DAS LICHT, DAS ICH BIN

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J. C. Amberchele

DAS LICHT, DAS ICH BIN Die innere Befreiung eines Lebenslänglichen

Aus dem Englischen übersetzt von Jochen Lehner

Lotos

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Die englische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »The Light That I Am« im Verlag Non-Duality Press, Salisbury.

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier EOS liefert Salzer Papier, St. Pölten, Austria.

Lotos Verlag Lotos ist ein Verlag der Verlagsgruppe Random House GmbH. ISBN 978-3-7787-8219-4 Erste Auflage 2010 Copyright © 2009 by J. C. Amberchele. Copyright © 2009 by Non-Duality Press. Copyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe by Lotos Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Alle Rechte sind vorbehalten. Printed in Germany. Einbandgestaltung: SWSP Design, München Gesetzt aus der Sabon von Leingärtner, Nabburg Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

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Schau! Die eine Überlieferung außerhalb aller Lehren. Kein Rückgriff auf Worte. Einzig unmittelbares Hinein-Weisen in die natürliche Weisheit! Bodhidharma

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In memoriam Douglas Edison Harding 1909 – 2007

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Inhalt Eine Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort von Richard Lang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hardings Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Niemand zu Hause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Licht, das ich bin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kleingetier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Briefe von daheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gewohnheitsgeist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Leere – Ein Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abwachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mitgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zwei Tage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Tunnel der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vom Üben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ersetzt werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Spieglein, Spieglein … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Wendepunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Der Körper, immer wieder! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Was bin ich? – Ein Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

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Eine Brücke darüber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Was ich wirklich möchte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Durchzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Brief an einen Sohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Ergebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Was ich wirklich möchte, Teil 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Wieso erscheint überhaupt etwas? – Ein Gespräch . . 185 Dies wilde Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Berge und Flüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Verzeihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Nicht im Gefängnis: Nachwort von Richard Lang . . . 215 Der Kopflose Weg: Die Experimente . . . . . . . . . . . . . 224 Ausklang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

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Eine Vorbemerkung Dieses Buch beinhaltet eine Sammlung von Artikeln, die auf den Erkenntnissen des englischen Philosophen und spirituellen Lehrers Douglas Edison Harding beruhen. Sein »kopfloser Weg« ist ein unkomplizierter und zeitgemäßer westlicher Zugang zu dem, was den tieferen Gehalt aller großen Religionen ausmacht, ein Ansatz, der keinen anderen verneinen muss, sondern alle einbezieht, indem er den Grund des Seins ausleuchtet, der in uns allen ist. Im Zentrum unserer Thematik steht die Frage »Wer bist du?«, und die Annahme lautet, dass ich nicht bin, was ich zu sein glaube, nicht das, was man mir erzählt hat, nicht das, was andere in mir sehen. »Sieh selbst«, lautet die Anweisung (und der Titel eines der vielen Bücher Hardings), denn die Antwort kann nicht aus dem begrifflichen Denken kommen, nur aus dem Schauen. Was wir da finden, kann überaus verblüffend und in seinen Implikationen buchstäblich welterschütternd sein – und doch hat es seltsamerweise etwas ganz Unspektakuläres, und es dämmert uns, dass wir immer schon waren, was wir sind, ungeboren, unsterblich. Im Laufe der Sechziger- und Siebzigerjahre entwarf Harding eine Anzahl von Übungen, die darauf abzielten, uns zu dieser höchsten Sicht der Dinge hinzuleiten. Seine »Experimente«, wie er diese Übungen nannte, sind von ganz erstaunlicher Wirkung. Man muss sie allerdings machen und nicht nur lesen, sonst wird dieses Buch nicht viel hergeben. Unser wahres Wesen ist nämlich nichts, was sich mit dem 11

