Der Lebensbaum und der brennende Dornbusch (Ex 3, 1-12)

Der Lebensbaum und der brennende Dornbusch (Ex 3, 1-12) (15. November 2011) Unsere letzte Meditation war einem Text aus dem Buch Genesis (Hebräisch: B...
Author: Julius Seidel
15 downloads 3 Views 196KB Size
Der Lebensbaum und der brennende Dornbusch (Ex 3, 1-12) (15. November 2011) Unsere letzte Meditation war einem Text aus dem Buch Genesis (Hebräisch: Bereshit, “Wort im Anfang“) gewidmet. Im zweiten Kapitel dieses Buches begegnen wir dem Motiv des Lebensbaumes: „Dann legte Gott der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. Gott der Herr ließ aus dem Ackerboden allerlei Bäume wachsen, verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.“ (Gen 8-9). Was es mit diesem Baum auf sich hat, der nach dem Sündenfall von Kerubim mit lodernden Flammenschwert bewacht wird (Gen 3, 24), werde ich hier nicht weiter erörtern. Soviel sei nur gesagt: Dieser Baum begleitet gleichsam den Leser der Schrift von Anfang bis Ende, bis zur grossen Schlussvision des Sehers von Patmos: „Und er zeigte mir einen Strom, das Wasser des Lebens, klar wie Kristall: Er geht vom Thron Gottes und des Lammes aus. Zwischen der Straße der Stadt und dem Strom, hüben und drüben, stehen Bäume des Lebens. Zwölfmal tragen sie Früchte, jeden Monat einmal; und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker.“ (Offb. 22, 1-2).

(Séraphine Louis, Senlis) Was hat dieses Symbol des Lebensbaumes mit unserem Thema: „Licht und Dunkel“ zu tun? Eine mögliche Antwort hierauf liefert uns Terrence Malicks im Jahr 2011 in Cannes preisgekrönter Film: „The Tree of Life“. Er beginnt mit einem Zitat aus dem Buch Ijob: „Wo warst du, als ich die Erde gründete? Sag an, wenn du Bescheid weißt! Wer hat die Maße bestimmt (…) als die Morgensterne frohlockten und alle Gottessöhne jubelten?“ (Ijob 38, 4-7). Die Antwort liegt auf der Hand: Weder am ersten noch am vierten Schöpfungstag ist der Mensch dabei gewesen, denn er ist eine Spätgeburt. Er war auch nicht dabei, als der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse in den Paradiesgarten gepflanzt wurde. Nach dem Sündenfall bewegt sich sein Leben zwischen Licht und Finsternis. Am Anfang von Malicks Film sieht der Zuschauer mehrere Minuten lang ein flackerndes Licht dessen Quelle unsichtbar bleibt. Für die Hauptpersonen des Films: Mrs. O’Brien, ihren Ehemann und den ältesten Sohn Jack gerät nach dem Tod des jüngsten Sohnes die Welt aus den Fugen und stürzt sie in tiefes Dunkel. Dieses Dunkel ist umso undurchdringlicher als der Film in langen Rückblenden das Streben nach Licht schildert.

2

15.11.11

Als Erwachsener sieht Jack, der den Beruf eines Architekten ausübt, wie vor einem Gebäude ein Baum gepflanzt wird, was eine Besinnung auf die Urgeschichte des Alls und die der Erde auslöst, die der Film in langen Sequenzen ausmalt, ehe er sich wieder der Kindheit und Jugend der Brüder O’Brien zuwendet, die zwischen der gütigen und lebenslustigen Mutter und dem herrischen und launischen Vater hin- und her gerissen sind. Malicks Film endet in einer Art von Vision: Jack tritt durch einen in einer Felswüste aufgestellten Türrahmen. Daraufhin begegnet er in einer Art Traumlandschaft allen Menschen, die Teil seines Lebens gewesen sind, an erster Stelle seiner Mutter, seinem Vater, und seinem toten Bruder wieder. Zum Schluss des Films ist der Zuschauer wieder mit nichts anderem als dem geheimnisvoll flackernden Licht konfrontiert. * * * „Shemot“, „Namen“ lautet der hebräische Titel des Buches Exodus, dem wir uns nun zuwenden. Er weist uns darauf hin, dass es in diesem Buch mit den Namen eine besondere Bewandtnis hat, weil die Namen (nicht nur die menschlichen, sondern auch die Gottesnamen) denen wir hier begegnen, oder die wir zum ersten Mal entdecken, in besonderer Weise geschichtsbildend gewesen sind. Das Buch beginnt mit der Aufzählung der Namen der Söhne Israels, die mit Jakob nach Ägypten gekommen waren. Was hier erzählt wird, ist auch eine Art von Genesis, die Geschichte einer Volkswerdung, die zugleich eine Befreiungsgeschichte ist. Die Verse: „In Ägypten kam ein neuer König an die Macht, der Josef nicht gekannt hatte. Er sagte zu seinem Volk: Seht nur, das Volk der Israeliten ist größer und stärker als wir. Gebt acht! Wir müssen überlegen, was wir gegen sie tun können, damit sie sich nicht weiter vermehren“ (1,8-10a) machen uns darauf aufmerksam, dass die Anerkennung dieses neuen Volkes alles weniger als selbstverständlich ist. Aus der Unendlichkeit der Zeit, die scheinbar alle menschlichen Geschichten auf die lange Dauer der Bedeutungslosigkeit preisgibt, ragt die Erzählung einer sonderbaren Erscheinung und einer noch sonderbareren Begegnung heraus, in der ein Mensch aus dem Rahmen des Gewöhnlichen heraustritt, oder besser: aus ihm herausgerissen wird. Das Begebnis hat seinen Niederschlag in einem alten Text gefunden, in dem mehrere Traditionen sich miteinander verschlingen, welche die historisch-kritische Exegese uns bis zu einem gewissen Punkt zu unterscheiden ermöglicht. „Mose weidete die Schafe und Ziegen seines Schwiegervaters Jitro, des Priesters von Midian“ (V.1). In der Unendlichkeit der Wüste, in der es keine festen Straßen und Wege gibt, weidet ein Hirt Schafe, die nicht die seinigen sind.

