DER ANDERE CHRISTUS. Die Gestalt des Sokrates als Symbolfigur des Abendlandes *

DER ANDERE CHRISTUS Die Gestalt des Sokrates als Symbolfigur des Abendlandes * Uwe Kühneweg (Marburg) Sokrates und Christus - man findet sie beieinand...
Author: Artur Kohler
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DER ANDERE CHRISTUS Die Gestalt des Sokrates als Symbolfigur des Abendlandes * Uwe Kühneweg (Marburg) Sokrates und Christus - man findet sie beieinander, wo man sie kaum erwartet, so bei Theodor Storm: „Der Dank, den einstmals Jewe Manners bei den Enkeln seinem Erbauer versprochen hatte, ist, wie Sie gesehen haben, ausgeblieben; denn so ist es, Herr: dem Sokrates gaben sie ein Gift zu trinken, und unsern Herrn Christus schlugen sie an das Kreuz! Das geht in den letzten Zeiten nicht mehr so leicht; aber - einen Gewaltsmenschen oder einen bösen stiernackigen Pfaffen zum Heiligen oder einen tüchtigen Kerl, nur weil er uns um Kopfeslänge überwachsen war, zum Spuk und Nachtgespenst zu machen - das geht noch alle Tage.«“1 Der Titel meines Vortrages mag etwas provokativ wirken, irritierend auch deshalb, weil ich selbst ja im studierter Theologe und Pfarrer von Beruf bin. Die Provokation hat aber eine lange Tradition in der europäischen Geistesgeschichte, und der Vergleich zwischen Sokrates und Jesus von Nazareth, den die Christen als den Christus, den von Gott gesandten Heiland verehren, ist nahezu ein Topos in der Geschichte der Philosophie, der Literatur – und auch der Theologie. Insofern greife ich also ein bekanntes Thema auf in der Hoffnung, ihm einige neue Aspekte abzugewinnen. In meinem Vortrag möchte ich zunächst in einem ersten Teil eingehen auf die Gestalt des Sokrates selbst, die überlieferungsgeschichtlichen Probleme um seine Person und sein Wirken, auf seine philosophische und philosophiegeschichtliche Bedeutung. Ein zweiter Teil meiner Ausführungen bezieht sich auf die Geschichte des topisch gewordenen SokratesChristus-Vergleiches. Ein abschließender Teil problematisiert noch einmal die Vergleichbarkeit von Sokrates und Christus auf und fragt nach möglichen Konsequenzen für unser Denken und die abendländische Identität. I. Sokrates im Zwielicht der Überlieferung Schon ein flüchtiges Nachdenken ist hinreichend, uns davon zu überzeugen, daß unter den Personen der europäischen Vergangenheit nur sehr wenige in Frage kommen, die es mit Jesus und mit Sokrates an Bedeutung und Bekanntheit aufnehmen können. Philosophen zählen nicht zu den besonders erinnerungsträchtigen Gestalten der Geschichte, unter ihnen dürfte Sokrates ein Spitzenplatz in der allgemeinen Bildung und Halbbildung gewiß sein. Das betrifft weniger seine Lehre, die nur philosophisch Interessierten im Umriß geläufig ist (sich aber immerhin in dem zum geflügelten Wort gewordenen „Ich weiß, daß ich nichts weiß“ halbwegs abbildet), sondern Sokrates als Person mit dem tragischen Geschick des unter fragwürdigen Umständen in einem öffentlichen Prozeß zum Tode Verurteilten. Die einzelnen weiteren Aspekte, die im allgemeinen Bewußtsein von Sokrates noch leben, sind recht vielgestaltig, spiegeln derart aber eine gewisse Rätselhaftigkeit und Ungreifbarkeit des Sokrates wider, die schon seine Gesprächspartner (Gegner wie Freunde) und Schüler festhielten und der Nachwelt überlieferten: Sokrates der Ironiker, der seine Weisheit unter der Maske des Unweisen verbirgt; Sokrates, der unerbittliche Frager, der sich mit schnellen Antworten nicht zufrieden *

Vortrag für philoSOPHIA, Marburg, Philippshaus, 21. 7. 1999 Storm: Der Schimmelreiter, Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden, hg. von Peter Goldammer, 4. Auflage, Berlin und Weimar: Aufbau, 1978, S. 371.

