Das philosophische Wirtschaftsmagazin

Das philosophische Wirtschaftsmagazin Ausgabe 01/2014 Veränderung A G O R A 4 2 Ausgabe 01/2014 | Deutschland 8,90 EUR Österreich 8,90 EUR | Schwei...
Author: Hilke Peters
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Das philosophische Wirtschaftsmagazin

Ausgabe 01/2014

Veränderung

A G O R A 4 2 Ausgabe 01/2014 | Deutschland 8,90 EUR Österreich 8,90 EUR | Schweiz 13,90 CHF

Alles gleich, nur anders? ■ Revolution oder Restauration? ■ Wirtschaft neu denken? ■ Kapitalismus – alternativlos? ■ Change-Management: die neue Routine? ■ Veränderung – Ich bin doch nicht blöd!

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Peter Spiegel

Herr Spiegel, Sie entwickeln schon seit vielen Jahren Strategien für einen Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft. Hier sehen Sie sich umgeben von zahlreichen Stars aus Rock und Pop – wie wollen Sie die Wirtschaft rocken?

Die kreative Zerstörung des Menschenbilds

Ich mache mir seit meiner Jugend Gedanken darüber, wie die Gesellschaft sozialer gestaltet werden kann. Irgendwann kam ich darauf, dass man dabei eine Beziehung zur Wirtschaft aufbauen muss. Denn die Wirtschaft hat den Raum, den ihr Politik und Zivilgesellschaft überlassen haben, nur zu gerne ausgefüllt und ist somit zu einer gesellschaftlichen Instanz geworden, die man nicht ignorieren kann, wenn man ernsthaft etwas verändern will. Je mehr ich mich mit der Wirtschaft beschäftigte, desto klarer wurde mir, dass es so etwas wie die Wirtschaft gar nicht gibt. Zwar gibt es so etwas wie ökonomische Prinzipien, aber letztlich sind es immer Menschen, die ökonomische Prinzipien annehmen oder verändern und die die daraus abgeleiteten wirtschaftlichen Prozesse ausführen. Es sind Menschen, welche die Prinzipien aufstellen und ihnen dadurch Gültigkeit verleihen, dass sie nach ihnen handeln. Insofern besteht für mich der Königsweg darin, Menschen davon zu überzeugen, dass eine andere Haltung in Bezug auf die Art und Weise, wie wir wirtschaften, sinnvoll wäre.



Sie sind Leiter des Genisis Instituts, welches das Ziel verfolgt, eine neue soziale Kultur zu etablieren. Dabei spielt das Konzept des Social Business eine große Rolle. Was kann man sich darunter konkret vorstellen?

Interview mit Peter Spiegel I N T E R V I E W

Fotos: Duncan Smith

Die kreative Zerstörung des Menschenbilds für die er bis 2007 als Verleger tätig war.

rer. Zuletzt initiierte er die Gründung von

1994 erfolgte die Gründung der internatio-

Bildungsstifter e.V., eines Vereins, der sich

nalen Nichtregierungsorganisation Terra

für die Förderung und Entfaltung mensch-

e.V., deren Ziel die Entdeckung und Förde-

licher Potentiale einsetzt (Mai 2013).

rung von Projekten ist, die sich auf beson-

ders innovative Weise mit der Lösung von drängenden sozialen und ökologischen Problemen befassen. Im Jahr 2003 war

Spiegel Mitgründer des Komitees für eine demokratische UNO (KDUN), das sich für eine Demokratisierung und Stärkung der Vereinten Nationen einsetzt, und ist dort

seither Vorstandsmitglied. 2007 rief er den

Peter Spiegel Peter Spiegel wurde am 8. Juni 1953



Bücher (Auswahl)

- Faktor Mensch. Ein humanes Weltwirtschaftswunder ist möglich. Ein Report an die Global Marshall Plan Initiative. Horizonte Verlag, Stuttgart 2005 - Kyoto PLUS. So gelingt die Klimawende. Nachhaltige Energieversorgung plus globale Gerechtigkeit.

VISION SUMMIT ins Leben, einen inter-

Verlag C.H. Beck, München 2006

nationalen Kongress, auf dem Konzepte

- Eine bessere Welt unternehmen.

für die Lösung drängender gesellschaft-

Wirtschaft im Dienst der Menschheit –

licher Probleme wie Armut, Klimawandel

Social Impact Business.

und Ressourcenknappheit ausgewählt

Herder Verlag, Freiburg 2011

und vorgestellt werden. 2008 gründete er

- Schmetterlingseffekte. Meine verrückte

Interview mit Peter Spiegel

in Würzburg geboren. Er studierte von

1974 bis 1980 Soziologie an der Universität Regensburg, absolvierte danach eine Buchhändlerlehre und war neun Jahre beim Verlag C. H. Beck tätig.