(Mose hütet die Schafe seines Schwiegervaters Jitro, Ravenna, San Vitale)

DER LEBENSBAUM UND DER BRENNENDE DORNBUSCH

3

Der Leser der zwei ersten Kapitels des Buches Exodus weiß, dass er schon viel hinter sich hat, und er ahnt, dass noch viel mehr auf ihn zukommen wird. Als Kind schon ist er nur knapp dem Tod entgangen. (Ex 2, 1-10)

(Synagoge von Doura Europos, Syrien, 2. Jahrhundert)

(Paolo Veronese, „Die Auffindung des Mose“, ca. 1580, Prado, Madrid), Als junger Mann tötete er einen ägyptischen Aufseher (2, 12), und musste daraufhin die Flucht ergreifen.

Eine der Stationen seiner Flucht ist ein Brunnen in Midian.

Die tatkräftige Hilfe, die er an der dortigen Schafstränke den Töchtern eines midianitischen Priesters leistet, beschert ihm nicht nur eine Bleibe, sondern auch eine Frau: Zippora.

(Sandro Botticelli, Szenen aus dem Leben des Mose, Sixtinische Kapelle, 1481-82) Sie gebärt ihm einen Sohn, dem er den bezeichnenden Namen Gershom („Ödgast“) gibt (2, 21-22). Diese Namengebung sagt auch etwas über die Identität des Vaters aus: „Gast bin ich in fremden Land.“ Im 18. Kapitel des „Buchs der Namen“ erfahren wir, dass Zippora Mose später noch einen zweiten Sohn gebar, dem er den nicht weniger bezeichnenden Namen Eliëser („Gotthelf“) gab, ein Hinweis darauf, dass Mose selbst inzwischen ein anderer geworden ist: „Der Gott meines Vaters hat mir geholfen und hat mich vor dem Schwert des Pharao gerettet.“ (Ex 18,4). In Namen verdichten sich Geschichten und spiegeln sich Anerkennungsprozesse wieder.

4

15.11.11

Die einzige Auskunft, den uns die Erzählstimme über den Aufenthaltsort in der Wüste gibt, ist die folgende: „Eines Tages trieb er das Vieh über die Steppe hinaus und kam zum Gottesberg Horeb.“ (3,1b). Wenn man wissen will, was es mit diesem Berg auf sich hat, muss man das ganze Buch Deuteronomium durchgehen, insbesondere die Verse: „Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen. Liebe den Herrn, deinen Gott, höre auf seine Stimme, und halte dich an ihm fest, denn er ist dein Leben.“ (Dt. 30, 19-20). Der Schafhirt ist der, den ein zeitgenössischer Ägyptologe als „Mose, der Ägypter“1, bezeichnet, und sich darüber wundert, warum seine Entdeckung des einzigen Gottes so nachhaltige Spuren im Gedächtnis der Menschheit hinterlassen hat, während der Name des ägyptischen Pharaos Echnaton (Amenophis IV), der den Kult eines einzigen Gottes in seinem Reich einführen wollte, längst in Vergessenheit geraten ist. In unserer Erzählung erblickt Mose eine aussergewöhnliche Erscheinung: einen Dornbusch, der brennt, aber nicht verbrennt: „Er schaute hin: Da brannte der Dornbusch und verbrannte doch nicht. Mose sagte: ‚Ich will hingehen und mir die außergewöhnliche Erscheinung ansehen: Warum verbrennt denn der Dornbusch nicht?’ (Ex 3, 2b-3). Zweifellos lohnt es sich, diesen kleinen Umweg zu machen, der wie sich später heraustellen wird, eine vierzigjährige Wüstenwanderung zur Folge haben wird. Auch eine kleine Blickwendung kann im Menschenleben manchmal außergewöhnliche Folgen haben. Diese Blickwendung (auch eine Art von „Umkehr“!) hat der Illustrator einer Handschrift der Haggadah sehr schön erfasst:

(Haggada-Handschrift 14. Jahrhundert, Manchester, John Ryland Library) Es ist ein vorwitziger, fast belustigter Mose, der hier die Blickwendung vollzieht, gleichsam als ob er sich sagen würde: „Endlich einmal etwas Neues in diesem ewigen Einerlei der Wüste!“ Selbst seine Schafe scheinen die Kehrtwendung mitzuvollziehen, ausgenommen das schwarze Ziegenböckchen, das wir auch im Auge behalten müssen. Auffällig ist auch der gekrümmte Hirtenstock, den Mose in der Hand hält. Was es mit ihm auf sich hat, zeigt sich, wenn wir die zweite, untere Bildhälfte der Darstellung betrachten:

Später, wenn es hart auf hart geht, verwandelt sich der Stab in einen Zauberstock, mit dem Mose und Aaron die Magier am Königshof des Pharao besiegen werden. Aber so weit sind wir noch nicht. 1

Jan ASSMAN, Moses der Ägypter. Eine Sinngeschichte, München, C.H. Beck, 1988.

DER LEBENSBAUM UND DER BRENNENDE DORNBUSCH

5

Zunächst müssen wir uns die Einzelheiten unseres Textes ansehen, mit dem zahllose Künstler, vom anonymen Freskomaler der Synagoge von Doura Europos:

bis zur Mose-Skulptur an der Westfront der Kathedrale von Amiens:

und zu Marc Chagall und Salvador Dali auseinandergesetzt haben.

(Marc Chagall, Mose vor dem brennenden Dornbusch, 1931-32, Nice, Musée du Message Biblique) (Rembrandt: Mose und der Brennende Dornbusch, Feder und Pinselzeichnung; um 1655) 1. Ein kleiner Umweg mit grossen Folgen Mose macht einen Umweg, um sich die außergewöhnliche Erscheinung etwas näher anzusehen. In unserer Gesellschaft, in der selbst in Gaststätten, U-Bahnstationen, Wartesälen, und neuerdings auch in Zügen, Flugzeugen oder Reisebussen immer irgendetwas über einen Bildschirm flackert, sind unsere Blicke abgestumpft, und wir vermögen kaum noch das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche voneinander zu unterscheiden. Erst wenn Flugzeuge sich auf die Twin Towers in New York stürzen und sie in Schutt und Asche begraben, merken wir, dass da etwas Außergewöhnliches passiert ist. Dennoch sprechen auch wir noch von einem Schauspiel, das „den Umweg lohnt“. In unserer Erzählung geht es überhaupt nicht theatralisch zu. Zwei Blicke verkreuzen sich miteinander: der des Mose, der einen Umweg macht, um sich die ungewöhnliche Erscheinung näher anzusehen, und der Gottes, der sieht, dass Mose näher kommt, um sich das anzusehen (V.4). „Als der Herr sah, dass Mose näher kam, um sich das anzusehen, rief Gott ihm aus dem Dornbusch zu: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich. Der Herr sagte: Komm nicht näher heran! Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden. Dann fuhr er fort: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Da verhüllte Mose sein Gesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen.“ (V.4-6).

15.11.11

6

Was sich bis dahin fast wie eine naturwissenschaftliche Expedition ausnahm, verwandelt sich in diesen Versen in die Geschichte einer Begegnung, die ganz andere Anerkennungsprozesse auslöst. Ein Gestrüpp, dem es gelingt, in der Dürre der Wüste Wurzeln zu schlagen, hat alle Chancen, ein dorniges Gewächs zu sein, dem man sich nur mit einer gewissen Vorsicht nähern kann. Dass darüberhinaus eine Flamme aus ihm emporschlägt (V.2), macht es noch undurchdringlicher. Wenn es dazu noch von einer geheimnisvollen Gegenwart erfüllt ist, die der zweite Vers als „Engel des Herrn“ bezeichnet, dann ist die Erscheinung ebenso furchterregend wie anziehend. Wer sich darauf einläßt, setzt sein Leben aufs Spiel.

Sobald die Stimme die Mose bei seinem Namen anruft, erklingt, hört er auf, ein Beobachter zu sein und er verwandelt sich in den Zeugen eines Ereignisses, das seine Fassungskraft übersteigt und das ihn in die Mitte einer Geschichte rückt, deren Meister er nicht mehr ist. Seine Antwort: „Hier bin ich!“, der wir im Verlauf der Heilsgeschichte noch mehrfach wiederbegegnen, macht ihn zu einem „Auserwählten“ im Sinne den Emmanuel Levinas diesem Wort gibt: Ihm wird eine Verantwortung aufgebürdet, die sein Leistungsvermögen übersteigt. Mit seinem „Hier bin ich“ begibt Mose sich auf ein Gebiet, das ganz anderer Natur ist als das des Schafhirten, der seine Herde nach eigenem Gutdünken überall dorthin hinführt, wo er will. Und doch ist es immer noch die gleiche dürre Erde, derselbe brennende Wüstensand, dieselben Steine, die seine Schritte beschwerlich machen. Wenn der neue Boden, den er hier betritt, als „heilig“ bezeichnet wird, bedeutet das nicht, dass sich plötzlich in einem Paradies oder einer wunderbaren Oase befände. Die Forderung, seine Schuhe auszuziehen, die wir in unzähligen Darstellungen wiederfinden, weist darauf hin, dass Mose jetzt noch ungeschützter, noch verletzlicher und demütiger als bisher ist, denn er weiss nicht so recht, was ihm geschieht:

