Der Volkssport als Spielball

 Jürgen Mittag / Jörg-Uwe Nieland Der Volkssport als Spielball Die Vereinnahmung des Fußballs durch Politik, Medien, Kultur und Wirtschaft »Manche ...
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Jürgen Mittag / Jörg-Uwe Nieland

Der Volkssport als Spielball Die Vereinnahmung des Fußballs durch Politik, Medien, Kultur und Wirtschaft »Manche Menschen glauben, Fußball sei eine Sache von Leben und Tod. Diese Haltung enttäuscht mich sehr. Ich kann Ihnen versichern: Fußball ist viel, viel mehr als das.«   Bill Shankly, ehemaliger Trainer  des FC Liverpool

Dass der Ball rund ist und ein Fußballspiel 90 Minuten dauert, sind Gemeinplätze, die seit langem zur »Essenz unserer gesellschaftlichen Kommunikation« gehören. Dass Fußball aber auch weit mehr als nur ein Spiel ist und zunehmend stärker als Projektionsfläche für die unterschiedlichsten politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Erscheinungen dient, ist eine Beobachtung, die − gemessen an der langen Tradition des modernen Fußballs − erst in jüngster Vergangenheit in aller Deutlichkeit zum Ausdruck kommt. Die Sportart Fußball hat sich vor allem im letzten Jahrzehnt zu einem herausragenden Alltagsphänomen mit beträchtlichem Aufmerksamkeits- und Mobilisierungspotenzial entwickelt. Fußball verbindet Menschen und regt zur Kommunikation an, Fußball dient der Identitätsstiftung und fördert die Integration, baut Gegensätze zwischen arm und reich ab und fungiert bisweilen sogar als Ersatzreligion. Für viele Menschen ist Fußball nicht nur die schönste Nebensache der Welt, sondern ein zentraler Bezugspunkt, oft gar sinnstiftender Lebensinhalt. Ob es auf die einfachen Regeln, die weltweite Präsenz, das Zusammenwirken von individueller Leistung und Teamarbeit, das Spannungsverhältnis von spielerischer Eleganz und kämpferischem Einsatz, die Kombination von taktischen und technischen Fähigkeiten oder ob es auf das atmosphärische Umfeld in den Stadien, das Gemeinschaft schafft und Emotionen weckt, sich aber auch hervorragend medial präsentierten lässt, zurückzuführen ist − keine andere Sportart übt gegenwärtig eine so beträchtliche Faszination auf derart viele Menschen in aller Welt aus wie der Fußball. Im Rückblick kann sogar behauptet werden,



  

Im deutschen Sprachraum verbreitete Version eines häufig zitierten Ausspruchs von Bill Shankly. Das Originalzitat aus dem Jahre 1981 ist in zwei Versionen überliefert: »Someone said: Football is more important than life and death to you − and I said: Listen, it’s more important than that.« (Bill Shankly im Interview mit Shelley Rohde.) »Some people think football is a matter of life and death. I don’t like that attitude. I can assure them it is much more serious than that.« (Sunday Times, 4. 10. 1981.) Dirk Schümer: Gott ist rund. Die Kultur des Fußballs, Berlin 1996, S. 8. Vgl. in diesem Sinne Jürg Altwegg: Ein Tor, in Gottes Namen! Über Fußball, Politik und Religion, München 2006 und Holger Brandes/Harald Christa/Ralf Evers (Hg.): Hauptsache Fußball. Sozialwissenschaftliche Einwürfe, Gießen 2006. Vgl. für eine tiefgründige Analyse der Faszination des Fußballs u. a. Christoph Bausenwein: Geheimnis Fußball. Auf den Spuren eines Phänomens, Göttingen ²2006.

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dass der Aufstieg des Fußballs zum Massenphänomen auf das Engste mit der Entstehung von Massenkulturen selbst verbunden ist. Obgleich in der Bundesligasaison 2005/2006 mit fast 12,5 Millionen gelösten Tickets ein neuer Zuschauerrekord in den Stadien aufgestellt wurde, kommt der medialen Vermittlung von Fußballspielen immer mehr Bedeutung zu. Noch nie zuvor gab es soviel Fußball im Tagesablauf, und noch nie haben so viele Menschen Fußballspiele verfolgt wie gegenwärtig. So sind die Fernsehsendungen mit den höchsten absoluten Zuschauerzahlen aller Zeiten in Deutschland ausnahmslos Fußball-(Länder)spiele. Bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 wurden allein in Deutschland 31 der 56 im Free-TV übertragenen Spiele von mehr als 10 Millionen und acht Spiele sogar von über 20 Millionen Zuschauern gesehen. Das Halbfinalspiel Deutschland gegen Italien verfolgten durchschnittlich 29,66 Millionen Zuschauer, womit die bisher höchste Einschaltquote im deutschen Fernsehen überhaupt seit Erhebung der Personenreichweite 1975/76 erzielt wurde. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die LiveÜbertragungen des Fußballsommers 2006 vielfach auch außerhalb der heimischen Wände verfolgt wurden. Von den 17 Millionen Bundesbürgern, die das Spiel der deutschen Nationalmannschaft am 8. Juli 2006 gegen Portugal um den dritten Platz nicht am eigenen Gerät sahen, schaute knapp die Hälfte, etwa acht Millionen, die Partie im öffentlichen Raum.10 Angesichts des scheinbar unbegrenzten Mobilisierungspotenzials des Fußballs schien es fast zwangsläufig, dass die Gesellschaft für deutsche Sprache den Begriff »Fanmeile« zum Wort des Jahres 2006 erkor. Die hier exemplarisch angeführten Beobachtungen sind nicht auf Deutschland begrenzt. Fußball ist ein globales Massenphänomen, das nicht nur während Weltmeisterschaften die Bevölkerung in einen fröhlich-rauschhaften Erregungszustand versetzt, sondern fast allerorten zu einem gesamtgesellschaftlichen Ereignis ersten Ranges geworden ist. »Die Sprache

  Vgl. Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur, 1850–1970, Frankfurt am Main ³2001.   Vgl. zu den Hintergründen der »Globalisierung des Fußballs« Christiane Eisenberg: Fußball als globales Phänomen. Historische Perspektiven, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 26 (2004), S. 7–15.   Bis zur Weltmeisterschaft 2006 hielt das WM-Endspiel 1990 mit 28,66 Millionen Zuschauern den Einschaltrekord in Deutschland, gefolgt vom EM-Finale 1996 (28,44) und dem WM-Endspiel 1986 (27,02).   Vgl. Stefan Geese/Claudia Zeughardt/Heinz Gerhard: Die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 im Fernsehen. Daten zur Rezeption und Bewertung, in: Media Perspektiven 9 (2006), S. 454–464, hier S. 454; Heinz Gerhard: Die Fußball-WM als Fernsehevent. Analyse der Zuschauerakzeptanz bei Fußball-Weltmeisterschaften 1954 bis 2006, in: Media Perspektiven 9 (2006), S. 465–474. Vgl. auch grundlegend Holger Schramm (Hg.): Die Rezeption des Sports in den Medien, Köln 2004. Die acht WM-Spiele, die die Schallmauer von 20 Millionen Zuschauern übertrafen, waren die sieben Partien der DFB-Mannschaft sowie das Endspiel zwischen Italien und Frankreich.   Der Marktanteil lag bei 84,1 Prozent. In der Verlängerung hatten zeitweilig sogar 31,31 Millionen Zuschauer den Fernseher eingeschaltet, so dass der Marktanteil kurzzeitig auf 91,2 Prozent anstieg. Mit 25,88 Millionen Zuschauern liegt das WM-Finale auf Platz 2 der Jahreswertung 2006 und ist zugleich das meistgesehene Fußballspiel ohne deutsche Beteiligung im Fernsehen. Die WM-Begeisterung hielt auch noch Monate später an: Über zehn Millionen Zuschauer verfolgten die Ausstrahlung von Sönke Wortmanns Fußballweltmeisterschaftsfilm in der ARD am 6. Dezember 2006. Vgl. mit einem kritischen Blick auf die (Fernseh-)Berichterstattung der WM 2006 Dieter Anschlag (Hg.): Die WM-Show. Wie wir die beste Fußball-WM aller Zeiten am Bildschirm erlebten, Konstanz 2006. 10 Auf Großbildleinwände und öffentliche Veranstaltungen entfielen ca. 4,3 Millionen, auf die Gastronomie (Kneipen, Gaststätten etc.) ungefähr 3,2 Millionen. Vgl. Geese/Zeughardt/Gerhard, S. 457.

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des Fußballs ist universell, jeder kennt und beherrscht sie«11 − und zahlreiche Menschen sind von ihr fasziniert.

Die Fußballkonjunktur in Publizistik und Wissenschaft Dass der Fußball angesichts dieser Dimensionen längst den Raum eines beschaulichen Freizeitvergnügens verlassen hat und zu einem wichtigen Thema in den Feuilletons und der Wissenschaft avanciert ist, zeigt sich an der explosionsartig wachsenden Zahl sowohl essayistischer als auch fachwissenschaftlicher Publikationen.12 Allein im WM-Jahr 2006 sind − je nach Les- und Zählart − in Deutschland zwischen 800 und 950 fußballbezogene Publikationen erschienen.13 Nahezu unüberschaubar sind die Beiträge, die die Fußballbegeisterung in kurzweilige, journalistische Stücke fassen.14 Im Feuilleton von Tages- und Wochenzeitungen werden zunehmend häufiger Einzelaspekte des Fußballs für anspruchsvolle Gesellschaftsanalysen aufgegriffen, womit der Fußball nicht zuletzt auch in intellektuellen Zirkeln salonfähig geworden ist.15 Nicht fehlen dürfen in diesem Zusammenhang Auseinandersetzungen mit der »Poetik des Fußballs«16 und philosophische Betrachtungen des Fußballsports.17 Die Kultur des Fußballs wird mittlerweile nicht nur auf zahlreichen Bühnen und in Museen, sondern auch von der »Deutschen Akademie für Fußball-Kultur« gepflegt, an der u. a. das Adolf Grimmeund das Goethe-Institut beteiligt sind. Darüber hinaus unterhält der DFB eine Kulturstiftung, die während der Weltmeisterschaft 2006 ein umfangreiches Kulturprogramm koordinierte.

11 Dietrich Schulze-Marmeling: Fußball. Zur Geschichte eines globalen Sports, Göttingen 2005. 12 Vgl. exemplarisch für die unterschiedlichen akademischen Disziplinen Christiane Eisenberg: Die Entdeckung des Sports durch die moderne Geschichtswissenschaft, in: Historical Social Research 2/3 (2002), S. 4–21; Fabian Brändle/Christian Koller: Goooal! Kultur- und Sozialgeschichte des modernen Fußballs, Zürich 2002; Michael Fanizadeh/Gerhard Hödl/Wolfram Manzenreiter (Hg.): Global Players – Kultur, Ökonomie und Politik des Fußballs, Frankfurt am Main ²2005 und Christina Holtz-Bacha (Hg.): Fußball – Fernsehen – Politik, Wiesbaden 2006. 13 Nach den für den Börsenverein des Deutschen Buchhandels ermittelten Zahlen machten allein im Segment der »Sportbücher« die Fußballtitel einem Umsatzanteil von 46,7 Prozent im ersten Halbjahr 2006 aus. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum erhöhte sich der Anteil dieses Segments um 40,3 Prozent. 14 Vgl. stellvertretend für viele Jürgen Roth: Kotzbrocken. Machthaber und Maulhelden des Fußballs, Hamburg 2002; Christoph Biermann: Fast alles über Fußball, Köln 52006; Hajo Schumacher: Papa, wie lang sind 90 Minuten? Das 1×1 der Fußballwelt, München 2005; Eduard Augustin/Philipp von Keisenberg/Christian Zaschke: »Fußball unser«, München 2005; Stefan Behr/Wolfgang Hettfleisch/Jürgen Roth: Wichtig ist, wer hinten hält. Fouls und Schwalben in Fußball und Politik, Berlin 2005 und Günter Koch: Der Ball spricht. Fußballgeschichten, Frankfurt am Main 2006. An dieser Stelle nicht aufgeführt sind die zahlreichen CD- und DVD-Produktionen, die sich mit den verschiedenen Facetten des Phänomens Fußball beschäftigen. 15 Vgl. »Dieses kalkulierte Wagnis, der geniale Blitz«, Gespräch mit Günter Grass, in: Süddeutsche Zeitung, 8./9. 7. 2006, S. 35–36. 16 Vgl. Gunter Gebauer: Poetik des Fußballs, Frankfurt am Main/New York 2006. 17 Vgl. stellvertretend für viele Rolf Lindner (Hg.): Der Satz »Der Ball ist rund« hat eine gewisse philosophische Tiefe, Berlin 1983; Stefan Geiger: Sokrates flankt! Eine kleine Philosophiegeschichte des Fußballs, Düsseldorf 2002; Rainer Moritz (Hg.): Vorne fallen die Tore. Fußball-Geschichte(n) von Sokrates bis Jürgen Klinsmann, Frankfurt am Main 2006 und »Ein Team von Hermaphroditen.« WM-Gespräch mit Peter Sloterdijk, in: Der Spiegel 23 (2006), S. 70–73.