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gibt; Sokrates, der auf sein Daimonion hörte (den „kleinen Gott“ in seiner Brust, seine innere Stimme, sein Gewissen); Sokrates, der die Möglichkeit der Flucht aus der Todeszelle ausschlägt und so letztlich freiwillig in den Tod geht. Schließlich noch die anekdotischen Nachrichten über seine Frau Xanthippe, die als zänkische Ehefrau sprichwörtlich geworden ist. Viel ist es nicht, aber gewiß mehr als wir gemeinhin über die Person irgendeines anderen Philosophen wissen. Bei näherem Zusehen erweist sich unser vermeintlich sicheres Wissen über die Person des Sokrates als seltsam gebrochen, und hier zeigen sich dem modernen Betrachter, der auch von Theologie etwas weiß, erste Parallelen zur Frage nach dem historischen Jesus. Sokrates hat wie Jesus - vermutlich nichts geschrieben, jedenfalls nichts von bleibender Bedeutung. Sokrates und Jesus haben ausschließlich durch das gesprochene Wort gewirkt, das erst von ihren Schülern und Verehrern verschriftlicht wurde. Hieraus erwachsen bestimmte Probleme der Rekonstruktion, die zwar nicht unmöglich wird, aber sich vor die schwierige Aufgabe der Scheidung von Original und Zutat, von Erinnerung und Komposition gestellt sieht. Bilden im Falle Jesu die Evangelien die Hauptquelle, so bei Sokrates die Schriften seines Schülers Platon und seines Verehrers Xenophon. Platon war selbst Philosoph, der sich in seinem Denken von dem Meister gewiß anregen ließ, aber die Lehre des Sokrates weiter in eigener Richtung und Absicht vorantrieb. Dabei tritt aber Sokrates in nahezu allen seinen Dialogen als führender Gesprächspartner auf: Während die früheren Dialoge Platons noch etwas (oder vielleicht auch sehr viel) von der Atmosphäre der Gesprächsführung des Sokrates und von seiner Persönlichkeit vermitteln, wird der Sokrates der mittleren und späteren Dialoge einfach zu einem Sprachrohr der Philosophie Platons, d. h. er wird zu einer literarischen Gestalt. Wo ist der Übergang zwischen diesen beiden Gruppen von Dialogen anzusetzen? Nach der Mehrheitsmeinung der altertumswissenschaftlichen und philosophiegschichtlichen Forschung spiegeln die ältesten Dialoge Platons, die um die Frage nach der Arete, der Tugend kreisen und im allgemeinen in der Aporie, dem Eingeständnis des Nichtwissens enden (ohne daß eine positive Darlegung folgt), die Auffassung und Methode des Sokrates noch am ehesten. Eine weitere Hauptquelle bildet der Schriftsteller Xenophon mit seinen „Erinnerungen an Sokrates“, einer „Apologie“ und einem „Gastmahl“. Auch im „Oikonomikos“ tritt Sokrates auf. Vieles, was dort über Sokrates berichtet wird, läßt sich mit dem Bild, das Platon zeichnet, gut vereinbaren, freilich ist der Sokrates Xenophons positiv belehrender. „Seine Gespräche haben zum Teil elenchischen Charakter, zum Teil einen protreptischen; sie beziehen sich auf pädagogische und politische Fragen und auf allgemeine der Lebensklugheit und des Charakters. Viele haben einen appellativen Charakter (...).“2 Xenophon ist nun aber ein professioneller Schriftsteller über mannigfache Gegenstände gewesen, der alles andere als ein unbeteiligter Zeuge ist. Xenophons Sokrates trägt so viele Überzeugungen des Xenophon vor, auch wenn er den historischen Sokrates persönlich gekannt hat. Er schöpft aber vermutlich aus einer schon sehr früh vorhandenen Sokratesliteratur. „Sein Sokratesbild ist das Ergebnis einer Interpretation einer ihm bekannten Person, bei der er zweifellos unter Berücksichtigung bereits existierender Literatur die Züge hervorgehoben hat, die ihn überzeugt haben.“3 Weitere alte Quellen über Sokrates bilden die Satire des Aristophanes in den „Wolken“, der Sokrates z.T. mit Zügen eines Naturphilosophen, z.T. eines Sophisten zeichnet, und Aristoteles, dessen Zeugnis aber schon nicht mehr auf persönliche Bekanntschaft zurückgeht. Aristoteles hebt als spezifische philosophische Leistung des Sokrates die Abwendung von der alten Naturphilosophie und die Hinwendung zu ethischen Fragen hervor, wobei er stets die

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Wolfgang H. Pleger, Sokrates. Der Beginn des philosophischen Dialogs, Reinbek 1998, 90f. Pleger a.a.O. 92.

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allgemeinen Begriffe suchte. Aristoteles unterscheidet das Philosophieren des Sokrates sehr klar von dem der Anhänger der Ideenlehre, deren Urheber Platon ist. „Sokrates, der sein Nachdenken auf das im Sinne der sittlichen Willensbetätigung Rechte und Löbliche richtete, und der erste war, der darüber feste allgemeine Bestimmungen zu ermitteln suchte, - denn unter den Naturphilosophen hat Demokrit diese Fragen nur eben gestreift, und wo er begriffliche Bestimmungen gab, da handelte es sich etwa um solches wie das Warme und das Kalte; die Pythagoreer aber hatten allerdings schon vorher von einigen wenigen dahin gehörenden Gegenständen gehandelt und ihre Auffassungen darüber an die Zahlen geknüpft, z.B. was der rechte Augenblick oder das Gerechte oder die Ehe sei; - also Sokrates erst suchte auf dem Wege strenger Erörterung den Begriff der Sache. Denn was er anstrebte war ein Schlußverfahren, das Prinzip des Schluß-Verfahrens aber ist der Begriff. Damals war man in der dialektischen Fertigkeit eben noch nicht so weit gelangt, daß man vermocht hätte auch ohne feste Begriffsbestimmung das Pro und Kontra zu erörtern und ob es eine und dieselbe Wissenschaft ist, die beide Glieder eines Gegensatzes zu behandeln habe. Zweierlei vornehmlich ist es, was man mit Recht dem Sokrates als sein Verdienst anrechnen darf: das induktive Verfahren und die begriffliche Bestimmung des Allgemeinen: beides Dinge, die die Grundlegung aller Wissenschaft betreffen. Aber Sokrates faßte das Allgemeine noch nicht als gesonderte Existenz auf und ebensowenig die begrifflichen Bestimmungen. Erst die Urheber der Ideenlehre nahmen diese Verselbständigung des Allgemeinen dem Sinnlichen gegenüber vor und nannten dann diese Art von subsistierenden Wesen Ideen.“4 Die von Aristoteles herausgehobene Sonderstellung des Sokrates wird in der modernen philosophiegeschichtlichen Forschung seit Ende des 19. Jahrhunderts dahingehend aufgenommen, daß man älteste Periode griechioscher Philosophie seit Hermann Diels ebenso unklar wie einfach die „vorsokratische“ nennt, – im Unterschied von der sokratischen bzw. dann auch nachsokratischen Philosophie. Wenn sich auch die pauschale Rede von den Nachsokratikern nicht in gleicher Weise durchgesetzt wie diejenige von den Vorsokratikern, die zu einem allgemein akzeptierten philosophiegeschichtlichen Epochenterminus geworden ist, so kennen die meisten Philosophiegeschichten doch neben Platon und Aristoteles und ihren Schulen eine Reihe von „sokratischen“ Richtungen, die sich in der einen oder anderen Weise auf Sokrates beziehen.5 Gemeinsam ist der hellenistischen (nacharistotelischen) Schulphilosophie der starke Bezug zur Ethik, insofern wird man sagen können, daß wenigstens der größte Teil der späteren antiken Philosophie sich von Sokrates die Hauptrichtung des Nachdenkens hat vorgeben lassen. Insofern trifft Kants Urteil über Sokrates völlig zu: „Die wichtigste Epoche der griechischen Philosophie hebt endlich mit dem Sokrates an. Denn er war esm welcher dem philosophischen Geiste und allen spekulativen Köpfen eine ganz neue praktische Richtung gab. Auch ist er fast unter allen Menschen der einzige gewesen, dessen Verhalten der Idee eines Weisen am nächsten kommt.“6 Sokrates ist philosophiegeschichtlich also ein, vielleicht der Begründer der philosophischen Ethik im eminenten Sinne. Zugleich hat er aber als Person ein ganz besonderes Charisma besessen und seinen Schülern einen überragenden persönlichen Eindruck hinterlassen, der sie dazu brachte, ihm sehr bald literarische Denkmäler zu setzen, die Person und Geschick des athenischen Philosophen auch der Nachwelt interessant und lebendig werden ließen. Es ist 4

