Dann kam Alex nicht mehr Die Zeit des Nationalsozialismus im Flensburger Schachklub v e.v

Dann kam Alex nicht mehr Die Zeit des Nationalsozialismus im Flensburger Schachklub v. 1876 e.V. Jürgen Nickel Wie Ralf Woelk in seiner Diplomarbeit ...
Author: Stefan Günther
13 downloads 0 Views 1MB Size
Dann kam Alex nicht mehr Die Zeit des Nationalsozialismus im Flensburger Schachklub v. 1876 e.V. Jürgen Nickel

Wie Ralf Woelk in seiner Diplomarbeit „Politische Einflussnahmen auf den Schachsport im Dritten Reich“ 1) ausführt, wird der Nationalsozialismus in der Literatur des Schachsports ausgesprochen schlecht dokumentiert. Eine Monografie ist seines Wissens bisher überhaupt nicht erschienen, und blättert man in den zahlreichen Festschriften der Schachvereine, so stellt man fest, dass diese sich zwar intensiv mit der Blütezeit des jeweiligen Vereins beschäftigen, die Jahre des Nationalsozialismus aber weitgehend ausklammern. Die Quellenlage bezüglich des Flensburger Schachklubs v. 1876 e.V. ist ähnlich dürftig wie in den anderen Vereinen. Durch die Befragung von Zeitzeugen bzw. ihrer Nachkommen, ein eingehendes Studium der damaligen Tagespresse, der Fachpresse und der Regionalgeschichte ist es jedoch möglich, sich in etwa ein Bild vom Leben im hiesigen Schachklub zwischen 1933 und 1945 zu machen. Interessant ist dabei an dem vorliegenden Fall, dass sich im Flensburger Schachklub Spieler nicht nur ganz verschiedener Herkunft, sondern mit ganz unterschiedlicher politischer Einstellung zusammenfanden. Wir finden – und gerade das macht den Spannungsbogen des Klubs aus – vom Ortsgruppenleiter und Parteigenossen der ersten Stunde, über den politisch eher uninteressierten Schachspieler und den von inneren Zweifeln geplagten Regierungspräsidenten bis hin zum Widerständler und schließlich jenen jüdischen Schachspieler, der bald aus der Mitgliederliste gestrichen werden musste, weil es die Satzung des Großdeutschen Schachbundes so verlangte, das gesamte Spektrum möglicher Haltungen.

Ranneforths Schachkalender 1938 Seite 41

Anhand zahlreicher Interviews und eines sorgfältigen Quellenstudiums soll im Folgenden ein Bild vom Leben im FSK v. 1876 e.V. während der Zeit des Nationalsozialismus entstehen. Wir befinden uns im Herbst des Jahres 1938…

Während draußen in den Straßen die Hakenkreuzfahnen den Geist einer neuen Zeit verkündeten, spielten drinnen im Hotel Union, Nikolaistraße 8, Adur Lützen und Carl Thomsen, zwei Schulmeister, eine freie Partie.

Innenansicht des Hotels Union Nikolaistraße 8 Spiellokal des FSK von 1919-44

Lützen, im Ersten Weltkrieg verwundet, hatte 1916 die kleine einklassige Schule in Weding am westlichen Stadtrand von Flensburg übernommen und sich damit einen Herzenswunsch erfüllt, zumal er sich hier ganz selbst verwirklichen konnte. 2) Mit Schulrat Gröndahl verband ihn ein freundschaftliches Verhältnis, zumal er seinen Dienst stets verantwortungsvoll versah. Außerdem blieb ihm genügend Zeit, sich den geliebten Fernschachpartien zu widmen und sich um seine Bienenvölker zu kümmern, deren Kästen der fingerfertige Lehrer selbst gebaut hatte. Dass er an offiziellen Feiertagen mit seinen Schülern die Hakenkreuzflagge hissen musste, war überhaupt nicht nach seinem Geschmack. Er ließ sie von seinen Schülern á tempo rauf und runter ziehen, was er als sportliche Leistung deklarierte. Ebenso rasch brachten sie das Horst-Wessel-Lied hinter sich, das sie jedoch mehr sprachen als sangen. Da er von Haus aus sehr religiös war, verzichtete er auch in der Schule nicht auf die traditionelle Weihnachtsfeier, was eigentlich inzwischen verboten war. Aber er hatte Glück, dass die Eltern seiner Schüler „mitspielten“. Wenn Lützen mit seinem 20 Jahre älteren Kollegen Carl Thomsen aus Kleinsolt im Klub die Figuren schob, vergaß er den sich immer lauter gebärdenden Alltag für ein paar Stunden. Carl Thomsen war bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1924 Hauptlehrer an der zweiklassigen Schule von Kleinsolt gewesen, ebenfalls ein Dorf ganz in der Nähe der Fördestadt, war dann aber mit seiner Frau und seiner pflegebedürftigen Mutter an den Hafendamm Nr.44 gezogen, ein Viertelstündchen vom Spiellokal entfernt. Da die 90-jährige Mutter bettlägerig war und rund um die Uhr Hilfe benötigte, Thomsens Frau aber herzleidend war, nur noch kleine Ausgänge machen konnte und große Probleme beim Treppensteigen hatte, war er

selbst froh, wenn er einmal bei einer Schachpartie die Sorgen daheim vergessen konnte. Ob Deutschland nun erwachte oder nicht, stand deshalb in seinen Gedankengängen überhaupt nicht im Vordergrund. Und ob die Reihen fest geschlossen waren oder auch nicht, war für Thomsen viel weniger entscheidend als die Sorgen um seine Mutter und seine herzkranke Frau. 3)

Adur Lützen im Garten vor dem Schulhaus in Weding, wo er neben dem Klassenraum auch seine Wohnung hatte.

Carl Thomsen mit seiner Frau und den drei Kindern im Jahre 1912. Die beiden Söhne mussten im Alter von 18 bzw. 19 Jahren am Ersten Weltkrieg teilnehmen, nachdem sie durch eine Notprüfung am Alten Gymnasium das „Einjährigen-Zeugnis“ erhalten hatten. Carl, hier neben seinem Vater, starb bereits 1917, nachdem er heftig an der Ruhr erkrankt war.

So saßen sich die beiden Schulmeister eines Abends wieder einmal im „Union“ bei einer freien Partie gegenüber und versuchten, den Alltag zu vergessen. Adur Lützen zog seinen schwarzen Damenspringer von d7 nach e5, während Carl Thomsen überlegte, ob es ratsam sei, denselben abzutauschen oder ob er tunlichst erst seine Entwicklung beenden sollte. Von dem Fackelzug quer durch die Stadt bekamen sie nichts mit, war doch eine Schachpartie so etwas wie eine Insel, wo der Geist der Erhebung noch nicht so recht wehen wollte. Hier war ein Springer immer noch ein Springer, ein Läufer noch ein Läufer und ein Turm noch ein Turm. In so einer freien Partie interessierte es nicht, wenn der Führer im Radio eine Rede hielt, wenn der Direktor der hiesigen Adolf-Hitler-Schule seinen Dienst in SA-Uniform versah und im Kino „Der Hitlerjunge Quex“ über die Leinwand flimmerte. Für die beiden Pädagogen im Union war eine Rochade immer noch eine Rochade, bei der König und Turm auch dann noch ihre Plätze tauschten, wenn man im Dom zu Güstrow Ernst Barlachs „Schwebenden“ als entartete Kunst von der Decke holte, von den Deutschen Christen als „Fischkopf“ verhöhnt. Sie tauschten auch dann ihre Plätze, wenn Emil Nolde seine ungemalten Bilder im Garten von Seebüll nur noch heimlich hinter den Büschen mit dem Pinsel aufs Papier bringen konnte und wenn man oben auf der Exe, ähnlich wie am 10. Mai 1933 in Berlin, Heinrich Manns Schriften dem Feuer „übergab“, nicht merkend, dass so mancher Satz nicht recht brennen wollte, weil die Flammen zwar das Papier verzehrten, aber nicht die Wahrheit in und zwischen den Zeilen. Lützen schlug auf g4, drehte den getauschten Läufer gedankenverloren zwischen den Fingern, legte ihn in den Holzkasten zu seiner Linken und schaute seinem Gegner kurz in die Augen: „Sonntag ist wieder Eintopftag!“ Thomsen nickte: „Ja, ja, es ist wieder soweit!“, wobei ihm ein paar Zeilen einfielen, die er am Morgen in den Flensburger Nachrichten gelesen hatte. „Am kommenden Eintopfsonntag wird sich das deutsche Volk beim Dampfen der Schüsseln der großen Verpflichtungen bewusst, die es in diesem Jahr noch erfüllen muss!“ 4) Beide hatten kaum bemerkt, dass Dr. Link