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das GENISIS Institute for Social Innovation, das sich grundlegend mit den Möglichkeiten der Übernahme gesellschaftli-

Unternehmungen (Auswahl)

cher Verantwortung durch Unternehmen

1985 gründete Spiegel die Horizonte Ver-

auseinandersetzt. Seit der Gründung ist

lags GmbH (seit 2006: Terra Media Verlag),

Spiegel Institutsleiter und Geschäftsfüh-

Bildungsbiografie. Murmann Verlag, Hamburg 2013

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Das Interview wurde geführt in der LON Rockstar Photo Gallery (www.longdensmith.com).

Als Paradebeispiel kann man die von Muhammad Yunus in Bangladesch gegründete Grameen Bank anführen, deren Konzept sich grundsätzlich von anderen Banken unterscheidet und für das er 2006 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Folgende Überlegung ging der Gründung dieser Bank voraus: In der Regel ist es so, dass gerade diejenigen keinen Kredit für eine unternehmerische Tätigkeit bekommen, die ihn am dringendsten benötigen – das heißt jene Personen, die keine Sicherheiten vorweisen können. Der riesige Verdienst von Yunus besteht nun darin, dass er diese scheinbare Wahrheit – „Man braucht eine Sicherheit, um als kreditwürdig betrachtet zu werden“ – einfach ignoriert und Kredite an Personen vergeben hat, die keinerlei Sicherheiten anbieten konnten. Nach vielen Jahren der Konzepterprobung hat er schließlich ein Modell entwickelt, bei dem die Rückzahlungsquote der nicht besicherten Kredite sogar besser ist als bei Krediten, für die Sicherheiten hinterlegt wurden. Social Business bedeutet, unternehmerisches Handeln als gesellschaftlichen Auftrag zu verstehen – und nicht auf die maximale Renditesteigerung zu reduzieren. Wirtschaft im Dienst des Menschen statt umgekehrt. Wenn man unternehmerisches Handeln so versteht, dann eröffnen sich plötzlich auch Lösungsansätze für Probleme, die bislang als unlösbar galten. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne ein weiteres Beispiel anführen, das im Zusammenhang mit der Grameen Bank steht: Ausgerechnet die Ärmsten der Armen zahlen oft die höchsten Preise für Energie – sofern sie überhaupt Zugang zu Energie haben. Diese Missstände wurden lange ignoriert oder bestenfalls im Rahmen vereinzelter Projekte karitativer Organisationen oder der Entwicklungshilfe angegangen. Indem man nun in Bangladesch den Ärmsten der Armen günstige und speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Solaranlagen zur Verfügung gestellt sowie den Kauf über einen Kredit finanziert hat, wurde erreicht, dass sich Solaranlagen dort so schnell wie in keinem anderen Land der Welt verbreiten – über zwei Millionen Haushalte versorgen sich bereits mit Solarenergie, zu letztlich erheblich geringeren Kosten als bei jenen Energieformen, zu denen sie zuvor Zugang hatten. In Bangladesch herrscht große Armut, von einem Sozialsystem wie in Deutschland kann keine Rede sein. Inwiefern ist es möglich, das Konzept des Social Business auf ein Land wie Deutschland zu übertragen?

Social Business in seiner ursprünglichen Bedeutung ist tatsächlich schwer auf hiesige Verhältnisse übertragbar. Natürlich gibt es auch hier Bereiche, wo man es anwenden kann, diese sind jedoch überschaubar. Wenn man aber eine Ebene tiefer geht und sich die Frage stellt, was der Impuls war, das Konzept des Social Business zu entwickeln, öffnet 7

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Allerdings halte ich diese Definition von Social Business insgesamt für zu eng gefasst. Deswegen habe ich einen weiteren Begriff danebengestellt: das Social Impact Business. Damit bezeichne ich ein Spektrum verschiedener Formen der Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durch Unternehmen. Dieses Spektrum ist nicht haarscharf definiert und soll es auch nicht sein, weil man noch beobachten muss, welche Konzepte sich als sinnvoll erweisen. Ich fände es jedenfalls schade, wenn jemand kategorisch von der Umsetzung sozialer Innovationen ausgeschlossen wird, nur weil er eine gewisse Rendite erwartet. Wo diese Grenze jedoch verläuft, kann ich derzeit noch nicht sagen. Da muss man noch Erfahrungswerte sammeln.  Was wäre eine Rendite, die Ihrer Ansicht nach gerechtfertigt wäre? Würden Sie sagen, sieben Prozent sind in Ordnung? Oder vielleicht nur drei oder vier Prozent?

