Der Trend zu emotionaler Unreife

Der Trend zu emotionaler Unreife Von verbissenen Strebern, verunsicherten Blendern und unsensiblen Sensibelchen Bearbeitet von Klaus Nitsch 1. Aufl...
Author: Käthe Otto
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Der Trend zu emotionaler Unreife

Von verbissenen Strebern, verunsicherten Blendern und unsensiblen Sensibelchen

Bearbeitet von Klaus Nitsch

1. Auflage 2012. Taschenbuch. 336 S. Paperback ISBN 978 3 8491 1916 4 Format (B x L): 17 x 22 cm Gewicht: 585 g

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Warum bleiben Menschen emotional unreif? Es versteht sich von selbst, dass es für ein so komplexes Geschehen wie den aktuellen Trend zu emotionaler Unreife nicht den einen Grund gibt. Klar ist, dass, bei derartig tief greifenden und die ganze Gesellschaft erfassenden Tendenzen, nur ein Mix von Ursachen aus unterschiedlichen Bereichen (Gesellschaft insgesamt, Medien und Veränderungen der Individuen) in Frage kommt. Das vollständige Bündel von Einflussgrößen und deren Wechselwirkungen darzustellen und zu untersuchen, bleibt Wissenschaft und Forschung überlassen. Wichtig für uns ist, dass das Phänomen „emotionale Reifungsstörung“ in der Welt ist, gesellschaftliche Relevanz erlangt hat, medial dargestellt und vervielfältigt wird und sich jeweils im Individuum niederschlägt. Gehen wir bei unseren Überlegungen zu ihren Ursachen zunächst auf drei Faktoren ein, welche die Ausbreitung der emotionalen Unreife fundamental begünstigen. Diese stehen in einer engen Beziehung zueinander und ergänzen sich gegenseitig. Es handelt sich dabei um den Wandel von Normen und Werten, die Verbreitung des so genannten „systemischen“ Ansatzes, sowie die aktuelle gesellschaftliche Mode des Verzichts auf „klare Worte“.

Normen und Werte, Denken und Fühlen Man kann nicht über emotionale Unreife nachdenken, ohne gesellschaftliche und individuelle Wertvorstellungen zu berühren. Gefühle haben eine lebenswichtige Funktion. Sie sind Ausdruck einer Bewertung wahrgenommener äußerer Ereignisse oder eigener Gedanken und wirken selbst auf diese Bewertung zurück. Im Ergebnis dieses Wechselspiels wissen und fühlen wir mehr oder weniger intensiv, wie „wichtig/ unwichtig“, „positiv/ negativ“, „normal/ abwegig“, „freudig/ traurig“, „peinlich/ Selbstwert stärkend“, „gefährlich/ friedlich“, „abwertend/ aufwertend“, „anrührend/ gleichgültig“, „langweilig/ aufregend“ etc. eine Situation oder ein Gedanke für uns ist. Gefühle sind Bewertungen, die sich psychisch und biologisch ausdrücken. Sie können aber keinen haltenden Boden finden, wenn die verstandesmäßige Bewertung eines Gedankens oder eines Geschehens erschwert oder gar unmöglich gemacht wird, weil schwammige Normen und widersprüchliche Werte zu einer Auflösung der Klarheit der Beurteilungskriterien geführt haben. Als Orientierung taugen nun einmal nur eindeutige und verbindliche Werteübereinkünfte. Ungeklärte Wertvorstellungen haben fehlende oder zwiespältige emotionale Bewertungen und ausbleibende oder unentschlossene bzw. inkonsequente Reaktionen zur Folge.

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Früher wurden Gefühle als eigenständiges und vom Denken weitgehend abgrenzbares Geschehen aufgefasst. Heute geht man immer mehr davon aus, das Denken und Fühlen nicht voneinander getrennt werden können. Alles Denken ist von Gefühlen begleitet und jedes Gefühl fußt auf einem rational bewertenden Denkvorgang. Zu einer ausreichenden Beschreibung von Gefühlen gehört nicht nur ihre Tönung im Sinne von Freude oder Trauer, sondern auch ihre Intensität. Ein Gefühl kann ganz schwach, kaum spürbar, klar aber nicht überhand nehmend oder beherrschend und peinigend sein. Jeder Mensch hat zudem eine für ihn typische emotionale Amplitude. Bei dem einen ist die Emotionskurve ganz flach und schwingt kaum aus dem Mittelbereich heraus. Bei dem anderen sind ganz kräftige Ausschläge nach oben (z.B. Freude) und nach unten (z.B. Trauer) zu beobachten. Tönung und Intensität unserer Gefühlswelt werden nicht nur von verinnerlichten Wertvorstellungen beeinflusst, sondern auch von unserer biologischen Seite (Hormonhaushalt, Hirnstruktur etc.). Gefühle haben immer eine körperliche Komponente. Sie werden in ihrer Entstehung und Ausprägung stark von unserer biologischen Basis (Konstitution, Temperament) determiniert, auf welche sie gleichzeitig zurückwirken. Gefühle finden ihren Ausdruck in allen möglichen Körperfunktionen. Dazu gehören Puls, Blutdruck, Atmung, Hormonlage, Immunstatus und Muskelspannung. Welche Gefühle ein Mensch in einer bestimmten Situation empfindet, hängt sehr stark davon ab, wie er ein vergangenes, gegenwärtiges oder in der Zukunft erwartetes Geschehen interpretiert. Ausweglosigkeit erzeugt üblicherweise Protest oder Niedergeschlagenheit. Kontrollverlust ruft in der Regel Stressbelastungsgefühle, Angst oder Angstlust (thrill) hervor. Eine angenehme Erwartung bewirkt gewöhnlich Entspannung oder freudige Anspannung. Scheitern und Versagen sorgen meist für Schamgefühle, Verzagen oder erneute Anstrengungsbereitschaft. Was ein Mensch als beschämend, deprimierend, selbstwertbedrohlich, erfreulich oder stressend erlebt, wird auch dadurch bestimmt, welche Werte und Normen seiner Gesellschaft erkennt und sich zu eigen gemacht hat. Jeder Mensch hat in Anlehnung daran seine charakteristischen werte- und normbasierten Bewertungsmuster. Augenfällig wird fehlende emotionale Reife besonders im Zusammenhang mit den Werten und Normen, nach denen Menschen im Alltag bewusst oder unbewusst ihr Leben gestalten. Berührt werden dabei so wichtige Fragen unserer psycho-emotionalen Reifung wie zum Beispiel: - Welche Kriterien sind wichtig bei meiner Selbsteinschätzung und der Einschätzung anderer Menschen? - Welchen Stellenwert messe ich jeweils meiner äußeren Erscheinung und meinen inneren Werten zu?