(Sandro Botticelli, Szene aus dem Leben des Mose 1481-82, Fresko, in der Sixtinischen Kapelle).

(Unbeschuhter Mose, Sinai-Ikone)

DER LEBENSBAUM UND DER BRENNENDE DORNBUSCH

7

(Feti, Moses und der brennende Dornbusch 1613-14, Kunsthistorisches Museum, Wien) Ehe Mose dazu kommt, denjenigen der ihn anruft und bei seinem Namen nennt, über seine Identität auszufragen, wird ihm eine erste Antwort zuteil: „Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs.“ Seine Reaktion auf diese göttliche Identitätserklärung – eine Identität, die man als „narrative Identität“ bezeichnen kann, weil sie sich auf die Geschichte der Beziehung stützt, die die Väter mit Gott eingegangen sind – ein Name, den der heilige Augustinus als „nomen misericordiae“, „Name der Barmherzigkeit“ bezeichnet -, verstärkt noch den Eindruck, dass der kleine Umweg, um sich eine ungewöhnliche Erscheinung etwas näher anzusehen, Mose mit einer Wirklichkeit konfrontiert, der er nicht gewachsen ist: Er verhüllt sein Gesicht, weil er sich fürchtet, Gott anzuschauen.

(Raffael, Moses vor dem brennenden Dornbusch; Kohle auf Papier, Neapel, Museo e Gallerie Nazionali di Capodimonte) Wer hat je die Zuschauer eines Schauspiels mit verhülltem Antlitz und furchterfüllt den Saal verlassen sehen? Das „Schauspiel“ des brennenden Dornbuschs muss schon sehr sonderbar gewesen sein, wenn Mose sich davor fürchtete, seine Augen auf denjenigen zu heften, der sich ihm dort offenbarte!

(Bourdon, Mose und der brennende Dornbusch, 17. Jahrhundert) 2. „Wer bin ich denn?“ Der Kontrast zwischen dem Wunsch, „sich das anzusehen“ und der Furcht, „Gott anzuschauen“, ist das Vorspiel des zweiten Aktes, indem es um einen Sendungsauftrag geht der den Beauftragten in eine neue Identitätskrise stürzt.

(Mose und der brennende Dornbusch, 16. Jahrhundert, Ecouen, Musée national de la Renaissance)

8

15.11.11

Wiederum ist auffällig, dass die Szene mit einem Erblicken anhebt: „Der Herr sprach: Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid.“ (V.7). Sehen, hören, kennen: Diese drei Verben markieren eine Gradierung, die vom Äusseren ins Innere, vom Sichtbaren zum Unsichtbaren führt. Das Elend eines Volkes „springt in die Augen“, mindestens in die Augen derjenigen, die sie nicht vor ihm verschliessen oder sich von ihm abwenden. Um die Klagen der Unterdrückten zu hören, muss man sich schon etwas mehr Zeit nehmen. Das Leid aber kennt und anerkennt man nur, wenn man ein Gespür dafür hat. Nicht alle Blicke sind dazu fähig, denn es gibt auch eine Weise des Blickens, die das Erblickte in einen beobachteten Gegenstand verwandelt. „Und jetzt geh! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten aus Ägypten heraus“ (V.10). Sobald Mose diesen unmöglichen Auftrag erhält, hat er gute Gründe, seinen kleinen Umweg „um sich das anzuschauen“ zu bedauern. Von nun an handelt es sich um eine grosse Reise ohne Wiederkehr, die nicht mehr die seinige, sondern die eines ganzen Volkes ist.

„Wer bin ich denn, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten herausführen könnte?“ (V.11)? Die Frage ist nicht nur berechtigt, weil Mose kein wortgewaltiger Volkstribun ist, sondern eine schwerfällige Zunge hat, und eigentlich ein Stotterer ist. Nichts deutet darauf hin, dass der göttliche Auftrag ihm die Zunge lösen würde, denn sonst würde er Aaron nicht zu seinem Wortführer bestellen. Im Auch die göttliche Antwort auf seine angstvolle Frage: „Wer bin ich denn?“ klingt nicht besonders beruhigend: „Ich bin mit dir“ (V.12), denn est ist fast als ob die Stimme sagen würde: „Von nun wird die Flamme die aus dem Dornbusch emporschlug, das einzige Licht auf deinem Wege sein!