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Aber das Konzept kann doch nicht lauten: Nehmt den Staat aus der Verantwortung und beauftragt Unternehmer damit, die sozialen Aufgaben zu lösen?

In Deutschland gibt es eine Berliner Mauer zwischen dem Gemeinnützigkeitssektor und dem, was man gemeinhin als Wirtschaft bezeichnet: entweder – oder. Hinzu kommt, dass wir einen Staat haben, der auf die Rolle eines Geldausgebers reduziert wird. Hier müssen wir ansetzen. Der Staat muss sich künftig viel stärker als sozialer Investor verstehen. Gleichzeitig muss er auch Rahmenbedingungen schaffen, um neben technischen Innovationen und der Innovation von Geschäftsmodellen eine dritte Innovationssäule zu fördern: soziale Innovationen. Es ergibt doch keinen Sinn, dass die drei Bereiche Gemeinnützigkeitssektor, Wirtschaft und Staat nebeneinander existieren und im inzwischen größten Sektor in unserer Gesellschaft, im sozialen Sektor, nicht sinnvoll miteinander verzahnt sind. Wie kann es sein, dass Unternehmer im wirtschaftlichen Kontext nur darauf aus sind, ihre Gewinne zu optimieren, und dann – als ob das eine mit dem anderen nichts zu tun hätte – den großzügigen Wohltäter spielen und ein Teil ihrer Gewinne für soziale Zwecke spenden? Warum kann das nicht Hand in Hand gehen? Hier ist also der Staat gefragt, um ein Umfeld zu schaffen, das es Menschen ermöglicht, ihre Kreativität hinsichtlich der bestmöglichen Verbindung der drei Bereiche entfalten zu können. Nun geht es im Kapitalismus per Definition nicht primär um Menschen und Güter, sondern darum, das investierte Kapital zu vermehren. Obwohl sich heute alle Unternehmen als Weltmeister in Sachen CSR darstellen, wird man den Eindruck nicht los, dass es sich hierbei in vielen Fällen um Imagepolitur oder auch um vorbeugende Maßnahmen gegen strengere Gesetze handelt. Befürchten Sie nicht, dass die Bestrebungen, einen sozialverträglicheren Kapitalismus zu kreieren, verwässert oder gar in ihr Gegenteil verkehrt werden?

Ohne Einschränkung: ja. Die Gefahr ist riesengroß, dass man unter den neu aufkommenden Labels wie Social Innovation und Social Business das gleiche alte Produkt oder CSRKonzept verkauft. Das hat mit unseren Ansätzen nichts zu tun. Social Business, wie es Yunus definiert hat, bedeutet, dass die Investoren keinerlei Rückflüsse aus dem von ihnen zur Verfügung gestellten Geld bekommen. Das ist ein radikaler Ansatz und ich begrüße es immer, wenn er aufgegriffen wird. 8

» Social Business bedeutet, dass die Investoren keinerlei Rückflüsse aus dem von ihnen zur Verfügung gestellten Geld bekommen.«

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sich ein weites Feld. Dann sind wir im Bereich der sozialen Innovationen, das heißt der Durchsetzung und Verbreitung ganz neuer gesellschaftlicher Praktiken. Als Vorstufe für die Entwicklung einer Social Business Kultur brauchen wir bei uns zunächst eine Kultur für soziale Innovationen.

Ich traue mir zu, auf viele Fragen Antworten zu geben, aber auf diese nicht, weil ich die Mechanik und die Folgewirkungen von Zinsen und Zinseszinsen noch zu wenig verstehe. Für mich steht im Vordergrund, die Menschen auf die sinnstiftende Komponente und die extrem hohe Lebensqualität hinzuweisen, die damit verbunden sind, wenn wirtschaftliches Handeln in einen sozialen Kontext eingebunden wird. Denn was habe ich davon, wenn ich 100.000 Euro im Jahr zusätzlich verdiene, aber dieses Geld mir keinen zusätzlichen Sinn verschafft? Wenn ich die 100.000 nicht habe, aber weiß, was ich mit meinem Leben anfangen kann, dann bin ich viel reicher. „Es reicht, um glücklich zu sein“, das ist mein Reichtumsbegriff, und für diesen werbe ich – durchaus mit ansteckendem Erfolg – auch bei Reichen, die nicht selten unter ziemlicher Sinnarmut leiden. Eine grundsätzliche Problematik aber bleibt. Nehmen wir zum Beispiel einen Social Business Fonds. So einen Fond können nur Leute auflegen, die Geld haben. Wenn man diesen Leuten gestattet, mit ihren Investitionen eine Rendite zu erzielen, wird ihnen die Möglichkeit verschafft, noch reicher zu werden. Insofern ändern soziale Geschäftsmodelle nichts an einem der größten Probleme der heutigen Zeit: der stetig wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Setzen sie darauf, dass die Leute, die reicher und mächtiger werden, mit der Zeit auch weiser und gerechter werden?

