: Dr. Manfred Osten, früherer Generalsekretär der Alexander von Humboldt Stiftung, erinnert sich an seine Begegnung mit einer der großen literarischen Persönlichkeiten Japans. Inoue – schon sein Name ist Bild und Omen zugleich.

O-Ton (2) Manfred Osten: Der Name Inoue ist bereits ein lyrisches Programm, wenn man so will. Er hat seinen Namen auch mit Sicherheit so verstanden. I ist das Ideogramm für den Brunnen im Japanischen und ue ist die Ortsbestimmung nämlich "über dem Brunnen", no ist der Verbindungspartikel. Dieses lyrische Ich ist ja sehr früh geweckt worden.

Musik (2): Tradition und Avantgarde in Japan, Toshio Hosokawa, Nocturne, Track 4, kurz allein, unter Zitatsprecher stehen lassen und unter Sprecherin runterfahren

Zitatsprecher (Inoue "Augen"): Es muß gewesen sein, als ich sieben war. Daß ich eines klaren, stürmischen Frühlingstages, während mich irgendwer von hinten umfaßte, im Winkel des Gartens in den aufgelassenen Brunnen sah, in den eckigen Schacht, der abwärts in die Tiefe stürzte: bemoostes, altes Steingemäuer, wuchernde Farne,

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schaudernd eisige Luft; und drunten auf dem Grund stand reglos wie ein rostiger Spiegel das Wasser.

Sprecherin: Ein Urerlebnis aus Kindertagen, das Inoue in einem frühen, autobiographischen Prosagedicht mit dem Titel "Augen" schildert – zugleich war es der Augenblick ersten Erwachens, bei dem der Blick des Kindes mehr sah, als Kinderaugen eigentlich zu sehen vermögen.

Musik (2): Tradition und Avantgarde in Japan, Toshio Hosokawa, Nocturne, Track 4, etwas hochziehen und zusammen mit Zitatsprecher ausblenden

Zitatsprecher (Inoue "Augen"): Heute weiß ich: da zum erstenmal beschlich mich etwas, das vieles in meinem Leben bestimmte. Wäre jene eine Sekunde eines Frühlingstages des Kindes nicht gewesen und nicht der Blick hinab in die mit kalten Mörderaugen aufgefüllte Düsternis in der Erde, – womöglich hätte ich, zwanzig Jahre alt, dem Freund die Stirn gespalten, oder ich wäre mit fünfundzwanzig in der Kolonne der Ideologen marschiert, hätte vielleicht mit dreißig mich für die Liebe geopfert, mit fünfunddreißig vor Verzweiflung den Strom des Unabänderlichen überquert oder aber mir mit vierzig in unserer Stadt einen Namen gemacht. Doch es ist anders gekommen.

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Sprecherin: Am 6. Mai 1907 wird Yasushi Inoue als Sohn eines Militärarztes auf der Insel Hokkaido im nördlichen Japan geboren. Schon früh, ab dem Alter von fünf, wächst er getrennt von seinen Eltern und Geschwistern bei der Nebenfrau seines Urgroßvaters auf der Halbinsel Izu südwestlich von Tokyo auf. In der Mittelschule lernt der Vierzehnjährige durch einen Freund die großen Haiku-Gedichte der japanischen Tradition kennen. Er studiert Jura und Literatur und schließt sein Studium mit einer Arbeit über den französischen Dichter Paul Valéry ab. Damit findet die über sieben Generationen reichende Medizinerdynastie seiner Familie ein Ende. Als Dreißigjähriger dient Inoue im japanisch-chinesischen Krieg. Aus gesundheitlichen Gründen nur kurze Zeit – doch lang genug für den Blick hinab in den Brunnen menschlicher Abgründe.

Zitatsprecher (Inoue "Augen"): Einmal nur im nördlichen China am Yung-ting, dem "Ewig-Unwandelbaren", als auf seinen Wellen unirdisch weiß die Sonne flammte, überfiel mich der Rausch des Kampfes, der das Leben für nichts erachtet; sonst bin ich in allem träge geblieben und immer der unbeteiligte Augenzeuge.