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- Kann ich mich - also auch meinen Körper - annehmen, wertschätzen und vorbehaltlos lieben, so wie ich nun einmal bin oder habe ich das Gefühl, mich durch Eingriffe in mein Aussehen aufpeppen bzw. maskieren zu müssen? - Kann ich mich nur akzeptieren, wenn ich zu besonderen sportlichen, musikalischen oder anderweitigen Leistungen fähig bin? - Will und kann ich mich anderen öffnen und mich in ihr Erleben wirklich einfühlen? - Bin ich stark genug, mich gegen oberflächliche Wertungsvorschläge abzugrenzen, welche primär den Konsum fördernden Interessen von Warenproduzenten dienen, oder bleibt mir nur, mich dem Druck von außen zu beugen? - Kann ich meine Bindung zu Menschen genießen und es ertragen, wenn andere sich an mich binden möchten? - Bin ich als Kind und Jugendlicher mit meinen Eltern so weit im Kontakt, dass sie mich mit ihren Werten und Normen erreichen und beeinflussen können oder haben Gleichaltrige und Medien einen stärkeren Einfluss auf meine Wertvorstellungen? - Ist der Zugang zu meiner Intuition offen und vertraut oder verbaut und unsicher? - Kann ich mein Leben so ertragen wie es ist oder spüre ich oft den Drang in andere Welten (Bücher, Filme, Internet, Smartphone etc.) zu flüchten, um mich von meiner unbefriedigenden, langweilenden oder ängstigenden Lebenssituation abzulenken? - Erwarte ich von meinem Leben eine unendliche Abfolge berauschender Gipfelerlebnisse oder kann ich auch karge und mühevolle Täler akzeptieren? - Schäme ich mich eher, wenn ich mich moralisch fragwürdig (unbeherrscht, aggressiv, egoistisch, ausnutzend, oberflächlich, unaufrichtig usw.) verhalte oder schäme ich mich eher, wenn mein Kleidungsstil modisch nicht mehr ganz „up to date“ ist? - Achte ich auf meine Ernährung oder setze ich Nahrung unbewusst oder bewusst als Mittel gegen psychisches Unwohlsein ein? - Muss mein Kind irgendwelche Voraussetzungen erfüllen, damit ich als Elter mich wohl fühlen kann? - Wird mein Kind für mich erst durch spezielle Fähigkeiten, Fertigkeiten und äußerliche Merkmale liebenswert? - Ist für mich ein Sexualpartner aus einer anderen Altersgeneration akzeptabel? - Lebe ich Sexualität in Würde und verantwortungsbewusst aus oder muss ich rücksichtslos alles mitnehmen, was ich irgendwie kriegen kann? 3

Andere Werte, andere Gefühle? Normen- und Wertewandel haben ihren Ursprung vor allem in wirtschaftlichen, allgemeinen sozialen oder individuell-persönlichen Entwicklungen. Diese Bereiche beeinflussen sich gegenseitig und können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Sie haben eine nicht unbeträchtliche gemeinsame Schnittmenge. Wirtschaft wird von Menschen gemacht und hat damit, neben der ökonomischen, immer auch eine persönliche und eine soziale Seite. Das Sozialverhalten eines Menschen wird immer auch von seinen wirtschaftlichen oder seinen emotionalen Voraussetzungen und dem konkreten gesellschaftlichen Umfeld, z.B. der wirtschaftlichen Situation seiner Familie, geprägt. Einschätzungen und Bewertungen nehmen Menschen auf der Basis eines Abgleichs, mit, im Laufe ihres Lebens erworbenen, ganz persönlichen Wert- und Normvorstellungen, vor. Die verinnerlichten Werte liefern den Maßstab für Bewertungen der eigenen Person, von fremden und eigenen Gedanken, Situationen, anderen Lebewesen und Dingen. Im Ergebnis dieses Bewertungsvorgangs kommt das entsprechende Gefühl auf. Man kann also sagen: Die individuellen Wert- und Normvorstellungen eines Menschen haben entscheidenden Einfluss darauf, was er und wie er sich in einer bestimmten Situation fühlt. Veränderte Werte und Normen lassen in einer äußerlich vergleichbaren Situation andere Gefühle aufkommen. Menschen brauchen vernünftige gemeinsame Werte, Normen und Moralvorstellungen. Diese machen das Zusammenleben in der Gesellschaft „psychoökonomischer“. Was allgemein als gut und richtig anerkannt ist, muss nicht mehr in jeder Begegnung mit einem anderen Menschen neu ausgehandelt werden. Das erleichtert und beschleunigt die Orientierung im sozialen Miteinander, da für typische Situationen angemessene Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen durch anerkannte und verbindliche Wertekoordinaten nahe gelegt werden. Diese Werteübereinkunft hat für das Zusammenleben eine psychosozial ähnlich entlastende Wirkung wie - dieser Vergleich sei erlaubt - die einmal festgelegte Hackordnung in einer Hühnerherde. Sie hilft, Kräfte zehrende Auseinandersetzungen zu vermeiden und begünstigt ein friedfertiges und gedeihliches Miteinander der meisten Mitglieder der Gesellschaft. Unklarheit von Normen, Werten und Moralvorstellungen zerstört nicht nur individuelle Bewertungsmaßstäbe, sondern auch den gesellschaftlichen Wertekonsens, den es nur geben kann, wenn ausreichend viele Menschen einer Gesellschaft nach einem Mindestsatz gemeinsamer Normen leben. Die meisten Menschen fühlen sich besonders wohl, wenn sie mit sich und anderen im Einklang leben können. Voraussetzung für dieses Harmoniegefühl ist das Teilen von bzw. Leben nach überwiegend konformen Wertvorstellungen. Ein anerkanntes kollektives Regelwerk von Normen erzeugt Klarheit, Berechenbarkeit und letztlich Geborgenheit. 4