zu ihnen ans Brett getreten war, Dr. med. Martin Link, der Vorsitzende des Vereins, der alles im Griff hatte, klein von Statur, aber mit flinken, blitzenden Augen ausgestattet, die schnell jede Situation – auch die auf dem Schachbrett – überblickten, Dr. med. Link, auch ein tüchtiger Arzt, wie man hörte, der seine Praxis gleich um die Ecke am Holm 38 hatte, der seit Dezember 1933 nicht nur Stadtrat war, sondern sogar Stellvertreter des Oberbürgermeisters und ein Garant dafür, dass das Führerprinzip im Schachklub durchgesetzt wurde. „Denkt an die Werbewoche!“, mahnte Dr. Link, „Sie ist angeordnet! Keiner darf fehlen!“ 5) Die beiden Schulmeister schauten sich an, nickten und versuchten, sich erneut in die Partie zu vertiefen. Am Nachbartisch sortierte derweil Hans Gomoluch, Material- und Bücherwart des Vereins, einige Zeitschriften, packte die kürzlich erschienenen Ranneforth - Kalender aus und verteilte sie an die Mitglieder. Lützen und Thomsen erhielten auch ein Exemplar, unterbrachen erneut ihre „Freie“, betrachteten den braunen Ledereinband und blätterten interessiert darin. Lützen hatte irgendetwas entdeckt, schaute nachdenklich zur Decke, als ob er von oben eine Antwort erwartete, zückte bedächtig seinen stets angespitzten Bleistift und machte eine Notiz. Dann klappte er den neuen Ranneforth zu, schaute kurz auf die Stellung und bot seinem Kollegen Remis an, – irgendwie war er heute nicht ganz bei der Sache. Thomsen, ohnehin ein wenig im Hintertreffen, zögerte nicht lange, ergriff Lützens Hand und sortierte die Figuren in den Kasten. Lützen, ordentlich wie er nun einmal war, begann, sein Partieformular zu vervollständigen, weil er die Angewohnheit hatte, zu Hause selbst freie Partien noch einmal nachzuspielen. Als er jedoch in dem Kopf des Formulars die Eröffnung „Russisch“ vermerken wollte, stockte unversehens mitten im Wort sein Schriftfluss, so als hindere ihn ein Gedanke, das Begonnene zu vollenden. Da sein Blick für Sekunden merkwürdig leer schien und Thomsen auch das damit verbundene langsame Kopfschütteln nicht zu deuten vermochte, zupfte er Lützen vorsichtig am Ärmel: „Adur, ist dir nicht gut?“ „Doch, doch, Carl“, und wie abtastend in die Runde schauend, fügte er hinzu, „aber das kann ich dir hier jetzt nicht erzählen.“ Thomsen erfuhr erst später, dass seinem Gegenüber beim Notieren wieder jener Traum eingefallen war, der nach dem Erwachen minutenlang derartig seinen Geist verwirrt hatte, dass sich Lützen in den Oberschenkel gezwickt hatte, um festzustellen, ob er wirklich schon wach war oder noch träumte. Der Vorsitzende war ihm erschienen, hatte an seinem Brett gestanden, ihm das Partieformular aus der Hand gerissen und ihn fassungslos angestarrt. „Was spielen Sie? – Russisch?“ „Entschuldigen Sie, ich spiele seit Jahren Russisch!“ Der Mediziner daraufhin energischer: „Ja, haben Sie denn den Geist der Zeit noch gar nicht begriffen? – Der Führer sorgt sich um sein Volk, und Sie spielen Russisch? Mein Gott, Lützen, Sie als Staatsdiener spielen Russisch? Spielen Sie nächstes Mal Deutsch, meinetwegen auch mal Italienisch, aber unterlassen Sie künftig bolschewistische Züge! – Mann, Sie sind doch Deutscher!“ Schweißgebadet war Lützen aufgewacht. Nachdem das deutsche Volk aufgefordert war, sich auf sich selbst zu besinnen und alles Fremdartige abzustoßen, sollte ja auch die Schachsprache „gereinigt“ werden. 6) Statt „remis“ sollte es jetzt „schlichten“ heißen, ein „Qualitätsopfer“ war künftig ein „Wertopfer“, „en passant“ sollte man „kreuzen“ nennen, und das „Demonstrationsbrett“ war in Zukunft das „Schaubrett“. Da entbehrte es kaum einer gewissen Logik, wenn einem der Vereinsführer des Nachts im Traum erschien und einen aufrichtigen Deutschen ermahnte, bolschewistische Züge zu unterlassen. Während Lützen sein Partieformular, säuberlich gefaltet, in der Jackentasche verschwinden ließ, stand Thomsen bereits am braunen Brett und ließ den Blick über die Aushänge schweifen. Die Turniertabelle des gerade begonnenen Winterturniers zeigte Dr. Link und Hans Gomoluch an der Spitze,

einige Fotos ließen die Erinnerung an die Dampfertour nach Glücksburg aufleben, und der Aufruf zur Schach-Werbe-Woche wurde durch das Motto „Das geistige Wehrspiel muss Volksspiel der Deutschen werden!“ besonders hervor gehoben. Immerhin hatte Reichsminister Dr. Josef Goebbels die Schirmherrschaft der Veranstaltungsreihe übernommen.7)

Hans Werner Gomoluch auf einer Nachkriegsaufnahme im Jahre 1963

Der Flensburger Magistrat 1933/34 Sitzend in der Mitte Robert Mittag Sitzend ganz rechts Dr. med. Martin Link

Neben der Pinnwand fiel Lützens Blick auf jenen Tisch, an dem früher so oft Anton Wallroth und Alexander Wolff ihre Partien gespielt hatten. Wallroth, bis November 1932 Landrat, anschließend Regierungspräsident in Schleswig, war von den neuen Machthabern sofort übernommen worden, hatte ihn doch sein Vorgesetzter als hervorragenden preußischen Beamten beschrieben, der praktisch und klar denken konnte, ein kluger und sehr gewandter Mann, der sich bereits in schwierigsten Verhältnissen bewährt hatte.8) Wallroth las viel, interessierte sich für Kunst und Literatur, für das Theater und für Philosophie und hatte – seine Tenorstimme war geschult – ein besonders enges Verhältnis zur Musik. Als Gauleiter Hinrich Lohse ihn 1933 in seinem Amt bestätigte, hatte es Wallroth zur Bedingung gemacht, dass weder er noch seine Frau Parteimitglieder werden mussten. Als zuverlässiger Beamter war er es gewöhnt, Weisungen umzusetzen, was ihn aber bald in einen Konflikt mit der neuen Führung brachte. Man warf ihm vor, er stände den neuen Ideen innerlich fremd gegenüber. Im August 1933 gewann Herbert Heinicke, Bundesleiter des

Großdeutschen Schachbundes, ihn als Schirmherrn des Niederelbischen Schachbundes. 9) Dieses Amt gab er allerdings im folgenden Jahr bereits wieder auf.

Anton Wallroth im November 1932, als er sein Amt als Landrat des Kreises Flensburg – Land aufgab und als Regierungspräsident nach Schleswig wechselte.