Ich hoffe, dass sie klüger werden im Bezug auf das, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen. Ich finde es gut, dass die Hardcore-Investoren-Szene aufgewacht und neugierig geworden ist. Aber zugleich sehe ich immer noch bergeweise falsche Überzeugungen und Verhaltensweisen. Ich glaube, man kommt einfach nicht umhin, Geduld aufzubringen, klare Ziele zu entwickeln, Überzeugungsarbeit zu leisten, aber auch Freiräume für Versuch und Irrtum zu lassen. Vor allem eine kritische Öffentlichkeit muss dafür sorgen, dass Social Impact Business klar und eindeutig so definiert bleibt, dass es eine Verabschiedung von dem Ziel bedeutet, viel Geld zu verdienen. Es geht darum, viel soziale Wirkung zu erzielen. Ihr Vertrauen in den Reifeprozess der Hardcore-Investoren in allen Ehren, aber ein Vorstandvorsitzender einer Aktiengesellschaft ist nun einmal verpflichtet, seinen Aktionären eine ordentliche Dividende zu erwirtschaften. Würde beispielsweise der Vorstand von Vodafone sagen: „Wir investieren von unseren zehn Milliarden Gewinn nicht nur 50 Millionen Pfund in unsere Stiftung, sondern fünf Milliarden“, wäre er seinen Job los. Können solche Leute die Strukturen überhaupt verlassen?

Die CEOs der großen Aktienkonzerne sind in gewisser Hinsicht tatsächlich Sklaven des Brutalo-Kapitalismus, viel mehr als beispielsweise die Chefs von klassischen mittelständischen Unternehmen. Erstere sind Sklaven, die nicht wirklich aus den Shareholder-Value-Strukturen heraus können. Ich kenne einige Leute, die trotz dieser Beschränkungen versuchen, etwas zu verändern, und die ich dafür bewundere, weil ich inzwischen gelernt 9

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habe, wie schwer das ist. Ein positives Beispiel ist die Danone AG. Dort hat der CEO seine Aktionäre davon überzeugt, einen Danone Social Business Fonds aufzulegen, bei dem sie keinerlei Renditen erhalten. Fast alle machten mit. Und die Mitarbeiter bestanden dann darauf, ebenfalls einen Teil ihres Geldes dort anlegen zu dürfen. Dieser Fonds finanziert inzwischen Dutzende neuer Social Businesses.

Ich habe die 68er-Bewegung noch miterlebt und kann Ihnen aus erster Hand bestätigen, dass dies lange Zeit versucht wurde. Ich glaube nicht, dass Anklage weiterhilft. Damit produzieren Sie nur Widerstand. Widerstand von Menschen und Organisationen, die gewaltige Interessen haben, die gewaltig viel Geld und gewaltig viel Einfluss haben. Ich gehe den Weg der Überzeugungsarbeit, das heißt, ich will erreichen, dass man sich mit Menschen und Unternehmen identifiziert, die ganz anders gestrickt sind – mit neuen Konzepten, neuen Strukturen, neuen Modellen. Wichtig sind Vorbilder, die demonstrieren, dass andere Modelle des Wirtschaftens funktionieren und die Lust auf mehr machen.

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Paul Krugman, Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 2008, sagte einmal, die Ökonomie brauche ein ganz neues Menschenbild. Bedarf es eines philosophischen Wandels in der Wirtschaft?