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Verstand erfassen ließe. Es offenbart sich uns urplötzlich, es wird entschleiert oder wiederentdeckt, und die »Bedeutung« erschließt sich dann mit der Zeit von selbst. Zum leichteren Überblick habe ich die im Text besprochenen Experimente am Schluss des Buchs noch einmal zusammengefasst. Außerdem sei erwähnt, dass die Kapitel dieses Buchs ursprünglich als eigenständige Artikel abgefasst wurden und in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können. Dadurch bedingt wiederholen sich manche Themen und Experimente, aber die Erfahrung des Einsseins ist zeitlos oder besser außerzeitlich, und Sie werden vielleicht erleben – mir jedenfalls geht es so –, dass jedes erneute Eintauchen in die leuchtende Bewusstheit Ihres Innersten in Wirklichkeit das erste Mal ist. Es gibt in diesem Buch Ausdrücke wie »Nichts/Alles«, »Leere/Fülle«, »Bewusstheit«, »Gott«, »das Eine«, »das Selbst«, »Fassungsvermögen«, »wer ich wirklich Bin« oder »erste Person Singular«, die locker und im Grunde austauschbar verwendet werden, aber alle auf Dies hindeuten, das unaussprechliche Mysterium unseres Grundes, das nicht gesagt, wohl aber gesehen werden kann. Ich hoffe, dass dieses Buch Ihnen den kopflosen Weg weisen kann, den Weg zum Sehen und folglich zum Sein dessen, was Sie Sind.

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Vorwort J. C. Amberchele sitzt ein, aber er sieht sich nicht so. Er sieht, dass das Gefängnis in ihm ist, während er seinem Wesen nach frei ist. Niemand muss auf Freiheit warten, Freiheit ist jetzt. Es kommt nur darauf an, dass Sie bemerken, von wo aus Sie schauen. Es ist ganz einfach, so einfach wie das Sehen selbst. Wenn Sie nicht wissen, was ich meine, dann lesen Sie dieses Buch! Jede Seite winkt Sie heim in die Freiheit, die Sie im Innersten sind. Freiheit ist: den Ursprung sehen und der Ursprung sein. Im Buchtitel deutet J. C. Amberchele direkt und unmissverständlich auf das, was für alle Dinge stromaufwärts liegt, auf den Ursprung, der uns näher ist als selbst der eigene Atem. Wir kennen uns, die Geschichte unserer Begegnung ist diesem Buch als Nachwort angefügt. Ich spreche mit tiefstem Respekt von ihm. Seine Stimme inspiriert mich in ihrer Wahrhaftigkeit und Tiefe. Doch wie er selbst hervorheben würde: Letzten Endes ist dies kein Buch über Amberchele, sondern über den, der er wirklich ist – und das ist derselbe, der wir alle sind. Möge dieses Buch Ihnen Lust machen, einen neuen Blick – und wirklich einen Blick und keinen »Denk« – auf sich zu werfen und das wirklich Wunderbare zu entdecken, nämlich dass Sie kein Etwas sind, sondern der Ursprung, der Grund Richard Lang des Seins. 13

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Hardings Weg Wie es in der Welt zugeht – alles, was ich mir darüber je zurechtgelegt habe, kann nicht viel gebracht haben, wenn man bedenkt, dass ich jetzt schon über zwanzig Jahre im Gefängnis zubringe. Meine Lebensgrundsätze habe ich ganz überwiegend von meinem Vater und von John Wayne übernommen, und was nicht knallhart und supercool war, empfand ich als extrem peinlich. Eigentlich habe ich sogar durchgängig in peinlichster Verlegenheit existiert, weil ich nie auch nur annähernd an die völlig überzogenen Normen heranreichte, die ich so fraglos akzeptiert hatte und die sich zu einem Gespinst von Erwartungen ausweiten, vor dem niemand hätte bestehen können, ich ganz sicher nicht: wie ich mich zu verhalten hatte, wie andere mich zu behandeln oder sich in meiner Gegenwart zu benehmen hatten, wie die Tage und Monate und Jahre so laufen sollten, dass sich für mich alles zum Besten fügte. Ich entwickelte mich, wie man sich denken kann, zum Inbegriff des Kontrollfreaks. Und wie alle Kontrollfreaks trug ich unter der Fassade von chromblitzender Stärke ein Gefühl von Leere und rettungsloser Verlorenheit mit mir herum, ewig aufgerieben zwischen meinem Anspruch an mich selbst und meinem Bild von mir selbst. Wie ferngesteuert zerlegte ich mein eigenes Leben wieder und wieder und riss andere mit. Und dann sah ich vor Jahren, schon damals nicht mehr neu im Gefängnis, zufällig ein Fernsehinterview mit Joseph Campbell und sagte mir, dass ich es mit der Meditation ver15