Alexander Wolff, im Klub nur Alex genannt, war Jude und hatte nach dem Abitur am hiesigen Alten Gymnasium eigentlich Ingenieur werden wollen, aber das Studium in Berlin unterbrochen und sich im August 1914 mit einem Pferd von dem Gut seines Vaters in Flensburg als Freiwilliger gemeldet, um des Kaisers Rock anzuziehen und für das Deutsche Reich in den Krieg zu ziehen. Da die Familie ihren jüdischen Glauben nicht praktisch lebte, hatten es die Eltern ihren Kindern freigestellt, sich christlich taufen zu lassen, wovon aber nur die beiden Töchter Gebrauch machten. Als Alex im Oktober 1917 die Nachricht vom Tode seines Vaters erreichte, war er auf das Gut Jägerslust am westlichen Stadtrand von Flensburg zurückgekehrt, um den Hof zu übernehmen.10) Da war es eine willkommene Abwechslung für Wolff, abends mit seinem Motorrad zum Hotel Union zu fahren, um dort u.a. gegen Anton Wallroth, den Freund der Familie, seine Partien zu spielen. Selbst für Dr. Link hatte seine jüdische Abstammung lange keine Rolle gespielt, hätte er doch sonst kaum Wolffs Partie gegen Wallroth im Winterturnier 1925 in der Schachspalte der Flensburger Nachrichten veröffentlicht, für die er viele Jahre verantwortlich zeichnete.11) Am 23. November 1930 hatte Wolff noch Seit’ an Seit’ mit Wallroth, Dr. Link, den Brüdern Gomoluch, Lehrer Carl Thomsen und dem späteren Ortsgruppenleiter Robert Mittag im Freundschaftskampf gegen die Kieler SG gespielt, aber seitdem hatten sich die politischen Verhältnisse ja grundlegend geändert. 12)

Wo Alex Wolff sonst im „Union“ mit 1. e2–e4 seine Partien eröffnete, war sein Platz jetzt verwaist, legte inzwischen Hans Gomoluch die Deutschen Schachblätter aus, die der Klub bezog. Bis zum 1. Oktober 1933 hatte Dr. Link dem Verbandsleiter Mitteilung zu machen, dass der Klub judenfrei sei; und das war geschehen. Seitdem kam Alex Wolff nicht mehr am Mittwochabend mit seinem Motorrad zum Spiellokal in der Nikolaistraße 8. Lützen warf einen flüchtigen Blick auf Gomoluchs Büchertisch, nahm einen Titel zur Hand und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „So darfst du nicht Schach spielen!“ Nachdem er in die Runde geschaut hatte, flüsterte er Thomsen ins Ohr „Ist das eine Warnung der Partei?“ „Diesmal nicht“, raunte sein Kollege, „Gott sei Dank nur der Bestseller von Snosko-Borowski.“ Als sie sich dem Ausgang näherten, stießen sie in der Tür fast mit Robert Mittag zusammen, dem hochgewachsenen Stadtschulrat und Ortsgruppenleiter mit dem markanten Schnauzer und einem Haarschnitt, der erst weit über den Schläfen begann. Es war spät geworden heute, aber Mittag wollte noch mal reinschauen. Der Tag war angefüllt gewesen mit allerlei Dienstgeschäften, am Vormittag mit einer Veranstaltung der Partei, bei der er 26 Hitlerjungen mit Buchpreisen ausgezeichnet hatte, seine Rede mit der markigen Feststellung beendend: „Die Hitlerjugend bildet den Mark- und Eckstein der Bewegung. Der Name des Führers bürgt für die Sauberkeit des Handelns.“ 13) Mittag lag es, Reden zu halten und Buchpreise zu überreichen. So hatte er auch schon beim 50jährigen Jubiläum des Klubs im Jahre 1926 im nahen Glücksburg die obligatorische Rede auf die Damen gehalten. Draußen vor dem Spiellokal trennten sich die Wege der beiden Schulmeister. Thomsen hatte es nicht weit bis zum Hafendamm, Lützen aber hatte mit dem Fahrrad noch ein paar Kilometer bis Weding zurückzulegen, wobei es erst einmal ein ganzes Stück bergauf ging. Am folgenden Morgen wirkte der Schachabend in Lützen noch nach. War auch im Klub alles überaus zuverlässig geregelt, so gab es doch die alte unbeschwerte Schachstimmung der 20er Jahre nur noch in der Erinnerung.15) Die Zeit des freien Wortes im Klub war vorbei. Lützen schob den neuen Ranneforth zu den Deutschen Schachblättern ins Bücherregal und schaute nachdenklich aus dem Fenster. Jetzt, in den Herbstferien, kam er dazu, über manches nachzudenken, das sonst von der Arbeit des Tages überdeckt wurde. Kurz entschlossen verließ er das Schulhaus zu einem Spaziergang, der ihn zum Gut Jägerslust bringen sollte, dem Wohnsitz von Alexander Wolff. Zwischen Wiesen und Feldern hindurch führte ihn der Weg nach Norden, während er zur Linken das Handewitter Gehölz erblickte, das er so gern mit seinen Schulkindern durchstreifte, um Pflanzen zu bestimmen und Tiere zu beobachten. Mindestens zweimal im Jahr machten sie einen Ausflug zur „Großmutter“, jener knorrigen jahrhundertealten Eiche mitten in Handewitt Busch, die sie so liebten und zu der sie später noch immer gern wandern würden, sich an ihre Schulzeit in Weding erinnernd. Nach einer knappen halben Stunde hatte er das Gut erreicht, wo ihm schon von weitem das geschäftige Treiben auffiel. Er wunderte sich, etliche junge Leute bei der Arbeit zu sehen, die augenscheinlich nicht aus dieser Gegend stammten. Wie er erfuhr, hatte Wolff durch Umbau und Erweiterung der Räumlichkeiten aus seinem Hof einen fortschrittlichen Ausbildungsbetrieb geschaffen, wo junge Frauen und Männer eine Qualifikation in allen Bereichen der Landwirtschaft und des Haushalts erhielten. Nach Beendigung ihrer meist einjährigen Ausbildung stellte Wolff ihnen ein Zeugnis aus, das es ihnen erst ermöglichte, eine Einreisegenehmigung nach Palästina zu erlangen. Die Nationalsozialisten beobachteten zwar diesen Betrieb, eine sogenannte „Hachschara“, duldeten ihn aber bisher, weil sie auf diese Weise etliche junge Juden bequem loswurden. Im

Kuhstall traf er Wolffs Mutter Käte, die gerade dabei war, eine Gruppe junger Leute im Melken zu unterweisen, während Alex, ihr Sohn, draußen im weiten Gelände eine andere Gruppe im Gebrauch der Landmaschinen unterrichtete.

Alexander Wolff mit seiner Mutter und seiner Schwester Susanne auf der Terrasse seines Hauses im Jahre 1926. „Susi“, Lehrerin an der Knaben Mittelschule am Kanonenberg, starb nach einer Erkrankung schon fünf Jahre später.

Eleven auf Gut Jägerlust Alexander Wolff im Hintergrund auf seinem Fahrrad

Mit neuen Eindrücken machte sich Lützen wieder auf den Heimweg, einerseits etwas beruhigt über die Entwicklung auf dem Hof, andererseits sich fragend, wie lange diese Ruhe angesichts der zunehmenden Judenhetze noch andauern würde. Gerade am Morgen hatte er es noch in der Zeitung gelesen: „Italien wird judenfrei – Scharfe Maßnahmen Mussolinis gegen die Blutsauger!“ 16) Der Kaffee hatte ihm auch dann nicht mehr geschmeckt, als er beim Umblättern des Tageblatts das als Aufmunterung gedachte Kinoprogramm gelesen hatte. „Wer lacht, hat mehr vom Leben!“ – Heinz Rühmann in dem Streifen „Es gibt nur eine Liebe“. Was Lehrer Lützen an diesem Tage bei seinem Besuch auf Jägerslust nicht erfahren hatte, war die Tatsache, dass sich viele ehemalige Freunde der Familie Wolff in letzter Zeit immer mehr zurückgezogen hatten.17) Ihnen war der Boden auf dem Gut offenbar zu heiß geworden, und allzu schnell konnte man ins Gerede kommen und Nachteile erfahren. Lützen hatte es ja selbst in seinem Beruf erfahren, wie schwer – ja fast unmöglich – es