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Aufgrund der herausragenden gesellschaftspolitischen Bedeutung ist der Fußball längst auch Gegenstand der politischen Bildung und Medienpädagogik geworden.18 Kaum ein Verlag lässt sich das lukrative Geschäft mit dem Fußball entgehen − im Gegenteil: Immer mehr Verlage spezialisieren sich sogar auf Sport und Fußball.19 Zudem drängen neue fußballorientierte Fachzeitschriften,20 die sich vor allem mit der sozialen und kulturellen Lebenswelt des Fußballs beschäftigen, auf den Markt. An kritischen Stimmen mangelt es angesichts der Kommerzialisierungstendenzen im »Milliardenspiel«21 zwar nicht, sie gehen aber in der Begeisterung weitgehend unter.22 Infolge der ungebrochenen Attraktivität und der beträchtlichen gesellschaftlichen Aufladung des Fußballs beschränkt sich die fußballbezogene Berichterstattung längst nicht mehr auf die nationalen oder europäischen Vereinswettbewerbe, auf Bundesligaspielzeiten oder Weltmeisterschaften, herausragende Spieler- oder Trainerpersönlichkeiten und Technik- oder Taktikschulungen. Darstellungen und Analysen haben mittlerweile das Umfeld des Fußballs entdeckt und so auch qualitativ gänzlich neue Formen angenommen. Dies gilt auch für die Wissenschaft. Fast im monatlichen Turnus werden ertragreiche neue wissenschaftliche Studien publiziert, die sich mit einzelnen Facetten der politischen, sozialen, ökonomischen oder kulturellen Bedeutung des Fußballs in Geschichte und Gegenwart beschäftigen. Von Sportpublizisten verfasste Sammelbände mit wissenschaftsnahem Charakter23 konkurrieren dabei mit den Spezialstudien und Dissertationen einer fast ausnahmslos jüngeren Generation von fußballinteressierten Fachwissenschaftlern.24 Zugleich werden auf zahlreichen wissenschaftlichen Konferenzen die unterschiedlichsten Aspekte einer Annäherung an das Massenphä-

18 Vgl. Informationen zur politischen Bildung, Heft 290 (»Fußball – mehr als ein Spiel«), 1. Quartal 2006 sowie Fluter. Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung 18 (2006) (»Spiel der Welt. Das Fußball-Heft«). Vgl. auch die Ausgaben 26 (2004) und 19 (2006) der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte. 19 Vgl. hierzu beispielhaft das Reclam-Heft von Rainer Moritz (Hg.): Doppelpass und Abseitsfalle. Ein Fußball-Lesebuch, Stuttgart 1995 sowie die Publikationen des Verlags »Die Werkstatt« (Göttingen), der mittlerweile als größter deutscher Fußball-Fachbuchverlag gilt. Vgl. stellvertretend Bernd Müllender: Ein Land sieht rund, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 19 (2006), S. 3–9, hier S. 5 f. 20 Exemplarisch genannt seien hier die Fußball-Magazine 11Freunde, Rund und Player. 21 Thomas Kistner/Jens Weinreich: Das Milliardenspiel. Fußball, Geld und Medien, Frankfurt am Main 1998. Siehe auch Thomas Kistner/Ludger Schulz: Die Spielmacher. Strippenzieher und Profiteure im deutschen Fußball, Stuttgart 2000. 22 Im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2006 wurde vor allem das Geschäftgebaren der FIFA beanstandet und Kritik an ihrem Präsidenten Blatter geübt. Vgl. stellvertretend Jürgen Dahlkamp: Größter anzunehmender Einschlag, in: Der Spiegel 50 (2005), S. 198–200; Michael Rudolf: Soccer? Sucker! Was erlauben Fußball?, in: Rolling Stone, Mai 2006, S. 46–50 sowie Jürgen Leinemann: Der Weltmeister. Der umstrittene Fifa-Chef Joseph Blatter erhält das Große Bundesverdienstkreuz. Aber wofür?, in: Der Spiegel 28 (2006), S. 38–39. 23 Vgl. hierzu exemplarisch Dietrich Schulze-Marmeling (Hg.): Davidstern und Lederball: Die Geschichte der Juden im deutschen und internationalen Fußball, Göttingen 2003. 24 Siehe in diesem Zusammenhang beispielhaft die Diskussion um die Geschichte des DFB in der NS-Zeit, die mittlerweile bereits in mehreren kritischen Studien analysiert, aber unterschiedlich bewertet wurde. Vgl. für eine antagonistische Sichtweise Arthur Heinrich: Der Deutsche Fußballbund. Eine politische Geschichte, Köln 2000 und Nils Havemann: Fußball unterm Hakenkreuz. Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz, Frankfurt am Main 2005.

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nomen Fußball ausgeleuchtet.25 Immer mehr Arbeiten über die »Fußballwelten«26 und die »Mythen des Fußballs«27 wandeln auf dem schmalen Grat zwischen Er- und Verklärung des Massenphänomens Fußball. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass nicht mehr allein die zivilisationstheoretischen Sportstudien des Soziologen Norbert Elias auf fruchtbaren Boden fallen,28 sondern dass das Spiel mit dem runden Leder in zahlreichen akademischen Disziplinen Konjunktur hat und als »Tor zur Welt«29 apostrophiert wird.30 Mittlerweile liegt sogar eine stattliche Zahl von Bibliographien vor, die die Fülle der wissenschaftlichen Publikationen aus historischer,31 sozialwissenschaftlicher32 oder kulturwissenschaftlicher33 Perspektive zusammenfassen.

Zur Fragestellung: Die Instrumentalisierung des Fußballs? Wachsende Aufmerksamkeit in wissenschaftlichen oder wissenschaftsnahen Studien hat in den letzten Jahren vor allem die Beobachtung erfahren, dass der Aufmerksamkeits- und Popularitätsgrad des Fußballs − in Europa insbesondere durch neue ökonomische Möglichkeiten infolge der Ausweitung der Fernsehberichterstattung sowie durch die Neugründung der Champions League und den Börsengang von Vereinen forciert − nochmals gesteigert wurde. Zugleich hat sich der Fußball zu einem massenkulturellen Event entwickelt, das einer immer stärker funktional ausdifferenzierten Gesellschaft in einer durch Globalisierungsprobleme entzauberten Gegenwartswelt neue Identifikationskerne verleiht. Einhergehend mit diesen 25 Vgl. aus der Fülle der Veranstaltungen allein im ersten Halbjahr 2006 exemplarisch die Tagung »Fußball im Nationalsozialismus: Kultur – Künste – Medien«, ausgerichtet durch die Schwabenakademie Irsee und die Deutsche Akademie für Fußballkultur, Irsee (Allgäu) (Februar 2006); das Symposium »Fußball unterm Hakenkreuz. Aus der Geschichte lernen«, veranstaltet vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) und der Evangelischen Akademie Bad Boll (April 2006); das Kolloquium »Fußball und Identität in Deutschland und Frankreich«, organisiert vom Deutschen Historischen Institut Paris und der Université Jean Monnet in Saint-Étienne (April 2006). Siehe des Weiteren »Fußball für alle«, Konferenz der Britischen Botschaft in Berlin (Mai 2006); »Costa Rica: Fußball/Kultur. Eine Tagung aus der Tiefe des Raumes«, Potsdam (Juni 2006); »Serious Games«: Fußball, Medien und Politik, Universität Hamburg (Juni 2006); »Medien, Fußball und Alltag«, internationale Konferenz an der Universität Leipzig (Juli 2006); »Am Ball der Zeit. Die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 als Ereignis und Faszinosum«, Tagung des Kulturwissenschaftlichen Seminars der HU Berlin und des Zentrum für zeithistorische Forschung Potsdam (Juli 2006). 26 Peter Lösche/Undine Ruge/Klaus Stolz (Hg.): Fußballwelten. Zum Verhältnis von Sport, Politik, Ökonomie und Gesellschaft, Opladen 2002. 27 Vgl. Christian Eichler: Lexikon der Fußball-Mythen, Frankfurt am Main 2000. 28 Siehe Norbert Elias/Eric Dunning: Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation, Frankfurt am Main 2003. 29 So Klaus Theweleit: Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell, Köln 2004. 30 Vgl. zudem stellvertretend für die literaturwissenschaftliche Perspektive Axel von Schemm: Dichter am Ball. Untersuchung zur Poetik des Sports am Beispiel deutschsprachiger »Fußball-Literatur« (= Diss. Universität Oulu 2006). 31 Vgl. Christiane Eisenberg: International Bibliography of Football History, in: Historical Social Research 1 (2006), (Sonderheft Fußball-Geschichte: Internationale Perspektiven), S. 170–208. 32 Vgl. Westfälische Wilhelms-Universität Münster − Institut für Sportwissenschaft, Akademisches Fußballteam (AFT): Die lokal-globale Fußballkultur. Systematische sozialwissenschaftliche Auswahlbibliografie internationaler Fußballliteratur, o. O. o. J. 33 Vgl. Rolf Parr: Fußball. Eine kulturwissenschaftliche Auswahlbibliografie, Heidelberg 2006. Vgl. Matías Martínez (Hg.): Warum Fußball? Kulturwissenschaftliche Beschreibungen eines Sports, Bielefeld 2002; Markwart Herzog (Hg.): Fußball als Kulturphänomen. Kunst – Kult – Kommerz, Stuttgart 2002.