Ein fehlendes Mindestmaß an allgemeinen Werten und Normen sorgt für Verunsicherung, Gleichgültigkeit, Beliebigkeit und damit für Orientierungslosigkeit. Das hat einschneidende Konsequenzen. Gut und böse, richtig und falsch werden in einer derartigen Welt immer schwieriger zu bestimmen und zu unterscheiden. Relativ unverbindliche Normen und Werte, die ähnlich unbeständig sind wie Wanderdünen in einer von Stürmen heimgesuchten Wüste, stellen kein verlässliches Fundament für ein geordnetes und harmonisches Zusammenleben dar. Fehlende Regeln erzeugen letztendlich emotionale und soziale Verunsicherung, Haltlosigkeit und Orientierungsverlust. Moralischer Orientierungsverlust trägt entscheidend dazu bei, dass die emotionale Intelligenz einzelner Personen und der Gesellschaft insgesamt sinkt und emotionale Unreife zu einem Massenphänomen werden kann. Unsichere soziale („Wie soll ich mit anderen Menschen umgehen?“) und emotionale Normen („Was ist gut oder schlecht für meine Psyche, mein Wohlgefühl?“) überlassen das Feld alternativen Landmarken, die Halt und Orientierung versprechen. Wir Menschen suchen und brauchen nun einmal Gemeinsamkeiten mit anderen, um uns sozial zugehörig und miteinander verbunden zu fühlen. Auf der Suche nach dieser Verbundenheit werden viele junge Leute heute besonders leicht bei medial vermittelten ästhetischen („Was ist angesagt, cool oder schick?“) Normen fündig. Das Problematische daran ist, dass diese Vorgaben meist von Warenproduzenten mit dem Ziel der Steuerung des Konsumverhaltens ihrer Zielgruppen eingeführt werden. Naturgemäß geht es dabei um Umsatzinteressen der Hersteller und nicht um die Berücksichtigung oder gar Klärung der psychosozial wirklich wichtigen Grundfragen des Einzelnen. Von Herstellern (bzw. den beauftragten Agenturen) geförderte bzw. gesetzte - ein vorhandenes Wertevakuum füllende - und vor allem auf Äußerlichkeiten orientierte Scheinwerte und Konsumnormen bleiben oberflächlich. Sie machen Menschen, die diese akzeptieren, zudem kommerziell lenk- und schlussendlich ausbeutbar. Ästhetische und Konsummoden sind außerdem sehr flüchtig und können den Konsumenten nur vorübergehend ein vages Gefühl von Zugehörigkeit, Sicherheit und Halt geben. Ein aktuelles und derzeit omnipräsentes Beispiel einer grundlegenden Neufassung tradierter Wertvorstellungen in einem Bereich der Wirtschaft ist der drastische Imagewandel einer ganzen Branche und ihrer Beschäftigten nach der Bankenkrise 2008. Noch vor 20 Jahren galt ein Job bei einer Bank als Beleg für eine überdurchschnittliche intellektuelle Leistungsfähigkeit und einen seriösen, vertrauenswürdigen Charakter eines Arbeitnehmers. Mittlerweile hat sich das einst durchweg positive Bild des Bankers, im Verständnis weiter Kreise der Gesellschaft, dem des gierigen Abzockers oder gar des kaltblütigen Wirtschaftskriminellen mit Schlips und Kragen stark angenähert. Die ge-

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samte Bankenbranche und die in ihr tätigen Menschen sehen sich heute mit einem neuen Image konfrontiert, welches fast völlig entgegengesetzt zu dem früheren ist. Beispiele für Norminnovationen im sozialen Bereich liefert das Internet. Internetbasierte soziale Netzwerke wie Facebook, Foren und Blogs, oder auch Online-Partnervermittlungsagenturen haben neuartige Kontaktmöglichkeiten geschaffen. Derzeit bestehen aber noch keine allgemein anerkannten oder verbindlichen Regeln für den Umgang mit anderen Netznutzern. Der gesellschaftliche Diskurs über diesen Kodex steckt bestenfalls in den Kinderschuhen. Zu beobachten sind bisher insgesamt eine geringere Scheu beim Erstkontakt, ein eher zwangloser - manchmal vielleicht auch takt- oder respektloser, verletzender bzw. aggressiver - Umgangston sowie entweder eine verminderte oder eine übersteigerte, aber wenig verbindliche, Offenheit. Das Netz scheint durch die real vorhandene physische Distanz viele Chatter zur Distanzlosigkeit einzuladen. Unwahrheiten, Flirts aber auch Zoten oder Beleidigungen gehen im elektronischen Medium oft leichter von der Hand. Vielleicht geraten viele Kontakte distanzloser, weil die Reaktion des Gegenübers im Medium nie so präsent und beeindruckend sein kann wie die einer Person in Reichweite, deren körperliche Reaktionen (Blick, Atemfrequenz, Hautrötung, angespannte Fäuste, lächeln, aufeinander gepresste Zähne, Intonation und Sprache, körperliche Annäherung u.v.a.m.) unmittelbar wahrzunehmen sind. Vielleicht haben manche Internetnutzer auch das Gefühl, man könne sich im virtuellen Kosmos, wenn man es möchte, leichter tarnen oder entziehen bzw. völlig abtauchen. Einerseits kann der Kontakt über das World Wide Web ohne weiteres über lange Zeit unverbindlich und oberflächlich gehalten werden. Andererseits ist es aber auch leichter möglich, relativ rasch einander ungeniert die geheimsten Gedanken anzuvertrauen. Viele Internetnutzer legen eine unangemessene netzöffentliche Offenherzigkeit an den Tag. Sie entblättern sich geistig und/ oder körperlich (Fotos, Videos) wie sie es normalerweise gegenüber einer real präsenten - bekannten oder fremden - Person kaum tun würden. Die Etikette im Internet (Netikette) unterscheidet sich in vielen Dingen von den Regeln des Umgangs mit Personen im nicht-virtuellen Bereich. Hinsichtlich Kontaktanbahnung und -beendigung, Offenheit, Verbindlichkeit, Treue, Respekt und Scham haben viele Nutzer, wenn sie im Netz unterwegs sind, modifizierte oder völlig andere Wert- und Normvorstellungen als in ihrem sonstigen Leben. Und verläuft der neue Kontakt auf Probe nicht zur vollsten Zufriedenheit kann er für ungültig erklärt und das Gegenüber ganz einfach und folgenlos weggeklickt werden. Welche Auswirkungen wird das langfristig auf Sozialkontakte im nicht-virtuellen Leben haben? Veränderungen persönlicher Werthaltungen kennen wir alle. Im Laufe unseres Lebens kann sich die Einstellung zu anderen Menschen, politischen Akteuren und Richtungen, unserer Arbeit, Medieninhalten etc. grundlegend wandeln. Veränderte Haltun6