O-Ton (3) Manfred Osten: Er hat ja geschildert, dass er früh bereits erkannt hat, dass er letztlich gerettet worden ist durch seine lyrische Begabung. Er ist also derjenige, der ganz früh offenbar darüber nachgedacht hat, dass unter dem dünnen Firnis der Zivilisation in uns so etwas wie eine Rotte von Mördern wohnt, wie es mal Sigmund Freud ausgedrückt hat, derjenige, der sich sehr viel Klarheit verschafft hat über die Widersprüche in uns.

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Sprecherin: 1949 – Inoue ist 42 Jahre alt – erscheint der mit dem angesehen Akutagawa-Preis ausgezeichnete Kurzroman "Der Stierkampf", ein Jahr später seine Erzählung "Das Jagdgewehr", die ihn beide in Japan berühmt machen. Mit der Erzählung wird er gut fünfzehn Jahre später auch bei uns bekannt. In drei Briefen schildert er rückblickend die Geschichte einer Liebe, die in Wirklichkeit eine Geschichte der Einsamkeit ist. Erstmals kommt hier jenes Lebensgefühl zur Sprache, das wie eine Grundbefindlichkeit das gesamte Werk Inoues prägen wird und ihm seine Unverwechselbarkeit wie Modernität verleiht – die abgrundtiefe Einsamkeit des Menschen, die durch den Blick in den Abgrund menschlicher Leidenschaften offenbar wird. Ein Prosagedicht leitet die Erzählung ein. In diesem Gedicht schildert der Ich-Erzähler einen Jäger, dem er zufällig bei einer Bergwanderung begegnet ist und dessen Ausstrahlung ihn seltsam berührt hat.

Musik (3): Der leere Himmel, Shakuhachi, Track 3, Akita Sugagaki, kurz allein und zusammen mit Zitator ausblenden

Zitatsprecher (Inoue "Das Jagdgewehr"): Seit diesem Tag, auf Großstadtbahnhöfen und spät in der Nacht in Amüsierlokalen, überfällt mich unversehens ach, der Wunsch, wie dieser Jäger dahinzugehen, gemächlich, ruhig und kalt. In solchen Augenblicken sehe ich immer, was hinter dem Jäger sich breitet:

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nicht etwa die frühwinterliche Landschaft des Amagi-Bergs, sondern ein verödetes weißes Flussbett. Das schimmernd geputzte Jagdgewehr drückt seine ganze Last tief in Seele und Leib des einsamen Mannes von mittleren Jahren, strahlt eine seltsame, blutbefleckte Schönheit aus, die, wenn das Gewehr auf Lebendes zielt, niemals erscheint.

O-Ton (4) Manfred Osten: Das Gedicht kreist ja vor allem um dieses weiße, leere Flussbett des Sommers, das hinweist auf diese Einsamkeit und Leere, die im Zentrum dieser Erzählung steht. Und es geht darum, dass dieser Mann, der sich da wiedererkennt, Josuke heißt er in der Erzählung, nun dem Verfasser dieses Gedichts drei Briefe zusendet, aus denen die verschiedenen Erinnerungsstufen und Wahrnehmungsstufen dieser Liebe geschildert sind im Rückblick auf eine Liebe, die tragisch geendet ist, eine Liebe, die zu sich findet im Ehebruch dieses Josuke mit einer Frau mit Namen Saiko, die dann Selbstmord begeht.

Sprecherin: Drei Briefe an Josuke – in Wahrheit drei Abschiedsbriefe. Der erste ist von seiner jungen Verwandten Shoko, der Tochter seiner Geliebten. Unmittelbar vor dem Selbstmord ihrer Mutter hatte sie deren Tagebuch gelesen. Verwirrt über das Doppelleben der beiden, das ihr jugendliches Vertrauen in die Erwachsenenwelt erschüttert, bricht sie jeden Kontakt zu ihm ab.

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Zitatsprecherin (Inoue "Das Jagdgewehr"): Lieber Onkel Josuke! Sobald ich über Dich und Mama nachsinne, ist auf einmal um mich alles anders! Weißt Du, daß es außer den über dreißig Farben in einem Farbtuschkasten noch eine weitere, für Menschenaugen sehr wohl sichtbare Farbe gibt – die der Traurigkeit?