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Formen (post-)moderner Gemeinschaftsbildung wurde der Rahmen des sportlichen Spiels und der klassischen Spielberichterstattung durch die »Kaste kameradistischer Berufssportreporter« endgültig gesprengt.34 Stattdessen wird der Fußball angesichts seiner herausragenden Bedeutung in zunehmendem Maße als Projektionsfläche gesellschaftlicher Prozesse35 und politischer Vermittlung in Anspruch genommen.36 Mittlerweile bildet das Fußballspiel eine Plattform für zahlreiche Erscheinungen des Alltagslebens.37 So wird über den Fußball bzw. seine Protagonisten angesichts anhaltender Show- und Personalisierungstendenzen zunehmend in Boulevardzeitungen und LifestyleMagazinen geschrieben.38 Wie stark Fußball zum Pop-Phänomen geworden ist, lässt sich nicht zuletzt an der Ent-Männlichung des Fußballs festmachen.39 Immer mehr Mädchen und junge Frauen interessieren sich für den Fußball und seine Protagonisten. Längst haben die Fußballer-Boygroups um David Beckham und Lukas Podolski sich als veritable Konkurrenz zur Musikbranche etabliert. Folgt man dem Berliner Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme sind die »Artisten auf dem Rasen (…) eine Mischung aus Sportler, Idol und Model.«40 Zahlreiche Kicker erreichen während oder nach ihrer aktiven Laufbahn – aufgrund des Zusammenspiels von sportlichen Erfolgen, Medienpräsenz und Werbepotenzial – einen Prominentenstatus, der dem von Film- und Popstars in nichts nachsteht oder sogar darüber hinaus reicht.41 Das Verhältnis zwischen Popmusik und Fußball kann indes auch bereits auf eine längere Tradition zurückblicken. Während zeitlose Fußballhymnen − wie »You’ll never walk alone« von Gerry and the Pacemakers42 oder »We are the Champions« von Queen − durch die Anhänger an der Anfield Road in Liverpool oder andernorts erst mehr oder weniger zufällig in die Stadien getragen wurden, steckt hinter dem Zusammenspiel von Pop und Fußball heute eine kalkulierte Vermarktungsmaschinerie.43 Popstars bekennen sich zu ihrem Lieb-

34 Theweleit, S. 82. 35 Vgl. etwa Fanizadeh/Hödl/Manzenreiter. 36 Siehe hierzu Franz-Josef Brüggemeier: Entscheidend ist längst nicht mehr »auf’m Platz« − Zur Instrumentalisierung des Fußballs, in: Stefan Goch, Ralf Piorr (Hg.): Wo das Fußballherz schlägt. FußballLand Nordrhein-Westfalen, Essen 2006, S. 128–139. 37 Vgl. hierzu etwa Roland Binz: »Borussia ist stärker«. Zur Alltagsbedeutung des Fußballvereins, gestern und heute, Frankfurt am Main 1988 und Markwart Herzog (Hg.): Fußball als Kulturphänomen. Kunst − Kult − Kommerz, Stuttgart 2002. 38 Gleichzeitig wird in den überregionalen (Qualitäts-)Tageszeitungen und den Wochenmagazinen nicht mehr allein im Sportteil über Fußball berichtet, sondern es werden auch in den Wirtschafts- und Politik­ rubriken der Zeitungen Ereignisse in den Kontext etwa der Sportökonomie, des Medienmanagements und der Medienpolitik gestellt. 39 Vgl. Eva Kreisky/Georg Spitaler (Hg.): Arena der Männlichkeit. Über das Verhältnis von Fußball und Geschlecht, Frankfurt am Main/New York 2006; Eduard Hoffmann/Jürgen Nendza: Verlacht, verboten und gefeiert. Zur Geschichte des Frauenfußballs in Deutschland, Weilerswist 2005. 40 Vgl. Hartmut Böhme: Der Ball der Göttin, in: Die Zeit, 10. 8. 2006. 41 Vgl. stellvertretend Eva-Maria Lessinger: »We don’t kick it like Beckham«: Die deutsche Fußballprominenz, in: Christina Holtz-Bacha (Hg.): Fußball – Fernsehen – Politik, Wiesbaden 2006, S. 262–289; Thomas Bruns/Thomas Schierl: Prominenzierungsstrategien bei Politikern und Sportlern, in: Jürgen Schwier/Claus Leggewie (Hg.): Wettbewerbsspiele. Die Inszenierung von Sport und Politik in den Medien, Frankfurt am Main 2006, S. 147–169. 42 Das Original stammt von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein und wurde für das Musical »Carousel« geschrieben. 43 Vgl. zum Thema auch Reinhard Kopiez/Guido Brink: Fußball-Fangesänge. Eine FANomenologie, Würzburg 1998.

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lingsverein44 – in Großbritannien fungieren sie sogar teilweise als (Mit-)Besitzer von Clubs – schreiben und performen die Vereinshymnen bzw. steuern den offiziellen Song für Veranstaltungen bei.45 Fußball ist jedoch nicht allein Pop-Phänomen, sondern auch ein ideales Werkzeug für Politik und Wirtschaft. Kaum ein Politiker und kaum ein Unternehmen kann es sich noch leisten, eine der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen außer Acht zu lassen. Dies umso mehr, da der Fußball fast das gesamte Jahr über durch seine Medienpräsenz eine Bühne bietet.46 Zwar bedienen sich Politiker schon seit langem der Möglichkeit, öffentlichkeitswirksame Ereignisse für eigene Zwecke zu nutzen. Aber im Vergleich zu Auftritten bei Kirchentagen oder Betriebsbesichtigungen in den 1960er und 1970er Jahren finden ihre Aktivitäten im Kontext des medial vermittelten Fußballs deutlich größere Aufmerksamkeit − nicht zuletzt, weil der Fußball im Leitmedium Fernsehen die höchsten Quoten erreicht. Mit Blick auf diese Ausgangsbeobachtungen untersucht der vorliegende Band eingehender die Wechselwirkungen zwischen Fußball und einzelnen gesellschaftlichen Teilbereichen. Besondere Beachtung wird dabei − in horizontaler Perspektive − den Problemfeldern Politik, Medien, Kultur und Wirtschaft und − in diachroner Sichtweise − der Geschichte des 20. Jahrhunderts zugemessen. Der gemeinsame Bezugspunkt aller Beiträge dieser Publikation ist die ihr zugrunde liegende Frage, ob, wie und in welchem Umfang der Fußball durch nicht unmittelbar fußballbezogene Zusammenhänge in Anspruch genommen wird. Untersucht wird damit letztlich die bisher kaum von der wissenschaftlichen Forschung berücksichtigte Frage, welche Formen der Instrumentalisierung im Zusammenhang mit dem Fußball zu beobachten sind: Sind es ausschließlich die Fernsehsender und Programmmacher, die sich der quotenträchtigen Präsenz des Fußballs bedienen oder besteht seitens der unterschiedlichsten Akteure ein Eigeninteresse, sich auf der Projektionsfläche des Fußballs ein zusätzliches Standbein zu verschaffen? Mit dieser Leitfrage soll die vielfach aufgeworfene, aber nur selten an konkreten Beispielen belegte Hypothese untersucht werden, inwieweit der Fußball politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung transportieren kann und somit zahlreichen Akteuren ermöglicht, jeweils eigene Interessen auf der Projektionsfläche des Fußballs umzusetzen.

44 Auf seiner Deutschlandtournee im Spätsommer 2006 besuchte Robbie Williams u. a. das Training des FC Bayern München und lud im Gegenzug die Fußballspieler auf sein Konzert und die Aftershow-Party ins P1 ein. 45 Für die Fußballweltmeisterschaft 2006 schrieb Herbert Grönemeyer mit »Zeit, dass sich was dreht« den offiziellen WM-Song. Aus der Liste der zahlreichen weiteren WM-Stücke erreichten die Songs »54, 74, 90, 2006« (bzw. »2010«) der Sportfreunde Stiller und »Dieser Weg« von Xavier Naidoo besondere Popularität. 46 Da die Spielpläne der verschiedenen Ligen inzwischen den Fernsehzeiten angepasst wurden, hat sich die Anzahl der Live-Spiele explosionsartig erhöht. Dies ist nicht nur von Vorteil, wie der bekennende Arsenal-Fan und Pop-Literat Nick Hornby im Interview betont: »Wenn man mir als Kind gesagt hätte, dass ich nur einen Knopf drücken müsste, um alle Spiele in Europa zu sehen, wäre ich vor Freude geplatzt. Aber inzwischen habe ich einfach nicht mehr so viel Appetit darauf. Ich schaue mir Spiele für fünf Minuten an und stelle sie dann ab. Außerdem kann ich kaum noch ertragen, überall Fußballspieler zu sehen. (…) Es macht die Fantasie im Verhältnis zu einem Spieler kaputt. Ein Star wie Henry ist im Laufe der Woche so oft im Fernsehen, in Zeitungen, in Werbespots und auf Plakaten, dass man samstags im Stadion denkt: Seltsam, dass dieser Mann hier tatsächlich Fußball spielt.« Zit. nach: »Ich glaube, dass wir alle zu viel Fußball sehen.« Gespräch mit Nick Hornby, in: Süddeutsche Magazin, Heft 22 vom 2. 6. 2006, S. 32–34.

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Um die Vielfalt der in diesem Band behandelten Einzelaspekte grob zu strukturieren, ist die Publikation in fünf Hauptabschnitte gegliedert, in denen jeweils ein übergeordneter Problemkreis den Mittelpunkt bildet.

Fußball als Spiegel historischer Prozesse Während die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Fußball in einigen akademischen Disziplinen wie etwa der Soziologie bereits auf längere Traditionslinien zurückblickt, hat der Fußball in der deutschen Geschichtswissenschaft erst seit den 1990er Jahren sukzessive stärkere Aufmerksamkeit gefunden.47 Spätestens zum Ende des 20. Jahrhunderts haben jedoch auch die professionellen Fachhistoriker den Fußball als Untersuchungsobjekt entdeckt und tragen seitdem zu einer sich ständig verdichtenden Forschungslandschaft bei. Besondere Bedeutung kann dabei den wegweisenden Pionierstudien von Christiane Eisenberg48 und der von Wolfram Pyta für den Aachener Historikertag im September 2000 organisierten Sektion »Kinder der Bundesliga. Kultur- und sozialgeschichtliche Aspekte des Fußballs in Deutschland 1900–1980« beigemessen werden. Seitdem sind zahlreiche, auf breiter Quellengrundlage basierende Einzelstudien publiziert worden, die fast ausnahmslos bestätigen, dass die ersten Entwicklungsschritte des Fußballs im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland unter den jeweiligen milieuspezifischen Rahmenbedingungen vollzogen wurden. Relativ rasch wurden die Milieugrenzen indes auch überwunden. Unter diktatorischen Regierungen lief der Fußball stets Gefahr, politisch vereinnahmt zu werden. Zugleich besaß der Fußball immer auch eine sozial-integrative gesellschaftliche Funktion; er diente als Ventil und gab Anhängern wie Aktiven die Möglichkeit, auf friedliche und geregelte Weise aufgestaute Emotionen zu verarbeiten. Ein weiteres zentrales Ergebnis historischer Forschung ist die beträchtliche identitätsstiftende Wirkung, die der Fußball ausübte. Vor dem Hintergrund entsprechender Befunde hat sich in der Geschichtswissenschaft die Frage, ob der Fußball als sozialgeschichtliche Folie charakteristische Züge der deutschen Zeitgeschichte widerspiegelt, gewissermaßen zur Leitfrage der historischen Fußballforschung entwickelt.49 In Anlehnung an die bisherigen Akzente der Geschichtswissenschaft verfolgt der erste, historisch ausgerichtete Problemkreis dieser Publikation die Frage, welche Bedeutung dem Fußball als Spiegelbild historischer Prozesse des 20. Jahrhunderts zukommt. Zugleich

47 Die ersten fachwissenschaftlichen Publikationen aus historischer Perspektive erschienen zum Ende der 1970er Jahre im Kontext der sozialgeschichtlichen Konjunktur der Historiographie. Die seinerzeitigen Schwerpunkte lagen vor allem auf dem (regionalen) Milieu. Vgl. die viel zitierte Studie von Siegfried Gehrmann: Fußball in einer Industrieregion. Das Beispiel F.C. Schalke 04, in: Jürgen Reulecke/Wolfhard Weber (Hg.): Fabrik, Familie, Feierabend. Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltages im Industriezeitalter, Wuppertal 1978, S. 377–398 sowie Rolf Lindner/Heinrich T. Breuer: »Sind doch nicht alle Beckenbauers«. Zur Sozialgeschichte des Fußballs im Ruhrgebiet, Frankfurt am Main 31982. 48 Siehe vor allem Christiane Eisenberg (Hg.): Fußball, soccer, calcio. Ein englischer Sport auf seinem Weg um die Welt, München 1997 und dies.: »English sports« und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939, Paderborn u. a. 1999. 49 Vgl. mit Blick auf Deutschland in dieser Hinsicht Wolfram Pyta (Hg.): Der lange Weg zur Bundesliga. Zum Siegeszug des Fußballs in Deutschland, Münster 2004. Siehe in europäischer Dimension zuletzt Dietmar Dahlmann/Anke Hilbrenner/Britta Lenz (Hg.): Überall ist der Ball rund: Zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa, Essen 2006. Nicht zuletzt angeregt durch die Fußballweltmeisterschaft 2006 zeichnen sich aber auch gänzlich neue Forschungsrichtungen ab. Vgl. in diesem Sinne etwa das von Franz-Josef Brüggemeier herausgegebene Themenheft der Informationen zur modernen Stadtgeschichte 1 (2006) zum Thema »Stadt und Fußball«.