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suchen würde. Das war bei der Enge, dem Lärm und dem reglementierten Tagesablauf im Zellenblock anfangs recht schwierig, aber ich fand bald heraus, dass ich während der Meditation kaum etwas von an mich oder andere gestellten Erwartungen wusste – als wären gar keine anderen vorhanden. Wo ich da war, gab es keine Verhaltensnormen und keine Peinlichkeiten, es war ein Freiraum, in dem ich einmal nicht gezwungen war, meinen abwegigen Willen durchzusetzen. Abgesehen von meinen seltenen Drogenerfahrungen und ein paar lebensbedrohlichen Stresssituationen in meiner langen kriminellen Karriere war dies das erste Mal, dass ich wirklich auf mich aufmerksam wurde, dieses nackte Erleben von »Ich bin« im Zentrum meines Bewusstseinsfeldes, das, wie sich jetzt herausstellte, immer da gewesen war. Die große Frage lautete von da an, wie dieses Ich entstanden war und von woher es nach wie vor kam. Das alte Denken, demzufolge ich ein gesondertes Bewusstsein in einem gesonderten Denkapparat und Körper war, ließ sich nicht aufrechterhalten, es tat einfach zu weh. Es war mir so beigebracht worden, und mein Vater hatte so gelebt, alle, an denen ich mich maß, hatten so gelebt. Es war der Weg der Verhärtung und Konfrontation und endlosen Selbstfolter. Es musste eine andere Sicht der Dinge geben. Die nächsten sechs Jahre las ich wie besessen. Ich wollte dieser namenlosen Ahnung auf die Spur kommen, die mir während meiner LSD-Phase in den Sechzigerjahren gekommen war, mich seither als vage Angst begleitet hatte und während des Campbell-Interviews wieder lebendig geworden war: die Ahnung, dass alle großen Religionen letztlich die gleiche Botschaft vermitteln und diese Botschaft so klar und grundlegend ist, dass Worte nichts zu ihrer Erkenntnis beitragen können. Was ich als die Welt und als meinen soge16

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nannten Platz in dieser Welt ansah, so mein zunehmender Verdacht, war womöglich Illusion und die Wirklichkeit vielleicht ganz anders, als ich dachte und so gut wie alle dachten. Es kam mir vor, als wäre die ganze Menschheit auf einen üblen Streich hereingefallen, den das Universum sich selbst spielt. Klar war jetzt auch, dass mein Leben bis dahin ein Kampf gegen das Offenbarwerden dieser Dinge gewesen war, ein krampfhaftes Festhalten an den vererbten Lügen, das mich blind zuschlagen ließ, um nur ja nicht die Wahrheit sehen zu müssen. Ich las buddhistische Texte. Ich las Gurdjieff und Ouspensky. Ich las alles, was ich zu den christlichen Mystikern auftreiben konnte. Ich verschlang Hafiz und Rumi, um schließlich zum breit angelegten Studium der Werke indischer Meister überzugehen. Ich stieß auf Wei Wu Wei und kam auf den Buddhismus zurück, in den ich mich nun ernsthaft vergrub. Ich wollte es einfach wissen und war finster entschlossen, das Geheimnis im Kern der ganzen Sache zu lüften. Dann las ich eines Tages einen Artikel von Douglas Harding über etwas, das er »Kopflosigkeit« nannte – und mir ging ein Licht auf. Zu sehen, was wir sind, sagt Harding da, ist eine ganz elementare Sache, so einfach, dass wir es übersehen. Und da wir es nicht erkennen, fangen wir an, philosophische und religiöse Gebäude von gigantischem Ausmaß zu errichten, hinter denen das Einfache erst recht nicht mehr zu sehen ist. Und die ganze Zeit ist es genau hier, näher als direkt vor unserer Nase, näher als nah. Mir fiel dazu die alte Sufi-Geschichte von Mullah Nasrudin ein, der völlig außer sich auf seinem Esel in den Ort geritten kam und immer wieder rief, er habe seinen Esel verloren. Die Leute brauchten eine Weile, um ihm klarzumachen, dass er auf seinem Esel saß. 17