Aristoteles, Metaphysik 1078b, 17 - 32. „Als Sokratiker werden alle unmittelbaren Schüler von Sokrates bezeichnet. Der bekannteste ist Platon, dessen philosophisches Werk wir besitzen, und Xenophon von Athen. Von den anderen, unbekanntren, gibt es nur wenige Fragmente, zum Teil nur noch die Titel ihrer Werke. Es sind Eukleides von Megara, Antistehenes von Athen, Aristippos von Kyrene, Aischines von Athen und Phaidon.“ Pleger a.a.O. 213. 6 I. Kant, Einleitung zur Logik-Vorlesung, Weischedel-Ausgabe III, 453. 5

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nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß schon mit Platon und Xenophon eine mitunter geradezu schwärmereische Sokratesverehrung anhebt, die insbesondere in der späteren Antike, dann aber auch in der Renaissance und in der Aufklärungszeit und z. T. darüber hinaus bis zur Gegenwart wirksam geworden ist. Die hellenistische Ethik aller Richtungen suchte nach dem guten Leben und in den meisten Schulen geradezu nach dem Ideal des Weisen, das ihr Lehrmeister Sokrates in seiner Person, und das heißt besonders auch in seinem Sterben und seinem Verhalten angesichts des Todes in hervorragender Weise repräsentierte. Hinzu kommt etwas anderes: Seit Aristoteles wird in der antiken und z.T. auch der mittelalterlichen Metaphysik und Logik „Sokrates“ zu einer Individuenvariable: Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also: Sokrates ist sterblich. In diesem Einstieg mittelalterlicher Logik gilt Sokrates also als ein bestimmter, benennbarer Mensch. In den logischen Figuren bedient man sich seines Namens als einer Individuenvariablen, ebenso wie Martin Luther in seinem Traubüchlein von „Hans“ und „Grete“ spricht. Darüber hinaus dient Sokrates aber auch in metaphysischen Überlegungen als Platzhalter für „diesen einzelnen Menschen“. Ein Beispiel von Aristoteles: „Mensch dagegen, Pferd, überhaupt das, was in diesem Sinne ein Einzelwesen bezeichnet, aber als allgemeine Bezeichnung, das ist kein rein begriffliches Wesen, sondern eine Verbindung von diesem bestimmten Begriff mit dieser bestimmten Materie als Allgemeines. Ein Individuum dagegen aus der singulär bestimmten letzten Materie ist etwa Sokrates, und ebenso verhält es sich auch mit den anderen Dingen.“7 Ähnlich bei Plotin: „Allein auf diese Weise wird Sokrates sein, solange die Seele des Sokrates im Leibe ist; er wird untergehen, sobald sie vorzugsweise in dem Höchsten und Besten sich befindet.“8 Diese Art des Gebrauchs des Sokratesnamens ist zunächst natürlich Ausdruck dessen, daß er in philosophischen Kreisen eine sehr bekannte historische (nicht-mythologische) Person war, aber darüber hinaus erscheint Sokrates in dieser Redeweise als Beispiel für einen Menschen überhaupt. (M. W. hat es nie wieder eine andere Person zu solcher Prominenz in der philosophischen Sprache gebracht.) Aber - wie gesagt - Sokrates war nicht nur ein Beispiel für einen (beliebigen) Menschen, sondern verkörperte der Nachwelt das Ideal des Weisen, des praktizierenden Philosophen, bei dem philosophische Lebenshaltung und konkretes Ergehen in markanter Weise zusammenstimmen.9 Dies bezieht sich natürlich vor allem auf die Züge der Bedürfnislosigkeit („Wie viele sind der Dinge, deren ich nicht bedarf!“) und der Gelassenheit gegenüber dem Tode: Vor allem dieses Bild des Sokrates hat zunächst auf die Nachwelt gewirkt, weniger das des fragenden Ironikers und des maieutischen Hermeneuten als das des Mannes, der im Angesicht von offenbarem Unrecht und drohendem Tod nicht die naheliegenden Möglichkeiten des Ausweichens und der Flucht ergreift, sondern sich - seiner inneren Stimme 7

Aristoteles, Metaphysik VII, 1035b, 27 - 31. Übertragen von Adolf Lasson, Jena: Eugen Diederichs, 1907, S. 113f. 8 Plotin-Enn. IV, 3, 5 (Plotin: Die Enneaden. Übersetzt von Hermann Friedrich Müller. Band 1 und 2, Berlin: Weidmann, 1878/80. Bd. 2, S. 13). 9 Vgl. dazu Klaus Döring: Exemplum Socratis. Studien zur Sokratesnachwirkung in der kynisch-stoischen Philosophie der frühen Kaiserzeit und im frühen Christentum, Wiesbaden 1979 (Hermes-Einzelschriften 42).