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wird in den einzelnen Beiträgen untersucht, inwieweit der Fußball bereits im Verlauf des 20. Jahrhunderts zum interessengeleiteten Spielball wurde. Das hier nur knapp angerissene Interaktionsverhältnis von Fußball und Gesellschaft bildet auch den Ausgangspunkt des Eröffnungsbeitrages von Andreas von Seggern. In einer tour d’horizon durch die (Fußball-)Geschichte illustriert sein Beitrag die dem Fußball zugrunde liegenden Ambivalenzen. Von Seggern zeigt, dass sich der Fußball einerseits als Teil der jeweiligen sozialen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen entwickelt hat und infolgedessen immer eigene (nationale) Wege beschritt. Andererseits fungierte der Fußball aufgrund seines Wettbewerbcharakters aber stets auch als »interkulturelle Klammer« und besaß so eine transnationale weltumspannende Dimension. In dem sich anschließenden Beitrag von Lutz Budraß wird das − zumindest aus deutscher Perspektive − bisher am stärksten kontrovers erörterte Thema der Fußballgeschichte behandelt: die Rolle des Fußballs im Nationalsozialismus. Im Gegensatz zu den teilweise erbittert geführten Debatten zwischen Arthur Heinrich und Nils Havemann über den Grad der Verstrickung des Deutschen Fußball-Bundes in die nationalsozialistische Kriegs- und Rassenpolitik − in denen gewissermaßen eine Auseinandersetzung über die politische Deutungshoheit der Geschichte des deutschen Fußballs ausgetragen wird − lenkt Budraß aus wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Perspektive den Blick auf die bisher weitgehend vernachlässigten instrumentellen Dimensionen des Fußballs in den 1930er Jahren. Der Beitrag belegt, dass die funktionale Bedeutung des Fußballs nicht nur in dessen Charakter als Ertüchtigungsspiel mit wehrwirtschaftlichen Implikationen lag, sondern dass der Fußball im Nationalsozialismus vor allem auch als Zuschauerspiel zur »Aufrechterhaltung der Moral in der deutschen Kriegsgesellschaft« diente. Die vielfältigen Schnittstellen zwischen Fußball und Judentum im 20. Jahrhundert werden von Naomi Lubrich behandelt. Ausgehend von der aus jüngeren Studien abgeleiteten These, dass sich Juden mit ihrem sportlichen Engagement »aktiv um gesellschaftliche Anerkennung bemühte[n]«, zeigt ihr Beitrag einzelne Stationen einer jüdischen Fußballkultur auf. Der Umstand, dass der Fußball »einen symbolischen Raum« bildete, der eine positive Konnotation des Judentums ermöglichte und »antisemitische Stereotype sichtbar entkräftet[e]«, führte in der ersten Jahrhunderthälfte zu einer Blütezeit des jüdischen Fußballs. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor diese Sichtweise aufgrund anderer Identitätskonstruktionen und veränderter politischer Rahmenbedingungen jedoch an Relevanz, so dass dem Judentum im jüdischen Fußball heute nicht mehr die gleiche Bedeutung zukommt. Das identitätsstiftende Potenzial des Fußballs und die Tragweite spezifisch nationalstaatlicher Rahmenbedingungen bilden auch den Erklärungsansatz der Untersuchung von Rudolf Oswald, in der das Potenzial von Fußballzeitschriften beleuchtet wird. Der Beitrag dokumentiert an zahlreichen Beispielen, dass in den 1920er und 1930er Jahren in den Medien über sportliche Erfolge regelmäßig mit Verweis auf das Ideal der Volksgemeinschaft und den Amateurstatus berichtet wurde. Verknüpft waren diese Berichte mit Vorstellungen von einer »Disziplinierung des Individuums« und Forderungen »nach dessen Unterordnung«. Oswald verdeutlicht, dass die (Re-)Produktion entsprechender Leitbilder nicht nur im bürgerlichen Sport üblich, sondern auch in den publizistischen Organen des Arbeitermilieus und des Katholizismus weit verbreitet war − und auch nach dem Ende des Nationalsozialismus noch Bestand hatte. In ihrem Beitrag über den Fußball in der DDR heben Nico Schwarze und Christoph Stamm hervor, dass der Sport im Arbeiter- und Bauernstaat stets eine politische Funktion besaß, dem Fußball dabei jedoch eine »Sonderrolle« zukam. Obwohl Staat und Partei von Anfang an versuchten, den Fußball für die eigenen politischen Ziele zu nutzen, gelang es nie, ihn in

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gleichem Maße wie andere Sportarten politisch zu vereinnahmen. Schwarze und Stamm führen diesen Umstand vor allem auf die antagonistischen Kräfte im DDR-(Fuß­ball-)System und einen gewissen Grad an Unabhängigkeit der Massensportart Fußball zurück. Die weit verbreiteten Vorstellungen vom Ruhrgebiet als Herzkammer des deutschen Arbeiterfußballs werden von Stefan Goch kritisch hinterfragt. Quellengestützt wird in seinem Beitrag gezeigt, dass im Ruhrgebiet zwar enge Verbindungslinien zwischen Fußball und Arbeiterschaft existierten, dass diese jedoch in den einzelnen Zeitabschnitten der Ruhrgebietsgeschichte beträchtlich variierten. Infolgedessen kann weder in sozialstruktureller noch in politischer Hinsicht von einem reinen Arbeiterfußball gesprochen werden. Obgleich der Fußball auch im Ruhrgebiet zum Bestandteil einer »milieuübergreifende[n] Unterhaltungs- und Freizeitwirtschaft« wurde, verfestigte sich jedoch insbesondere in der Fremdwahrnehmung der »Mythos« des Arbeiterfußballs. Den Blick auf die Geschichte des Ruhrgebiets gerichtet haben auch Holger Heith und Holger Pauler, die sich mit dem Verhältnis von Gewalt und Fußball beschäftigen. Ihr Beitrag verdeutlicht, dass Gewalt und Fußball seit den Anfangstagen des Spiels stets in einem engen Wechselverhältnis zueinander standen. Dabei ist aus historischer Perspektive aber zwischen unterschiedlichen Zeitphasen gewaltförmiger Auseinandersetzungen zu differenzieren. Obgleich die Entwicklungen der letzten Jahre eher auf eine Pazifizierung der »dritten Halbzeit« schließen lassen, konstatieren Heith und Pauler, dass Gewalt im Fußball ein dauerhaftes Element darstellt − nicht zuletzt auch, weil Gewalt einen wesentlichen Teil der traditionsbildenden Erinnerungskultur des Fußballs ausmacht. Der abschließende Beitrag der historischen Sektion von Jürgen Mittag verdeutlicht, dass in den 1950er Jahren − anknüpfend an erste Vorläufer in der Zwischenkriegszeit − wesentliche Fundamente der heute allgegenwärtigen europäischen Dimension des Vereinsfußballs gelegt wurden. Trotz zeitlicher Parallelen zum europäischen Integrationsprozess und der sich rasch abzeichnenden Attraktivität der Europapokalwettbewerbe trug der professionelle Fußball jedoch zunächst nur begrenzt zur Herausbildung eines Europabewusstseins bei. Zurückzuführen ist dies u. a. auf die begrenzte mediale Präsenz der Europapokalwettbewerbe. Vor allem Live-Übertragungen von Europapokalspielen bildeten lange Zeit eine Ausnahme. Erst in den 1980er Jahren und verstärkt dann in den 1990er Jahren − mit Gründung der Cham­ pions League − erreichte der Fußball seine heutige europäische Dimension, die auch Potenzial besitzt, das Europabewusstsein zu verstärken. Zieht man eine Bilanz des historischen Abschnitts der vorliegenden Publikation, zeichnet sich ab, dass der Fußball in fast allen Beiträgen im Hinblick auf sein konstruktives Potenzial ausgeleuchtet wird. Stärker als in früheren sozialstrukturell orientierten Pionierstudien zur Fußballgeschichte werden in den vorliegenden Beiträgen Bezüge zur Produktion und Konstruktion von Identitäten oder Loyalitäten hergestellt. Diesem Ansatz liegt aus einer kulturalistisch geprägten Sichtweise die Prämisse zugrunde, dass Identitäten nicht per se existieren, sondern dass sie gewissermaßen erst gemacht werden, indem eine sozial konstruierte Realität entwickelt wird, in der sich Akteure und Strukturen gegenseitig konstituieren.50 Dem Fußball kommt dabei als Projektionsfläche für Vorstellungen und Leitbilder eine wichtige Bedeutung zu. Zugleich zeigen die einzelnen Beiträge aber auch, dass dem gestalterischen Potenzial des Fußballs Grenzen gesetzt sind, wenn sich gegenläufige Interessen überlagern oder der Resonanzboden medialer Öffentlichkeit fehlt. 50 Vgl. zu den Grundlagen dieser Tendenz in der Historiographie Thomas Mergel/Thomas Welskopp: Geschichtswissenschaft und Gesellschaftstheorie, in: dies. (Hg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft, Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 9–35.

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Fußball als Spielball der Politik Ihre Fortsetzung findet die historische Perspektive in den Beiträgen des zweiten Problemfeldes, in denen auf die zunehmend engere Interaktion zwischen Fußball und Politik seit den 1990er Jahren verwiesen wird. Dass die politische Dimension des Fußballs beträchtlich an Bedeutung gewonnen hat, schlägt sich auch in der Forschungslandschaft nieder. Wissenschaftliche Publikationen über das Bosman-Urteil oder die TV-Rechte am Fußball stehen beispielhaft für eine Entwicklung,51 die nicht mehr länger nur aus essayistischer Perspektive tatsächliche oder vermeintliche Parallelen zwischen Nationaltrainern und Regierungschefs sucht,52 sondern systematisch Politikfelder und Akteure − auch über Ländergrenzen hinweg − analysiert.53 Diese Forschungsentwicklung ist auch darauf zurückzuführen, dass der Fuß­ball für politische Werbung eine ideale Projektions­flä­che darstellt. In dem Maße, in dem eine informative und sachliche Politikvermittlung nur noch begrenzt zum Tragen kommt und symbolische oder affektiv-emotionale Appellationsinstanzen die Oberhand gewinnen, muss die Politik nach veränderten Projektionsflächen zur Politikvermittlung suchen. Vor dem Hintergrund des Bedeutungszuwachses des Fußballs in den vergangenen Jahrzehnten kann es die Politik sich nicht leisten, den Fußball und sein Inszenierungspotenzial zu ignorieren. Vielmehr werden seitens der Politik immer mehr Möglichkeiten entdeckt, wie man den Fußball zur Werbung in eigener Sache in Anspruch nehmen kann.54 Unabhängig von der partei­po­litischen Zugehö­ rig­keit, dem politischen Amt oder von den Rahmenbedingungen des politischen Systems zeigen Politiker infolgedessen ein nachhaltiges Interesse an der Nutzung des Massenphänomens Fußball. In Deutschland ist diese Tendenz in den beiden letzten Jahrzehnten verstärkt zum Ausdruck gekommen, da von 1990 bis 2002 jeweils nur wenige Monate zwischen Fußball-Weltmeisterschaft und Bundestagswahl lagen. Zahlreiche Politiker versuchten infolgedessen im Wahlkampf ihre Volks­nähe durch einen Handschlag oder ein Foto mit der erfolgreichen deutschen Nationalmannschaft zu dokumen­tieren und nahmen in Sachen Fußball öffentlich Stellung, um sich für das Spiel mit dem Ball stark zu machen. Auch wenn sich der Einfluss von Weltmeisterschaftserfolgen auf den Wahlausgang nicht eindeutig quantifizieren lässt − und andere Faktoren wie etwa die Konjunkturentwicklung die Wirkung von Fußball51 Vgl. Christina Holtz-Bacha: Auf Umwegen. Wie die europäische Medienpolitik die deutsche beeinflusst und was das mit Fußball zu tun hat, in: dies. (Hg.): Fußball – Fernsehen – Politik, Wiesbaden 2006, S. 71–99; Christina Holtz-Bacha: Wer soll das bezahlen? Fußballrechte, Vermarktung und Vermarkter, in: dies. (Hg.): Fußball – Fernsehen – Politik, Wiesbaden 2006, S. 113–142. 52 Vgl. hierzu etwa Norbert Seitz: Doppelpässe. Fußball und Politik, Frankfurt am Main 1997. Siehe auch bereits ders.: Bananenrepublik und Gurkentruppe. Die nahtlose Übereinstimmung von Fußball und Politik 1954–1987, Frankfurt am Main 1987. 53 Vgl. exemplarisch Wichard Woyke (Hg.): Sport und Politik, Schwalbach 2005 und das Themenheft »Fußball und Politik« der Zeitschrift »Der Bürger im Staat« 1 (2006). Vgl. zur bisher primär national orientierten Sichtweise auf den Fußball die anregenden fußballerischen Länderportraits in der von Christoph Biermann initiierten Reihe »Ball und Welt«. 54 Als jüngstes von vielen Beispielen kann dabei der sorgfältig beobachtete Auftritt der neuen Bundeskanzlerin Angela Merkel im Rahmen der WM-Auslosung in Leipzig herangezogen werden. Während Gerhard Mayer-Vorfelder die Bundeskanzlerin per Handkuss in die Fußballfamilie aufnahm, betonte sie selbst ihre Verbundenheit durch den Hinweis: »Am 20. und 28. Mai 2006 wird − zwischen Turbine Potsdam und dem FFC Frankfurt − ein rein deutsches Europapokalfinale ausgetragen. Da müssen sich die Männer anstrengen, um das auch mal wieder zu schaffen.« Zit. nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. 12. 2005.