gen sind das Ergebnis unserer Erfahrungen und der sonstigen uns zugänglichen neuen Informationen. Überhaupt kommt dem Grad der Informiertheit bzw. dem Wissensstand der Menschen und damit auch der Qualität der Informationsquellen bei der Beschleunigung des Wandels von Werten und Normen eine besondere Bedeutung zu. Wissen und Information haben den stärksten Einfluss auf die Bewertung persönlicher Erlebnisse und gesellschaftlicher Vorgänge. Bessere Informiertheit erweitert den Horizont und begünstigt das Denken in größeren Zusammenhängen (Systemerweiterung). Francis Bacon formulierte einst den berühmten Satz: „Denn Wissen selbst ist Macht“. Ein Mehr an echtem Wissen verschafft dem Wissenden aber nicht nur Überlegenheit und Macht, sondern führt auch zu einem tieferen Verständnis von den Dingen. Der Zugang zu Informationen war in der Geschichte der Menschheit noch nie so anstrengungsarm wie das heute der Fall ist. Für nahezu jedes Wissensgebiet sind im Internet mit wenigen Mausklicks in Windeseile zahlreiche Quellen zugänglich. Die Qualität und Korrektheit der mutmaßlichen „Informationen“ sind allerdings nicht ohne - teils erheblichen - Rechercheaufwand zu bestimmen. Die Gefahr, gewollten oder unbeabsichtigten, Fehl- oder Falschinformationen aufzusitzen, ist dabei sehr hoch und im konkreten Fall, für Personen ohne netzunabhängiges Vorwissen, nur schwer zu ermessen. Noch nie zuvor gab es so viele und gleichzeitig so wenig qualifizierte „Informanten“ und emotional unreife Beeinflusser. Jedes Kind, das in der Lage ist am Computer zu schreiben, kann in Blogs seinen Kommentar unterbringen und mit etwas Glück, vergleichbar mit der Wirkung eines Schmetterlingsflügelschlags (vgl. nächster Abschnitt), einen Meinungs- und damit Werte- und Normenwandel anstoßen. Es ist ein immer wieder zu beobachtendes und außerordentlich bemerkenswertes Phänomen, dass Menschen Norm- und Wertvorstellungen, die durch Medien vermittelt werden, eigenartigerweise oft mehr Aufmerksamkeit schenken als denen, die ihnen von leibhaftig gegenübersitzenden oder gut bekannten Personen angeboten werden. Aber verdienen Medien diesen Vertrauensvorschuss wirklich? Sind sich medienaktive Laien (Internet) und professionelle Medienmacher (Internet, Print, Radio, TV) dieser Verantwortung im Ringen um Beachtung bzw. im Einschaltquotenkampf wirklich ausreichend bewusst? Und in welchem Umfang können sie ihrer moralischen Verpflichtung überhaupt gerecht werden? Jedes Dampf plaudernde Radio- oder Fernsehkasperle erreicht, unabhängig von der Relevanz, der sozial-emotionalen Reife und dem Humanitätsgehalt seines Beitrages, hunderttausende Menschen, die sich zunächst einmal seinem Angebot öffnen und davon - ob sie wollen oder nicht - auch in ihren Wertvorstellungen beeinflusst werden.

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„Systemisches“ Denken und Werteunsicherheit Die ständige Weiterentwicklung und Veränderung gesellschaftlicher und individueller Werte und Normen ist ein normaler Vorgang, der aus vielen unterschiedlichen Quellen gespeist wird. Die in unserer Zeit beschleunigte Erosion von Werten und Normen sowie die fortschreitende emotionale Unreife einer wachsenden Zahl von Mitbürgern sind weder staatlich verordnet noch von politisch motivierten Aktivisten gewollt. Die Orientierungslosigkeit und Deformierung der Gefühlswelt breiter Kreise, aber vor allem der jüngeren Bevölkerung, hat sich auch als Resultat verschiedener gesellschaftlicher Entwicklungen und ihrer medialen Vervielfältigung einfach ergeben. Die vielleicht wichtigste dieser Entwicklungen ist ein grundlegender Wandel der Herangehensweise (Paradigmenwechsel) an alle möglichen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und individuellen Probleme. Das über viele Jahrhunderte herrschende Denken in linearen Ursache-Wirkung-Zusammenhängen wurde im 20. Jahrhundert von einem neuen „systemischen“ Ansatz weitgehend abgelöst, der vor allem zu einer erheblichen Erweiterung des Ursachensuchfeldes führt. Erklärten wir uns früher die Welt im Stile von „Er hat gestohlen, weil er ein schlechter Mensch ist“ haben wir uns angewöhnt, heute bei der Ursachensuche den Blick zu weiten hin zu: „Er hat gestohlen. Vielleicht konnte er nicht anders, weil ihm seine schlechte Kindheit und mangelhafte Erziehung oder sein Hunger keine andere Wahl ließen. Vielleicht hat es der Bestohlene dem Dieb auch zu einfach gemacht und sein Eigentum nicht vernünftig geschützt.“. Ein Normbrecher, der nach dem linearen Ursache-Wirkung-Ansatz fraglos als egoistischer „Täter“ ausgemacht wird, kann im systemischen Verständnis, nach dem gleichen Fehltritt, unzweifelhaft als bedauernswertes „Opfer“ wahrgenommen werden. Die Weitung oder Verschiebung des Betrachtungsrahmens (engl. „Reframing“) kann für eine völlig neue Perspektive und Bewertung sorgen. Aber verdient ein Mensch, der gefehlt hat nun Verurteilung oder Verständnis, Strafe oder Hilfe? Welche Reaktion ist denn nun angemessen und „normal“? Ursachenzuschreibungen können, in Abhängigkeit von den berücksichtigten Suchebenen, also ganz unterschiedlich ausfallen. Ein bestimmtes Verhalten eines Menschen kann auf völlig verschiedenen Ebenen erklärt werden: aus seiner Person, anhand seiner Stellung in der Familie, aus seiner ethnischen Zugehörigkeit, seiner Religion oder seiner Nationalität. Vielleicht ist aber auch eine unbekannte mikrobiologische Besonderheit seines Hirnstoffwechsels oder etwas ganz anderes Grund seines Verhaltens in einer bestimmten Situation. Vordenker des „systemischen“ Ansatzes brachten gern das Beispiel, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien der Ausgangspunkt eines mächtigen Tornados 8