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gehorchend - mit völliger Gelassenheit einläßt auf das Geschick, das auf ihn zukommt. Dieses Bild des Sokrates ist bestimmt im wesentlichen durch drei platonische Schriften: Die Verteidigungsrede (Apologie) des Sokrates vor dem athenischen Volksgerichtshof, den Kriton, in dem es um die Diskussion der Möglichkeit der Flucht aus dem Gefängnis geht, und den Phaidon, der die Gelassenheit gegenüber dem Tod im Lichte der Hoffnung auf die Unsterblichkeit der Seele (eine platonische Lehre) reflektiert und schließlich vom Sterben des Sokrates berichtet. Vor allem die stoischen Philosophen achteten Sokrates hoch ob seiner Beherrschung der unvernünftigen Leidenschaften und seines vernünftigen Handelns bis zuletzt. „Sokrates ist dadurch vollkommen geworden, daß er in allem, was ihm vorkam, auf nichts anderes, als auf die Vernunft achtete. Du aber, wenn du auch noch kein Sokrates bist, solltest doch leben als einer, der wünscht, ein Sokrates zu sein.“10 Die Todesverachtung ist etwa für Epiktet der letzte Ausdruck vernünftigen Lebens. Sein Handbüchlein schließt mit einigen Kernsätzen, Losungen für alle Lebenstage. Die letzte und wichtigste ist ein Zitat aus der Apologie des Sokrates: „Anytos und Meletos [die Ankläger des Sokrates im Prozeß] können mich zwar töten, schaden aber können sie mir nicht.“11 Es handelt sich nicht um ein ganz wörtliches Zitat, sondern um eine Weiterbildung, die Epiktet bereits der Überlieferung entnommen hat: „Im Blick auf die Prägnanz der Wendung, die sich ohne weiteres dem Gedächtnis einprägt, ist es wahrscheinlich[er], an ein vor allem im stoischen Milieu allgemein bekanntes, vielleicht von Kynikern geprägtes, geflügeltes Wort zu denken (...).“12 II. Sokrates und Christus Beispiel einer philosophisch geprägten Lebenshaltung, Inbegriff eines Weisen nach philosophischem Verständnis - so begegnete das Bild des Sokrates auch dem frühen Christentum. Dieses Bild reizte natürlich zur Auseinandersetzung, die wir vielleicht eher in einem negativ-abgrenzenden Sinn erwarten würden. Auch diese Abgrenzung gibt es natürlich. Interessanter und folgenreicher ist aber die positive Aufnahme des Sokratesbildes. Dabei ist bemerkenswert, daß aber keineswegs nur Sokrates als Inbegriff der heidnischen, vorchristlichen Menschheit mit den Christen verglichen wird, sondern mit dem Stifter der eigenen Religion, mit Christus selbst. Da das Bild des Sokrates geprägt war insbesondere von seinem Prozeß und seinem Todesgeschick, legte sich der Vergleich mit Jesus vielleicht besonders nahe. Aber Sokrates wird auch in Beziehung gesetzt zu den christlichen Märtyrern, die ja auch für ihre Überzeugung den Tod nicht scheuten. So begegnet das o. a. Sokrateszitat christlich in Kontexten des Martyriums, etwa bei Clemens Alexandrinus.13 Darüber hinaus kommt Sokrates aber als der Weisheitslehrer in den Blick, und das durchaus in einem positiven Sinne. Die Beurteilung des Sokrates durch die griechischen Kirchenväter ist dabei durchweg freundlich als die durch die lateinischen. Ein Beispiel möchte ich hier besonders hervorheben, das des Justin, des „Philosophen und Märtyrers“, gest. 165 in Rom. Bei ihm lesen wir etwa folgendes (2. apol. 10): 4. Auch diejenigen, die vor Christus lebten, wurden, wenn sie ihrer menschlichen Möglichkeit gemäß, versuchten, mit Vernunft die Dinge zu 10

Epiktet, Handbüchlein 51. Epiktet, Handbüchlein 53, vgl. Platon, Apol. 30 C/D. 12 Th. Baumeister: „Anytos und Meletos können mich zwar töten, schaden jedoch können sie mir nicht“. Platon, Apologie des Sokrates 30c/d bei Plutarch, Epiktet, Justin Martyr und Clemens Alexandrinus, in: Platonismus und Christentum. FS H. Dörrie, Münster 1983 (JAC.E 10), 58 - 63. 59. 13 Clem. Al., strom. IV, 11, 80, vgl. Baumeister a.a.O. 61 f. 11

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betrachten und zu prüfen, als gottlose und allzusehr auf Forschung bedachte Leute vor die Gerichte geschleppt. 5. Sokrates aber, der von ihnen allen der entschiedenste in dieser Hinsicht war, wurde wegen derselben Vergehen wie wir beschuldigt; denn man warf ihm vor, neue Götter einzuführen, die Götter aber, welche die Stadt verehrt, zu verwerfen. 6. Er warf aber die schlechten Dämonen und diejenigen, die verübten, was die Dichter behaupten, aus dem Staat hinaus, und vor allem den Homer und die übrigen Dichter; er lehrte die Menschen zu bitten. Er leitete [sie] an, den ihnen unbekannten Gott mittels vernünftiger Untersuchung zu erkennen, indem er sprach: Nicht leicht ist es, den Vater und Schöpfer des Alls zu finden, und nicht gefahrlos ist es, wenn der, der ihn findet, es allen verkündet. 7. Dieses hat unser Christus durch eigene Kraft vollbracht. 8. Dem Sokrates aber hat niemand so weit vertraut, um für seine Lehre zu sterben. Christus aber, der auch von Sokrates aufgrund des Teiles [des Logos spermatikos?] erkannt wurde, denn er war und ist der Logos, der in jedem ist und durch die Propheten das Zukünftige vorhergesagt hat, ihm haben, als er selbst ähnliches erduldete [wie Sokrates] und diese Dinge lehrte, nicht nur Philosophen und Gelehrte geglaubt, sondern auch Handwerker und ganz ungebildete Leute, unter Verachtung von Ruhm, Furcht und Tod, denn er ist die Kraft des unaussprechlichen Vaters und nicht das Mittel menschlicher Vernunft - der menschlichen Vernunft verfügbar? eine Ausgeburt menschlichen Nachdenkens?]. Justin ist der Auffassung, daß die Philosophen über die anderen Menschen emporragten aufgrund ihrer Widerstandskraft gegen Leidenschaften und Dämonen. Am weitesten gelangte hier Sokrates, der die Dämonen als die Macht identifizierte, die der Gottes- und Wahrheitserkenntnis entgegenwirkt (6). Insofern ist Sokrates ein Zeuge der Wahrheit. Christus aber ist die Wahrheit selbst. Sokrates steht mit ihm nicht auf einer Stufe. Zwar verkündete er die Wahrheit, aber er konnte nicht die Verstehensbedingungen der Menschen verändern, so daß ihm doch wiederum nur Philosophen und Gelehrte glaubten (8), die sich zur Erkenntnis der Wahrheit bereits vorbereitet und eine gewisse Schulung (und auch Bildung der Sittlichkeit) durchlaufen hatten. Christus aber haben auch ganz ungebildete Leute geglaubt, denn er hat die Dämonen entmachtet und die Befreiung von den Leidenschaften bewirkt, wie aus der Todesverachtung seiner Anhänger hervorgeht. Christus und Sokrates verhalten sich zueinander wie Wahrheit und Mitteilung der Wahrheit, wie Urbild und Abbild. An anderer Stelle heißt es: 3. Als sich aber Sokrates bemühte, mit wahrer Vernunft und durch kritische Prüfung diese Dinge offenbar zu machen und die Menschheit von den Dämonen abzuziehen, haben die Dämonen selbst durch Menschen, welche die Schlechtigkeit liebten, bewirkt, daß man ihn als Gottlosen und Unfrommen zu Tode brachte, indem sie behaupteten, er führe neue Götter ein. Und in gleicher Weise unternehmen sie dasselbe gegen uns. 4. Denn diese Machenschaften wurden vom Logos nicht nur den Griechen durch Sokrates dargelegt, sondern auch unter den Barbaren vom Logos selbst, als er Gestalt angenommen hatte und Mensch geworden war und Jesus Christus genannt wurde. Ihm haben wir geglaubt und erklären, daß die Dämonen, die dies vollbrachten, nicht nur keine rechten [Götter] sind, sondern böse und gottlose