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ereignissen schnell überlagern − so wird doch vielfach konstatiert, dass das Fußballspektakel nicht ohne Bedeutung für den Ausgang der Wahlen ist.55 Infolgedessen konnten es sich im Bundestagswahlkampf 2002 weder der Amtsinhaber noch sein Herausforderer leisten, den Fußball außer Acht zu lassen, so dass der unerwartete Titelkampf des deutschen Teams bei der Weltmeisterschaft 2002 zu einem Aufmerksamkeitswettbewerb deutscher Politiker geriet. Die Süddeutsche Zeitung kommentierte vor diesem Hintergrund kritisch, dass die »Politisierung des Fußballs oder die Fußballerisierung der Politik neue Dimensionen erreicht« habe.56 Unterstrichen wird die enge Verflechtung zwischen Politik und Fußball aber auch aus der Perspektive anderer Staaten. So feierte der südkoreanische Staatschef Kim Dae Jong das Erreichen des Achtelfinales bei der Weltmeisterschaft 2002 als »glücklichste Stunde in der Geschichte des Landes«, während der senegalesische Präsident den Sieg seiner Mannschaft gegen die alte Kolonialmacht Frankreich im Eröffnungsspiel 2002 zum Anlass nahm, einen Nationalfeiertag zu deklarieren. Mit Blick auf diese Ausgangsbeobachtungen wird im zweiten Teilabschnitt des Bandes näher untersucht, inwiefern der Fußball durch die Politik in Anspruch genommen wird. Dabei stehen sowohl die Beteiligungsstrategien der politischen Akteure als auch die politischen Inszenierungsversuche im Blickfeld. Der das Themenfeld eröffnende Beitrag von Michael Groll zeigt überblicksartig den Zusammenhang zwischen Fußball und politischen Akteuren. Groll verdeutlicht, dass neben klassischen staatlichen Symbolen wie Denkmälern oder Flaggen auch Sportereignisse über erhebliches Potenzial zur Identitäts- und Gemeinschaftsbildung verfügen. In Zeiten, in denen Musik- oder Literaturgeschmack sich zunehmend ausdifferenzieren und kaum jemand mehr dieselbe Musik hört oder dasselbe Buch liest wie sein Nachbar, Kollege oder Freund, scheint Fußball ein zentrales Element, um verlorene Gemeinschaft wiederherzustellen. Groll unterstreicht den Prozesscharakter dieser Entwicklung und weist darauf hin, dass es sich hierbei um eine wechselseitige Interaktion handele, die zunehmend über Staatsgrenzen hinausreiche, da der Sport sowohl »Auslöser« als auch »Spielball globaler Kommunikation« sei. In den nachfolgenden drei Beiträgen werden aus akteurszentrierter Sicht die unterschiedlichen Beteiligungsebenen des Fußballs und die damit verbundenen Veränderungen näher beleuchtet. Zunächst untersucht Christoph Strünck aus politikwissenschaftlicher Sicht die nationale Rolle des Deutschen Fußball-Bunds als Verband »zwischen korporatistischer Selbstregulierung und pluralistischem Wettbewerb«. Strünck veranschaulicht die wachsende Konkurrenz, der sich der DFB im Wettbewerb der Interessen ausgesetzt sieht, und kommt vor 55 Vgl. hierzu Jürgen Mittag/Georg Ismar: »Fußballisierung«? Wechselwirkungen zwischen Fußball und Politik in der Medienge­sell­schaft, in: Jörg-Uwe Nieland/Klaus Kamps (Hg.): Politikdarstellung und Unterhal­tungskultur. Zum Wandel der politischen Kommunikation, Köln 2004, S. 164–192 und Lutz Hagen/Reimar Zeh: Fußball als Wahlentscheider? Wie die deutsche Nationalmannschaft politische Popularität beeinflusst, in: Christina Holtz-Bacha (Hg.): Fußball – Fernsehen – Politik, Wiesbaden 2006, S. 193–213. 56 Zit. nach Holger Gertz: Die Einsamkeit der Verlierer, in: Süddeutsche Zeitung, 1. 7. 2002. Zu berücksichtigen gilt indes, dass die politische Wirkung auch kontraproduktiv ausfallen kann, wenn die Fans die fußballbezogene Präsenz der Politiker als Anbiederung wahrnehmen. So wurde die anhaltende Fußballmetaphorik des seinerzeitigen Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber auf einem dem WM-Endspiel 2002 unmittelbar vorausgehenden CSU-Parteitag kritisch in den Medien glossiert. Als Stoiber sich beim Endspiel − unmittelbar neben dem brasilianischen Fußballidol Pelé positionierte und »auch noch eine schwarz-rot-goldene Fahne über die rechte Schulter hängte«, um im Anschluss mit Deutschlandwimpeln zu winken, hielt dies nicht nur der Spiegel für überzogen. »Wir bewegen uns«, so mahnte das CDU-Präsidiumsmitglied Jörg Schönbohm, auf einem schmalen Grat zwischen Inszenierung und Überinszenierung«. Zit. nach: Der Spiegel, 8.7.2002.

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diesem Hintergrund zu dem Ergebnis, dass der DFB »als Interessenverband immer größere Schwierigkeiten« haben wird, »zentrale Steuerungskompetenzen zu behalten«. Ebenfalls aus politikwissenschaftlicher Perspektive behandelt der Beitrag von Jürgen Mittag die beträchtlichen Veränderungen, mit denen der Fußball durch den Kompetenzzuwachs der Europäischen Union konfrontiert ist. Das viel diskutierte Bosman-Urteil stellt dabei nicht das einzige, sondern nur das prominenteste Beispiel für die Tragweite des europäischen Binnenmarkts dar. Die Verlagerung von Kompetenzen hat nicht nur zu einer wachsenden Anzahl von beteiligten Akteuren auf europäischer Ebene − und zu zunehmenden Interventionen seitens der Europäischen Kommission − geführt, sondern auch zu einer Europäisierung der nationalen Akteure. Der Beitrag von Mittag unterstreicht, dass mit veränderten Strukturen und neuen Akteuren auch eine Veränderung im Machtgeflecht des europäischen Fußballs einhergegangen ist, die vor allem die Rolle der bisher dominanten Verbände − namentlich der UEFA und FIFA − begrenzt. Primär aus historiographischer Perspektive behandelt Christiane Eisenberg die Entwicklung der FIFA und das Verhältnis der Fußball-Weltorganisation zu den einzelnen nationalen Verbänden. Eisenberg kommt dabei zu dem Schluss, dass die FIFA längst nicht mehr nur eine internationale Sportorganisation ist, sondern sich zu einem »global player« entwickelt hat, der eine Vielzahl von über den eigentlichen Sportbereich hinausgehenden verbundenen Funktionen wahrnimmt. Zurückzuführen ist die weitgehend ungeplante und unkoordinierte Funktionsausweitung der FIFA laut Eisenberg in erster Linie auf den Umstand, dass die Entwicklung der FIFA stets auf das Engste mit dem Zeitgeschehen und den jeweiligen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen verwoben war − jedoch nur in Ansätzen von ihr selbst aktiv gesteuert werden konnte. Im Gegensatz zur bisherigen akteurszentrierten Perspektive orientieren sich die folgenden drei Beiträge an spezifisch kontinentalen Entwicklungen. Georg Ismar zeigt für Südamerika an einzelnen Länderbeispielen, dass hier besonders ausgeprägte Wechselwirkungen zwischen Politik und Fußball auszumachen sind. Zurückgeführt wird dieser Umstand von Ismar vor allem auf die beträchtlichen Emotionen, die der Fußball in Südamerika auslöst, so dass er gezielt von den Regierenden eingesetzt wurde bzw. wird, um Krisen zu bewältigen oder Legitimationsdefizite zu kompensieren. Eine Südamerika diametral entgegenstehende Entwicklung verfolgen Wolfram Manzenreiter und John Horne in ihrem Beitrag über den Fußball in Fernost. Ihr Beitrag erklärt, warum sich der Profifußball in Ostasien erst zum Ende des 20. Jahrhunderts etablierte. Die wichtigste Ursache wird dabei in einer verspäteten, aber »erfolgreiche[n] Integration der ostasiatischen Fußballperipherie in globale Warenmärkte« gesehen. Neben ökonomischen Gründen werden von Manzenreiter und Horne aber auch spezifische Interessen einzelner Staaten als Voraussetzung für den Aufstieg des Fußballs in Ostasien ausgemacht. Für die von Kurt Wachter dargestellte Entwicklung des Fußballs auf dem afrikanischen Kontinent ist wiederum eine andere Ausgangskonstellation festzumachen. Sein Beitrag zeigt, wie sich der afrikanische Fußball im Spannungsfeld von »postkolonialer Abhängigkeit« und »afrikanischem Emanzipationsstreben« entwickelte. Wachter verdeutlicht dabei, dass der afrikanische Fußball eigene Kennzeichen aufweist, die ihn für europäische Märkte interessant macht, thematisiert aber auch Normalisierungserscheinungen, da der Fußball auch auf dem afrikanischen Kontinent zunehmend Merkmale der Popkultur aufweist. Zieht man eine Bilanz der akteurszentrierten und geographisch ausgerichteten Beiträge zum Verhältnis von Fußball und Politik, wird deutlich, dass der Fußball in einer zunehmenden Anzahl von Themenfeldern politisch relevanter wird, da sich immer mehr politische Akteure auf fußballbezogenem Terrain bewegen. Hieraus lässt sich die Schlussfolgerung

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ableiten, dass der Fußball auf der einen Seite als Projektionsfläche genutzt wird, dass er sich auf der anderen Seite aber auch zu einen Politikfeld sui generis entwickelt, dessen Bedeutung bisher noch kaum zu überblicken ist.