war, sich aus allem herauszuhalten. Irgendwie befand man sich immer in einer Zwickmühle. Einer, der noch mehr als Lützen in einer Zwickmühle saß, war Wolffs Schachfreund Anton Wallroth, der schon wiederholt den Gauleiter Hinrich Lohse vergeblich gebeten hatte, ihn aus dem Staatsdienst zu entlassen. In dieser Zeit des inneren Konfliktes machte sich Anton Wallroth mit seiner Frau von Schleswig aus auf den Weg, um seinen jüdischen Freund auf Jägerslust zu besuchen, eine Mission, die schon Zivilcourage verlangte, aber Wallroth wollte ein Zeichen setzen. 18) Durch die mächtigen Linden näherten sich die Wallroths dem Herrenhaus, während Alex Wolff sie auf der breiten Haupttreppe erwartete, sichtlich erfreut, die Freunde begrüßen zu können, von denen es nur noch eine Handvoll gab. Sie gingen ins Haus, wo Wolffs Mutter liebevoll den Kaffeetisch gedeckt hatte. Wie oft hatten sie hier schon in gemütlicher Runde beisammen gesessen, hatten anregende Gespräche geführt, die vor allem Anton Wallroth so liebte, hatten gescherzt und Alexanders Schwester Lilly zugehört, wenn sie auf dem Flügel spielte. Die alte Fröhlichkeit wollte sich nun nicht mehr einstellen, der Ungeist der neuen Zeit hatte sie dahingeschwemmt. Frau Wallroth erkundigte sich nach Lilly, die im Jahre 1922 eine Lehrerstelle an der Höheren Mädchenschule in Heide / Dithmarschen angenommen hatte.19) Nun erfuhr sie, dass Lilly nicht einmal mehr Privatunterricht in Englisch und Französisch erteilten durfte, „da es deutschen Volksgenossen nicht zugemutet werden kann, von einer Jüdin unterrichtet zu werden.“ Ihr Schicksal war Schwester Susanne, gleichfalls Lehrerin, erspart geblieben. Als sie im Jahre 1931 an einer schweren Krankheit gestorben war, hatte ihr das Lehrerkollegium der Knaben Mittelschule am Flensburger Kanonenberg, geleitet von Rektor Peter Schmidt, Spitzenspieler im Flensburger Schachklub in den 20er- und 30er Jahren, einen lobenden Nachruf in den Flensburger Nachrichten gewidmet 20), ein Gedanke wie aus einer fernen Welt.

Das ehemalige Herrenhaus auf Gut Jägerslust

Nach dem Kaffee spazierte die kleine Gesellschaft über den Hof, wo Alexander Wolff nicht ohne einen gewissen Stolz seinen Viehbestand und den Maschinenpark zeigte, auch einen Gig, jene einspännige Pferdekutsche, mit der Wolff früher zuweilen seine Schwester Susi nach dem Schulunterricht aus der Stadt abgeholt hatte. Ein paar junge Männer und Mädchen huschten ausgelassen vorbei, offenbar in der Vorfreude auf das

bevorstehende Ende ihrer Ausbildung, das in den nächsten Tagen mit der Überreichung der Zertifikate gekrönt werden sollte. Die Männer zogen sich nach dem Rundgang zurück ins Herrenzimmer, um jene Schachfiguren aufzustellen, die Alexander Wolff schon lange nicht mehr angerührt hatte. Dabei spielte es jetzt keine Rolle, dass der Regierungspräsident mehr in der Übung war, zwar nicht aktiv im Schleswiger Schachverein spielend, aber von Zeit zu Zeit mit Erfolg an Simultanvorstellungen teilnehmend, sei es gegen Meister Bogoljubow oder gegen Herbert Heinicke und Dr. Taube aus Hamburg. Wallroth, einen flüchtigen Blick auf das Bildnis Wilhelms II. neben dem Bücherschrank werfend, versuchte, die Atmosphäre mit einem Scherz aufzuheitern: „Da müssen wir uns aber anstrengen, wenn der Kaiser uns zuschaut!“ Dann nahm er gegenüber Wolff am Schachtisch vor dem offenen Kamin Platz und schaute seinen Freund sinnend an: „Fast wie früher im Union...“ Wolff begann wie üblich mit 1.e2–e4, während Wallroth sofort mit e7–e5 dagegen hielt. Die Partie entwickelte sich zu einem Offenen Spanier, der an Spannung nichts vermissen ließ, bis der Regierungspräsident ein Springeropfer übersah und den König auf die Seite legte. Es blieb nicht bei dieser einen Partie, aber irgendwie merkten beide, dass der Kopf nicht ganz frei war und schachferne Gedanken manchen Plan durchkreuzten. Schließlich trat Wallroth ans Fenster, schaute hinaus, als ob er weit hinten zwischen den Wiesen und Feldern etwas entdecken wollte, und dachte zurück an jene Zeit, in der er als Landrat so vieles in dieser Region bewegt hatte. Mehr als alle seine Vorgänger hatte er die Kulturarbeit auf dem „flachen“ Lande vorangetrieben und dadurch das Gesicht der Landschaft geprägt. 21) Allmählich dämmerte der Abend, die Stunde des Abschieds war näher gerückt, und mit allen guten Wünschen für ein gesundes Wiedersehen geleiteten die Wolffs ihre Freunde hinaus, winkten ihnen ein letztes Mal zu, bevor sie zwischen den hohen Linden entschwanden. Dass es ein Abschied für immer sein würde, konnte in diesem Augenblick noch niemand von ihnen ahnen. Der nächste Tag bescherte den Wallroths einen Besuch, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Im Auftrag der örtlichen Parteileitung klingelte bei ihnen der Blockwart, der sie unmissverständlich aufforderte, einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP zu unterschreiben. Der Regierungspräsident, der sich in schwierigen Situationen nicht so ohne weiteres die Butter vom Brot nehmen ließ, schaute dem ungebetenen Gast gefasst ins Gesicht und konterte ruhig: „Zeigen Sie mir doch erst einmal die Satzung von Ihrem Verein, bevor ich etwas unterschreibe!“ 22) Kein Wunder, dass dieser Affront sofort nach Berlin gemeldet wurde, woraufhin das Deutsche Reich endlich auf die Dienste dieses tüchtigen Beamten verzichtete, der sich politisch so quer gestellt hatte. Von Stund‘ an befand sich der 60jährige Wallroth im Ruhestand, verließ mit seiner Frau die Dienstwohnung in Schleswig, Gottorfer Damm 13, in diesem Falle keine Glückszahl, und zog 1937 zunächst zu seinem Schwager nach Lübeck und später nach Berlin. * Wallroth starb 1962 in Lübeck. Einige Wochen später näherte sich im Union am 9. November 1938, einem Mittwoch, ein ganz normaler Schachabend seinem Ende. Uniformschneider Hans Gomoluch, der inzwischen von Dr. Link den Vorsitz übernommen hatte, natürlich mit der Einwilligung des

Verbandsvorsitzenden, analysierte mit Hauptlehrer Paulus Paulsen, dem fast 90-jährigen Nestor des Vereins, eine Schachaufgabe für die Flensburger Nachrichten, während Kassenwart Albert Barez, seines Zeichens Schornsteinfegermeister, und Spirituosenhändler Wilhelm Ipsen mit Schulmeister Adur Lützen und seinem Kollegen Gustav Pump aus Handewitt, dem Schriftführer, in einer kleinen Runde beisammen saß, um noch einmal jenen aufregenden Freundschaftskampf Revue passieren zu lassen, den sie, verstärkt durch Spieler aus Husum, erst vor ein paar Tagen so deutlich gegen die Schachfreunde aus Neumünster gewonnen hatten, die immerhin mit Meister Alfred Brinckmann am Spitzenbrett angetreten waren. Dass der ganze Tag, wie überall im Reich, unter dem Zeichen der alljährlichen Totengedenkfeier in Erinnerung an den 9. November 1923 gestanden hatte, dass sich schon morgens um 9.00 Uhr die Ehrenstürme auf dem Südermarkt formiert hatten, dass man, angeführt von der SAStandartenkapelle, zum Ehrenmal auf dem Friedenshügel marschiert war 23) und, einem Aufruf in der Presse folgend, von nahezu allen Häusern die Hakenkreuzbanner wehten, spielte für die Schachfreunde im Union keine Rolle. Vielleicht war die Stimmung heute auch deshalb etwas gelöster, weil mit Dr. Link und Robert Mittag der rechte Flügel des Vereins auf ein Spielchen verzichten musste und stattdessen an der abendlichen Totenehrung im Deutschen Haus teilnahm. Als die kleine Runde sich aufzulösen begann, forderte Barez sein Gegenüber, Wilhelm Ipsen, noch zu einer Partie heraus, woraufhin der Spirituosenhändler mit der Einschränkung einwilligte, dass es schnell gehen müsse, denn er habe noch einen Termin. Dass Ipsen in letzter Zeit immer wieder früher als üblich das „Union“ verließ, war seinen Schachfreunden schon aufgefallen, einen Vers allerdings konnten sie sich darauf nicht machen. Da Barez und Ipsen, beide aus der ersten Garnitur des Flensburger Schachklubs, sich hinsichtlich ihrer Spielstärke in nichts nachstanden, wurde es eine scharfe und ausgeglichene Kurzpartie, in der der Schornsteinfeger allerdings plötzlich in Vorteil kam, weil Ipsen einen wichtigen Bauern einstellte.