(Salvador Dali, Die heilige Bibel (1964-1967) 3. „Sendung“: neue Wege des Anerkennens Hierauf erfolgt der dritte, entscheidende Akt unserer Erzählung, mit dem sich unzählige Ausleger beschäftigt haben, wie jüngst noch der Altestamentler und der Philosoph Paul Ricoeur in ihrem gemeinsam herausgegebenen Buch: Penser la Bible.2 Das „angstvolle „Wer bin ich denn?“ des Mose, der mit einer nahezu unmöglichen Mission betraut wird, markiert den Anfang einer völlig neuen Geschichte, die bezeugt, 2

Paul RICOEUR, André LACOCQUE, Penser la Bible, Paris, Ed. du Seuil, 2000, S.305-371.

DER LEBENSBAUM UND DER BRENNENDE DORNBUSCH

9

dass der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ noch mehr als eine Überraschung für sein Volk bereithält, die sie auf völlig neue „Wege des Anerkennens“ führt.

(Paul Koli) Wiederum können wir Mose sehr gut verstehen, wenn er sagt: „Gut, ich werde also zu den Israeliten kommen und ihnen sagen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt. Da werden sie mich fragen: Wie heißt er? Was soll ich ihnen darauf sagen?“ (V.13). (Ravenna, San Vitale, Die Sendung des Mose) Die Frage überrascht. Warum genügt nicht die gewohnte und bekannte Antwort: „der Gott eurer Väter“? Sie genügt nicht, weil die bevorstehende Befreiungsgeschichte eine ganz andere, unvergleichliche Geschichte ist, die daher auch die Offenbarung eines neuen Gottesnamens erfordert. Im Hintergrund steht auch, wie einige Exegeten vermuten, die Suche nach einem geheimen Machtnamen, die demjenigen, der in das Geheimnis des Namens eingeweiht ist, an der Macht des Namensträgers Anteil gibt. Die Bitte des Mose wird auf überraschende Weise erhört: „Da antwortete Gott dem Mose: Ich bin der „Ich-bin-da“ (‘ehyeh ‘asher ‘ehyeh). Und er fuhr fort: So sollst du zu den Israeliten sagen: „Ich-bin-da“ hat mich zu euch gesandt.“ (V.13-14). Bis heute rätseln die Exegeten über die Bedeutung dieser Paronomase: ‘ehyeh ‘asher ‘ehyeh, und die angemessenste Übersetzung. Es gibt kaum eine Definition (falls es sich überhaupt um eine „Definition“ handelt!) über die so viel Tinte vergossen wurde. Hier ist nicht der Ort, sich über diese exegetischen Streitfragen zu unterhalten. Es genügt, dass wir den inneren Zusammenhang zwischen der Offenbarung des Gottesnamens und dem Phänomen des brennenden Dornbuschs im Auge behalten. Ich wäre fast versucht zu sagen, dass dieser Name selbst ein brennender Dornbusch ist, und in manchen Lebenssituationen auch als solcher empfunden werden kann. Ebenso wie der Dornbusch in doppelter Weise undurchdringlich ist, so ist auch die Gegenwart und Zukunft, auf die das hebräische ‘ehyeh ‘asher ‘ehyeh anspielt, in doppelter Weise unfasslich. Es handelt sich gewiss nicht um eine amorphe „ständige Gegenwart“, an der viele zeitgenössische Kritiker der Metaphysik sich stossen. Anderseits aber ist der brennende Dornbusch kein Irrlicht, das auf eine derart schwache Gegenwart verweisen würde, dass der Name eigentlich: „Ich bin nicht für euch verfügbar“ lauten müßte. Die Frage des Mose nach dem Eigennamen dessen, der sich den Vätern Abraham, Isaak und Jakob als Gott der Barmherzigkeit erwiesen hatte, ist zwar eine andere Frage als die des tollen Menschen Nietzsches, der bei hellem Tageslicht mit einer Laterne auf dem Marktplatz ruft: „Wohin ist Gott?“ Die Frage des Mose lautet eher: „Wohin führt

10

15.11.11

er uns?“. Diese Frage wird ihn sein Leben lang begleiten, das er in der Wüste mit einem Volk verbringt, das viel halsstarriger und schwerer zu hüten ist als die Schafherde seines Schwiegervaters. Der kleine Umweg um sich „das anzusehen“ ist der Anfang einer langen Wanderung gewesen, auf der Suche nach einem Verheißenen Land, das er nur von ferne, kurz vor seinem Tod erblickt. Im Vorigen haben wir bereits mehrere Szenen aus Sandro Boticellis Fresko in der Sixtinischen Kapelle betrachtet, das sieben Szenen aus dem Leben des jungen Moses schildert, die der Künstler in vier diagonalen Reihen anordnet.