Fußball als Medienevent Die herausragende Bedeutung, die der Fußball inzwischen auf dem gesamten Globus innehat, steht in direktem kausalen Zusammenhang mit der Vermittlung des (Spitzen-)Sports über die Medien. Befürchtete man früher, dass zu viel Fußball im Fernsehen die Zuschauerzahlen in den Stadien reduzieren würde, geht man heute − angesichts kontinuierlich steigender Besucherzahlen in den Arenen, die mittlerweile zu modernen Pilgerstätten der Freizeitindustrie um- bzw. neu gebaut wurden57 − vom Gegenteil aus. Spätestens seit Beginn der 1990er Jahre − in Deutschland wie anderorts vor allem festzumachen an dem zunehmenden Wettbewerb um die Senderechte an Fußballspielen − ist eine wachsende Umfeldberichterstattung festzustellen, die sich nicht mehr alleine auf Liveübertragungen oder Zusammenfassungen der Spiele beschränkt, sondern zahlreiche ergänzende Facetten des Fußballspiels beleuchtet und insbesondere außersportlichen Themen und Fragestellungen breiten Platz einräumt.58 Der telekratisch organisierte Fußball ist dabei zu einem beachtlichen Machtfaktor im Spiel der Akteure geworden. Mit Blick auf diese Ausgangsüberlegungen geht der dritte Themenkreis der Publikation der Frage nach, inwieweit sich das mediale Umfeld verändert hat. Im Mittelpunkt stehen der Wandel der Mediensysteme sowie die veränderten Produktions- und Rezeptionsbedingungen. Untersucht wird, ob der Fußball − verstärkt durch (Sport-)Journalisten, Programmverantwortliche und Medienanbieter, die sich seiner aufmerksamkeits- wie umsatzträchtigen Kraft bedienen − ausschließlich zum Produkt kommerzieller Interessen geworden ist oder ob der Fußball selbst auch als Produzent neuerer gesellschaftlich-kultureller Entwicklungen fungiert. Dass die »Wettbewerbsspiele« Fußball und Politik in ihren (medialen) Inszenierungen zahlreiche Parallelen aufweisen,59 hat sich bereits in umfassenden Forschungen niedergeschlagen, in denen der »Mediensport« grundlegend behandelt wurde.60 Weitgehende Einigkeit herrscht darüber, dass Fußball zu dem Medienereignis geworden ist.61 Aktuelle 57 Die Vermarktung der neuen Sportstätten – auch außerhalb der Spieltage – hat ebenfalls eine neue Qualität erreicht. So finden unter enormem Zuschauerzuspruch in der »Veltins Arena« auf Schalke nicht nur Opern- und Popkonzerte, sondern auch Fernsehshows und Biathlonwettbewerbe statt. Die Logen in den Arenen werden zudem für Kongresse und Firmenfeiern vermietet. 58 Vgl. bereits Rolf Scholz: Konvergenz im TV-Sport. Eine komparative Studie des »Dualen Fernsehsystems«, Berlin 1993. 59 Vgl. Jürgen Schwier/Claus Leggewie (Hg.): Wettbewerbsspiele. Die Inszenierung von Sport und Politik in den Medien, Frankfurt am Main/New York 2006 und Thomas Schierl (Hg.): Die Visualisierung des Sports in den Medien, Köln 2004. 60 Vgl. Josef Hackfort (Hg.): Sportmedien & Mediensport. Wirkungen – Nutzung – Inhalte der Sportberichterstattung, Berlin 1988; Lars Rademacher: Sport und Mediensport. Zur Inszenierung, Pragmatik und Semantik von Sportereignissen im Fernsehen, Siegen 1998; Gerhard Trosien/Michael Dinkel (Hg.): Verkaufen die Medien die Sportwirklichkeit? Authentizität – Inszenierung − Märkte, Aachen 1999 und Jürgen Schwier (Hg.): Mediensport. Ein einführendes Handbuch, Baltmannsweiler 2002. 61 Vgl. Mathias Mertens: »Der Rummel wuchs und kumulierte« – Über den Prozess des Medienereignisses, in: Jürgen Schwier/Claus Leggewie (Hg.): Wettbewerbsspiele. Die Inszenierung von Sport und Politik in den Medien, Frankfurt am Main/New York 2006, S. 20–41. Vgl. grundlegend zu den Veränderungen der Medienkultur und dem Bedeutungsaufschwung des »Medienspektakels« die Beiträge in Rainer Winter (Hg.): Medienkultur, Kritik und Demokratie. Der Douglas Kellner Reader, Köln 2005.

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Beobachtungen kommen zu dem Ergebnis, dass die Sport- und vor allem die Fußballberichterstattung mehr und mehr die Themen der nationalen – und teilweise auch der internationalen – Debatten bestimmt.62 Dies gilt auch für die Alltagskommunikation, wie Gespräche über die Reality-Serie »Helden der Kreisklasse« (Kabel 1) mit Manfred Burgsmüller zeigen. Um sich auf die neue − und beschleunigte − Entwicklung einzustellen, investieren Spieler, Vereine und Verbände zunehmend in Medienberater.63 Exspieler, Manager und z.T. auch Medienberater treten zunehmend in Diskussionssendungen, Unterhaltungssendungen und in der Werbung auf – die Ex-Manager Reiner Calmund (Bayer Leverkusen) und Rudi Assauer (Schalke 04) haben es zu enormer Bildschirmpräsenz gebracht. Eingeleitet wird der dritte Themenblock durch Markus Stauffs Betrachtung von Be- und Entgrenzungsprozessen des Fußballs im medialen Kontext. Die von ihm untersuchten Tendenzen werden mit den Begriffen Ökonomisierung und Spektakularisierung belegt. Stauff arbeitet heraus, dass der Fußball in andere gesellschaftliche Praxisbereiche eingeflochten ist, deren Verhältnis flexibel und multifunktional ist. Im Hinblick auf die These der Instrumentalisierung des Fußballs fällt Stauff ein ambivalentes Urteil, denn vor dem Hintergrund der von ihm benannten »Paradoxien der Instrumentalisierung« ist weniger eine eindeutige Inanspruchnahme des Fußballs als vielmehr ein höchst interdependenter Prozess auszumachen, der eine abschließende Bewertung erschwert. Nicht die Paradoxien der Instrumentalisierung, sondern einen Anwendungsfall der Ausdifferenzierung der Sportberichterstattung untersuchen Marcus S. Kleiner und Christoph Jacke in ihrem Beitrag über den gegenwärtigen Boom von Fußballmagazinen. Die Autoren zeigen, dass die Berichterstattung über Fußball einem − gesamtgesellschaftlichen − Selbstverständigungsdiskurs zuzurechnen ist, der durch eine Annäherung zwischen Fußball- und Popjournalismus gekennzeichnet ist. Kleiner und Jacke sprechen in diesem Zusammenhang von einer »Popjournalisierung der Fußballberichterstattung«, da in den neuen Magazinen Imagetransfers und Bildproduktionen ablaufen, wie sie aus dem aktuellen Popjournalismus und der so genannten Popliteratur bekannt sind. Untermauert wird diese Zuschreibung durch eine Inhaltsanalyse der jungen Magazine 11Freunde und Rund im Vergleich mit dem traditionellen Kicker. Auch Moritz Ballensiefen und Jörg-Uwe Nieland greifen die Ausdifferenzierung und die zunehmende Unterhaltungsorientierung der Berichterstattung auf. In Verlängerung der Debatte um die »Talkshowisierung des Politischen« diagnostizieren sie eine »Talkshowisierung des Fußballs«. Nicht nur im »Doppelpass« des DSF, sondern in zahlreichen anderen Sendungen und Formaten − darunter vor allem in Politischen Talkshows − breitete sich im Vorfeld und während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 das Plaudern über den Fußball aus. Die dabei festzustellende Personalisierung und (Selbst-)Inszenierung der Journalisten als Fans verhinderte oftmals eine kritische Auseinandersetzung mit sportpolitischen und sportökonomischen Hintergründen. Ballensiefen und Nieland weisen auf die Gefahr hin, dass die Informationsfunktion, die gerade bei Politischen Talkshows erwartet werden darf, vor diesem Hintergrund auf der Strecke zu bleiben droht.

62 Vgl. Wiebke Loosen: »Das wird alles von den Medien hochstilisiert.« Themenkarrieren und Konjunk­ turkurven der Sportberichterstattung, in: Gunnar Roters/Walter Klingler/Maria Gerhards (Hg.): Sport und Sportrezeption, Baden-Baden 2001, S. 133–141. 63 Vgl. stellvertretend Christoph Bieber: Experten und Karrieren zwischen Fußball, Politik und Medien, in: Jürgen Schwier/Claus Leggewie (Hg.): Wettbewerbsspiele. Die Inszenierung von Sport und Politik in den Medien, Frankfurt am Main/New York 2006, S. 120–146, hier S. 125.

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Die mediale Präsenz des Fußballs spiegelt sich nicht allein im Fernsehen und in den Printmedien, sondern auch in Spielfilmen wider. Stefan Moitra verweist in seinem Beitrag auf dieses bisher wenig beachtete Phänomen und zeigt an drei Filmbeispielen des 21. Jahrhunderts, wie über den Fußball die Zugehörigkeit zu einer Nation konstruiert wird, die sich symbolisch über den Fußball definiert. Die identitätsstiftende Bedeutung des Publikumserfolgs »Das Wunder von Bern« wird ebenso herausgestellt wie die Integrationskraft des Films »Bend it like Beckham«. Moitra illustriert an den von ihm näher untersuchten Beispielen, dass der Fußball oftmals nur »als Aufhänger« genutzt wird, um »gesellschaftliche Probleme ins Bild zu setzen«. Als »Spiegel nationaler Selbstdeutungen« wie auch zugleich als »Motor der gezeigten Entwicklung« kommt dem Fußball so eine wichtige Rolle zu. Tobias Fricke und Reimar Zeh arbeiten die Rolle der Medien bei der Konstruktion des Images von Bundesligavereinen heraus. Angesichts des engen Beziehungsgeflechts von Sport, Medien und Wirtschaft hinterfragen sie, inwieweit die Berichterstattung über Fußballvereine das tatsächliche Spiel- und Vereinsgeschehen wiedergibt. Am Beispiel der Berichterstattung über Hannover 96 und den VfL Wolfsburg dokumentieren sie das Einflusspotenzial der Medien für die Wahrnehmung der Vereine. Letztlich kommen Fricke und Zeh indes zu dem (beruhigenden) Befund, dass die Imagebildung primär durch die Leistungen auf dem Platz erfolgt – und nicht durch die Berichterstattung. Die Rolle des Fußballs als hegemoniale Sportartkultur erörtern Katrin Döveling und Andrei S. Markovits. Mit Blick auf die »im Abseits« stehende Fußballnation USA64 untersuchen sie die dortige Rolle des Fußballs in Konkurrenz zu den Großen Drei (Baseball, Football und Basketball). Sie bezeichnen es als Rhapsody, wenn leidenschaftliche Deutungen, Mutmaßungen, Projektionen und Assoziationen die »Public Mood« bestimmen. Die Analyse der Berichterstattung in US-amerikanischen Tageszeitungen während der letzten beiden Fußball-Weltmeisterschaften kann die Ausnahmestellung des Fußballs in den USA erklären, denn zu diesen Zeitpunkten verzeichnete der Fußball eine große Aufmerksamkeit; Döveling und Markovits sprechen gar von einem »Weltcup-Bewusstsein«. In der Zusammenschau der Beiträge des dritten Problemkreises wird nicht nur das Inszenierungspotenzial des Fußballs deutlich, sondern es zeigt sich, dass Fußball als Medienevent zu einer treibenden Kraft beim Übergang in die Mediengesellschaft geworden ist. Gleichzeitig gerät der Fußball aber zunehmend unter »Kommunikationsstress« – die mediale Inszenierung nimmt quantitativ und qualitativ zu, was dazu führt, dass die Produzenten und Rezipienten Verfügbarkeit und Professionalität erwarten. Während in den vorliegenden Beiträgen die Konzentration auf dem Leitmedium Fernsehen sowie auf Spielfilmen und ausgewählten Printmedien lag, wird es für zukünftige Forschungen interessant werden, zu untersuchen, welche Bedeutung, Darstellungsformen sowie Aneignungsmuster der Fußball im Internet entwickeln wird.

Fußball als Objekt kultureller Aneignung Aus dem Leben zahlreicher Menschen ist das Spiel mit dem runden Leder heute nicht mehr wegzudenken. Es gilt weithin als unbestritten, dass Fußball als öffentliches Gut in die Gesellschaft hineinwirkt. Gleichermaßen wird kaum noch in Frage gestellt, dass Fußball als Stimme des Volkes Gesellschaft abbilden kann. Der Fußball hat mittlerweile Einzug in die Alltagsund selbst in die Hochkultur gehalten, was sich in zahlreichen Facetten widerspiegelt – am 64 Vgl. Andrei S. Markovitz/Steven L. Hellermann: Offside. Soccer and American Exceptionalism, Princeton/Oxford 2001 (dt.: Im Abseits. Fußball in der amerikanischen Sportkultur, Hamburg 2002).