Gustav Pump beim Schachspiel mit seinem Sohn Karl im Garten der Schule Handewitt am Kirchberg

Albert Barez in den 70er Jahren

Wilhelm Ipsen mit Sohn Wolfgang Kurz nach Kriegsende

Offenbar war Ipsen mit seinen Gedanken schon ganz woanders und ließ es heute Abend an der notwendigen Konzentration fehlen. Während Barez noch in seinem Büchlein prüfte, ob er noch einen säumigen Zahler anzusprechen hätte, war Ipsen schon draußen auf der Straße und legte die wenigen hundert Meter bis zur Großen Straße eiligen Schrittes zurück, um auf einem Hof in der Werkstatt des Schuhmachers Kloppenburg zu verschwinden, wo ein „Verein“ ganz anderer Couleur bereits tagte. Die Gruppe „Anna“ war schon fast vollzählig versammelt: Der Kunsthändler Peter Hattesen, Weinhändler Ferdinand Fürst, Handelsvertreter Niels H. Christensen, Schokoladen- und Zuckerwarengroßhändler Carl Nielsen, Fischgroßhändler Karl Julius Andersen und drei Malermeister, unter ihnen auch Hugo Hellwig. Diese Gruppe ehemaliger Sozialdemokraten, früher hatten auch Kommunisten dazu gehört, hatte sich den Decknamen „Anna“ gegeben, An = Anti, na = nationalsozialistisch. Es handelte sich um eine geheime Gesprächsrunde, die sich Gedanken über die Zukunft der Heimat machte, wobei sie aber keinerlei Sabotageakte ins Auge fasste. Kunsthändler Hattesen hatte in einer Dachkammer über seinem Geschäft auf dem Holm ein Versteck für Verfolgte eingerichtet, das von außen schwer einsehbar war, mit einer übertapezierten Tür und einem Regal, das bei Gefahr jederzeit schnell vor die Tür gestellt werden konnte.24) Als Ipsen sich setzte, erzählte Hellwig gerade eine schon etwas zurückliegende Begebenheit. Er hatte Anton Wallroth noch zur Zeit seiner Regierungspräsidentschaft im offiziellen Habitus mit Zylinder auf dem Holm getroffen. Da beide sich gut kannten, hatte sich Wallroth nach seinem Befinden erkundigt. Der Malermeister hatte nichts Gutes berichten können und seinerseits die Frage gestellt: „Und wie geht es Ihnen, Herr Regierungspräsident?“ Darauf Wallroth: „Ach, Herr Hellwig, wie kann es einem schon gehen in dieser Zeit?“ 25) Ipsen hatte sich gefreut, auf diesem Umweg etwas über seinen alten Schachfreund zu hören, der sich auf offener Straße so freimütig geäußert hatte. Er erinnerte sich, wie er an der Seite von Wallroth und Hans Gomoluch im Jahre 1935 im Union gegen Efim D. Bogoljubow angetreten war, der gegen die zehn stärksten Spieler der Region spielen wollte. Alle drei hatten sie ein Remis erreicht, während nur der Gaumeister Henning aus Schleswig „Bogo“ besiegen konnte, was zum Endstand von 7½ : 2½ für den Meister geführt hatte. Als die Gruppe „Anna“ noch heimlich in der Schuhmacherwerkstatt beisammen saß, gingen im Hotel Union allmählich die Lichter aus. Adur Lützen und sein Kollege Gustav Pump aus Handewitt schwangen sich auf ihre Fahrräder und hatten bald den Berg der Husumer Straße zu bewältigen, ehe es gemächlicher auf gerader Strecke dahinging. Pump allerdings hatte den etwas weiteren Weg, denn er musste bis Handewitt radeln, wo er nicht nur Lehrer an der kleinen zweiklassigen Schule war, sondern auch Küster und Organist an der dortigen Kirche, weil das schmale Lehrergehalt nicht ausreichte, eine Familie zu ernähren. Sein ganzer Stolz war der Schulgarten, in dem er schon vor Jahren viele Obstbäume, Beerensträucher und sogar einen Weinstock gepflanzt hatte, als er von Timmersiek nach Handewitt versetzt worden war. Heute fiel ihnen der Weg nicht so schwer, herrschte doch seit Tagen trockenes Herbstwetter, was auch in den nächsten Tagen noch anhalten sollte, da – wie der Wetterbericht meldete – „keine russische Wirbeltätigkeit auf die Wetterlage im Reich Einfluss nehmen würde.“ Über dieses Hoch freuten sich zur selben fast mitternächtlichen Stunde indes nicht nur die beiden Schulmeister, sondern auch die SS-Standarte 50, die geschlossen unter Vorantritt des SS-Musikkorps zum Karl-Radke-Platz, dem heutigen St. Jürgen-Platz, marschierte, wo die neuen SS-Bewerber feierlich vereidigt werden sollten. 26

Als Adur Lützen sich an jenem 9.November 1938 bereits zur Ruhe legte und Gustav Pump in Handewitt sein Fahrrad in den Schuppen stellte, stand auf Jägerslust Alexander Wolff noch sinnend am Fenster und schaute hinüber zu den Ställen, weil in den nächsten Tagen zwei Milchkühe kalben würden. Wolffs Mutter lag bereits in tiefem Schlaf, in den Zimmern der männlichen Praktikanten im Haus gegenüber war das Licht gelöscht und von den weiblichen Auszubildenden über ihm im Herrenhaus war auch längst nichts mehr zu hören. Irma Wolff – der Gutsherr hatte im Jahr zuvor geheiratet – wartete auf ihren Mann, der sich schlafen legte in dem guten Gefühl, Haus und Hof sicher bestellt zu haben. Fast fühlte er sich erinnert an Goethes Verse „Über allen Gipfeln ist Ruh’, in allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch; die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde ruhest du auch.“ Dass diese Nacht auf Jägerslust – und nicht nur hier – kürzer werden sollte als alle anderen zuvor, hatte Alex Wolff nicht geahnt, als er plötzlich gegen 3 Uhr von wütendem Hundegebell geweckt wurde.27) Als er zur Haupttreppe ging, um nachzusehen, sah er sich plötzlich zwei Männern in Zivil gegenüber, die ihn nach seinem Namen fragten, ihn sodann die Treppe hinunter schleppten und mit Stuhlbeinen verprügelten. Wie sich bald heraus stellte, handelte es sich um rund ein Dutzend Nazi-Schergen in Zivil, die nun das Gutshaus und die Wohnungen der Praktikanten gegenüber verwüsteten. Sämtliche Fensterscheiben gingen zu Bruch – daher der zynische Begriff „Reichskristallnacht“! Sie zertrümmerten die Möbel und das Geschirr und warfen es durch die Fenster auf den Hof. Der „Ehrenkodex“ hatte es Ihnen verboten, sich für das kostbare Tafelsilber und das Jagdgewehr des Gutsherrn zu interessieren, dessen Verbleib allerdings war später nicht mehr zu klären. Verzweifelt bemühte sich Wolffs Mutter um Hilfe, indem sie die Polizei anrief und einen ihr bekannten SS-Mann in der Großen Straße. Der wachhabende Beamte im Polizeirevier war allerdings schon Stunden zuvor durch den Polizeipräsidenten und SS-Standartenführer Hinrich Möller aufgefordert worden, bei einem zu erwartenden Anruf nicht zu reagieren, sondern den Hörer wieder aufzulegen. Die Intervention des SS-Mannes wurde abgeschmettert mit den Worten: „Das geht Sie gar nichts an, darum haben Sie sich nicht zu kümmern!“ Für den Abtransport sämtlicher Bewohner war ein Sechssitzer mit Polizeifahrer bestellt worden, die Nummernschilder mit Putzlappen umwickelt, und dadurch unkenntlich gemacht, die Scheinwerfer abgestellt. Zweimal fuhr der Wagen eng besetzt zum Polizeipräsidium, die dritte Fahrt galt Alex Wolff, der, auf das Übelste verprügelt, trotz heftigster Gegenwehr von mehreren Männern in das offene Fahrzeug geworfen wurde. Diesmal allerdings fuhr der Wagen nicht zum Polizeipräsidium, sondern über den Ochsenweg an eine einsame Stelle an der dänischen Grenze. Der Schwerverletzte nutzte jedoch eine günstige Gelegenheit zur Flucht, als die Bewacher kurz ausgestiegen waren. Blutüberströmt, barfuß und mit einem zerrissenen Nachthemd bekleidet, entkam Wolff so ins dänische Padborg, wo ihm ein Arzt Erste Hilfe leistete und etliche Verletzungen feststellte, u.a. eine 8 cm lange Wunde an der Stirn, Risse auf der Schädeldecke, der Schädelknochen durch eine Wunde entblößt, Hautabschürfungen an Ohren und Nase sowie Schwellungen und Blutungen an den Handgelenken und am rechten Kniegelenk. Dass Alex Wolff überhaupt die Flucht gelang, verdankt er möglicherweise dem Flensburger Gestapo-Chef Hans Hermannsen28); denn nicht Hermannsen hatte den Überfall auf Jägerslust geleitet, sondern Polizeipräsident Hinrich Möller. Anm.: Hier ist nicht der Raum, sich mit Hinrich Möller und Hans Hermannsen näher zu beschäftigen. Machen Sie sich bitte selbst kundig.