Das ist tatsächlich ein Schlüssel. Und in Analogie zu dem, was Schumpeter einst auf die Wirtschaft bezogen sagte, wünsche ich mir eine kreative Zerstörung des gängigen Menschenbilds! Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Großteil der heutigen Probleme darauf zurückzuführen ist, dass noch viel zu viele unvorstellbar bescheuerte und beschränkte Menschenbilder in unseren Köpfen und Institutionen herumgeistern. Ich wurde als Jugendlicher stark vom deutschen Philosophen Hans Vaihinger geprägt, demzufolge es, etwas flapsig formuliert, schlicht eine Dummheit darstellt, nicht an positive Gestaltungsmöglichkeiten seines eigenen Lebens und seiner Umwelt zu glauben. Ich habe aufgehört, Möglichkeiten zu verwerfen, nur weil sie dem Konsens zufolge verrückt sind, und habe stattdessen begonnen, Dinge einfach auszuprobieren. Meiner Ansicht nach ist alles, was als gesellschaftliche Beschränkung aufgefasst wird, was dem Einzelnen als Schicksal erscheint, eine Aufforderung, sich zu überlegen, ob man das nicht auch anders machen kann. So hat auch der österreichische Arzt und Psychotherapeut Alfred Adler in seinen Studien festgestellt, dass viele berühmte Maler und Künstler Genies geworden sind, weil sie eine Organminderwertigkeit hatten und dann extrem viel Energie darauf verwendet haben, diese Defizite zu kompensieren. Sie haben ihr „Schicksal“ einfach überwunden. Wir wissen doch, dass in allen Bereichen die Quereinsteiger die viel kreativeren Menschen sind. Die besten sozialen Innovatoren sind fast durch die Bank keine Spezialisten gewesen. Deshalb müssen alle Berufszweige radikal geöffnet werden. Nicht unbedacht, aber systematisch. Wenn man diesen Gedanken in die Köpfe und Herzen hineinbringen könnte, dann würden viele Biografien anders laufen. Sehen Sie hier auch die Kirche in der Pflicht? Insofern es in den Religionen immer schon um Wertvorstellungen geht, die über das Materielle hinausgehen?

Grundsätzlich sehe ich jeden Menschen in der Pflicht. Dazu gehören natürlich auch die Menschen, die in der Kirche tätig sind. Grundsätzlich geht es in der Religion ja um Werte und es ist immer gut, wenn die Fahne von Werten hochgehalten wird. Ich sehe aber auch Folgendes: Das ursprüngliche Verständnis von Religion ist heute zum Teil verlorengegangen. Es bedarf auch in diesem Bereich immer wieder neuer Impulse. Jeder Versuch, Religionen von ihren Verkrustungen zu befreien, lohnt. Ich erinnere mich noch an Zeiten, 10

»Die kreative Zerstörung des Alternativlosigkeitsdenkens ist alternativlos.«

wo man innerhalb der christlichen Kirchen die Idee „Frieden ist möglich“ weit von sich wies. Viele Christen argumentierten damals mit Bezug auf die Bibel: „Frieden kommt erst, wenn Christus wiedergekommen sein wird.“ Und damit war für sie das Thema zu Ende diskutiert. Dann fand erstaunlich kurzfristig ein Wandel statt und plötzlich waren es kirchliche Gruppierungen, die Menschen für den Frieden auf die Straße brachten. Solche Wandlungen können auch heute passieren. In Bezug auf einen gesamtgesellschaftlichen Wandel sind viele Menschen skeptisch – Stichwort Alternativlosigkeit …

Für den Begriff Alternativlosigkeit finde ich schon eine Verwendung, allerdings nur eine einzige: Die kreative Zerstörung des Alternativlosigkeitsdenkens ist alternativlos, weil man ansonsten nicht wirklich kreative Lösungen suchen und finden kann. Muhammad Yunus hat das wunderbar auf den Punkt gebracht: „Ihr in Deutschland habt ein Problem mit Problemen. Wir in Bangladesch haben so viele davon, wir können gar nicht anders damit umgehen, als sie als wertvollen Rohstoff für Innovationen zu nutzen.“ Ein schöner Satz.

Heißt das, wir brauchen noch mehr Probleme?

Nein, nein! Ich bin kein Fan von Franz-Josef Strauß, der einmal sagte, es müsse erst schlimmer werden, bevor es besser werden könne. Wir können viel früher einsteigen. Wir können hier und heute unseren Kopf einschalten, Entscheidungen treffen und loslegen. Wir können Beispiele schaffen und Menschen vernetzen, die Lust auf Neues haben. Früher war ich der Meinung, mit Philosophie kann man etwas bewegen. Dann war ich der Meinung, mit gesellschaftspolitischen Initiativen wie beispielsweise der Global Marshall Plan Initiative kann man etwas bewegen. Heute meine ich, dass beides richtig ist – aber dass das Wichtigste noch fehlt: einfach selbst anfangen. Durch die Erfahrungen aus der 68er-Bewegung ist mir klar geworden, dass man als verantwortungsbewusster Bürger mehr tun kann und muss, als nur zu protestieren und Forderungen zu erheben. Ich muss darüber nachdenken, wie ich mich einbringen kann und selbst an Beispielen mitwirke, die die Politik dann aufgreifen, fördern und skalieren kann. Ein deutscher Politiker hat mir im privaten Gespräch gesagt: „Wenn die Bürger wüssten, wie wenig wir Politiker gestalten können, dann würde niemand mehr zu Wahl gehen.“ Politiker brauchen aktive Bürger, die sich selbst auf den Weg machen. Und vor allem solche, die sich als Sozial- oder Gesellschaftsunternehmer entdecken. Nimmt man die gesamte Gesellschaft in den Blick, kann man den Eindruck bekommen, dass es in beinahe allen Feldern grundlegender Änderungen und Neuerungen bedarf – man denke nur an den Bankensektor, die Energiepolitik, das Bildungswesen, Luft- und Umweltverschmutzung, 11