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Das also sagte Harding hier: Wir sehen es nicht, weil wir es sind! Und die notwendige Schlussfolgerung warf alles über den Haufen, was ich dazu je gedacht hatte. »Illusion« – das Wort, mit dem ich mir mein suspekt gewordenes Weltbild zu beschreiben versuchte – erwies sich plötzlich als der Gipfel der Untertreibung. Es war nicht nur Illusion, sondern besaß nicht einmal Berührungspunkte mit der tatsächlichen Realität. Es traf nicht zu, dass ich mich im Universum befand. Wenn überhaupt etwas gesagt werden konnte, dann befand sich das Universum samt meinen Vorstellungen von einem Ich, von Körper und Geist, in mir! Ich war, wie Harding sagte, »Raum«, in dem die Welt erscheinen konnte, und ein Raum, der aktiv am Erscheinen eben dieser Welt mitwirkte. Ich konnte nur staunen. Mich daran zu halten war dann noch einmal etwas anderes. Schließlich war ich wie alle anderen dazu erzogen worden, mich als gesondertes Individuum mit ganz eigenständigem Bewusstsein zu sehen, einer Wahrnehmung, die auf geheimnisvolle Weise diesem schwammartigen Material in meinem Kopf entsprang. Harding – und mit ihm, wie ich später herausfand, die Stifter der großen Religionen und viele andere – vertrat hier nun das genaue Gegenteil, und ich sah mich wie so viele andere vor mir außerstande, ganz aufgeschlossen dafür zu bleiben. Ich konnte nicht verhindern, dass ich doch immer wieder in all das Falsche und Irreführende zurückfiel, das ich als Kind gelernt hatte. Ich fühlte mich wie in meinem eigenen Kopf gefangen. Kampf war angesagt, kein Zweifel. Denn so viel war klar: Selbst wenn ich ein Leben lang mit überkreuzten Beinen dasaß oder allein in einer Höhle in den Bergen Tibets lebte und mich in sämtlichen Linien aller Traditionen schulte, es bestand immer die Möglichkeit, dass ich doch in der falschen 18

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Anschauung blieb und mich weiterhin als ein gesondertes Subjekt sah, dass gesonderte Objekte wahrnahm. Ich wollte die Unwahrheit jetzt loswerden und zur Wahrheit zurückkehren. Das Quälende daran war, dass ich immer wieder vergaß. Was konnte die Wende herbeiführen? Ich bin nie zu einer Antwort auf diese Frage gelangt; ich kann nur sagen, dass es vielleicht gar keine Wende gibt. Anscheinend ist es so, dass falsche Anschauungen nur schlimmer werden, wenn man gegen sie ankämpft. Der Schlüssel liegt natürlich in der buddhistischen Anschauung, dass Nirvana und Samsara dasselbe sind; aber ich wollte das leben und nicht darüber nachdenken. Und dann geschah während einer unserer gelegentlichen buddhistischen Zusammenkünfte hier im Gefängnis etwas. Eintausendfünfhundert Männer sitzen hier ein, aber nur neun davon bezeichnen sich als Buddhisten, und von diesen neun erscheinen nicht mehr als sechs zu den Zusammenkünften – genug für kleine Wunder, wie sich zeigte. Wir hatten kurz meditiert, und jetzt fing einer der Männer eine Diskussion über die Bedeutung des Begriffs »Leere« oder »Leerheit« im Buddhismus an, und da hatte er sicher eine besonders harte Nuss erwischt – jedenfalls kam es schnell zu recht gereizten Wortwechseln, die auch gleich, wie das im Gefängnis so ist, in herausforderndes Muskelspiel übergingen. Da meditieren wir doch lieber weiter und folgen dem Atem, dachte ich, aber niemand schien dazu aufgelegt zu sein. Der Streit setzte sich fort, und ich wollte schon gehen, als mir Hardings Worte über diesen Raum Hier einfielen, der auch hitzige Wortwechsel aufnehmen konnte. Ich erinnerte mich an die Übungen. Diese Übungen sind verblüffend simpel und radikal. Für mich sind sie gerade durch diese Einfachheit und Radikalität 19

