CIV. Civitas Imperii Verlag

CIV Civitas Imperii Verlag Heilsames Krebsen von Jutta-Verena Jacobi Protokoll einer Erfahrung 1. Auflage © 2010 by Jutta-Verena Jacobi © 2010 für...
Author: Ludo Heinrich
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CIV

Civitas Imperii Verlag

Heilsames Krebsen von Jutta-Verena Jacobi

Protokoll einer Erfahrung 1. Auflage © 2010 by Jutta-Verena Jacobi © 2010 für diese Ausgabe: Civitas Imperii Verlag . - Esslingen Einband: Ben Berg Bild: Angelika Hentschel (Wachsen) Bilderdruck mit der Reproduktionsgenehmigung der VG Bild - Kunst ISBN-13: 978-3-939300-07-6 Besuchen Sie uns im Internet www.civitas-imperii-verlag.de Kontakt: [email protected]

Civitas Imperii Verlag Esslingen

Am Anfang war der

Wen es trifft

SCHOCK.

Wen es trifft, der wird aufgehoben wie von einem riesigen Kran und abgesetzt

Der Arzt vermittelt die Diagnose in einzelne Worte zerlegt,

wo nichts mehr gilt,

die wie große Hagelkörner auf meinen Kopf niederpras-

wo keine Straße

seln. Geschwür im Darm. Krebsgeschwür. Fortgeschritte-

von Gestern nach Morgen führt.

nes Krebsgeschwür. Zunächst inoperabel. Schließmuskel gefährdet. Peng, peng. Es tut weh, kommt dennoch nicht

Hilde Domin

bei mir an. Tränen. Verwirrung. Viele »Aber«. Protest. Nicht begreifen. Vorbehandlung mit Bestrahlung und Chemo. Dafür einen Port. Für den Darm einen künstlichen Ausgang. Alles, das nicht!! Das Chaos in mir wächst. Ich kann zunächst keinen klaren Gedanken fassen, fühle mich im Kopf wie gelähmt, erschlagen. Zeitgleich fühle ich in mir ein Durcheinander der unterschiedlichsten Empfindungen. Unglauben, Wut, Ängste, viele Fragezeichen. Können die sich nicht geirrt haben? Muss ich wirklich durch diesen Tunnel? Es fehlt mir die Möglichkeit mich auszudrücken, ich weine nur noch. Ein Arzt schlägt vor, dass ich erst ein paar Tage nach Hause 5

gehe, mich beruhige und das Ganze verdaue. Wie pas-

Was ich in den Koffer für das Krankenhaus packen muss,

send. Braucht meine Seele, mein Kopf den Darm zur Ver-

lasse ich mir am Telefon von einer erfahrenen Freundin

dauung?

diktieren.

In meiner Wohnung laufe ich wie ein Tiger im Zoo hin und her. Beruhige mich schließlich etwas, wenigstens

Mit dem Telefon werde ich nun notgedrungen selbst zum

im Kopf. Mir fällt ein, dass ich als Kind oft mit meinem

Überbringer der schlechten Nachricht.

Schatten gespielt habe und ihn »mein schwarzes Juttalein« genannt habe. Das Thema Polarität bleibt lebensbeglei-

Dieser wurde früher manchmal umgebracht, geschätzt si-

tend. Licht und Schatten. Freud und Leid. Gesundheit und

cher nie - bis heute. Entsprechend sind die Reaktionen der

Krankheit. Yin und Yang. Animus und Anima. Unser Be-

Menschen, denen ich sagen muss, mit welchem Makel ich

wusstsein muss so sein, wenn wir Erkenntnis wollen. Nur

ab sofort rumkrebsen werde und welche unmittelbaren

in der Einheit des göttlichen Geistes wird die Trennung

Folgen die Diagnose hat. Die Reaktionen sind sehr unter-

aufgehoben. Religio.

schiedlich und manchmal auch befremdlich für mich. Für einige Menschen ist es ein Schock wie für mich selbst,