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Nun hat die CEOs niemand in Ketten gelegt. Niemand hat ihnen einen Colt an den Kopf gehalten und gesagt: „Wenn du diesen Job nicht machst, dann bringe ich dich um.“ Nimmt man sie nicht aus der Verantwortung, wenn man sie als Sklaven bezeichnet? Wäre es nicht ehrlicher, wenn man sie für ihr Verhalten anklagt?

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Ich denke, wir sind schon mittendrin. Allerdings hat diese Veränderung noch nicht alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst und das Bewusstsein, Teil einer solch grundlegenden Veränderung zu sein, ist noch nicht sonderlich ausgeprägt. Hier in Deutschland gibt es noch immer ein – historisch gesehen – unglaublich gut funktionierendes Sozialsystem. Obwohl aber vollkommen klar ist, dass der demografische Wandel kräftig daran knabbern wird, bleiben sinnvolle Reformen in diesem Bereich bislang aus. Auch im Finanzsektor, wo die Notwendigkeit grundlegender Reformen deutlich zutage getreten ist, wurden bei Weitem nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen. Es ist beschämend, wie schwach wir da waren und bis heute sind. Generell bin ich der Ansicht, dass wir alleine schon aus wirtschaftlichen Gründen zu einem gewaltigen Umdenken gezwungen sind. Gleich in welcher Region der Welt man sich befindet: Es wird immer leichter, sich zukunftsrelevante Schlüsselkompetenzen anzueignen. E-Mails, Internet und Ähnliches ermöglichen es weltweit, an das neueste Wissen heranzukommen. Gute Leute auszubilden, ist kein großes Problem mehr. Malaysia hatte bis vor 45 Jahren keine einzige Universität und kein Gymnasium. Wo ist Malaysia jetzt? An der Weltspitze im Bildungssektor, in der Wirtschaft und auch in mehreren Forschungsbereichen, in denen Zukunftstechnologien entwickelt werden. Es dauert oft keine Generation mehr, um von ganz hinten nach ganz vorne zu kommen. China „produziert“ jedes Jahr eine Million Ingenieure – eine Million „Aufsauger“ und fleißige Umsetzer des Weltwissens. Und dies zu einem Bruchteil der Kosten, die eine vergleichbare Ausbildung bei uns oder in den USA kostet. Auch bei den Forschungsausgaben und bei der Entwicklung von Innovationen hat China riesige Fortschritte gemacht. Ich wundere mich, wie manche noch im Ernst glauben können, dass uns das gute alte Wettbewerbsdenken da noch lange oben halten kann. Wie wäre es, wenn wir stattdessen gemeinsam mit den Chinesen, mit den Indern und allen anderen darüber nachdenken, wie wir miteinander eine ökonomisch, ökologisch und sozial balancierte Welt realisieren könnten und welche Rolle uns in dieser Welt zukommen könnte? Die neue Maxime kann in dieser Hinsicht nur lauten: „Collaboration is the next competition.“ Man sieht aber auch andere Entwicklungen. Wie zum Beispiel die enormen Summen, die viele Länder in die Rüstung stecken – angeführt mit großem Abstand von den USA. Es gibt mächtige Eliten, denen ein paar tausend Tote mehr oder weniger egal sind. Und selbst der ehemalige Bundespräsident, der nicht gerade als Kriegstreiber bekannte Horst Köhler, tat öffentlich kund, dass militärische Einsätze manchmal notwendig sind, beispielsweise um Handelswege frei zu halten …

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soziale und Generationengerechtigkeit etc. Haben Sie den Eindruck, dass bald eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung bevorsteht?