Ein ehemaliger Kriminalbeamter, der in der Pogromnacht Bereitschaftsdienst hatte, erinnerte sich im Gerichtsverfahren 1947, wie sich die Schlägertrupps auf ihren Einsatz vorbereitet hatten. „Die an dieser Aktion Beteiligten haben eigens zu diesem Zweck in der Polizeidirektion Norderhofenden Stühle zerschlagen, um die Stuhlbeine als Waffen benutzen zu können.“ Ein SA-Mann aus Friedrichstadt, der bei dem Überfall mitgewirkt hatte, brüstete sich am folgenden Tag im Familienkreis mit seiner Tat „Dat Judennest hebbt wi utrökert.“ In Wirklichkeit hatten es aber die Täter in der Eile nicht geschafft, das Anwesen in Brand zu stecken.29) Auch jüdische Geschäfte in der Flensburger Innenstadt blieben in dieser Nacht nicht von dieser Aktion verschont. Schon lange war das Kaufhaus Wohlwert auf dem Holm, über das die Staatspolizeistelle Kiel u.a. am 5.März 1935 einen Lagebericht an das Geheime Staatspolizeiamt in Berlin gegeben hatte, den Nazis ein Dorn im Auge gewesen. „Das hiesige Warenhaus Wohlwert, auch 'Kleinpreis' genannt, spielt im Wirtschaftsleben der Stadt Flensburg eine erhebliche Rolle. Von einer Zurückhaltung der Bevölkerung gegenüber diesem jüdischen Kaufhaus kann nicht gesprochen werden. Alle Erziehungsarbeit auf diesem Gebiet scheint vergeblich zu sein.“ 30) Als in der Pogromnacht das Gut Jägerslust heimgesucht wurde, haben Nazi-Horden auch die Schaufenster des Warenhauses Wohlwert und die anderer jüdischer Geschäfte durch Steinwürfe zertrümmert. Während Wolff sich in den nächsten Tagen in Sonderburg von seinen Verletzungen ein wenig erholte, waren seine Frau und seine Mutter inzwischen wieder aus dem Polizeigefängnis entlassen worden und durften sich aus dem verwüsteten, einst so stattlichen Herrenhaus auf Jägerslust einen Korb Wäsche und etwas Kleidung holen, bevor sie eine vorübergehende Bleibe im Hjemmet fanden, einer dänischen Begegnungsstätte in der Marienstraße 20. In den Flensburger Nachrichten sucht man in den nächsten Tagen vergeblich nach irgendeinem Hinweis auf den Überfall von Jägerslust. Wir erfahren stattdessen, dass Schachfreund Robert Mittag in seiner Eigenschaft als Stadtschulrat am Richtfest der Schule in Flensburg-Weiche teilgenommen hat mit anschließendem fröhlichem Richtschmaus im Gasthaus Mühlental. Bei der Richtfeier hatte der Polier zum Zeichen des Gelingens das erste Glas auf den Schöpfer des Bauwerks und die Lehrerschaft geleert, das zweite Glas hatte er den Kindern gewidmet, die „in diesen Mauern eine wertvolle Erziehung erfahren sollten“, und das dritte Glas war dem Führer geweiht worden, „dessen unsichtbare Hand auch dieses Werk geleitet hatte“. Nach einem dreifachen Siegheil erhielten die Jungen und Mädchen eine Tafel Schokolade, die sie mit nach Hause nehmen durften.31) Hans Gomoluch setzte am Tage nach dem Überfall in der Schachspalte derselben Zeitung seinen Schachkurs mit der 69. Folge fort und ließ einen Artikel folgen über „den großen Schachkampf“ gegen Neumünster, den der FSK v. 1876 mit 18½:9½ im Union gewonnen hatte. Dabei grenzte es an ein Wunder, dass der Kampf überhaupt stattfinden konnte; denn der Omnibus der Gäste, die mit Alfred Brinckmann am Spitzenbrett spielten, war bei der Anreise verunglückt, und nur mit einem Ersatzbus hatten die Holsteiner die Fördestadt erreichen können. Unter den Flensburger Siegern waren auch die vier Schulmeister Adur Lützen, Gustav Pump, Carl Thomsen und der fast 90 jährige Paulus Paulsen sowie Spirituosenhändler Wilhelm Ipsen, während Dr. med. Martin Link und Schornsteinfegermeister Albert Barez unter jenen zu finden waren, die „schlichteten“. 32)

Dass Gomoluch von dem Überfall auf Jägerslust erfuhr, unter den Ereignissen selbst sehr litt und bald annahm, Alex Wolff sei gar nicht mehr am Leben, hat er dem Autor gegenüber in einem Gespräch selbst erklärt und in einem Brief an seinen späteren Schachfreund Dr. Fritz Clemens Görschen dargestellt.33) Im Union nahm das Schachleben seinen normalen Lauf, und niemand wird verlangen, dass man sich, vertieft in eine Schachpartie, zwischen den einzelnen Zügen auch noch Gedanken macht über den Gang des politischen Lebens. Die Politik holte Lützen und seine Schachfreunde schon ein, wenn sie des Morgens die Zeitung aufschlugen, wo sie vier Tage nach Jägerslust auf dem Titelblatt lesen konnten „Die Judenfrage wird dem Volksempfinden entsprechend gelöst“ und ein paar Seiten weiter „Kino- und Theaterbesuche sind ab sofort für Juden verboten. Übertretungen ziehen für Veranstalter und Juden schwere Strafen nach sich.“ 34) Während Alexander Wolff inzwischen nach Kopenhagen weiter gereist war und sich verzweifelt um einen Kontakt zu seiner Familie und um ein Visum in die USA bemühte, hatten seine Mutter und seine Frau Schleswig-Holstein bereits in Richtung Berlin verlassen, wo sich seine Schwester Lilly schon seit zwei Jahren bei Verwandten aufhielt und wo man sich im Schutz der Großstadt sicher glaubte. Um das Gut Jägerslust „kümmerte“ sich inzwischen die Partei, die zunächst das Gelände weiträumig abgesperrt hatte, um Schaulustige davon abzuhalten, einen Blick auf den von Inventartrümmern übersäten Hofplatz zu werfen. Als nächsten Schritt annoncierte sie in den Flensburger Nachrichten35) eine Auktion unter der Überschrift „Pferde-, Vieh- und Inventarversteigerung in Jägerslust bei Flensburg“. Am Sonnabend, dem 19. November 1938, pünktlich um 14.00 Uhr, wurde der gesamte Bestand der Familie Wolff versteigert: Zwei Arbeitspferde, neun Milchkühe, teils hochtragend, zwei zweijährige Starken, acht Läufer (Schweine), eine Pflanz-, eine Ernte-, und eine Kartoffelsortiermaschine, einen Dämpfer, eine Drillmaschine, zwei Eggen, drei Pflüge, einen Elektromotor, eine Kreissäge, eine Dezimalwaage, zwei Schiebkarren, einen Rübenhacker, eine Grasmähmaschine, eine Häckselmaschine, zwei Arbeitswagen, zwei ha Rüben im Acker, etwas Heu und Stroh sowie Kutschwagen, darunter jener Einspänner, Gig genannt, mit dem Alex Wolff wiederholt seine Schwester Susanne nach dem Schulunterricht aus der Stadt abgeholt hatte. Die Versteigerung erbrachte 6000,– Reichsmark und wurde zur Begleichung der „Judenvermögensabgabe“ einbehalten. Als das Jahr 1938 sich dem Ende neigte, dachte sich Hans Gomoluch für seine Schachspalte in den Flensburger Nachrichten etwas Besonderes aus. Er wünschte nicht nur mit der Partie Keres gegen Capablanca aus dem AVRO-Turnier allen Schachfreunden ein frohes Weihnachtsfest, sondern stellte ihr einen bemerkenswerten Leitspruch voran: „Das schwarz-weiß gewürfelte Schachbrett ist das Symbol des Kampfes zwischen Licht und Finsternis. Hier triumphiert die Erkenntnis über die Unwissenheit wie im Leben das Gute über das Böse“. Es sollte bald die letzte Schachecke sein, für die Hans Gomoluch verantwortlich zeichnete, aber das hat er am Jahresende 1938 wohl noch nicht geahnt. Sein Platz im Klub blieb bald ebenso leer wie der des Dr. Link und anderer, die das Schachbrett mit dem Schützengraben vertauschen mussten. Während der Obergefreite Gomoluch gen Osten marschierte, tat der Mediziner mit den flinken blitzenden Augen seinen Dienst als Geschwaderarzt bei der Marine.