in Texas sein könne, weil er eine erste Veränderung bewirkt, die über viele Zwischenstufen weitere relevante Veränderungen anzuschieben vermag. Wer kann in einem derart komplexen und vernetzten Geschehen noch wissen, welche Ursache eine bestimmte Wirkung hat oder was wichtig und was richtig ist? Ob jemand, der gefehlt hat, als „Täter“ oder als „Opfer“ beurteilt wird, hängt also maßgeblich davon ab, welche Ursachen zur Erklärung einer Handlung herangezogen werden. Ein identisches Vergehen kann bei unterschiedlichen Ursachenzuschreibungen ganz anders bewertet werden. Wird eine Person eindeutig als verabscheuenswürdiger Übeltäter eingeordnet, ist die klare Konsequenz seines normwidrigen oder Werte verletzenden Tuns die sühnende Bestrafung. Wird ein Werteignorant oder Normüberschreiter in erster Linie als ein Opfer, das weitgehend seiner Lebensgeschichte und den Umständen ausgeliefert ist, gesehen, mutet eine Bestrafung als inhuman, schädlich oder ungerecht an. Angemessen und notwendig erscheinen in einer derartigen Situation eher Verständnis und Mitgefühl sowie solidarische Hilfe und Unterstützung bei der Überwindung der Ursachen seines Fehlverhaltens. Täter werden verurteilt, Opfer werden bedauert und unterstützt. Unser „Täter-Opfer“-Beispiel illustriert sehr eindrücklich wie radikal sich Einschätzungen ändern können, wenn das Suchfeld für Ursachen über den scheinbar nahe liegenden Bereich hinaus erweitert wird. Aber wie oft haben wir das Gefühl, wirklich genügend zu wissen, um ein Fehlverhalten eines anderen Menschen gerecht bewerten zu können? Häufig bleibt der Eindruck, dass wir gar nicht seriös und verantwortungsvoll urteilen können oder kein Recht haben, uns eine Meinung zu bilden, weil die Dinge so kompliziert erscheinen und wir nicht genug Informationen besitzen. Bewertungsunsicherheit erzeugt Verwirrung. Die Folge sind ausbleibende bzw. verschwommene oder widersprüchliche Gefühlsreaktionen. Es ist nicht leicht, den Täterund den Opferanteil bei einem Fehltritt (einer Normverletzung) eines Menschen zutreffend einzuschätzen. Es gibt keine einfachen Regeln, die für alle denkbaren Situationen und Konstellationen anwendbar wären. Jede Geschichte ist anders und hält eigene beachtenswerte Besonderheiten und Überraschungen bereit. Am vernünftigsten ist aber sicher in jedem Falle die Synthese beider Erklärungsmodelle. Ein Mensch, der ein Verbrechen begeht - also gesetzliche Normen bricht oder rechtliche Werte mit Füßen tritt - ist meist sowohl Täter als auch ein (ehemaliges) Opfer. Der Übergang vom Täter-Sein zum Opfer-Sein ist ein besonders beeindruckendes und leicht nachvollziehbares Exempel für mögliche Veränderungen der Bewertungen, die sich bei Erweiterung des ursprünglich betrachteten Systems ergeben können. Durch Öffnung des Feldes, das zur Ursachensuche berücksichtigt wird, können nicht nur aus

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Schlägern Geschlagene und aus Missbrauchenden Missbrauchte, sondern auch aus vermeintlich Normalen die eigentlich Gestörten, aus guten Therapeuten Stabilisatoren einer Menschen krank machenden Gesellschaft, aus beflissenen Ärzten geldgierige Halsabschneider, aus sehr fürsorglichen Eltern psychische Körperverletzer, aus schmerzenden Niederlagen die notwendige Vorstufe zum Erfolg, aus erfolgreichen Leistungssportlern Selbstwertgefühlversehrte, aus selbstwertunsicheren Wirtschaftslenkern verantwortungslose Ressourcenverschwender, aus Ökoschulden Urlaubsfreuden, aus Naturschützern Menschenverächter, aus Hilfsprojekten entmündigende Übergriffe, aus Pazifisten sture Hilfsverweigerer, aus pflichtbewussten Beamten menschenverachtende Entscheider, aus ökologisch positiven (Erdöl ersetzenden) Energiepflanzen Landschaftsverschandler und bedrohliche Verdränger von Nahrungspflanzen, aus Fehlentscheidungen völlig neue Hoffnungen und aus einem Ende ein neuer Anfang werden u.v.a.m. Häufig ist zu beobachten, dass der systemische Ansatz dazu missbraucht wird, alle möglichen Gemeinheiten und Fehlhandlungen erklär- und nachvollziehbar zu machen und letztlich zu entschuldigen. Allein die Erklär- oder Nachvollziehbarkeit zum Beispiel einer Straftat, anhand von Vorgeschichte und Umfeld einer Person, darf aber niemals dazu führen, Fehlverhalten automatisch zu entschuldigen! Entscheidend ist doch immer die „Schuldfähigkeit“ des Normabweichlers oder Werterambos. Entschuldbar können Verfehlungen nur sein, wenn einer Person die entsprechenden Normen und Werte gar nicht bekannt sind. Wer die Regeln (Normen und Werte) nicht kennt, darf nicht dafür bestraft werden, wenn er sie nicht einhält. Vorhandene Wert- und Normenkenntnis jedoch machen schuldfähig.

„Klare Worte“ sind out Eine Folge des systemischen Ansatzes ist auch die wachsende Zurückhaltung vieler Menschen, verbindliche Einschätzungen und Wertungen über Sachverhalte und Personen zu treffen. Enthaltung bei der Meinungsäußerung und die daraus resultierende Unverbindlichkeit schaffen eine Atmosphäre oberflächlicher Friedfertigkeit, scheinbarer gegenseitiger Akzeptanz und Übereinstimmung, die sich erst auflöst, wenn Positionen offen gelegt werden (müssen). Wo es keine „klare Ansage“ gibt, fallen Spannungen weg, die entstehen können, wenn geklärt werden muss, was richtig und falsch, gut oder böse ist. Meinungsunterschiede bleiben weitgehend unerkannt, wenn Menschen sich nicht ausreichend tief austauschen. Auch Missverständnisse sind dann nahezu ausgeschlossen. Niemand muss sich angegriffen, in Frage gestellt, herausgefordert, intolerant behandelt, diskriminiert, ausgegrenzt oder abgewertet fühlen, wenn auf