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stimmig, aber ich muss auch sagen, dass ich erst einmal lachte, als ich in Hardings Büchern darüber las – sie erschienen mir so unglaublich verstiegen. Doch dann kam ich auf den Geschmack, wie man so sagt, und begriff, dass sie in die richtige Richtung deuteten und der Rest der Welt in die falsche. Also stand ich jetzt auf, und alle Blicke richteten sich auf mich. Ich begann eine Meditation im Gehen und umrundete den kleinen Kreis von Stühlen. Es dauerte nicht lange, bis sich alle angeschlossen hatten. Dabei geht es, wie jeder weiß, darum, dass man den Mund hält und Gedanken möglichst ausschaltet, um stattdessen auf die Empfindungen in den Füßen beim Gehen zu achten. Diesmal forderte ich die anderen jedoch auf, alles zu vergessen, was sie je gelernt hatten, wirklich alles, als wären sie eben in diesem Raum zur Welt gekommen und würden alles als vollkommen neu und nie gesehen vorfinden. Ich sagte, sie sollten ihre Aufmerksamkeit ins Jetzt und wieder ins Jetzt und ins Jetzt holen, als wären Vergangenheit und Zukunft Gedanken, die sie einfach nicht denken könnten. Ich erinnerte mich an Hardings Bericht von einer Autofahrt, bei der er die Telefonmasten vorbeiziehen sah und sich selbst als bewegungslos empfand. Ich forderte die Männer auf, es ebenso zu machen und den Boden unter ihren Füßen, die Wände, die Stühle nur so vorbeiziehen zu sehen, während sie selbst in Ruhe blieben – als würde sich das ganze Zimmer wie verrückt drehen. Ein paar glucksten bei diesem Experiment in sich hinein, und als wir uns ein paar Minuten später wieder hinsetzten, forderte ich die Männer auf, zur Decke zu zeigen und dabei auch auf die Hand zu achten und auf das, worauf sie zeigte – Dämmplatten und die Beleuchtungsanlage. Dann zeigten wir nacheinander auf die Wand, den Boden, unsere Oberschenkel und die Brust, immer darauf achtend, dass da ein 20

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Objekt, die Hand, auf andere Objekte mit beschreibbaren Eigenschaften deutete. Zuletzt zeigten wir auf das, von wo aus wir schauten, und ich wiederholte die Fragen, die ich dazu bei Harding gelesen hatte: »Wenn du alles Gelernte und alle Prägungen fallen lässt und dich nur an das hältst, was sich gerade zeigt, was ist dann das, worauf du gerade deutest? Handelt es sich um ein dunkles, rundes, festes und für sich stehendes Objekt, das zu den Dingen da draußen in einer Beziehung steht, oder deutest du auf den Raum für diese Dinge, ein Fassungsvermögen?

Ist dieser Raum nicht grenzenlos, leer und völlig durchsichtig, und ist dieses grenzenlose Fassungsvermögen nicht das, was dieses Zimmer und alles, was du betrachtest, enthält? Ist es nicht wach, und ist diese Wachheit sonst noch irgendwo in der Welt zu finden?« Niemand sagte ein Wort. Für Hardings weitere Übungen fehlte das Material – Spiegel, Karten mit Löchern, Papiertüten –, aber bevor sie alle über mich herfallen würden, dachte ich, könnten wir uns doch einmal paarweise mit etwas auseinandersetzen, was für uns Insassen alltäglich war: Konfrontation. Bei Hardings Übung »von Angesicht zu Unge21