Sprecherin: Der zweite Brief ist von seiner Ehefrau Midori, der jüngeren Cousine seiner Geliebten. Von Anfang an war sie über die ungeheure Lebenslüge ihres Mannes und den entsetzlichen Verrat der beiden ihr gegenüber im Bilde. Aus Scham oder Konvention hatte sie geschwiegen, nun trennt sie sich endgültig von ihm.

Zitatsprecherin (Inoue "Das Jagdgewehr"): Ach, wie wertlos ich mir damals vorkam. Es war das tiefe Unterlegenheitsgefühl einer jungverheirateten, zwanzigjährigen Frau, das ein Maler nur in einer 'reinen' Linie zum Ausdruck bringen könnte. Erst sehr viel später habe ich den kühnen Entschluß gefaßt: da Sie mich betrogen haben, werde auch ich Sie fortan betrügen!

Sprecherin: Der dritte schließlich ist der Abschiedsbrief von Saiko. In ihrem letzten Brief spricht sie zum ersten Mal aus, dass sie als Liebende versagt und die leidenschaftliche Liebe Josukes bloß eigennützig genossen hat. Zutiefst verletzt über die Untreue Kadotas, ihres früheren Mannes, hatte sie sich in diese Liebe geflüchtet.

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Musik (4): Tradition und Avantgarde in Japan, Hachidan no shirabe, Track 2, unter Sprecherin bei "In ihrem letzten Brief" leise einblenden und stehen lassen

Jap. Zitatorin (2. Text) (Inoue "Das Jagdgewehr" auf Japanisch): Japanischer Text ein Stück allein und mit deutschem Zitatsprecherinnentext überblenden

Zitatsprecherin (Inoue "Das Jagdgewehr"): Wenn eine Frau am Ende ihres Lebens ruhig ihr Antlitz der Wand des Todes zukehrt, wird da Gott einer Frau, die das Glück, geliebt zu werden, genossen hat, oder einer Frau, die sagen kann, sie habe, obgleich sie dabei nicht glücklich wurde, mit heißem Herzen geliebt, – den ewigen Frieden schenken? Ich werde jetzt unausweichlich als eine Frau bestraft, welche die Qual des Liebens nicht hat ertragen wollen und nur immer nach dem Glück, geliebt zu werden, jagte. Es macht sehr traurig, daß ich nach dreizehn Jahren eines Lebens, das dank Deiner großen Liebe glücklich war, Dir solches schreiben muß.

Musik (4): Tradition und Avantgarde in Japan, Hachidan no shirabe, Track 2, unter Sprecherin ausblenden

Sprecherin: Drei Briefe, in denen Inoue als der Meister einer verhalten distanzierten Sprache, die aber seinen Werken eine um so intensivere Spannung verleiht, die Erosion

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zwischenmenschlicher Beziehungen aufdeckt, deren "schaudernd, eisige Luft" aus dem Brunnenschacht des Lebens aufsteigt, sobald man den Deckel von Konvention, Sprachlosigkeit und Verschweigen beiseite stößt. "Die Hölle, das sind die anderen", heißt es bei Sartre, bei Inoue ist es der kalte Abgrund von Isolation und Verlassenheit, worin jeder mit seinen Empfindungen allein inmitten der anderen steckt.

O-Ton (5) Manfred Osten: Es ist ein Buch, in dem man versteht, dass die Fremdheit zwischen den Geschlechtern in Japan besonders vor dem Horizont einer sehr viel stärker zum Artikulieren und Aussprechen neigenden westlichen Kultur in ein ganz besonderes Einsamkeitsdilemma hineinführt und eine besondere Fremdheit der Personen zueinander, weil sie sich nicht untereinander verständigen, weil der Druck der Konventionen so groß ist. Ich glaube, dass dieses Gefühl der Fremdheit und auch der Selbstentfremdung, letztlich der Begrenztheit der sprachlichen Artikulation, die Sprache selbst ist ja ein Verständigungsmittel, mit dem wir nur sehr geringe Teile des Ganzen unserer Empfindungen artikulieren können, dass alle diese Dinge zusammenschießen in dieser Erzählung und sie deshalb so faszinierend macht für uns hier in Europa. Dieses Gefühl der Fremdheit gehört ja zu dem Lebensgefühl der Moderne, dem französischen Existentialismus, auch dem deutschen.