Es tut mir gut, solche Gedanken in meinem Kopf zu be-

der sie sprachlos macht und mich damit leer zurücklässt.

wegen. Sie sind vielleicht in dieser Situation nicht gerade

Manchmal scheint die Nachricht auf große Unsicherheit

die naheliegendsten, lenken mich aber von den erschüt-

zu stoßen, so dass auch keine Worte für mich gefunden

ternden, traurigen Gefühlen ab, ordnen meine Gedanken-

werden. Ich fühle mich nicht nur faktisch allein, ohne na-

welt für den Moment. Es lässt sich dennoch nicht leugnen:

hen Angehörigen, sondern auch mit den inneren Empfin-

Ich bin in der Finsternis angekommen und kann vorläu-

dungen allein gelassen.

fig keine Lichtblicke erkennen. Die Akzeptanz gelingt

Andere sind überwiegend neugierig, vereinzelt kann ich

nicht, immer wieder erfasst mich die Welle schrecklicher

auch eine Art Sensationslust feststellen. Letzteren geht es

Gedanken und Gefühle.

einfach besser, wenn es anderen schlechter geht. So freue 6

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ich mich zunächst an den Freunden oder Bekannten, die

Für die

unmittelbar praktische Hilfe anbieten. Die werde ich in der Folge noch oft gern annehmen.

DIAGNOSE

Zur Seelenpflege taugen offenbar nur wenige. Einfühlung, Achtsamkeit, Trost und Mitgefühl brauche ich jetzt

wird mein Körper bereits geschunden, zerlegt, durch-

- und es gibt Menschen, die mir dieses Geschenk machen.

leuchtet, gezeichnet. Ich selbst bin auch dabei, spüre es

Dafür sage ich an dieser Stelle von ganzem Herzen »dan-

aber nicht. Apparatemedizin. Die Arme werden zersto-

ke«. Sehr bemerkenswert bleibt für mich, dass die Gnade

chen, um den letzten Tropfen Blut zu finden. Der Busen

der Berührung von Herz zu Herz nicht da gewährt wird,

wird beim Röntgen gequetscht. Computertomographie.

wo ich es erwarte , sondern aus Räumen der Absichtslo-

Kernspintomographie. Ultraschall all überall.

sigkeit. Das ist wohl das Wesen des Geschenks der Gna-

Es beginnt der Prozess der Entpersönlichung. Gibt es die-

de, sie lässt sich nicht verdienen, erarbeiten, erdienen

ses Wort überhaupt? Ich meine damit so eine Art Weg-

und schon gar nicht kaufen. Von wenigen Freunden und

nahme meiner Persönlichkeit, der Selbstbestimmung. So

manchmal fremden Menschen bekomme ich gute Worte,

gibt es z.B. keine Termine, ich muss zur ständigen Ver-

schöne Karten, gute und auch berührende Texte, die mir

fügung stehen. Es gibt keine angemessene Anrede. Mein

innerlich weiterhelfen.

Titel wird unterschlagen. Nicht wichtig. Nur ein Baustein,

Das Thema Beziehungen bleibt mir im ganzen Prozess

um vom ganzheitlichen Menschen in ein Objekt des me-

erhalten, es wird sich viel ändern, was ich jetzt bereits er-

dizinischen Systems verwandelt zu werden. Alles gut ge-

ahne. Noch ist der Zeitpunkt zur Reflexion in weiter Fer-

meint. Trotzdem ärgert es mich. »Gut gemeint« ist nicht

ne, erst mal wartet die Maschinerie eines Krankenhauses

gut genug. Daran denke ich oft, auch in anderen zwi-

auf mich.

schenmenschlichen Begegnungen. Während mein Körper als Stück Fleisch mit kaputtem 8

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Innenleben in den Apparaten hin und her geschoben wird,

rechte Arm mickerlich geblieben ist und auch keine funk-

ziehe ich mich wieder auf die Insel meiner Gedankenwelt

tionierende Hand dranhängt, aber wohlgefühlt habe ich

zurück, in der ich mich selbstbestimmt und freier fühle.