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Dämonen, die nicht einmal Taten aufweisen können, die denen der Menschen gleichen, die nach Tugend streben."14 Noch deutlicher als im vorigen Text wird hier, daß die Erkenntnis des Sokrates in seiner Offenlegung der Machenschaften der Dämonen bestand. 5, 4 scheint die These einer direkten Inspiration zu stützen, denn es war der Logos, der durch Sokrates die Dämonen enthüllte. Dieser Logos in Sokrates ist freilich zu unterscheiden von dem Logos, der in Christus Mensch geworden ist. Sokrates ist zwar kein direktes Gegenbild zu Christus, wohl aber im Sinne der Logos-spermatikos-Lehre ein Christ vor Christus. Bei Justin, Clemens Alexandrinus und anderen wird die positive Aufnahme und Beurteilung der Gestalt des Sokrates schon fast zu einer allegorischen Verdichtung der Integration antiker Philosophie in die christliche Theologie. Diese Leistung der Kirchenväter ist nicht etwa mit Harnack als Überfremdung durch den griechischen Geist zu verurteilen, sondern vielmehr kaum hoc genug einzuschätzen als eine der wesentlichsten Integrationleistungen der Kirchenund Theologiegeschichte. Christliche Theologie entwickelte sich nicht nur in Abgrenzung gegen die antike Philosophie, sondern in produktiver Aufnahme und hat über bald zweitausend Jahre zur Ausprägung einer gesamtabendländischen Identität (die gerade aus der Synthese von Jerusalem, Rom und Athen lebt) beigetragen. Mit der antiken Philosophie erbte das christliche Abendland gewissermaßen auch die Gestalt des Sokrates. Die Verwendung des Sokratesnamens in scholastischer Metaphysik und Logik schließt sich direkt an an die antike Praxis. So bei Thomas von Aquin: „Daher wird das Wort, »Menschhaftigkeit« von den Individuen des Menschen nicht ausgesagt. Und deswegen findet man das Wort »Wesen« manchmal von einem Ding ausgesagt, wir sagen nämlich, Sokrates ist ein Wesen, und manchmal versagt man (einem Ding das Wort »Wesen«), so wie wir sagen, daß das Wesen des Sokrates nicht Sokrates ist.“15 Bei Thomas ist übrigens - wie fast durchgängig in der mittelalterlichen Literatur - der Name „Sokrates“ verkürzt zu „Sortes“, was an „sortis“ (Los) und verwandte Wörter anklingt. Der genaue Hintergrund dieser Verkürzung ist noch nicht erklärt. Vielleicht handelt es sich einfach um eine Abschleifung, die durch den regelmäßigen Gebrauch des Sokratesnamens in schulmäßigen Zusammenhängen verursacht ist. Nur in diesem Sinne lebt Sokrates im Mittelalter fort, das Interesse an der historischen Gestalt und dem besonderen Geschick des Sokrates erwacht dann erst wieder in der Neuzeit. „Dabei ergibt sich eine Reihe höchst unterschiedlicher Sokratesbilder, die ebensosehr als Versuche der Annäherung an diese schwer greifbare Person verstanden werden können wie als Selbstcharakterisierungen der jeweiligen Interpreten.“16 Das Leitmotiv ist dabei in vielen (nicht in allen) Fällen der Vergleich Sokrates-Christus, der zu einem Topos der europäischen Literatur geworden ist. Ich muß mich auf einige Beispiele beschränken, die leicht zu vermehren wären. Insbesondere die Aufklärung fand Gefallen an der Gestalt des Sokrates. „Es hat lange rechtschaffene Menschen gegeben, ehe Christen waren, und gibt gottlob! auch da noch welche, wo keine Christen sind. Es wäre also gar wohl möglich, daß die Leute gute Christen sind, weil das wahre Christentum das heischt, was sie auch ohne dasselbe würden geworden sein. Sokrates wäre gewiß ein sehr guter Christ geworden.“17

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1 apol. 5, 2 - 4; 29 Goodspeed. Thomas von Aquin: De ente et essentia - Das Seiende und das Wesen. Lateinisch - Deutsch. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Franz Leo Beeretz, 2., verbesserte Auflage, Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1987 (Universal-Bibliothek, Bd. 9957), S. 31. 16 Pleger a.a.O. 225. 17 Lichtenberg-Sudelbücher Bd. 1, S. 879-880. 15