Die Darstellung beginnt rechts unten mit der Tötung des ägyptischen Aufsehers. Sie setzt sich fort mit der Flucht nach Midian und der Vertreibung der Hirten an der Schaftränke. Die linkere obere Bildhälfte schildert die entscheidende Szene der Gottesoffenbarung im brennenden Dornbusch die sich nach unten im triumphalen Auszug des Volkes Israel aus dem Sklavenhaus Ägypten fortsetzt. Die Tatsache, dass auf der gegenüberliegenden Wand die Versuchungen Jesu in der Wüste abgebildet sind, verleiht der Darstellung eine zusätzliche typologische Tiefenschärfe:

(Botticelli, Versuchungen Christi, Sixtinische Kapelle, 1481) In seinem Buch Lectures bibliques hat der französische Psychoanalytiker Daniel Sibony eine Lektüre unseres Textes vorgetragen, die sich in vielen Punkten mit der meinigen berührt.3 Seine Lektüre beginnt mit einem literarischen Prolog, der es verdient, als Ganzer zitiert zu werden: Mose erzählt seiner Frau Zippora seine Schau des brennenden Dornbuschs, in dem die Stimme Jahwes zu ihm sprach und ihm sagte: „Ich werde (da) sein“. Dieser Name ist bereits ein Ereignis des Seins, eine Antwort auf die Tatsache, dass er nicht immer gegenwärtig gewesen ist. Darauf Zippora: „Mir gefällt ein Gott der sagt, was er ist im Vorgriff auf das was er sein wird. Damit wird die Zukunft gegenwärtiger, und das ist ein gutes Zeichen, denn das will sagen, dass dieser Gott uns geschaffen hat, aber auch mit uns verbunden ist. Mose erzählt weiter: „Die Stimme sagte mir: ‚Gehe hin und befreie mein Volk.’ Da habe ich klipp und klar ‚Nein’ gesagt. Ich sagte sogar: ‚Sie werden sich dagegen sträuben. Und wenn ich sie zwinge, sich zu befreien, dann werden sie mich in aller Freiheit töten’“. Seine Frau: „Und du willst dich immer noch nicht darauf einlassen?“

3

Daniel Sibony, Lectures bibliques. Premières approches, Paris, Odile Jacob, 2006, S.124-126.

DER LEBENSBAUM UND DER BRENNENDE DORNBUSCH

11

Mose: „Am Ende habe ich doch ‚Ja’ gesagt, denn die Stimme schrie mich an: ‚Wenn Du es nicht tust, wird dieses Volk, das drauf und dran ist, geboren zu werden, eine Totgeburt sein. Es ist mein Erstgeborener, und er könnte über die Klinge springen.’“ Tatsächlich bestand die Gefahr, dass das ganze Volk der Hebräer aufgeopfert würde. Daher versteht man, dass ihr Auszug durch ein Tieropfer besiegelt wird: ein Lamm pro Familie, ein Ersatzopfer für die Erstgeborenen. Bei den anderen, die diese symbolische Übertragung nicht vollzogen haben, verwandelt es sich in ein tatsächliches Opfer: Ihre Erstgeborenen sterben. „Seht eine Sturmflut wird sich ergießen und die Erstgeborenen unter sich begraben. Ihr aber könnt die Euern retten: Jede Familie soll ein Lamm opfern und einen Fleck seines Blutes am Türpfosten anbringen. Gott wird an den Erstgeborenen vorbeiziehen, und sein Vorbeigang wird für sie unheilbringend sein. Wenn er aber den Blutfleck an Euern Türen sieht, wird er vorbeiziehen, ohne Euch zu schaden.“ Da fragte einer: „Was hat der Tod unserer Lämmer und der ihrer Erstgeborenen miteinander zu tun?“ Ein anderer hieb in die gleiche Kerbe: „Warum müssen alle ihre Erstgeborenen sterben?... Ich sage Euch: Das wird uns noch teuer zu stehen kommen!“ Mose erklärt ihnen das Opfer Abrahams, das sich in das eines Widders verwandelte, der sich in einen Dornbusch verstrickt hatte, der einstmals wohl auch „brennend“ gewesen ist. Und er fügt hinzu: „Diese Nacht wird die Nacht eines Kampfes auf Leben und Tod zwischen unserem Gott und ihren Göttern sein. Eine Todesmacht wird überall herumstreifen. Sie kann blindlings zuschlagen. Ich sage Euch, wie ihr sie am Ende von Euch abwenden, vor ihr untertauchen könnt, so dass sie über Euch hinweg zieht. Sklaven seid ihr, Sklaven dessen was ihr seid: Der Tod haftet an Euern Leibern und mit diesem Tod behaftet ihr auch eure Kinder. Aber dank dieses Opfers werdet ihr euch von ihm loslösen, so dass er anderswo zuschlägt. Weil sie verständnislos bleiben, fügt er hinzu: Nehmt Anteil und ihr werdet verstehen. In diesen Gedanken seid ihr selbst einbegriffen. Ihr seid ein Teil des Textes, der mit eurem Leib und eurem Blut geschrieben wird. Er bindet und entbindet euch... Und wenn das geschieht, werdet ihr frei sein. In dieser einzigartigen Nacht richten die archaischen Dämonen, die Handlanger der Muttergottheiten, ein Blutbad an. Die Hebräer bleiben verschont, denn sie haben die Schuld beglichen und sie anerkannt. Mose jubelt: „Das Wunder hat stattgefunden! Die Sturmflut des Todes hat sich ergossen und wir haben die Furt gefunden! Gehen wir nun von hier weg, denn wir sind frei, frei für eine andere Freiheit: nicht mehr die der Willkür und der Beliebigkeit, sondern die, die das Gesetz ermöglicht. Die Freiheit wird sein, was sie sein wird, ihr aber habt ihr dank der Gebärde eures Vorfahrens einen Weg eröffnet: Die Klinge, die fast ein Kind getötet hätte, hat nur ein Lamm getötet.“ Ein Hebräer fragt besorgt: „Und was ist mit den Anderen?“ Mose: „Sie müssen selbst ihren Weg finden! Der Tod passiert allen, aber einige finden die Passage, den Durchgang. Er ist nahe, sehr nahe an Euern Kindern vorbeigegangen, und sie sind ihm entgangen. Für euch aber, die ihr der Versklavung entkommen seid, steht das Leben offen. Dieser Vorbeigang ist ein Zeichen für alle