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deutlichsten wohl in der Kommunikationsfunktion des Fußballs.65 Bildeten früher Kunst oder Verkehr die »Zentren, an denen die Gesellschaft zusammenkommt und sich synthetisiert«, so sind es heute vor allem »die Stätten des Entertainments«.66 Unter diesen spielen die Stadien, jüngst auch die »Fanmeilen«, und nicht zuletzt das Fernsehen eine zentrale Rolle. Trotz wachsender Kritik an einer bisweilen überbordenden Fußballmetaphorik und einer zunehmenden Zahl intellektueller und politischer Fußballversteher,67 gewinnt der Fußball aufgrund seiner zahlreichen Riten und Rituale rund um das Spiel, angesichts zahlreicher zum Mythos stilisierter Partien sowie infolge der vielfältigen Formen der Fußballrezeption und des Fanverhaltens auch in kulturwissenschaftlicher Perspektive an Relevanz. Dabei wird den Kategorien »Ästhetik« und »Performanz«68 eine besondere Bedeutung und Erklärungskraft zugemessen. Der vierte Abschnitt des Bandes untersucht mit Blick auf diese Kategorien die Kulturfähigkeit des Fußballs, fragt zugleich aber auch nach der Fußballfähigkeit der ­Kultur. Mit dem ästhetischen Potenzial des Fußballs setzt sich Felix Reisel auseinander, indem er das Verhältnis von Fußball und Kunst im Kontext − der Ausnahmesituation − der Weltmeisterschaft 2006 untersucht. Reisel kommt zu dem Ergebnis, dass Kunst und Fußball in erheblichem Ausmaß versucht haben, sich gegenseitig zu vereinnahmen und »den jeweils anderen für eigene Zwecke einzuspannen«. Beiden ging es um eine Ausweitung ihrer Zielgruppe und eine Steigerung der Aufmerksamkeit. Während die Kunst mit dem Thema Fußball ein neues Sujet erhielt und sich selbst zahlreiche Hochkulturinstitutionen das ästhetische Reservoir des Fußballs zu Nutze machten, konnte der Fußball sich in anderem Gewand und auf anderer Bühne präsentieren und so ebenfalls von der Interaktion profitieren. Die Untersuchung von Oliver Lubrich fußt auf gängigen Meinungen, (Vor-)Urteilen und Theorien zum Verhältnis von Fußball und Literatur. Am Beispiel deutschsprachiger Texte und lateinamerikanischer Literatur wird das Potenzial des Fußballs »zur Reflexion existenzieller ebenso wie politischer Themen« aufgezeigt. Lubrich kritisiert die insbesondere in der Literaturwissenschaft verbreitete Skepsis gegenüber der Fußballliteratur. Angesichts eines wachsenden Interesses von Intellektuellen und Schriftstellern am Fußball sowie der Erweiterung des Kulturbegriffs – beispielhaft veranschaulicht an Peter Handkes Roman »Die Angst des Tormanns beim Elfmeter« – zeigt Lubrich zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten und Perspektiven eines neuen Verhältnisses von Fußball und Literatur. Aus kulturalistischer Perspektive beschäftigt sich der Österreicher Roman Horak mit dem komplizierten Verhältnis der Fußballnationen Deutschland und Österreich. Horak geht der These nach, dass der Fußball in Deutschland von Beginn an Bestandteil der nationalen Sportkultur war, während er in Österreich zunächst vorwiegend eine Wiener Angelegenheit darstellte. Erst mit der Herausbildung eines eigenen österreichischen Nationalstaates und eines »wachsenden nationalen Selbstbewusstsein[s] Österreichs« hat sich Horak zufolge der 65 Umstritten ist, ob dem 1974 erschienenen Sammelband von Ludwig Harig/Dieter Kühn (Hg.): Netzer kam aus der Tiefe des Raumes, München 1974, der seinerseits wiederum auf einem FAZ-Feuilleton Beitrag von Karl-Heinz Bohrer basiert, oder dem Band von Helmut Böttiger: Kein Mann, kein Schuß, kein Tor, München 1993 katalysatorische Bedeutung für die Entfaltung des deutschen Fußball-Feuilletons zukommt. 66 Hartmut Böhme: Der Ball der Göttin, in: Die Zeit, 10. 8. 2006. 67 Allein in den sieben Plenarsitzungen des Dt. Bundestags während der WM 2006 wurde 160 mal das Wort »Fußball« bemüht. 68 Vgl. Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002 und Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Sandra Umathum/Matthias Warstat (Hg.): Performativität und Ereignis. Theatralität Band 4, Tübingen 2003.

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Fußball zu einer Leitsportart in der Alpenrepublik entwickelt. Vor dem Hintergrund der damit verbundenen deutsch-österreichischen Rivalität markieren »Cordoba« und »Gijon« Schlüsselspiele, die das Verhältnis von Deutschland und Österreich auch über den Fußball hinaus nachhaltig prägten. Während der Fußball in zahlreichen Ländern in (Fußball-)Museen Einzug gehalten hat, ist dies in Deutschland zumindest auf gesamtstaatlicher Ebene noch nicht der Fall. Mit Blick auf dieses Vakuum erläutert Martin Wörner in seinem Beitrag die Motive für ein deutsches Fußballmuseum. Er widmet sich dem »Ausstellungsthema Fußball« und veranschaulicht verschiedene Varianten, Fußball im Museum zu präsentieren. Einen besonderen Schub sieht er durch das Kulturprogramm vor und während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland ausgelöst. Ziel eines deutschen Fußballmuseums sollte nach Ansicht von Wörner die lebendige Vermittlung der Geschichte des Ballsports inklusive der Darstellung in den Medien sein. Mit den beiden zentralen kulturwissenschaftlichen Begriffen »Theatralität« und »Performativität« arbeitet Holger Beßlich. Er erläutert mit Hilfe dieser Kategorien die »Produktion von Präsenz«, jedoch nicht in den Medien, sondern im Stadion – gemäß dem Motto »Was zählt is’ auf’m Platz«. Beßlich zeigt, dass die Faszination des Fußballs zu einem erheblichen Teil aus einerseits den Erwartungshaltungen der Stadienbesucher und aus den geplanten Strategien der beteiligten Teams und andererseits der im Stadion erfolgenden Umsetzung und ihrer Rezeption resultiert. Die Vorgänge im Stadion hat auch Lothar Mikos im Blick, wenn er sich mit dem »Mythos Fan« auseinandersetzt. Geprägt sieht er Fußballfans durch die gesellschaftlichen Veränderungen − insbesondere durch die zunehmende Individualisierung. Mikos macht darauf aufmerksam, dass sich in »der reflexiven Moderne« auch Fußballfankulturen »ent-traditionalisiert und de-territorialisiert« haben. Unter anderem am Beispiel einer Gegenüberstellung der Sympathien für europäische Spitzenvereine sieht Mikos den Trend zum Rückgang der traditionellen Sportfans − im Sinne von Stadienbesuchern in der Heimatstadt − und den Anstieg der Zahl der Mediensportfans. Vor diesem Hintergrund fungiert der Fußball immer weniger als Definitionsmerkmal einer spezifischen geographischen oder sozialen Prägung, sondern verstärkt als Ausdruck von »Lebensstil und Geschmack«. Sucht man aus der Bandbreite der Beiträge des vierten Abschnitts eine Quintessenz zu ziehen, findet sich diese in der Beobachtung, dass der Fußball als Träger seine (Massen-)Kulturfähigkeit unter Beweis gestellt hat. Während er in den 1960er Jahren vor allem literarisch eine Randerscheinung war, erlebt der Fußball nun seine Popularisierung. Fußball und Popkultur weisen immer mehr Berührungspunkte auf, so dass auch die Kommerzialisierung und Eventisierung des Sports weiter vorangetrieben werden.

Fußball als Wirtschaftsfaktor Im fünften und letzten Abschnitt des Bandes steht die wirtschaftliche Dimension im Mittelpunkt. Dass der Fußball nicht losgelöst von ökonomischen Anforderungen funktioniert, äußert sich seit langem in einer Vielzahl von Beispielen.69 Die in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts in Deutschland geführten Debatten über den Amateurstatus der Spieler oder der die Gemüter erhitzende Bundesligaskandal und die Einführung von Trikotwerbung in den 1970er Jahren muten aus heutiger Perspektive indes fast anachronistisch an. Mittlerweile 69 Vgl. stellvertretend Franz-Josef Brüggemann: Geld und Spiele, in: Informationen zur politischen Bildung: »Fußball – mehr als ein Spiel«, Heft 290 (2006), S. 45–51.

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sind die meisten Fußballclubs der Champions League und selbst zahlreiche Vereine der zweiten Reihe nationaler Ligen weltweit agierende Wirtschaftsunternehmen, die den Kräften eines weitgehend liberalisierten Marktes unterliegen. Clubs wie Real Madrid bestreiten mit ihren Angestellten ausgeklügelte Tourneen in andere Kontinente, um neue Klientel und Finanzquellen zu erschließen. Während auf den Börsengang zahlreicher Vereine vielfach – wie im Fall von Borussia Dortmund oder Lazio Rom – Ernüchterung folgte, sind andere Clubs − wie der FC Chelsea oder Manchester United nach der Übernahme durch Malcolm Glazer − zu Geldanlage- und Spekulationsobjekten von Großinvestoren geworden. Die Sportindustrie stellt inzwischen einen milliardenschweren Wirtschaftsfaktor dar, dessen Wachstumspotenzial nahezu unbegrenzt scheint, wenn man berücksichtigt, dass mit der Weltmeisterschaft 2006 einmal mehr neue Absatzmärkte erschlossen werden konnten.70 Das anhaltend wachsende wirtschaftliche Potenzial des Fußballs hat zudem das Auftreten neuer Akteure forciert, die den Fußball für ihre eigenen ökonomischen Interessen nutzen. So eroberte mit den Spielerberatern eine Akteursgruppe die Fußballbühne, die bis vor wenigen Jahren weder quantitativ noch qualitativ im heutigen Ausmaß in Erscheinung getreten ist. Eine ökonomisierte Medienlandschaft stimuliert im Wechselspiel mit einer weitgehend medialisierten Sportlandschaft das, was Thorsten Schauerte und Jürgen Schwier als »die Entfaltung einer Symbiose aus Wirtschaft, Sportsystem und Medien« bezeichnen.71 Diese Symbiose wird als zentrales Merkmal von Modernisierungsprozessen im Fußball angeführt.72 Sie weist jedoch ein labiles Gleichgewicht auf, da das Ziel der Gewinnmaximierung und die Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie jeweils aufs Neue in Einklang zu bringen sind. Das Interaktionsgeflecht von Sport, Wirtschaft und Medien steht damit permanent vor der Gefahr einer Überhitzung. Der rasante Anstieg der Kosten für Sportübertragungen und -rechte war nicht zuletzt ein wesentlicher Faktor für den rege debattierten Konkurs des Kirch-Konzerns. Aber auch die zunehmende Anzahl von Skandalen wie etwa die Schiedsrichtermanipulationen in Deutschland und Italien 2005/06 oder die Korruptions- und Wettaffären mit globalen Ausmaßen sind Konsequenzen der Ökonomisierung des Fußballs, die drohen, das bisher bekannte Fußballsystem in Frage zu stellen.73 Eröffnet wird der fünfte Abschnitt des Bandes durch den gemeinsamen Beitrag von Roelf Bleecker-Dohmen, Karl-Heinz Stammen, Hermann Strasser und Götz Weber, die darauf verweisen, wie viel Geld mit Fußball verdient werden kann und welche Konsequenzen dieser Umstand für die Fußballfans nach sich zieht. Unterschieden wird aus soziologischer Sicht 70 So auch Dirk Schindelbeck: Mittendrin statt nur dabei? Zur Entwicklungsdynamik von Fußball. Medien und Kommerz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 26 (2004), S. 16–22. Letztendlich sind die Wachstumseffekte von Fußballweltmeisterschaften aber umstritten. Während Frankreich im WM-Jahr 1998 einen Wachstumssprung von 1,6 Prozent auf 3,3 Prozent verzeichnete, wurde 2002 für Südkorea ein Wachstum von 7 Prozent, für Japan indes ein Rückgang von 0,3 Prozent gemessen. 71 Thorsten Schauerte/Jürgen Schwier: Vorwort, in: dies. (Hg.): Die Ökonomie des Sports in den Medien, Köln 2004, S. 7–9, hier S. 7. Vgl. für eine etwas andere Akzentsetzung Walter Tokarsky/Michael Groll: Die FIFA Fußball-WM 2006 in Deutschland: Das Zusammenspiel von Staat, Sport und Wirtschaft, in: Walter Tokarsky/Karen Petry/Barbara Jesse (Hg.): Sportpolitik. Theorie- und Praxisfelder von Governance im Sport, Köln 2006, S. 75–89. 72 Vgl. Sonja Brandmaier/Peter Schimany: Die Kommerzialisierung des Sports. Vermarktungsprozesse im Fußball-Profisport, Hamburg 1998; Gerald Hödl: Zur politischen Ökonomie des Fußballsports, in: Michael Fanizadeh/Gerald Hödl/Wolfram Manzenreiter (Hg.): Globale Players – Kultur, Ökonomie und Politik des Fußballs, Frankfurt am Main 22005, S. 13–36. 73 Vgl. für einen empirischen Überblick Rainer Koch/Wolfgang Maennig: Spiel- und Wettmanipulationen – und der Anti-Korruptions­kampf im Fußball, in: Der Bürger im Staat 1 (2006), S. 50–58.