» Die neue Maxime kann nur lauten: ‚Collaboration is the next competition.’«

Wie viele Kriege haben die USA in den letzten 20 Jahren mit ihrer überlegenen Militärmacht gewonnen? Mir fällt keiner ein. Was haben sie letztlich von ihren enormen Ausgaben? Nichts. Auch hier muss also kreative Zerstörung stattfinden. Die Vorstellung, dass es sinnvoll ist, so viel Geld ins Militär zu stecken, muss zerstört werden. Unsere Sicherheitskonzepte sind einfach überholt. Was erforderlich ist, um in einer global zusammengewachsenen Menschheit für Sicherheit zu sorgen, lässt sich einfach sagen: Entwicklungschancen für alle. Vernünftige Einsicht ist das eine, Ideologien und Gewohnheiten sind das andere – zumal wenn diese gewaltsam durchgesetzt werden können. Dem deutschen Rechtsphilosophen Gustav Radbruch zufolge hört Recht auf, Recht zu sein, sobald es unerträglich ungerecht wird. Muss man nicht manchmal auch den Rahmen gültigen Rechts verlassen, um Missstände zu bekämpfen und Dinge tun wie zum Beispiel Bradley Manning oder Pussy Riot?

Ich möchte keine Antwort geben zu den beiden genannten Fällen, denn mit diesen habe ich mich nicht ausreichend beschäftigt. Aber grundsätzlich möchte ich dazu gerne Folgendes bemerken: Auch in einem erfahrenen Rechtsstaat kann es – lange Zeit von der Öffentlichkeit unbemerkt – passieren, dass sich in bestimmten Gebieten schleichend ein 12

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Zustand etabliert, der mit Rechtsstaatlichkeit nicht mehr viel zu tun hat; ein Zustand, in dem es bestimmten Interessengruppen allzu sehr „recht“ gemacht wird. Ein leider noch viel zu wenig diskutiertes Beispiel in unserem Lande: Weil große Unternehmen in Rechtsstreitigkeiten mit Mittelständlern den längeren Atem haben, gehen Mittelständler pleite, bevor es zu einem Urteil kommt. „Recht“ bekommt in diesen ganz und gar nicht seltenen Fällen einfach der Finanzstärkere. Darüber hinaus können sich Großunternehmen erhebliche Steuervorteile – und viele andere Vorteile – verschaffen, die weit jenseits des Gedankens von Rechtsstaatlichkeit liegen. Ich habe viel Verständnis dafür, wenn manche sich wehren angesichts solcher Schleifungen von Rechtsstaat, Steuergerechtigkeit, Demokratie und einigem mehr. Für mich persönlich habe ich dennoch die Entscheidung getroffen, mich innerhalb rechtsstaatlichen Handelns zu bewegen.

In globaler Hinsicht sind diesbezüglich unsere Gestaltungsmöglichkeiten aber noch begrenzter als jene der völlig in die Defensive geratenen Staaten …

Wir brauchen unbedingt einen Diskussionsprozess über die Wiedererlangung globaler Gestaltungs- und Handlungsfähigkeit. Die Politik hat sich auf diesem Feld Hände und Arme amputiert, weil sie als einziger zentraler Sektor sich nicht globalisiert hat, sondern im Kern auf der nationalen beziehungsweises inter-nationalen Ebene stehen geblieben ist. Wir haben keine global governance, sondern national governance und inter-national governance, die als extrem komplexe, langwierige und die Handlungsfähigkeit stark reduzierende Verhandlungsplattform nationaler Interessen organisiert ist. Wirtschaft kann global agieren, Zivilgesellschaft auch, durch Handys, Mails und all diese wunderbaren Dinge, nur die Politik begab sich in Zeiten rasant wachsender globaler Herausforderungen in die selbst organisierte Gefangenschaft national-egoistischer Interessenabgleiche. Bis man auf diese Weise eine globale Handlungsstrategie entwickelt, um den CO2-Ausstoß zu verringern, ist das Klimaproblem längst in der überübernächsten Generation angekommen. Man löst so immer Probleme aus der Vergangenheit. Das ist die Krux der heutigen inter-nationalen Politik.

Reicht es aus, wenn der Impuls zu Neuerungen nur von einzelnen Personen beziehungsweise von einzelnen Initiativen ausgeht? Die Politik kann mit einer einzigen Entscheidung bewirken, wofür einzelne Menschen, Unternehmen oder Initiativen Jahrzehnte benötigen. In Stockholm wurde eine Auto-Maut eingeführt, obwohl 70 Prozent der Bürger dagegen waren. Heute sind 70 Prozent dafür. Das wäre durch einzelne Akteure oder Bürgerinitiativen schwer zu erreichen gewesen. Wäre es insofern nicht doch effektiver, seine Energie darauf zu richten, den politischen Rahmen neu zu setzen?