15.11.11

12

Zeiten. Jedes Jahr wird dieser Vorbeigang begangen werden, dieser sich in jeder Generation neu vollziehender Vorgang zwischen Vater und Sohn. Diese Passion der Grenzgänger. Obschon all dies unsere Grenzen übersteigt...“ (Hier gerät Mose etwas ins Stottern). Auch ich selbst gerate hier etwas ins Stottern: Zeichen dafür, dass diese Betrachtung sich ihrem Ende zuneigt. Ganz zu Ende ist sie freilich noch nicht. Einmal, weil wir uns fragen müssen, ob nicht irgendein Licht, irgend ein Feurfunke von diesem einmaligen Erlebnis des Mose auch in unsere Zeit und in unser Leben fällt. Eine Antwort auf diese Frage klingt in dem Das andere betitelten Gedicht der Dichterin Marie-Luise Kaschnitz an: Einmal stand der Weidenbusch Der gewöhnliche bei den Hühnerhäusern Auch für mich in Flammen Auch in meinen Gewässern schwamm Der weiße Wal Ich hörte das Gras wachsen Es wuchs. Es sang. Einmal, nein oft Was dazwischen lag Die öden Tage Durchklungen noch Von der mächtigen Stimme Des anderen. Dieses Gedicht konfrontiert uns mit einer Aufgabe, mit der wir uns im Sommersemester näher beschäftigen werden. Das Außerordentliche, anders gesagt, die „Theophanien“ oder „Hierophanien“, die gleichsam Sternstunden der Menschengeschichte sind, nicht vollständig vom Grau in Grau des gewöhnlichen Alltags zu unterscheiden. Ebensowenig wie der brennende Dornbusch nicht einer kleinen Elite von Visionären vorbehalten ist, lässt er sich in einem Schrank verschliessen, sei es auch der Schrank einer „Sakristei“! Diese Betrachtung geht auf Gedanken zurück, die mir vor einigen Jahren am Fest Allerseelen gekommen sind. Das zweite französische Fernsehen zeigte eine Dokumentation über die neuen Formen des Umgangs mit dem Tod. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, dass Bestattungsinstitute denjenigen Kunden, die sich vor den finsteren Aspekten des Todes fürchten, neuerdings die Möglichkeit anbieten, ihre letzte Reise auch etwas lustiger zu gestalten, z.B. sie in einem von einer schwarzen Deux-chevaux (in Deutschland wäre es wohl ein schwarzer Käfer) gezogenen Sarg anzutreten. In derselben Sendung sah man eine Frau, die in einem Wald herumirrte, weil sie den Baum nicht mehr wiederfand, an dem sie die Asche ihrer Mutter verstreut hatte.

DER LEBENSBAUM UND DER BRENNENDE DORNBUSCH

13

Ich gestehe, dass diese zweite Sequenz mich viel stärker berührt als die erste, die mit der Möglichkeit spielt, dass selbst das persönlichste und intimste im Leben eines Menschen nur ein Schauspiel sein könnte. Damit sind wir mit der Frage konfrontiert, ob zwischen Asche und Schauspiel es einen Platz für den Brennenden Dornbusch eines absoluten Lebens gibt, das umso lebendiger ist, als es den Bereich des Sichtbaren übersteigt. Dies wäre eine der Fragen, mit der wir, die heutigen Leser unseres Textes konfrontiert sind. Zum Schluss aber noch ein doppelter Ausblick, in dem die Symbolik des brennenden Dornbuschs sich mit der des Lebensbaums verkreuzt. Eine der wohl erstaunlichsten Darstellungen unserer Szene verdanken wir dem flämischen Künstler Nicolas Froment.