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zwischen neuen und traditionellen Fans, unter denen insbesondere Letztere darunter leiden, dass statt des Gemeinschaftsgefühls immer stärker das Gewinnstreben in den Vordergrund tritt. Als Indizien werden hierfür u. a. angeführt, dass Spieler immer häufiger als Werbeikonen auftreten und eine Entfremdung zwischen Fußballern und Zuschauern auszumachen ist. Gleichwohl schlussfolgern die vier Autoren, dass die traditionellen Fans nicht gänzlich verdrängt werden. Ihre resümierende These lautet, dass traditionelle Fans bei der Eventisierung weiter benötigt werden und sich infolgedessen auch Anzeichen erkennen lassen, dass die Schraube der Kommerzialisierung nicht unendlich weitergedreht werden kann. Mit wachsender Kommerzialisierung steigen Sponsoren zu zentralen Akteuren auf. Christoph Fischer zeichnet in seinem Beitrag den Weg vom Mäzenatentum zum Sponsoring im modernen, globalisierten Fußball nach. Indem er die vielfältigen Varianten wirtschaftlicher Einflussnahme beleuchtet, verweist er darauf, dass diese »Formen und Ausmaße annehmen« können, »die einen negativen Einfluss auf den Fußball« nach sich ziehen. Anhand zahlreicher Beispiele wird von Fischer verdeutlicht, inwieweit Sponsoren bereits Eingriffe in die Vereinsstrukturen vorgenommen haben und welche Konsequenzen aus der Abhängigkeit von Fußballvereinen gegenüber Sponsoren erwachsen. Von der wissenschaftlichen Forschung wurde die zunehmende Bedeutung von Sportwetten − von denen über 85 Prozent im Bereich des Fußballs abgegeben werden − bislang kaum beachtet. Merten Haring weist auf die Relevanz dieses Themenfeldes hin, greift die wegweisende Entscheidung der deutschen Ministerpräsidenten im Dezember 2006 auf und skizziert Positionen und Reaktionen der beteiligten Akteure, die sich allesamt des Fußballs bedienen, um auch künftig entsprechend hohe Einnahmen zu erzielen. Inwieweit sich aus der Ökonomisierung des Fußballs Wettbewerbsverzerrungen ergeben, wird künftig verstärkt zu hinterfragen sein. Eine erste Spurensuche auf diesem Gebiet leisten Mike Friedrichsen und Michael Löhe, die sich mit der Kommerzialisierung der europäischen Fußballligen auseinandersetzen. Ihre Gegenüberstellung von Einnahmestrukturen in einzelnen europäischen Ligen betont die beträchtlichen Unterschiede in Europa. In ihrer Zusammenschau konstatieren Friedrichsen und Löhe, dass sich »Fußballvereine in den letzten Jahren immer mehr zu Wirtschaftsunternehmen entwickelt haben«, die sich verstärkt »betriebswirtschaftlich orientieren« müssen, deren Handeln jedoch betriebswirtschaftlichen Kriterien nur in Ansätzen gerecht wird, weswegen nach Ansicht der Autoren die Gefahr eines Crash’ nicht auszuschließen ist. Abschließend fragen Klaus Kamps und Jörg-Uwe Nieland nach der Kampagnenfähigkeit des Fußballs. Vor dem Hintergrund des Mottos: »Die Welt zu Gast bei Freunden« werden verschiedene Kampagnen zur Fußballweltmeisterschaft 2006 betrachtet. Neben der Initiative »Deutschland – Land der Ideen« beschäftigen sich Kamps und Nieland mit der vom Deutschen Bundestag initiierten Bundestagsarena. In ihrer Bilanz erörtern die beiden Autoren die Tragfähigkeit, aber auch die Grenzen von fußballbezogenen Kampagnen für politische, ökonomische und kulturelle Zwecke. Bezugspunkt für alle Beiträge des fünften Abschnitts ist die zunehmende Berücksichtigung von Rentabilitätsaspekten im Fußball. Gerade zu dieser Tendenz kann indes nur ein Ausschnitt der aktuellen Entwicklungen präsentiert werden. Der Symbiose von Fußball, Medien und Wirtschaft wird angesichts der Summen, die mit bzw. um den Sport bewegt werden, zukünftig noch mehr journalistische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu widmen sein. Dabei gilt es nicht nur, die bedenklichen Auswüchse des »globalen Fußballkapitalismus« in Form von Korruptions- und Wettskandalen, hohen Eintrittspreisen, explodierenden Übertragungsrechten etc., sondern auch die Gegenstrategien und die Potenziale zu erkennen.

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Mehr als nur ein Spiel! Der Fußball als Spielball der Interessen Obgleich die disziplinären Zugänge und die Interpretationslinien der einzelnen Beiträge dieses Sammelbandes erheblich differieren, lassen alle fünf hier näher behandelten Themenfelder in der Zusammenschau doch den Schluss zu, dass der Fußball in vielfacher Hinsicht zum Spielball von Politik, Medien, Kultur und Wirtschaft geworden ist. Es zeichnet sich hierbei eine mehr oder weniger eindeutige Kausalkette ab: Eine beträchtliche Anzahl von Akteuren, die nicht in unmittelbarer Verbindung zur Sportart Fußball stehen, entwickelt eigene Interessen. Diese Interessen werden direkt oder kodiert − aber zunehmend unter Zuhilfenahme der Projektionsfläche des Fußballs − artikuliert. Dies vor allem, weil das Spiel mit dem runden Leder weltweit erhebliche Faszination ausübt und beträchtliches Aufmerksamkeitspotenzial besitzt. Die Projektion von Interessen auf den Fußball führt in unterschiedlichem Ausmaß dazu, dass dieser zunehmend stärker von nichtfußballbezogenen Aktivitäten instrumentalisiert − oder sogar vereinnahmt – wird. Der Kategorie »Interesse« kommt in dieser Argumentationskette zentrale Bedeutung zu, da mit ihr die Interaktionen und Abhängigkeiten in einer intentionalen wie strukturellen Dimension erfasst werden.74 In diachroner Perspektive ist diese Interessenartikulation keine Entwicklung der letzten Dekade, sondern ein Prozess, der sich sicherlich durch die gesamte Fußballgeschichte zieht, dessen Dimensionen jedoch in jüngster Zeit bisher unbekannte Ausmaße angenommen haben. Erst durch den Prozesscharakter können Indizien für die Transformation des Ballspiels offen gelegt werden. Dabei gilt zu berücksichtigen, dass diese Prozesse nicht nur in eine Richtung verlaufen, sondern dass vielmehr von einem Wechselspiel auszugehen ist. Wir können ebenso eine Politisierung des Fußballs beobachten wie gleichzeitig die »Fußballisierung« der Politik.75 Auf der anderen Seite verfügt − trotz manch massiver Kritik an der Ökonomisierung, einige Beobachter sprechen von der »Durchkapitalisierung des Fußballs«,76 − der Volkssport weiterhin über ein integratives und identitätsstiftendes Potenzial. Fußball schafft nicht nur ein Wir-Gefühl, inzwischen ist der Sport sogar für die so genannte Public Mood von Nationen zuständig77 und insofern Teil der politischen Kultur eines Landes. Fußball als globalisierte und vor allem medialisierte Sportart ist demzufolge nicht nur Tendenzen wie Theatralisierung, Emotionalisierung, Personalisierung und Telegenisierung unterworfen, sondern dient auch als Projektionsfläche des kulturellen, wirt74 Vgl. in diesem Sinne die politikwissenschaftlich orientierte Begriffsdefinition von Peter Massing: Interesse, in: Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze (Hg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Bd. 1, München 32005, S. 394–399, hier S. 398: »Über den Begriff des Interesses lässt sich das komplexe und amorphe Phänomen der Gesellschaft systematisieren und der empirischen Forschung zugänglich machen. Auf diese Weise kann das Spannungsverhältnis von Problemen, Interessen, Institutionen der Interessenrealisierung, Konflikten, Konfliktregelungsmechanismen inhaltlich beschrieben und analytisch erfasst werden.« 75 So Mittag/Ismar, S. 192 und Michael Schaffrath: Boom der Ball Branche. Gesellschaftliche Dimensionen der Fußballisierung, in: ders. (Hg.): Die Zukunft der Bundesliga. Management und Marketing im Profifußball, Göttingen 1999, S. 21. 76 Michael Fanizadeh/Gerhard Hödl/Wolfram Manzenreiter: Nachwort, in: dies. (Hg.): Global Players – Kultur, Ökonomie und Politik des Fußballs, Frankfurt am Main 22005, S. 275–279, hier S. 276. 77 »Public Mood, definiert als diffuser affektiver Zustand, der sich aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten politischer Gemeinschaft ergibt, ist eng mit nationaler Identität verknüpft. Nationale Identität wird hier bestimmt als der Teil der persönlichen Identität, der dazu dient, das Selbst in der Welt zu identifizieren und zu verorten.« Holtz-Bacha, S. 7. Vgl. auch Lutz M. Hagen/Reimar Zeh/Maike Müller-Klier: Fußball in den Medien. Public Mood und wie der Acker dann doch gewann, in: Christina Holtz-Bacha (Hg.): Die Massenmedien im Wahlkampf. Die Bundestagswahl 2002, Wiesbaden 2003, S. 264–281.

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schaftlichen, medialen und politischen Wandels. Zugleich ist der Fußball aber auch wiederum Motor dieser Prozesse. Eine zentrale Aufgabe künftiger Fußballforschung wird es sein, die Entwicklung dieses Spannungsverhältnisses differenzierter zu untersuchen und den Fußball in seinen unterschiedlichen gesellschaftlichen Dimensionen und Interaktionswirkungen weiter auszuleuchten. Bei aller − berechtigten − Skepsis über die hier im Blickpunkt stehende Inanspruchnahme des Fußballs sollte indes nicht übersehen werden, dass viele Beiträge dieses Bandes auch Indizien dafür liefern, dass der Fußball zu einem gewissen Teil immer auch rätselhaft und unbegreiflich bleiben wird − sowohl im Spiel selbst wie jenseits des Spielfeldes, denn hier wie dort ist nicht immer alles perfekt zu inszenieren und organisieren sowie im Sinne des Eigeninteresses umzusetzen. Die Vereinnahmung des Fußballs ist unübersehbar − sie wird aber − um im Bild zu bleiben − nicht zum Abpfiff des Fußballspiels führen.