Sprecherin: Anders jedoch als mit dem heroischen Pathos individueller Freiheit, das der Existentialismus dieser modernen Befindlichkeit entgegenstellt – Sartres "Alles ist erlaubt, wenn Gott nicht existiert. Der Mensch ist frei, der Mensch ist Freiheit" –,

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antwortet Inoue mit einer ganz und gar unheldischen Zurückhaltung auf die Herausforderung der Moderne. Mit einer gewissen asiatischen Distanz auch gegenüber dem westlichen Individualismus, der für die konfuzianisch geprägte Harmonie- und Konsenskultur Japans ohnehin wesensfremd ist. Als jener "unbeteiligte Augenzeuge", der dafür aber um so genauer die Verwerfungen auf dem Grund der menschlichen Seele registriert – unbeteiligt, jedoch niemals gleichgültig.

O-Ton (6) Manfred Osten: Er wirkte auf mich durchaus als der späte Nachfahre einer Arztfamilie, der vermochte, so einen gewissen klinischen Blick auf die Seelenlandschaft des Menschen mit einer enormen Empathie zu verbinden. Also, diese merkwürdige Mischung von Kälte und Begeisterungsfähigkeit, die aber immer distanziert blieb.

Sprecherin: Die Abstammung aus einer Arztfamilie hat sogar einen Bezug zum fernen Deutschland gestiftet. Denn Arzt zu sein, bedeutete in der Meiji-Zeit Ende des 19. Jahrhunderts, die deutsche Sprache – gleichsam das Latein der japanischen Ärzte – zu beherrschen. Eine Selbstverständlichkeit ebenso für seinen Schwiegervater, einen namhaften Anatomen und Anthropologen, der seine zahlreichen Bücher auf deutsch verfasst hat. Aber auch durch seinen ersten Sohn, einen Germanisten, der eine Zeitlang in Deutschland studierte, fühlte sich Inoue mit dem Land verbunden. All dies erzählt der Achtundsiebzigjährige in einem Interview während seines Deutschlandbesuchs im Jahre 1985, wo er in Berlin am "Horizonte-Festival der Weltkulturen China-Indonesien-Japan-Korea" teilnimmt.

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O-Ton (7) Yasushi Inoue: O-Ton unter Sprecherin einblenden, dann kurz allein und unter Sprecherin ausblenden

Sprecherin: Überhaupt war Inoue zeit seines Lebens ein großer Reisender, der gern über den Brunnenrand Japans hinausblickte, das sich im Laufe seiner Geschichte nicht nur einmal von der Außenwelt abgeschottet hatte. Zuletzt in jener über zweihundert Jahre dauernden so genannten Landesabschließung, die 1633 der Shôgun Iemitsu anordnete und die erst im Jahre 1854 unter der Drohung der Kriegsschiffe des amerikanischen Commodore Perry aufgehoben wurde. Was schließlich die Meiji-Zeit einleitete und die Öffnung Japans gegenüber der westlichen Kultur und der Moderne mit sich brachte. Nach Berlin sei er diesmal über Sibirien und Russland gereist, berichtet Inoue weiter. Als Begleiter eines japanischen Fernsehteams, das einen Film über Sibirien gedreht hat, in dem auch ein großer Teil seines historischen Romans "Der Sturm" spielt. Auf einer Fahrt nach Edo, dem heutigen Tokyo, gerät Ende des 18. Jahrhunderts ein japanisches Handelsschiff in Seenot. Für die Besatzung und deren Kapitän beginnt eine jahrelange Odyssee, die sie von den Aleuten quer durch Sibirien und Russland führt.