Im Hotel Union rückten die Daheimgebliebenen um den Nestor Hauptlehrer Paulus Paulsen enger zusammen und prüften auf dem Schachbrett jenen Leitsatz, wonach die Erkenntnis über die Unwissenheit triumphieren würde. Zu welchem Schluss sie dabei gekommen sind, ist uns leider nicht übermittelt worden. Inzwischen gelang es Alex Wolff endlich, in Kopenhagen das ersehnte Visum für die USA zu erhalten, mit dem er am 8. Dezember 1939 amerikanischen Boden betreten konnte. Für seine Angehörigen in Deutschland wurde das Leben immer schwieriger, mussten sie doch die schmerzliche Erfahrung machen, dass sie in der Großstadt Berlin nicht sicherer waren als im beschaulicheren Flensburg. Aber davon wird später noch die Rede sein. Hans Gomoluch, der nicht nur von seinem Vater Emanuel, sondern vor allem durch den Schulmeister Paulus Paulsen in den 20er Jahren in die Geheimnisse des Schachspiels eingewiesen worden war, war selbst an der Front noch so vom königlichen Spiel fasziniert, dass er sich an den „Frontturnieren“ beteiligte, die der Großdeutsche Schachbund ausgeschrieben hatte. Auf diese Art und Weise sollten die Soldaten vom grausamen Geschehen des Krieges für kurze Zeit abgelenkt werden. In seinem Schachnachlass fanden sich kleine Zettel von 8x8 cm Größe, auf denen er im April 1943 in Polen diese Spiele festgehalten hatte.36)

Von Gomoluchs Schützengrabenpartien wusste das „Fähnlein der sieben Aufrechten“ daheim ebenso wenig wie vom Schicksal des Alex Wolff und dem Verbleib des ehemaligen Regierungspräsidenten Anton Wallroth. Fühlt man sich da nicht erinnert an den 1939 gedrehten Streifen „Vom Winde verweht“? – Irgendwann wurden im „Hotel Union“ zum letzten Mal die Figuren aufgebaut. Wichtiger als das schwarz-weiß gewürfelte Schachbrett wurde nun der Kampf ums Überleben. Lehrer Carl Thomsen fror in seiner Dachwohnung am Hafendamm und ging so manches Mal hungrig zu Bett.

Am 28. Februar 1946 verstarb er im Alter von 82 Jahren und wurde in Kleinsolt beerdigt, wo er dreißig Jahre lang als Schulmeister, Organist und Küster gewirkt hatte. Sein Kollege Paulus Paulsen, der sich während seiner ganzen langen Schulzeit vor allem um sprachbehinderte Kinder gekümmert hatte, war schon 97 Jahre alt, als er zwei Wochen später am 12. März 1946 ebenfalls für immer die Augen schloss. Da das Hotel Union im Juni 1945 für zwanzig Monate Sitz der britischen Militärregierung wurde, suchten sich die Schachspieler ein anderes Domizil, das sie in der „Börse“, einem Restaurant in der Großen Straße, fanden. Wilhelm Ipsen kümmerte sich um den Zusammenhalt der kleinen Gruppe, die schon bald mächtigen Auftrieb erhielt durch starke Spieler aus dem Osten, die mit den letzten Schiffen über die Ostsee geflüchtet waren. Unter ihnen war auch Herbert Suckau, der ähnlich intensiv wie Hans Gomoluch vor dem Krieg über viele Jahre die Schachspalte im Tageblatt geleitet hat. Es dauerte nicht lange, bis mit Dr. Link und Robert Mittag auch die „alten Kämpfer“ wieder im Verein auftauchten, wobei der Mediziner am Schachbrett wirklich im besten Sinne ein Kämpfer war, bei dem es keine halbherzigen Entscheidungen gab. Adur Lützen war zu dieser Zeit der letzte der alten Schulmeister, und in der Nachkriegszeit hatte er in seinem Beruf mehr zu tun als je zuvor, da viele der umliegenden kleinen Dorfschulen mit Flüchtlingskindern über die Maßen angewachsen waren, und seine Kollegen verstorben oder aus dem Krieg nicht zurückgekehrt waren. So war Lehrer Lützen ständig unterwegs, um zusätzlich die Kinder der Nachbargemeinden zu unterrichten, u.a. in Hüllerup und in der Schule am Kirchberg in Handewitt, wo sein Schachfreund Gustav Pump über drei Jahrzehnte gewirkt hatte, bevor er am 30. August 1941 an Magenkrebs verstorben war.37) Nicht vieles erinnerte mehr an Pump, und auch Hans Gomoluch war sein Name entfallen, als er im Juni 1961 eine Liste mit jenen Spielern fertigte, die ihm aus den 20er und 30er Jahren noch in Erinnerung waren. Wenn man heute mit dem Bus oder dem PKW die Strecke vom Schulhaus in Handewitt zur ehemaligen Stätte des Union in der Nikolaistraße fährt, bekommt man eine Vorstellung davon, welche Strapazen Gustav Pump auf sich genommen hat, um ein paar freie Partien oder eine „Kampfpartie“ gegen Adur Lützen, Wilhelm Ipsen, Albert Barez, Paulus Paulsen oder Carl Thomsen zu spielen, aber auch gegen Dr. Martin Link, Robert Mittag, Anton Wallroth oder Alex Wolff. Heute lebt niemand mehr von all den Spielern, die in dieser Geschichte genannt wurden, und auch das „Hotel Union“ gibt es nicht mehr, wo sich einst Adur Lützen und Carl Thomsen in der Nähe des Fensters in eine freie Partie vertieften und Hans Gomoluch die Deutschen Schachblätter auslegte. Im selben Jahr wie Wilhelm Ipsen starb am 31. Januar 1959 Dr. Link in seiner Praxis an einem Stromschlag, als er eine defekte Glühlampe auswechseln wollte. Robert Mittag verließ im Oktober 1951 den Klub, nachdem sich ein Streit zwischen ihm und dem Kassenwart nicht beilegen ließ, und Hans Gomoluch, der nie während seiner Partien auf eine Schachtel Zigaretten verzichtete, schloss die Augen nach langer schwerer Krankheit am 19. März 1974. Als Adur Lützen im hohen Alter den Weg zum Spiellokal nicht mehr auf sich nehmen konnte, besuchte ihn regelmäßig Albert Barez, inzwischen Bezirksschornsteinfegermeister, um mit ihm ein paar freie Partien zu spielen. Eines Tages wurden Lützen auch diese Partien zu beschwerlich. Am 28. Januar 1975 schloss er wenige Wochen nach seinem 90. Geburtstag für immer die Augen, ohne krank gewesen zu sein; sein Herz hatte ganz einfach aufgehört zu schlagen. Alex, den seine Schachfreunde in der Heimat schon für tot gehalten hatten, starb erst im Alter von 93 Jahren am 2. Juni 1984 in New Jersey/USA. Damit hatte er alle hier Genannten längst überlebt, aber leider auch die Angehörigen seiner eigenen Familie, die er in der Pogromnacht zum letzten