(Nicolas Froment, 1416, Le Buisson ardent, Kathedrale Saint-Sauveur, Aix-enProvence) Auf dem 1416 gemalten Tafelbild in der Kathedrale Saint-Sauveur in Aix-enProvence erblicken wir in der linken unteren Bildhälfte einen ziemlich alten Mose, im Augenblick wo er seine Schuhe auszieht, und zugleich seine Augen vor dem Licht, das von dem Geschauten ausgeht, schützt. Auf der linken unteren Bildhälfte steht ihm ein Engel gegenüber, der ihn gleichsam in seine Schranken verweist. Die ganze obere Bildhälfte wird von einem bewaldeten Hügel eingenommen. Die dort wachsenden Sträucher formen eine Laub- und Rosenkrone, aus der Flammenzungen emporsteigen. Sie bilden eine Art von vegetarisches Polster, auf dem die Jungfrau Maria mit ihrem Kind Platz genommen hat. Der Jesusknabe hält einen Spiegel in der Hand in dem sich sein Bildnis und das seiner Mutter wiederspiegelt. Er verweist auf die Brosche, die das Gewand des Engels verschliesst und auf der Adam und Eva auf beiden Seiten des Baums der Erkenntnis des Guten und des Bösen abgebildet sind. Das, was Mose in dieser Darstellung im flammenden Dornbusch erblickt, ist der neue Adam und die neue Eva. Die Freiheit, die der Künstler sich gegenüber dem Text des Buches Exodus nimmt, indem er den Engel aus dem Dornbusch entfernt und ihn durch die Jungfrau Maria mit ihrem Sohn ersetzt, mag auf den ersten Blick als willkürlich – und in den Augen eines jüdischen Gläubigen sogar als anstößig erscheinen. In Wirklichkeit stützt sich Nicolas Froment auf eine lange Tradition der allegorische Schriftauslegung, die bis in die Zeit der griechischen Kirchenväter zurückreicht, die den brennenden Dornbusch als Symbol der Jungfräulichkeit Marias verstanden haben und die sich gegen Ende des Mittelalters in den Visionen der Heiligen Brigitta fortsetzte. Ich beschließe die heutige Meditation mit einem „L’arbre de vie“ betitelten Gemälde der französischen naiven Künstlerin Séraphine Louis (Séraphine de Senlis), die Anatole

14

15.11.11

Jakovsky als „eine der größten naiven Malerinnen der Welt und aller Zeiten“ betrachtete.4

(Séraphine Louis, L'Arbre de vie (gegen 1930). Im Jahr 2009 wurde Martin Provosts Filmbiographie: Séraphine mit Yolande Moreau und Ulrich Tukur in den Hauptrollen mit sieben Césars ausgezeichnet. Séraphine war eine tief religiöse, ungebildete Frau, die ihren Lebensunterhalt als Dienstmagd verdiente, zuerst bei den Sœurs de la Charité de la Providence in Clermontde-l’Oise und später, ab 1906, im Städtchen Senlis in der Nähe von Chantilly. Dort wurde sie vom deutschen Kunstsammler Wilhelm Uhde entdeckt und gefördert. Er beschaffte ihr die großen Leinwände, die sie für ihre Gemälde benötigte. Das Gemälde, das wir hier betrachten, entstand etwa zwei Jahre vor ihrem geistigen Zusammenbruch, der eine Internierung in den Nervenanstalten von Clermont-de-l’Oise und Villers-sur-Erquery zur Folge hatte. Dort starb sie am 11. Dezember 1942, wo sie anschließend in einem Massengrab beerdigt wurde. Was mich an diesem Gemälde dieser naiven Malerin, die nahezu ausschließlich Pflanzen- und Blumenmotive bearbeitete, besonders fasziniert, ist die Tatsache, dass ihr „Lebensbaum“ ebenso gut ein „brennender Dornbusch“ sein könnte. In der Wüste, noch weniger als anderswo, wachsen die Bäume in den Himmel. Das ändert nichts daran, dass auch die dortigen Gewächse „Lebensbäume“, Wegzeichen auf dem Wege des Anerkennens sein können.

4

Bertrand Lorquin, Wilhelm Uhde, Jan-Louis Derenne, Seraphine de Senlis. Ausstellungskatalog. Éditions Gallimard, Paris 2008; Françoise Cloarec, La vie rêvée de Séraphine de Senli,. Éditions Phébus, 2008; Jean-Pierre Foucher: Séraphine de Senlis, Collection L'Œil du temps, Paris 1968; Wilhelm Uhde: Cinq maîtres primitifs. Paris 1949; Alain Vircondelet: Séraphine de Senlis. Paris, Albin Michel, 1986; Ders., Séraphine: de la peinture à la folie, Paris, Albin Michel, 2008; Hans Körner, Manja Wilkens: Séraphine Louis 1864–1942. Leben und Werk. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2009; Schweers, Andrea: Séraphine Louis (1864-1942). Malerin von Marias Gnaden. In: Duda, Sibylle; Pusch, Luise F. (Hg.): Wahnsinns-Frauen, Frankfurt am Main, Suhrkamp-Taschenbuch, 2493, 1996, S.39–70.

Suggest Documents