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Müsste man, um wieder handlungsfähiger zu werden, nicht das, was man als – ökonomische, gesellschaftliche, politische – Realität bezeichnet und woran man sich im Alltag orientiert, gründlich hinterfragen? Ist Realität nicht immer auch kollektive Illusion?

Da sprechen Sie ein sehr schwieriges Thema an. Als Michail Gorbatschow an die Macht kam, habe ich große Hoffnungen darauf gesetzt, dass wir eine vernünftige Revolution von oben erleben. Gorbatschow hat beispielsweise den Vorschlag gemacht, dass die Vereinten Nationen neben dem Sicherheitsrat auch einen Umweltsicherheitsrat mit vergleichsweise sehr starken Befugnissen einrichten. Kein Öko hat diesen Gedanken bei uns aufgegriffen. Welches Versagen. Gorbatschow war bereit, staatliche Souveränität aufzugeben für eine sich demokratisierende UNO. Was für ein starker Gedanke. Bei uns hat das niemanden interessiert. Gorbatschow war aus meiner Sicht eine große Hoffnung im politischen Sektor, er hat serienweise Türen geöffnet. Und wir haben ihn in vielen seiner Initiativen schändlich ignoriert. „Wir“ meint hier sowohl die globale Zivilgesellschaft als auch die Zivilgesellschaft in seinem Land. Es gibt keine Versicherungsanstalt für den Erfolg einer Revolution von oben. Wichtig ist, die richtige Mischung, die richtige Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure hinzubekommen. So verriet mir beispielsweise der ehemalige Umweltminister von Brasilien, José Lutzenberger, wie es kam, dass der Umweltgipfel von Rio de Janeiro im Juni 1992 – verglichen mit anderen Umweltgipfeln – relativ erfolgreich war: Im Vorfeld fragten amerikanische Umweltaktivisten einige Senatoren, wieso diese eigentlich so gut wie nichts für die Umwelt tun. Daraus ergab sich dann folgender Vorschlag der Senatoren: „Lasst uns einen Deal machen. Ihr macht auf uns Druck. Wir sprechen vorher darüber, welcher Druck am sinnvollsten ist – da können wir euch ja gut beraten. Und dann sind wir natürlich ‚leider’ gezwungen, euren Forderungen entgegenzukommen.“ Diese Geschichte hat mir sehr gefallen.

Vieles, was man Realität nennt, ist einfach nur ein Gedankenkonstrukt – allerdings ein sehr festgefahrenes. Wenn alle davon ausgehen, dass die Erde eine Scheibe ist, wie realistisch ist es dann, die Realität der Erde als Kugel zu entdecken? Ziemlich unrealistisch. Deshalb muss man Visionen zulassen. Und vielleicht auch ein wenig verrückt sein. Der Zukunftsforscher Robert Jungk hat einmal gesagt: „In einer verrückten Welt muss man verrückt sein, um normal sein zu können.“ Ich versuche, Menschen konkret zu zeigen, was sie alles gestalten können, wenn sie ihr Denken ein bisschen aufräumen und einige dieser scheinbar objektiven Tatsachen einfach über Bord werfen. Alle müssen aus dem Denken aussteigen, das bisher in ihren Köpfen war. Gleich, ob sie in der Zivilgesellschaft, der Politik und der Wirtschaft tätig sind. Dabei gilt, gerade im sozialen Bereich: Gut gemeint ist noch lange nicht gut. Es kann sogar zu einer Denkblockade führen, wenn man meint, etwas aus guten Gründen zu tun, weil man sein Tun dann oft nicht mehr radikal genug hinterfragt und von der hartnäckigen Innovationssuche ablässt. Aber genau um diese Suche geht es. Genau diese Suche bereitet die meiste Freude im Leben. Das ist meine feste Überzeugung.

Herr Spiegel, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. ■

Stichwort Verantwortung des Einzelnen: Wenn man sich neben den alltäglichen Anforderungen in Beruf und Familie auch noch über die Aufgaben des Sozialstaats Gedanken machen muss, birgt das die Gefahr der Überforderung. Ohne ein gewisses Grundvertrauen in staatliche Institutionen wird es schwierig. Ist unser Problem heute nicht gerade, dass immer weniger Menschen dieses Vertrauen aufbringen?

Das sehe ich dezidiert so. An die Entwicklungsfähigkeit von gesellschaftlichen Systemen sollte man glauben. Aber wir brauchen ein Vertrauen, das nicht lähmt. Man sollte also möglichst aktiv mitdenken und mitgestalten. Nur so kann sich eine wechselseitige Vertrauensatmosphäre aufbauen, die trägt und weiterwachsen kann. 14

Das Interview führten Frank Augustin und Wolfram Bernhardt.

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