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sicht« sitzen sich jeweils zwei gegenüber, und zusätzlich braucht man nur noch eine ganz normale Plastik-Einkaufstüte, deren Boden abgeschnitten wird, sodass sie an beiden Enden offen ist. Einer der beiden Partner zieht sich das eine Ende übers Gesicht, dann der zweite das andere Ende – und jetzt nehmen wir ja an, dass die beiden sich in dieser Tüte frontal begegnen, von Angesicht zu Angesicht. So sieht unser Umgang mit anderen normalerweise aus. Doch Hardings begleitende Fragen deuten auf etwas anderes hin: »Wenn du alles vergisst, was dir je beigebracht worden ist, und dich einzig an das hältst, was jetzt gerade vorliegt, wie viele Gesichter sind dann für dich präsent? Sind es zwei Gesichter einander gegenüber oder ist dort Gesicht und hier Raum? Ist es überhaupt ein frontales Gegenüber, oder liegt hier einfach Fassungsvermögen für die Person dort vor? Und trifft es nicht zu, dass du hier nichts hast, nicht das Geringste, womit du diese Person da außerhalb halten könntest? Bist du nicht hier an deinem Ende grenzenlose, durchsichtige Leere und zugleich angefüllt mit diesem Menschen vor dir? Bist du nicht in gewissem Sinne hier an deinem Ende gestorben und als der Mensch dort auferstanden? Sind wir nicht so gemacht, dass wir zugunsten eines anderen sterben, und ist es nicht das, was Liebe im Grunde bedeutet?« Sie können sich vorstellen, was ich als Reaktion meiner Mitgefangenen erwartete, aber sie überraschten mich. »Boah!« ächzte einer, und es wurde gelacht, und dann kam wieder ein »O Mann!«. Ich weiß nicht, ob sie wirklich auf den Trichter kamen, aber irgendetwas geschah an diesem Tag in diesem Zimmer, wenn auch möglicherweise nur mit mir – oder vielleicht sollte ich sagen: mit dem Raum an diesem Ende hier, dem reinen Fassungsvermögen, das immer Hier ist, immer angefüllt mit dem, was da draußen ist. Ich 22

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ging aus dieser Zusammenkunft mit der aus Erfahrung gewonnenen Gewissheit hervor, dass mir das, was ich wirklich Bin, jederzeit verfügbar ist, immer nur eine Übung entfernt. Ich ging in mein Zellenhaus zurück und sah die Gehwege, die Zäune, die Gebäude vorbeigleiten, während ich regungslos blieb – wie schon immer. Ich muss nur daran denken, mit dem Finger zu zeigen und den Blick dorthin zu richten, von wo er kommt. Ich brauche nur das Bild eines Gesichts, um zu wissen, dass »das Ende der Konfrontation« Hier ist. Und noch etwas wurde mir auf diesem Rückweg bewusst: Alles, was ich da vorbeigleiten sah, war nichts anderes als das, was ich Bin. Unfassbar, ich schritt durch mich selbst, und jeder Schritt war ein staunenswertes Wunder. Bei Douglas Harding also möchte ich mich bedanken. Ich bin sehr froh, auf seine tiefen Einsichten gestoßen zu sein – die natürlich meine Einsichten und jedermanns Einsichten sind, ob wir es wissen oder nicht. Ich bin dankbar für alle Wendungen, für alles, was vorbeizieht und sich präsentiert, für all die Gesichter, zu deren Gunsten ich verschwinde, weil ich so gebaut bin. Und das gilt auch für dieses kuriose Gesicht da im Spiegel.

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

J.C. Amberchele Das Licht, das ich bin Die innere Befreiung eines Lebenslänglichen Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 240 Seiten, 13,5 x 21,5 cm

ISBN: 978-3-7787-8219-4 Lotos Erscheinungstermin: August 2010

Die faszinierende Geschichte einer inneren Befreiung, allen Widrigkeiten zum Trotz J. C. Amberchele sitzt seit über zwanzig Jahren im Gefängnis, und er wird bis zu seinem Tod dort bleiben. Aber er begreift sich selbst nicht als Gefangener im eigentlichen Sinn. Er sieht, dass das eigentliche Gefängnis in ihm existiert und dass wahre Freiheit immer innere Freiheit ist. Auf ergreifende Weise erzählt der Autor davon, wie er nach einer Karriere als Schwerstkrimineller endgültig für immer weggeschlossen wird. Nach Jahren hinter Gittern findet er zur Meditation. Das ist bei der Enge, dem Lärm und dem reglementierten Tagesablauf im Zellenblock nicht einfach, aber es ist das erste Mal, dass Amberchele wirklich auf sich selbst aufmerksam wird. Und inmitten eines Alltags, in dem Gewalt, Verzweiflung und Entrechtung regieren, ändert sich sein Lebensgefühl von Grund auf und für immer: »Niemand muss auf Freiheit warten, Freiheit ist jetzt.« Die Stimme dieses ungewöhnlichen Autors inspiriert in ihrer unbedingten Wahrhaftigkeit und großen Tiefe. Was er an einem Ort erlebt, wo sonst nur der Schrecken und das Grauen eine Heimat haben, lässt im Leser die Sehnsucht nach jener Freiheit keimen, die unverlierbar, unzerstörbar und das Geburtsrecht des Menschen ist.