O-Ton (8) Yasushi Inoue: O-Ton unter Sprecherin einblenden, dann kurz allein und vor Sprecherin ausblenden

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Sprecherin: Eisig ist die Natur, durch die Inoue seinen Protagonisten Kôdayû und seine immer kleiner werdende Schiffsmannschaft irren lässt, eisig das Gefühl der Fremdheit in einem Land, dessen Sprache und Kultur sie nur mühsam erlernen, eisig ist auch die Leere, die sich in einem jeden von ihnen ausbreitet. Denn je tiefer sie sich in dieser Hölle aus Schnee, Kälte und Verlassenheit verlieren, desto tiefer müssen sie auch die Erinnerung an ihre Heimat auf den Grund ihrer Seele versenken. Nach zehn langen Jahren kommen Kôdayû und sein Gefährte Isokichi zurück. Doch was Kôdayû längst ahnt, dass die Bindungen an ihre Herkunft, an Japan, an seine Kultur und Traditionen, dem Druck der Zeit doch nicht standgehalten haben, wird zur traurigen Gewissheit. Endlich zurückgekehrt, sind er und Isokichi einsamer denn je.

Musik (5): Der leere Himmel, Shakuhachi, Track 5, Tsuki no Kyoku, unter Sprecherin bei "Nach zehn langen Jahren" leise einblenden und zusammen mit Zitatsprecher ausblenden

Zitatsprecher (Inoue "Der Sturm"): Während er Frage auf Frage beantwortete ergriff eine stete Mattigkeit mehr und mehr von ihm Besitz, und jedes weitere Wort ließ ihn nur tiefer in eine grenzenlose Schwermut versinken. Irgendwann, als seine Antworten immer knapper und karger geworden waren, hatte Katsuragawa Hoshû die Rolle des Berichterstatters übernommen. Längst achtete Kôdayû nicht mehr auf das, was der Gelehrte erzählte, nur gelegentlich richtete er den Blick auf diesen ständig redenden Menschen, dann schaute er wieder zurück in eine unbestimmte Leere.

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O-Ton (9) Manfred Osten: Gerade "Der Sturm" zeigt die historischen Brechungen des Gedächtnisses, d.h. wo erodiert dieses kulturelle Gedächtnis, wo verbindet es sich noch mit dem alten Gedächtnis? Diese enorme Selbstentfremdung des Menschen mit sich selbst, gleichzeitig diese Kultur der Verschwiegenheit, die zu der japanischen Erinnerungskultur gehört, das alles sind meines Erachtens Dinge, die auch für uns von größter Aktualität sind, weil wir ja heute selber eine Gesellschaft des Vergessens sind, die sehr stark so etwas wie eine Erosion des kulturellen Gedächtnisses erlebt mit der Folge, dass wir zunehmend auf dem Wege sind, bereits Historiker zu sein, wenn wir die Tageszeitung von gestern gelesen haben.

Sprecherin: Denn der Schacht des Vergessens kann bodenlos sein. Tief wie der Brunnen unseres Lebens ist auch der Brunnenschacht der Geschichte. Über dessen Abgrund steht reglos wie jener rostig trübe Wasserspiegel unten auf dem Grund der Bodensatz unserer kulturellen Herkunft und Traditionen, der stets davon bedroht ist, endgültig zu versickern und durch geschichtliche Erosion der Vergessenheit und dem Nichts anheimzufallen. In seinen Romanen "Die Höhlen von Dun-Huang" und "Das Tempeldach" hat Inoue die mitunter vergebliche Anstrengung geschildert, das kulturelle Gedächtnis zu bewahren. "Das Tempeldach" führt zurück in das alte China. Im Jahre 732 reist eine kaiserliche Gesandtschaft bestehend aus politischen Würdenträgern, Gelehrten und Mönchen nach China, um ihre Kenntnisse des chinesischen Verwaltungssystems sowie der buddhistischen Lehre zu vertiefen. Der Aufenthalt der Mönche weitet sich aus auf zwanzig Jahre, in denen Fushô und Gôgyô, der bereits mit einer früheren Gesandtschaft nach China gekommen war, das ungeheure Schrifttum

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des Buddhismus auf Tausende von Schriftrollen kopieren. Als sie endlich nach Japan zurückfahren können, geraten die Schiffe in einen Sturm.