Mal gesehen hatte. Seine 74jährige Mutter wurde im August 1942 nach Theresienstadt verschleppt und später im Ghetto von Minsk ermordet. Seine Frau wurde im Januar 1943 nach Auschwitz deportiert und direkt von der Rampe ins Gas geschickt. Seine Schwester Lilly wurde 1942 sofort nach der Ankunft ihres Transportes in Riga liquidiert. Am 17. Juni 1961 schrieb Hans Gomoluch an Dr. Fritz Clemens Görschen, Oberstudienrat am Alten Gymnasium zu Flensburg und Autor von „Capablancas sämtliche Verlustpartien“, einen zweiseitigen Brief, in dem er sich, auf dessen Bitte hin, an Schachfreunde erinnerte, mit denen er in den 20er und 30er Jahren im Hotel Union gespielt hatte. In diesem Brief heißt es: „Nach der Machtergreifung wirkte sich die sogenannte Gleichschaltung spürbar auf den Verein aus. Die alte unbeschwerte Schachstimmung war merklich getrübt. Zwar blieb uns der alte Stamm erhalten, aber Alex Wolff, der ja Jude war, kam nun nicht mehr, und ich bedauerte dies sehr; denn er war ein hervorragender Schachspieler.“ Alexander Wolff besuchte Ende Juli/Anfang August 1966 noch einmal Flensburg, seine alte Heimat. Der Redakteur Vestergaard von Flensborg Avis führte mit ihm ein ausführliches Interview, Wolff wurde vom damaligen Stadtpräsidenten Dr. Leon Jensen im Rathaus empfangen und hat sich bei dieser Gelegenheit in das Goldene Buch der Stadt Flensburg eingetragen. Ergreifend war für ihn ein „Ortstermin“ auf Jägerslust. Da das ehemalige Gut inzwischen Teil des Bundeswehrgeländes war, wurde er von einem jungen Gefreiten aus Leck/Nordfriesland geführt. Mit Mühe stieg er die breite Treppe des Herrenhauses hinauf, ging schweigend durch die leeren Räume und verharrte eine Weile im Kaminzimmer, wo er vor dreißig Jahren gegen Anton Wallroth seine letzte Partie gespielt hatte. „Und sogar der Kaiser hat zugeschaut“, murmelte er leise, und sein junger Begleiter wusste nicht, wovon er sprach. Als sie beide schwiegen, war es ihm, als hörte er von nebenan seine Schwester Lilly am Flügel, während seine Mutter Käte im Schrank nach den Weingläsern sah. Der junge Gefreite wusste nichts von alledem, aber er spürte, dass dies mehr als eine Besichtigung war. Deshalb fiel ihm die Antwort nicht leicht, als Alex Wolff ihn nach der Verwendung des Gebäudes fragte. „Wir üben hier den Häuserkampf“, kam es über die Lippen des jungen Soldaten. Seinen Freund Anton Wallroth hatte er nicht mehr besuchen können; denn dieser war vier Jahre zuvor in Lübeck gestorben. Wolffs Maschine war schon wieder in New Jersey gelandet, als man das Herrenhaus sprengte und die Trümmer beseitigte. Als einziges Relikt blieb der Pferdestall stehen, in dem die Kinder Versteck spielten, bis auch er aus Sicherheitsgründen im August 2004 der Spitzhacke wich. Die wenigen Spaziergänger, die heute den Weg nach Jägerslust einschlagen, stoßen auf einen kleinen Holzpavillon mit vier Informationstafeln, den die „Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte“ errichten ließ, um die Erinnerung an die Familie Wolff wachzuhalten. Zu Ehren von Alexander Wolffs Mutter, die in Minsk ermordet wurde, heißt der Weg zur Gedenkstätte heute „Käte-Wolff-Weg“.

Quellenangaben 1 Ralf Woelk, Tübinger Beiträge zum Thema Schach, Band 3, 1996 2 Interview des Autors mit Frau Erika Schenzer, der Tochter von Adur Lützen am 7.Juli 2004, Interview mit Günther Ulrich, Schüler von Adur Lützen 1935 – 1944, am 14.9.2004, Chronik zum 100jährigen Bestehen der Schule Weding, 2002, S. 18 3 Lebensbeschreibung von Carl Thomsen, 1941 von ihm selbst verfasst, unveröffentlicht; Interview mit Frau Annemarie Lorenzen, Enkeltochter von Carl Thomsen, im Mai 2002

4 Flensburger Nachrichten (FN), 10.11.1938 5 Heinrich Walkerling, Chronik des Husumer Schachvereins, S.7, unveröffentlicht 6 Schachkalender 1934, S. 18–20, Artikel von Heinrich Ranneforth 7 Deutsche Schachblätter (DSBL) 1933, Nr. 20, S. 305 8 Der Landkreis Flensburg 1867–1974, Bd. 1, S. 238, Flensburg 1981 und 1991 9 Ranneforths Schachkalender 1934, S. 62 und Herbert Heinicke, Schach in Deutschlands Nordmark, Hamburg 1935 10 Verführt, verfolgt, verschleppt, Flensburger Beiträge zur Zeitgeschichte, Bd.1, S. 183 ff. Bernd Philipsen, Die Familie Wolff und das Gut Jägerslust 11 FN, 20.3.1925, S. 4

12 Spielbericht der Kieler SG v. 1884 vom 23.11.1930, Schachnachlass von Horst Lüders. Der Freundschaftskampf fand statt im Restaurant „Prinzenhof“, Kiel, und endete 13:10 für die KSG. Gespielt wurde an 12 Brettern, jeder gegen jeden 2 Partien, außer an Brett 1, wo Landrat Wallroth vom FSK nur 1 Partie gegen Admiral a.D. von Hennig, den bekannten Kieler Spitzenspieler, spielte und remisierte. 13 FN, 29.1.1934, S. 3 14 Flensburger Tageblatt, 9.10.1951 15 Brief vom 17.6.1961 von Hans Gomoluch an Oberstudienrat Dr. Fritz Clemens Görschen 16 FN, 2.9.1938, Titelseite 17 Dänische Tageszeitung Flensborg Avis (FA), 29.07.1966, Interview des Redakteurs Vestergaard mit Alexander Wolff 18 FA, 2.8.1966 19 Bernd Philipsen, a.a.0, S. 190 20 FN, 3.8.1931 21 Biographisches Lexikon von Schleswig-Holstein, Bd. 11, S. 368 22 Hans Friedrich Schütt „Der Landkreis Flensburg 1867–1974“, Bd. 1, S. 245 23 FN, 7.11.1938, S. 3 24 Martin Klatt über Peter Hattesen und die „Anna“-Gruppe in „Zwischen Konsens und Kritik“, Flensburger Beiträge zur Zeitgeschichte, Bd. 4, S. 355–364

25 Hans Friedrich Schütt in „Der Landkreis Flensburg 1867–1974“ Bd. 2, S. 437 26 FN, 10.11.1938 27 Flensborg Avis, 02.08.1966, S. 3 28 Interview des Autors mit Frau Edith Görschen, der Tochter des Gestapo-Chefs Hans Hermannsen 29 Kindheit und Jugend in Schleswig - Holstein, Op Platt vertellt, Heide 1991, S. 191 30 „Flensburg meldet...!“, Flensburger Beiträge zur Zeitgeschichte, Bd.2, S. 99 - 100 31 FN, 10.11.1938, S. 4 32 FN, 11.11.1938, S. 9 33 Brief von Hans Gomoluch an Dr. F. C. Görschen vom 17.6.1961, Archiv des Flensburger Schachklubs von 1876 34 FN, 14.11.1938, Titelseite 35 FN, 15.11.1938 36 Interview des Autors mit Frau Irmgard Volquardsen, einer Tochter des Hans Werner Gomoluch, 20.2.04 37 Chronik des Kirchspiels Handewitt, S. 90 ff., und Interview des Autors mit Hans Walter König, einem Enkel von Gustav Pump, am 14.09.2004 Die letzte Seite verweist – mit Darstellung des Covers – auf die vom Autor erstellte, 570 Seiten umfassende Chronik des Flensburger Schachklubs. Sie ist über den Autor oder die Edition Marco erhältlich.

Suggest Documents