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Und immer wieder begegnet der Vergleich mit Christus, der zwar in der Regel zu Ungunsten des Sokrates ausfällt, der aber doch die Folie liefert, vor der Christus sich um so deutlicher abhebt: So lesen wir in Rousseus „Emile“: „Der Tod des Sokrates welcher eintrat, während er ruhig mit seinen Freunden philosophierte, ist der süßeste, den man sich nur wünschen kann. Der Tod Jesu dagegen, der unter Martern, geschmäht, verspottet und von seinem ganzen Volke verflucht, seinen Geist aufgab, ist der entsetzlichste, den man fürchten kann. Sokrates segnet, während er den Giftbecher ergreift, den Gefangenwärter, welcher ihm denselben unter den Tränen darreicht. Jesus betet unter den furchtbarsten Todesqualen für seine entmenschten Henker. Ja, wenn Sokrates Leben und Tod eines Weisen würdig sind, so erkennen wir bei Christo das Leben und den Tod eines Gottes. Sollen wir nun etwa die evangelische Geschichte für eine willkürliche Erdichtung ausgeben? Mein Freund, so vermag man nicht zu dichten; und die Züge aus dem Leben des Sokrates, die niemand bezweifelt, sind weniger beglaubigt als die Taten Jesu Christi. Im Grunde genommen hieße dies auch nur die Augen vor den Schwierigkeiten verschließen, anstatt sie völlig aus dem Wege zu räumen.“18 In Herders Briefen zur Beförderung der Humanität wird freilich das Wirken des Sokrates in einem größeren Zusammenhang relativiert: „Was Poesie und gesetzgebende Weisheit begonnen hatten, entwickelte die Philosophie endlich; und wir haben es insonderheit der sokratischen Schule zu danken, daß in Form so mannigfaltiger Lehrgebäude die Kenntnis der Natur des Menschen, seiner wesentlichen Beziehungen und Pflichten das Studium der erlesensten Geister ward. Was Sokrates bei den Griechen tat, brachten bei andern Völkern andre zustande: Konfuzius z.B. ist der Sokrates der Sineser, Menu der Indier worden; denn überhaupt sind die Gesetze der Menschenpflicht keinem Volk der Erde unbekannt geblieben. In jeder Staatsverfassung aber hat sie nach Lage und Zeit das sogenannte Bedürfnis des Staats teils befördert, teils aufgehalten und verderbet.“19 Für Herder ist Sokrates eine herausragende Gestalt der Geschichte, wie es nur wenige gibt: „Die ältesten Weisen der Griechen waren Gesetzgeber; und wohl dem Volk, dessen Gesetzgeber Weise sind. Sokrates erschien in einer bedrängten Zeit: sein Publikum waren Privatgesellschaften oder einzelne Personen; seine Methode war auf die Entwickelung der Grundsätze des Wahren, Guten und Schönen in diesen einzelnen Personen berechnet. Und dieses, dünkt mich, sei der Zweck der wahren Philosophie: Selbstbildung. Der Lehrer kann und will dabei nur eine Hebamme unsrer Gedanken, ein Mithelfer unsrer eignen, arbeitenden Kräfte werden. Sokrates hatte seinen eignen Genius, der nachher nicht oft, aber doch hie und da, z.B. in Montaigne, Addison, Franklin u.a., wieder erschienen ist und die eigne Bearbeitung des menschlichen Geistes und Willens zum Zweck hatte. Von der Stimme des Publikums hängt diese nicht ab; vielmehr wird sie oft durch solche behindert, daher Sokrates mit den Sophisten, die das Publikum stimmten und mißstimmten, fast immer im Streit lag.“20 Interessant ist hier das erwachende historische Interesse an Sokrates und seiner philosophischen Methode, auch an seinem „Daimonion“. Lessing rühmt die vorbildliche Lebensführung des Sokrates, die ihn zu einem wahren moralischen Lehrmeister macht: „Schöne Sentenzen und Moralen sind überhaupt gerade das, was wir von einem Philosophen, wie Sokrates, am seltensten hören; sein Lebenswandel ist die einzige Moral, die er prediget. Aber den Menschen, und uns selbst kennen; auf unsere 18

Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Frei aus dem Französischen übersetzt von Hermann Denhardt. Neue Ausgabe, 2 Bände, Leipzig: Philipp Reclam jun., o. J. Bd. 2, S. 219f. 19 Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. Herausgegeben von Heinz Stolpe in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Kruse und Dietrich Simon, 2 Bände, Berlin / Weimar: Aufbau, 1971. Bd. 1, S. 142f. 20 Herder, a.a.O. Bd. 1, S. 303.