Musik (6): Toshio Hosokawa, Voiceless Voice in Hiroshima, Track 1, bei 0'50 unter Sprecherin etwa bei "Der Aufenthalt" einblenden und unter Zitatsprecher stehen lassen

Zitatsprecher (Inoue "Das Tempeldach"): Fushô sah plötzlich, wie unzählige Schriftrollen ins Meer sanken. Eine nach der anderen fielen sie, als seien sie lebendig, flatternd ins Wasser und verschwanden auf dem Meeresgrund. Dieser Anblick, wie kurz aufeinander eine Rolle nach der anderen ins Meer hinabsank, erweckte den Eindruck von unendlicher und grenzenloser Traurigkeit, das Gefühl eines nie wieder gutzumachenden Verlustes. Und jedesmal hörte er Gôgyô von irgendwoher vor Schmerz laut aufschreien.

Musik (6): Toshio Hosokawa, Voiceless Voice in Hiroshima, Track 1, hochziehen und bei 1'45 ausblenden

O-Ton (10) Manfred Osten: Yasushi Inoue, das übersieht man immer gern, wenn man nur "Das Jagdgewehr" gelesen hat, ist ja der ganz große Meister einer Gedächtniskultur, die immer wieder zurückgreift auf die eigentlichen Wurzeln der japanischen Kultur, nämlich China.

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Sprecherin: Trotzdem ist Inoue kein Traditionalist, der Althergebrachtes bloß konservieren und vor den Zeitläuften der Geschichte abschirmen will. Sein Blick reicht weiter, als bloßer Traditionalismus zu reichen vermag – weiter, da sich Inoue, unwiderruflich geprägt durch die Moderne, dem grundsätzlich offenen Horizont von Geschichte keineswegs verschließt, und er reicht zugleich tiefer bis zu jener unergründlichen Leere, aus der asiatische Weisheit schon seit vielen Jahrhunderten schöpft. Es ist eine Leere, wie sie der weiße, gestaltlose Raum besitzt, der auf den japanischen Tuschebildern die schwarzen Pinselstriche umgibt, oder wie sie den weiten Naturräumen anhaftet, der Wüste, dem Eis, dem Meer oder dem Gebirge, in denen Inoues Protagonisten sich immer wieder verlieren.

Musik (5): Der leere Himmel, Shakuhachi, Track 5, Tsuki no Kyoku nochmals einsetzen Sprecherin: In seinem Roman "Die Eiswand" ist es die schroffe Bergwelt, in der der junge Kosaka und später auch sein Freund Uozu umkommen. Bei einer Wintererstbesteigung des steilen Hodaka-Gebirges reißt das Sicherungsseil der beiden Freunde, und Kosaka stürzt in die Tiefe. Das Seil, Urbild gleichsam für das verlässlich Bindende zwischen den Menschen, wird zum Testfall zwischenmenschlichen Vertrauens. Denn nach seiner Rückkehr gerät Uozu in einen schrecklichen Verdacht. Doch die Verlässlichkeit seines Vorgesetzten Tokiwa, der zu ihm hält, bewahrt Uozu vor dem gesellschaftlichen Absturz. Jedoch nicht vor dem Tod in den Bergen. Der allerdings nicht den jähen, unerklärlichen Schrecken eines Absturzes besitzt, sondern die Klarheit und Ruhe jener

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unergründlichen Leere, vor der sich für Inoue unsere menschlichen Dramen letztendlich abspielen.

Zitatsprecher (Inoue "Die Eiswand"): Überhaupt kein Nebel, funkelndes Mondlicht. 2 Uhr 15. Keine Schmerzen mehr. Mir ist nicht kalt... Es ist ruhig. Unendlich ruhig.

O-Ton (11) Manfred Osten: Es ist ein Eindruck, den ich gleich gewonnen habe, dass er letztlich eine sehr komplexe Persönlichkeit war. Er war einerseits gesellig, höflich, aber andererseits wirkte er eigentümlich scheu. Er sieht die Abgründe, aber er ist in der Lage, sie zu schildern, und dadurch Distanz zu schaffen.