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Beurteilungen verzichtet wird. Und alle Seiten können sich in dem guten Gefühl wiegen, zu den netten Menschen zu gehören, die anderen ihren Raum, ihre Freiheit und ihr „Ich-bin-wie-ich-bin“ lassen. Wer diese Friede-Freude-Eierkuchen-Position einnimmt, begibt sich dennoch auf sehr dünnes Eis. Mit der Unterlassung des Austauschs gegenseitiger Einschätzungen und dem Verzicht auf Auseinandersetzung wird etwas zu umgehen versucht, was ja ohnehin da ist. Wir alle können gar nicht anders als uns selbst und andere ständig zu bewerten. Dabei bleibt unser eigenes Bewertungssystem aber relativ unreif, wenn wir auf fundierte Rückmeldungen der Menschen aus unserem Umfeld verzichten müssen. Meinungszurückhaltung - also der Verzicht auf Klärung und Kontroverse - hat wichtige individuelle und soziale Folgen. Wenn andere meine Aussagen nicht spiegeln oder werten (dürfen), erhalte ich keine Rückkopplungen aus denen ich lernen kann, ob ich richtig oder falsch liege. Es entsteht ein Zustand, der vergleichbar ist mit dem Versuch, sich in einer unbekannten Stadt mit geschlossenen Augen und Lärmschutzkopfhörern auf den Ohren zu orientieren. Nach dem zweiten Weltkrieg galt es im Westen - anders als im Osten Deutschlands (hier war Kritik statthaft, ja gewünscht, besonders an Verhaltensweisen, die dem „Aufbau der sozialistischen Gesellschaft“ zuwider liefen) - als unfein und unkultiviert, anderen Menschen offen die Meinung zu sagen. Man wollte seine Ruhe und Frieden. Eine Exklave bildeten hierarchisch gegliederte soziale Systeme. In Politik, Wirtschaft, Verwaltung und im organisierten Sport waren und sind „klare Worte“ erlaubt (von den Akteuren werden sie jedoch bewusst nicht immer praktiziert) und von den Bürgern, Mitarbeitern und Sportlern auch meist akzeptiert. Den Vertretern der Führungsebene wird a priori das Recht zur Meinungsführerschaft zugestanden. Dabei wird unterstellt, dass Leiter sachlich besser informiert sind und sie auch aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz und Erfahrung die Karriereleiter hinauf geklettert sind. Dieser Kompetenzzuschreibungsvorschuss wird vom Souverän Volk aber wieder zurückgezogen, wenn „denen da oben“ nicht tolerierbare Fehler passieren (wie etwa bei „Stuttgart 21“). Wenn Führungsfiguren entzaubert werden, darf es auch „emotional“ (gemeint ist „aggressiv“), also unverblümt negativ wertend, werden und der sonst „klare Worte“ vermeidende Mitbürger mutiert zum „Wutbürger“. Die Anfang der 1990’er Jahre (nach der Wende!) in Mode gekommene Haltung der „political correctness“ verhilft zu Scheinruhe, Burgfrieden und - Unklarheit. Sie verhindert die offene, ungefilterte, facettenreiche Aussprache über streitwerte Themen. Wer nicht nachfragt, nicht auf Widersprüche hinweist, nicht konfrontiert, also anderen nicht zu nahe tritt und ihnen nicht weh tut, darf sich zudem als wohlerzogen, kultiviert oder gar distinguiert fühlen. Man stört die Kreise des Gesprächspartners nicht und verhält sich dem anderen gegenüber „akzeptierend“. Die Reaktionen auf Thilo Sarrazins 11

Thesen zur Einwandererpolitik oder zur Frage der weiteren Notwendigkeit des Euro sind - unabhängig von ihrer inhaltlichen Ausrichtung - in Deutschland auch deshalb so kontrovers aufgenommen worden, weil er das Tabu des Nicht-darüber-Redens in völlig undiplomatischer Weise gebrochen hat (und Tabuverletzer polarisieren immer). Wer sich wertend festlegt, macht sich - anders als der Schweigende - angreifbar. Wo aber Reden Silber und Schweigen Gold ist bleiben Positionen völlig intransparent. Das tiefgreifendste Problem des Nicht-offen-miteinander-Redens ist, dass dies der verlässlichste Weg ist, um zu verhindern, einander wirklich kennen zu lernen und zu verstehen. Außerdem ist ja nicht aus der Welt geschafft, was unter der Decke gehalten wird. Letzten Endes ist die Attitüde der „politischen Korrektheit“ Ausdruck und Teil einer klare Bewertungen vermeidenden Geisteshaltung. Diese Strategie der Verleugnung ist deshalb so weit verbreitet, weil sie große Vorteile zu bieten hat: sie erspart Konfrontation, Schmerz, Leiden und Ängste. Der Preis dafür sind allerdings schwerwiegende Nachteile wie Unbestimmbarkeit, Vagheit und Oberflächlichkeit. Die vom Kinderpsychiater Michael Winterhoff festgestellte Tyrannei von Kindern gegenüber ihrem Erwachsenenumfeld geht zu einem großen Anteil auf das Ausbleiben unmissverständlicher Feedbacks der Erzieher an die Kinder zurück. Eltern aber auch Kindergärtnerinnen und Lehrer weichen zu gern eindeutigen Grenzsetzungen aus. Sie wollen möglichst konfliktlos erziehen und die Freiheit der Kinder nicht beschneiden. Sie hoffen auf die später einsetzende Einsicht des Kindes (woher soll die kommen?) und wollen es nicht gängeln. Sie möchten lieber die partnerschaftlichen erwachsenen Freunde der Kinder sein, als deren, mit Autorität und Verantwortung ausgestattete, Leitfiguren und Vorbilder für das Nachahmungslernen. Viele dieser Eltern und der beruflichen Erzieher wollen sich nicht aufreiben bzw. verschleißen und vergeben den (unvermeidbaren!) konfrontativen Teil der Kindererziehung gern an „Experten“. Die Eltern delegieren an Erziehungsprofis, Ärzte und Therapeuten. Die professionellen Erzieher ihrerseits geben den „Schwarzen Peter“ oft an die Eltern zurück oder sie reichen ihn ebenfalls an Therapeuten und Ärzte weiter. Jeweils die anderen sollen übernehmen, wozu Eltern bzw. professionelle Erzieher selbst nicht den Mut oder die Lust haben. Zudem scheuen Pädagogen nicht selten die Reaktion betroffener Eltern, wenn sie deren Kindern Grenzen setzen, offene Rückmeldungen und klare Beurteilungen geben. Ein alltägliches Beispiel für die Vermeidung klarer Rückmeldungen ist der in manchen Bundesländern im Grundschulbereich diskutierte bzw. praktizierte Verzicht auf die Vergabe von Schulnoten. Zu den Notenablehnern gehören sowohl Lehrer als auch Eltern. Als Hauptargument führen sie ins Feld, dass schlechte Noten (es geht vor allem um die Kinder mit Leistungseinbußen) den Schulerfolg der Kinder beeinträchtigen könnten. Diese Denkweise geht von einem Automatismus aus, der so gar nicht zwangs12