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Empfindungen aufmerksam sein; in allen die ebensten und kürzesten Wege der Natur ausforschen und lieben; jedes Ding nach seiner Absicht beurteilen: das ist es, was wir in seinem Umgange lernen; das ist es, was Euripides von dem Sokrates lernte, und was ihn zu dem Ersten in seiner Kunst machte. Glücklich der Dichter, der so einen Freund hat, - und ihn alle Tage, alle Stunden zu Rate ziehen kann!“21 Bemerkenswert ist die Annäherung Johann Georg Hamanns an Sokrates in seinen „Sokratischen Denkwürdigkeiten“. Im Vorwort heißt es: „Ich habe über den Sokrates auf eine sokratische Art geschrieben. Die Analogie war die Seele seiner Schlüsse, und er gab ihnen die Ironie zu ihrem Leibe. Ungewißheit und Zuversicht mögen mir so eigenthümlich seyn als sie wollen; so müssen sie hier doch als ästhetische Nachahmungen betrachtet werden. In den Werken des Xenophons herrscht eine abergläubische, und in Platons eine schwärmerische Andacht; eine Ader ähnlicher Empfindungen läuft daher durch alle Theile dieser mimischen Arbeit. Es würde mir am leichtesten gewesen seyn denen Heyden in ihrer Freymüthigkeit hierin näher zu kommen; ich habe mich aber bequemen müssen meiner Religion den Schleyer zu borgen, den ein patriotischer St. John und platonischer Shaftesbury für ihren Unglauben und Misglauben gewebt haben.“22 Hamann skizziert Sokrates in antiaufklärerischem Geiste als den Philosophen, der offen sein Nichtwissen bekannte und gerade so ein unwissender Prophet der christlichen Wahrheit wurde. „Kurz, Sokrates lockte seine Mitbürger aus den Labyrinthen ihrer gelehrten Sophisten zu einer Wahrheit, die im Verborgenen liegt, zu einer heimlichen Weisheit, und von den Götzenaltären ihrer andächtigen und staatsklugen Priester zum Dienst eines unbekannten Gottes. Plato sagte es den Atheniensern ins Gesicht, daß Sokrates ihnen von den Göttern gegeben wäre sie von ihren Thorheiten zu überzeugen und zu seiner Nachfolge in der Tugend aufzumuntern. Wer den Sokrates unter den Propheten nicht leiden will, den muß man fragen: Wer der Propheten Vater sey? und ob sich unser Gott nicht einen Gott der Heyden genannt und erwiesen?“23 Kant räumt eher Sokrates als Platon eine Sonderstellung in der Philosophiegeschichte ein, vgl. o. Auch für Hegel vertritt Sokrates weit in die Zukunft vorausweisend das Prinzip der Subjektivität. „Im Dämon des Sokrates (...) können wir den Anfang sehen, daß der sich vorher nur jenseits seiner selbst versetzende Wille sich in sich verlegte und sich innerhalb seiner erkannte - der Anfang der sich wissenden und damit wahrhaften Freiheit.“24 Auch Goethe vergleicht Sokrates und Christus, und sie scheinen ihm durchaus ebenbürtig: „Sokrates galt mir für einen trefflichen weisen Mann, der wohl, im Leben und Tod, sich mit Christo vergleichen lasse. Seine Schüler hingegen schienen mir große Ähnlichkeit mit den Aposteln zu haben, die sich nach des Meisters Tode sogleich entzweiten und offenbar jeder nur eine beschränkte Sinnesart für das Rechte erkannte.“25 Im 19. Jahrhundert wird unter dem Vorzeichen des Protests gegen das Christentum der Sokrates-Christus-Topos häufiger aufgegriffen, etwa bei Ludwig Feuerbach: „Wenn Sokrates mit unbewegter Seele den Giftbecher leert, so ruft dagegen Christus aus: »Wenn es möglich, 21

Lessing: Hamburgische Dramaturgie, Gotthold Ephraim Lessing: Werke, hg. von Herbert G. Göpfert in Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schirmding und Jörg Schönert, 8 Bände, München: Carl Hanser, 1970ff. Bd. 4, S. 459. 22 Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten (Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Mit einem Kommentar herausgegeben von Sven-Aage Jorgensen, Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1968 (Universal-Bibliothek, Bd. 926), S. 13). 23 Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten, a.a.O. S. 61. 24 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts = Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979 (Theorie-Werkausgabe) Bd. 7, S. 448. 25 Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, HA Bd. 9, S. 221f.

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so gehe dieser Kelch vorüber.« Christus ist in dieser Beziehung das Selbstbekenntnis der menschlichen Empfindlichkeit. Der Christ hat, im Gegensatz gegen das heidnische, namentlich stoische Prinzip mit seiner rigorosen Willensenergie und Selbständigkeit, das Bewußtsein der eignen Reizbarkeit und Empfindlichkeit in das Bewußtsein Gottes aufgenommen; in Gott findet er sie, wenn sie nur keine sündliche Schwachheit, nicht verneint, nicht verdammt.“26 Auch der Anarchist und Solipsist Max Stirner greift den Topos auf, setzt aber nun Sokrates in Beziehung zum Christentum und zu Luther: „Dieser Krieg wird von Sokrates erhoben und erreicht seinen Friedensschluß erst am Todestage der alten Welt. Mit Sokrates nimmt die Prüfung des Herzens ihren Anfang, und aller Inhalt des Herzens wird gesichtet. In ihren letzten und äußersten Anstrengungen warfen die Alten allen Inhalt aus dem Herzen hinaus, und ließen es für nichts mehr schlagen: dies war die Tat der Skeptiker. Dieselbe Reinheit des Herzens wurde nun in der skeptischen Zeit errungen, welche in der sophistischen dem Verstande herzustellen gelungen war.“27 Der wahre Nachfolger des Sokrates ist hier Luther: „Aber die Reformation machte endlich, wie Sokrates, mit dem Herzen selber Ernst, und seitdem sind die Herzen zusehends - unchristlicher geworden. Indem man mit Luther anfing, sich die Sache zu Herzen zu nehmen, mußte dieser Schritt der Reformation dahin führen, daß auch das Herz von der schweren Last der Christlichkeit erleichtert wird. Das Herz, von Tag zu Tag unchristlicher, verliert den Inhalt, mit welchem es sich beschäftigt, bis zuletzt ihm nichts als die leere Herzlichkeit übrig bleibt, die ganze allgemeine Menschenliebe, die Liebe des Menschen, das Freiheitsbewußtsein, das »Selbstbewußtsein«.“28 Die Ergebnisse der beginnenden kritischen Erforschung der Quellen über Sokrates spiegeln sich bei Sören Kierkegaard, der klar unterscheidet zwischen dem Ironiker und Agnostiker Sokrates und dem Systemdenker Platon.29 Für Kierkegaard ist Sokrates der schwebende existierende Denker, Inbegriff der vorchristlichen Existenz. „Das Dämonische war dem Sokrates genug, er konnte sich mit ihm behelfen; dies aber ist eine Bestimmung der Persönlichkeit, jedoch bloß das egoistische Befriedigtsein einer partikularen Persönlichkeit. Sokrates erweist sich ... als derjenige, der im Sprunge zu Etwas begriffen ist, jedoch in dem Augenblick es unterläßt, in dies Andere hineinzuspringen, sondern beiseite und zurück in sich selber springt.“30 In seiner ironischen Negativität verweist aber Sokrates voraus auf das Christentum. „Kierkegaards Sokratesbild befindet sich in einer unausgesprochenen Nähe zu dem Hamanns.“31 Ausgesprochen negativ - wenngleich nicht ohne Empathie - wird Sokrates bei Nietzsche beurteilt. „Mit ihm verurteilt der Sokratismus ebenso die bestehende Kunst wie die bestehende Ethik: wohin er seine prüfenden Blicke richtet, sieht er den Mangel der Einsicht und die Macht des Wahns und schließt aus diesem Mangel auf die innerliche Verkehrtheit und Verwerflichkeit des Vorhandenen. Von diesem einen Punkte aus glaubte Sokrates das Dasein korrigieren zu müssen: er, der Einzelne, tritt mit der Miene der Nichtachtung und der Überlegenheit, als der Vorläufer einer ganz anders gearteten Kultur, Kunst und Moral, in eine 26

Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Ausgabe in zwei Bänden. Herausgegeben von Werner Schuffenhauer, Berlin: Akademie-Verlag, 1956. Bd. 1, S. 119. 27 Max Stirner (Joh. Kaspar Schmidt): Der Einzige und sein Eigentum. Neue Ausgabe, mit einer biographischen und erläuternden Einführung von Anselm Ruest, Berlin: Rothgiesser & Possekiel, 1924, S. 33f. 28 Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, a.a.O. S. 40. 29 Vgl. Pleger a.a.O. 230. 30 Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, übers. v. E. Hirsch, Düsseldorf/Köln 1961 S. 171. 31 Pleger a.a.O. 232.

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Welt hinein, deren Zipfel mit Ehrfurcht zu erhaschen wir uns zum größten Glücke rechnen würden. Dies ist die ungeheure Bedenklichkeit, die uns jedesmal, angesichts des Sokrates, ergreift und die uns immer und immer wieder anreizt, Sinn und Absicht dieser fragwürdigsten Erscheinung des Altertums zu erkennen. Wer ist das, der es wagen darf, als ein Einzelner das griechische Wesen zu verneinen, das als Homer, Pindar und Äschylus, als Phidias, als Perikles, als Pythia und Dionysus, als der tiefste Abgrund und die höchste Höhe unserer staunenden Anbetung gewiß ist? Welche dämonische Kraft ist es, die diesen Zaubertrank in den Staub zu schütten sich erkühnen darf? Welcher Halbgott ist es, dem der Geisterchor der Edelsten der Menschheit zurufen muß: »Weh! Weh! Du hast sie zerstört, die schöne Welt, mit mächtiger Faust; sie stürzt, sie zerfällt!«“32 Sokrates gilt Nietzsche als Bahnbrecher der griechischen Philosophie in ihrem lebensfeindlichen Geiste. „Das philosophische Altertum lehrte dagegen eine andere Hauptquelle des Unheils: von Sokrates an wurden die Denker nicht müde zu predigen: »eure Gedankenlosigkeit und Dummheit, euer Dahinleben nach der Regel, eure Unterordnung unter die Meinung des Nachbars ist der Grund, weshalb ihr es so selten zum Glücke bringt - wir Denker sind als Denker die Glücklichsten.«“33 Das zwanzigste Jahrhundert hat eine Verstärkung der Beschäftigung mit den historischen Fragen um Sokrates gebracht. Unter den Interpretation, deren Zahl Legion ist, möchte ich am Ende meines Durchganges die von Romano Guardini hervorheben. Die Vorbemerkung zu seinem Buch „Der Tod des Sokrates“ beginnt mit den Worten: „Das Schicksal des Sokrates ist eines der wesentlichen Themen der abendländischen Geistesgeschichte. Welche Wege die philosophische Selbstbesinnung seit dem Jahre 399 v. Chr. auch gehen mag, irgendwann führen sie zu der rätselhaften Gestalt, die den Begegnenden so tief anrührt.“34 III. Schlußüberlegungen Die Person des Sokrates ist mit ihrem besonderen Geschick sehr anziehend, gerade auch in ihrer Rätselhaftigkeit. Das Gleiche gilt aber durchaus auch für die Grundhaltung und die philosophische Methode des Sokrates. Sie verdienen unsere Aufmerksamkeit auch heute und in Zukunft, ganz im Sinne Kants: „Bei der Ausbildung der Vernunft muß man sokratisch verfahren.“35 Aspekte der Sokratesgestalt - auch im Vergleich mit Jesus (Stichworte): •Der Philosoph schlechthin •Der Begründer innerlichen Glaubens •Der Ironiker •Der Ahnherr des einfachen Lebens und der Bedürfnislosigkeit •Maieutik als Vorbild des beratenden Gesprächs •Sokrates als Alternative abendländischer Identität •Ethik ohne Erlösungsglauben •Fragen: Die offene Lebenshaltung als Offenhalten für die Welt und den Dialog 32

Nietzsche: Die Geburt der Tragödie = Werke in drei Bänden. Herausgegeben von Karl Schlechta, München: Hanser, 1954, Bd. 1, S. 76f. 33 Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, a.a.O. Bd. 2, S. 190. 34 Romano Guardini: Der Tod des Sokrates, 4. Aufl., Düsseldorf/München o.J., S. 11. 35 I. Kant, Über Pädagogik. Von der physischen Erziehung, Weischedel VI, 737.

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•Sokrates und der historische Jesus: Das Unvergleichbare überwiegt das Vergleichbare •Sokrates und Jesus zusammendenken - eine Aufgabe der Zukunft Sokrates und Jesus von Nazareth sind in vieler Hinsicht vergleichbar: Was die Quellenlage und die Rätselhaftigkeit der Persönlichkeit angeht, aber auch in ihrem Zugang zur Wahrheit stehen sie einander durchaus nahe: In einem innerlichen Glauben (Daimonion, das Reich Gottes in uns), in der indirekten Redeweise (ironisches Fragen - Gleichnisse), schließlich auch in den ethischen Prinzipien (lieber Unrecht leiden als Unrecht tun, vgl. die Bergpredigt). Natürlich vergleichbar ist auch die Haltung gegenüber dem Tod, die für die erkannte Wahrheit den Tod auf sich nimmt. Damit endet die Vergleichbarkeit. Sokrates und Jesus stehen am Ende nicht für dieselbe Wahrheit, aber sie bilden zwei Pole abendländischen Geistes, von denen auch der sokratische uns fest- und wachzuhalten notwendig ist: Die Offenheit des Fragens, sdie skeptische Zurückhaltung gegenüber jedem vorschnellen Dogmatismus, die Überzeugung, daß Moral auch etwas mit Vernunft zu tun hat.