Sprecherin: Inoue ist seinem Namen treu geblieben. Der Schriftsteller, der über den Brunnen des Lebens gebeugt, in die dunklen, unauslotbaren Tiefen menschlichen Daseins blickt. Mitunter klären sie ein wenig auf. Dies ist der Augenblick der Literatur, der Augenblick des Schriftstellers, wo auf dem weißen Grund seines Blatt Papiers Dichtung entsteht. Mit seinen zahlreichen Romanen, Erzählungen sowie den bei uns weniger bekannten Prosagedichten hat Inoue reichlich aus diesem Brunnen geschöpft. Als einer der ganz Großen in der literarischen Welt Japans wurde er vielfach ausgezeichnet, im In- und Ausland mit zahlreichen Orden und Ehrenämtern gewürdigt. Von 1981-85 war er Präsident des japanischen PENZentrums, danach Vizepräsident des Internationalen PEN. Obwohl er immer wieder für den Nobelpreis nominiert wurde, hat er diese Auszeichnung nicht bekommen. Nach Yasunari Kawabata, der 1968 als erster japanischer

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Schriftsteller den Nobelpreis erhielt, war es 1994 Kenzaburô Ôe, der damit geehrt wurde – drei Jahre nach Yasushi Inoues Tod, der am 29. Januar 1991 im Alter von 83 Jahren gestorben ist.

Musik (7): Der leere Himmel, Shakuhachi, Track 2, Kokû Reibo, kurz allein und leise stehen lassen, unter Zitatsprecherin etwas hochziehen und unter O-Ton ganz runterfahren

Sprecherin: Eines der reifsten und bewegendsten Werke Inoues sind drei Erzählungen, die er 1974 unter dem Titel "Meine Mutter" zusammengefasst hat und worin er das Sterben seiner greisen Mutter schildert. Als der "Augenzeuge", der wie stets minuziös genau, aber niemals klinisch kalt, sondern mit Respekt und Liebe den senilen Verfall seiner Mutter beschreibt. Stück für Stück, Vergessen um Vergessen, bei dem langsam sämtliche Erinnerungen ihres Lebens sowie alle ihre menschlichen Beziehungen ausgelöscht werden. Langsam wie stetig fallender Schnee, der die vertrauten Konturen und Farben des Lebens nach und nach mit seiner weißen Leere überdeckt.

Zitatsprecherin (Inoue "Die Schneedecke"): Noch bevor ich etwas sagen konnte, wiederholte sie: "Nun schneit es... eine Schneedecke überall..."

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O-Ton (12) Manfred Osten: Ich kann nur dringend empfehlen, diese japanische Schilderung einer, ich würde das mal nennen, einer Ars Moriendi, der Kunst des Sterbens in einer rapide alternden Gesellschaft, die wir ja selber zu werden drohen, sich einmal genau anzusehen. Das, was bei uns zunehmend in Vergessenheit gerät, nämlich diese große Kunst Inoues, Distanz und Würde und Respekt zu bewahren gegenüber dieser Frau. Das hat eine nahezu erschütternde und für uns hier im Westen und seinen rapiden demographischen Wandel vorbildhafte Funktion, wie er in den zum Teil grotesken Vorgängen sich nie dazu verleiten lässt, dieses als ein Spektakel darzustellen.

Musik (7): Der leere Himmel, Shakuhachi, Track 2, Kokû Reibo, hochziehen und weiter stehen lassen

Jap. Zitatorin (3. Text) (Inoue "Die Schneedecke" auf Japanisch): Japanischer Text ein Stück allein und mit deutschem Zitatsprecherinnentext überblenden

Zitatsprecherin (Inoue "Die Schneedecke"): Möglicherweise hatte sie auch gestern und vorgestern das feine, leise Geräusch des vom Himmel fallenden Schnees vernommen, und vielleicht würde sie auch morgen und übermorgen solche Nächte erleben. Wie einsam sie war! Nun empfand sie das "Leid, von geliebten Menschen Abschied nehmen zu müssen" nicht mehr. Sie lebte in einer Nacht, in der es immerfort schneite, aber Geist und Körper waren bei ihr schon zu sehr im Verfall begriffen, als daß sie sich noch ein

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Drama schaffen und darin eine Rolle spielen konnte. Die Beleuchtung auf der Bühne war nun erloschen, die glitzernden Ausstattungstücke hatte die Dunkelheit aufgeschluckt.

Musik (7): Der leere Himmel, Shakuhachi, Track 2, Kokû Reibo, langsam ausblenden

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