läufig besteht. Nicht die unvollkommene Leistung an sich belastet die Kinder. Es gehört zu den Kindheitserfahrungen schlechthin, etwas (noch) nicht richtig zu können. Dieses Ungenügen zu überwinden stellt einen wichtigen Antrieb für Entwicklung und Reifung dar. Druck entsteht aber nicht durch die Noten an sich, sondern durch die Reaktion des Umfeldes darauf. Kinder können akzeptieren, dass sie Stärken und Schwächen haben, wenn es auch ihre Eltern können. Eltern, die das reale Leistungsvermögen ihrer Kinder kennen und billigen schaffen ein Klima, in dem Kinder entspannt lernen und vielleicht auch über sich hinaus wachsen können. Auf jeden Fall verhindern sie bei ihren Kindern die Entstehung leistungsdruckbedingter, zusätzlicher Lernprobleme. Die Haltung der Benotungskritiker erspart allen Beteiligten (Bildungswesen, Eltern, Kinder), den Realitäten und Problemen ins Auge zu schauen und behindert letztlich dabei, Schwierigkeiten klar zu benennen und wirklich anzuerkennen. Statt dessen kann der Verzicht auf die unverzerrte Rückkopplung des Leistungsstandes eines Kindes die Illusion wecken, es könne auch ohne ausreichende Fähigkeiten und Fertigkeiten zu den Leistungsträgern gehören. Statt zu lernen, Realitäten unverfälscht wahrzunehmen und Misserfolge zu verarbeiten, lernen Kinder so, dass es auch eine leistungslose Alternative geben kann. Die Frage, ob das herkömmliche Benotungs- und Bewertungssystem von Schulleistungen überhaupt sinnvoll, gerecht, ausreichend objektiv, handlungsleitend („Was muss ich verbessern?“) und lernmotivierend ist, soll hier nicht diskutiert werden. Das ist ein anderes, eigenes Thema. Die Idee des Benotungsverzichts im Bildungsbereich sollte lediglich als prototypisches Beispiel aus unserer Alltagskultur für den Verzicht auf klare Rückmeldungen dienen. Die moderne Vermeidungskultur kommt selbst in einer, in der westlichen Welt weit verbreiteten, Verhaltensempfehlung für Partys und andere private Begegnungen zum Ausdruck. Potentiell kontroverse Themen wie Politik und Religion sind unbedingt zu meiden. Das Aufkommen und Austragen möglicher Differenzen soll damit von vorn herein, auch bei einer zum Austausch einladenden Gelegenheit, weitgehend eingeschränkt werden. Wer sich dennoch gern etwas aus der Deckung wagt, bringt sein Statement am besten in Frageform zum Ausdruck. Falls Zurückhaltung nicht mehr möglich ist, muss tunlichst mit Relativierungen gearbeitet und darauf hingewiesen werden, dass die Aussage ja nur eine derzeitige, eigene, subjektive, unbedeutende Einzelmeinung darstellt, die natürlich total falsch sein kann und lediglich den aktuellen Kenntnisstand wiedergibt. Es soll durch die Vermeidung von Bestimmtheit überdies verhindert werden, von den anderen für selbstüberschätzend, dominant, arrogant, egoistisch und unzureichend „teamorientiert“ gehalten zu werden. Und wer eine kritische Gegenreaktion auslöst kann sich, durch den raschen Verweis auf die „Relativität“ seiner zuvor 13

mitgeteilten Sichtweise, bequem aus der Affäre ziehen. Nur im Extremfall darf - unter Wahrung einer diplomatischen Haltung des Kritikers - stark verblümt eine negative Wertung angedeutet werden. Ein beredtes Beispiel für die Kultur des Unkonkreten und des Verwischens auch in der Arbeitswelt sind die üblichen, geheimcodegespickten Arbeitszeugnisse. Ohne Übersetzungshilfe ist ihr Inhalt für Laien völlig unverständlich. Zum guten Ton gehört es heute, anderen möglichst keinen reinen Wein einzuschenken. Farbe bekennen wird immer mit dem - möglichst zu vermeidenden - Risiko von Konfrontation und Auseinandersetzung verbunden. Die belebende und bereichernde Kraft des dialektischen Disputs, bei dem in einer rhetorischen Übung eine Seite die Pros und die Gegenseite die Kontras eines Themas möglichst geschickt in die Argumentation einbringt, scheint verloren gegangen. Viele von uns haben sich mit der Zeit auch etwas davon „entwöhnt“, außerhalb von Arbeits- und Sportwelt, Kritik an uns zu akzeptieren. In einem Umfeld, in welchem Kritik nicht üblich ist, steigt die Empfindsamkeit dafür, falls doch einmal kritische Worte fallen. Eine begleitende Idee zur empfangenen Kritik ist dann häufig: „Ich muss ja ganz schön kritikwürdig sein, wenn der andere, entgegen den sonstigen Gepflogenheiten, an mir offen Kritik zum Ausdruck bringt.“. Wer nicht gewohnt ist, Kritik zu erfahren, erlebt vielleicht schon eine leise Beanstandung als sehr durchschlagend und verunsichernd. Das kann auch in Partnerschaften zu einem relevanten Beziehungsproblem werden. Gesellschaften, in denen das Ideal der Kritikvermeidung herrscht, fordern auch von Mann und Frau eine anstrengende Gratwanderung zwischen „Ich sag nix, damit ich nix falsches sage“ und „Ich möchte mit Dir endlich einmal darüber reden“. Zur Aufrechterhaltung der Harmonie der Partnerschaft ist dann stets höchste Sensibilität bei der Auswahl des Zeitpunkts und der Dosierung von Kritik notwendig. Paare, die kein Problem damit haben, sich gegenseitig zu kritisieren, können da entspannter leben. Wo Menschen sich betätigen ist es unvermeidbar, dass sie sich auch einmal irren und das Falsche tun. Leider werden in unserer Gesellschaft Fehler noch oft als ehrenrührig, peinlich, die Person abwertend, das Selbstwertgefühl beeinträchtigend oder bloßstellend empfunden. In einem derartigen Klima ist es kein Wunder, wenn mehr Energie dafür aufgewendet wird, begangene Schnitzer zu verleugnen und zu vertuschen, als dafür, sie auszubügeln. Fehler müssen aber genutzt werden, wenn man die Wahrscheinlichkeit ihres erneuten Auftretens reduzieren möchte. Das gilt für individuelle Verfehlungen und Irrtümer in gleicher Weise wie für Fehler, die in sozialen Gruppen, Organisationen und Gesellschaften insgesamt gemacht werden. Es liegt nahe, dass Berufsgruppen in hoch gefahrgeneigten Arbeitsumfeldern besonders kritisch, selbstkritisch und aufgeschlossen für die Analyse von Fehlleistungen sind.

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Dazu gehören Anlagenfahrer in bestimmten Bereichen der chemischen Industrie, Operatoren in Atomkraftwerken und die große Gruppe der Berufspiloten. Was mich als Psychologe, der auch im Bereich Luftfahrt tätig ist, am tiefsten am Pilotenberuf beeindruckt, ist der offene Umgang mit Fehlern. Wirklich gute Verkehrspiloten lernen in ihrer Ausbildung, ihre Schwächen und Unvollkommenheiten einzugestehen und selbstkritisch zu analysieren. Fehler zu machen ist natürlich und menschlich. Entscheidend ist, wie man mit ihnen umgeht. Und wenn Fehler nicht verleugnet oder verteufelt werden, entpuppen sie sich als wertvolle Hinweisgeber und Lehrmeister für Veränderungen und Reifungsvorgänge. Die lösungs- und handlungsorientierte Fehlerkultur der Piloten trägt zu einem lernenden, die Würde der Person nicht beschädigenden, Umgang mit Unzulänglichkeiten bei. Das schafft eine Atmosphäre, die auch in einem sehr komplexen Umfeld hoch kompetente Leistungen ermöglicht. Inzwischen haben auch Ärzte begonnen, sich die Fehlerkultur der Piloten zu eigen zu machen. In vielen Krankenhäusern gibt es mittlerweile - wie in der Luftfahrt - nicht-punitive (bestrafungslose) Fehlermeldesysteme. Wenn Fehler nicht totgeschwiegen und übergangen, sondern allen relevanten Personen zur Kenntnis gebracht werden, kann jeder dazu beitragen, durch Veränderungen zum Beispiel der Arbeitsprozesse, Fehlerquellen zu beseitigen. Wenn wir den aktuellen Trend zu emotionaler Unreife als Fehler unserer Gesellschaft verstünden, käme das - in einer konstruktiven Fehlerkultur - einer Einladung an uns alle gleich, an seiner Überwindung mitzuwirken. Anderen Menschen die Meinung zu sagen, muss nicht bedeuten, sie verbal vor den Kopf zu stoßen, sie „der Wahrheit zuliebe“ rücksichtslos zu verletzen oder nieder zu machen. Kritik und Wertungen sollten möglichst zeitnah, sachbezogen, konkret, unmissverständlich, fair, konstruktiv, einfühlsam, in würdiger Form und anerkennend (Schwächen und Stärken berücksichtigend) erfolgen. In einer idealen Welt würden wir uns alle darum bemühen, andere Menschen in einer Weise zu kritisieren, wie wir uns selbst wünschen, kritisiert zu werden. Die Bewertung von Tun und Lassen anderer darf nicht für eigene Interessen des Bewerters missbraucht werden. Besonders schädlich sind kalt-arrogante, mitgefühlarme Verurteilungen, wie sie besonders charakteristisch für ehrgeizige Egoisten mit Selbstwertproblemen sind. Ihre Strategie der Abwertung anderer dient weder dem Thema noch den beurteilten Menschen, sondern einzig der Selbstaufwertung des bedürftigen Richtenden. Es geht ohnehin nicht darum, auf Teufel komm raus, gebeten oder ungebeten, andere stets mit der eigenen Meinung und Wertung zu konfrontieren. Wahre Meister der

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„klaren Worte“ setzen ihre Kunst nicht inflationär ein. Sie können selbst entscheiden, wann der Moment passt und eine beherzte Wortmeldung sinnvoll oder gar nötig ist. Wirklich selbstsichere Menschen können frei wählen, wann sie sich zurücknehmen und wann sie in die Offensive gehen. Auch die gegenwärtig angesagte Kultur der Vermeidung „klarer Worte“ trägt, wie die beiden zuvor diskutierten Aspekte, besonders bei Kindern und Jugendlichen, zum Verlust von werteseitiger Klarheit und Orientierung und damit zu emotionaler Unreife bei. Ein Mangel an eindeutigen und stimmigen Rückmeldungen führt dazu, dass die Einordnung und Bewertung persönlicher und gesellschaftlicher Ereignisse schwieriger oder gar unmöglich wird. Die Folge ist ein Steckenbleiben in einem vagen oder bewertungslosen Zustand, in dem alles (auch die empörendste Unverfrorenheit oder der kaltschnäuzigste Betrug) gleich ist oder irgendwie so durchgeht. Fehlende bzw. unklare Wertungen führen zum Aufweichen und Verschwimmen von Normen und Werten, zu emotionaler Unbestimmtheit, zu Oberflächlichkeit, einem Gefühlschaos oder gar zum Abschalten von Gefühlen. Da wir Menschen aber etwas fühlen wollen, werden bei abgeschalteten oder abgespaltenen Gefühlen Scharlatane und Animateure eingeladen, den leeren Platz zu füllen und uns (möglichst euphorische) Gefühle zu bereiten. Wenden wir uns - auf der Suche nach Ursachen und Erscheinungsbildern der emotionalen Unreife - zunächst den Persönlichkeitsaspekten, Gefühlen und psychischen Besonderheiten ausführlicher zu, die bei diesem Trend eine herausragende Rolle spielen. Dabei können „klare Worte“ manchmal auch etwas unverblümt oder hart klingen. Sie sind für die unmissverständliche Beschreibung von Hintergründen und die eindeutige Darstellung von Haltungen aber unverzichtbar.

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