mich mit dir und stellenweise habe ich dich auch richtig

»Du bist nicht dein Körper«, das habe ich mal gelernt.

gern gehabt. Für leidenschaftliches Tanzen zum Beispiel

Aber auch, dass der Körper als Gefährt für die Seele

habe ich ja hauptsächlich beide Beine gebraucht

gepflegt werden muss. Mit der angemessenen geistigen Grundhaltung als Mörtel kann er ein schöner Tempel für

Trotz oder auch wegen der Behinderung war, ist Schön-

eine schöne Seele sein. Ich habe meinen Körper gepflegt,

heit ein wichtiges Thema in meinem Leben. Ich habe mich

ihn ziemlich gut ernährt, viel bewegt --- alles Maßnahmen

gern schön angezogen, vor dem Spiegel gedreht, meinen

zur Vorsorge, wie überall nachzulesen. Speziell bei Darm-

ästhetischen Sinn gepflegt, an mir, in der Wohnung und

krebs. Hat wohl nichts genützt. Was habe ich falsch ge-

den Schönheiten dieser Welt viel Beachtung geschenkt.

macht? Ein Gedanke, der noch oft in mir aufsteigen wird.

Da ist ja vielleicht nichts dagegen zu sagen, wenn es nicht

Vielleicht erübrigt sich eine rationale Ursachensuche.

zu Eitelkeit oder Arroganz führt.

Vielleicht wird ein beliebiges Peng-peng geschickt, damit

Vielleicht hat es das aber bei mir. Weiß es jetzt nicht.

wir den Schulplaneten Erde intensiver nutzen oder - um-

Weiß aber, dass ich mich manchmal schon als etwas Be-

gekehrt - das irdische Jammertal für dieses Mal schneller

sonderes fühle und mir dann sagen muss „Gott hat keine

verlassen dürfen. Ich hoffe, dass mein Zustand weiteres

Lieblingskinder.“

Nachdenken und Erproben erlaubt. Jetzt muss ich der Tatsache ins Auge sehen, dass bald eine umfassende Zerstörung meines Körpers beginnen wird, selbstverständlich für einen guten Zweck. Bekanntermaßen heiligt der Zweck nicht alle Mittel. Mein armer Körper. Du warst ja nie »vollständig«, da der 10

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Aus dem ersten Bericht zur Diagnose geht hervor, dass ich rundum gesund bin, wenn das Geschwür nicht wäre, Karzinom genannt. In der Folge gibt es noch viele Arztberichte mit vielen Fremdworten, die mich nicht wirklich interessieren. Das ist gut so, verstehen würde ich sie soGegen

wieso nicht. Fange ich aber das Recherchieren erst an,

Lügen

vergeude ich vielleicht kostbare Lebenszeit. Dann lieber

Selbstbetrug

vertrauen in die behandelnden Ärzte, ihre Kompetenz und

Illusion

ihre ethischen Grundlagen. Mich interessiert mehr, warum

Wahrheit will erkannt

KREBS

erlitten erdürstet

Krebs heißt. In meinem medizinischen Wörterbuch steht

erliebt

nichts dazu. Bei Susan Sontag werde ich fündig (Sontag,

werden

Susan. Krankheit als Metapher. Fischer Frankfurt 1981).

und braucht

Mit Krebs ist ein Gewächs gemeint, das den Körper auf-

die Spiegelung im Geist

frisst. Die geschwollenen Venen eines äußeren Tumors ähneln Krebsbeinen. Nichts mit Krabbeln oder Kriechen, geschweige denn Rückwärtsgehen. »Krebs ist eine dämonische Schwangerschaft« (S. 17). Er arbeitet langsam und hinterhältig. Emotionales Resignieren spielt eine Rolle. Von mir denke ich das jedenfalls, wenn ich meinen

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schweren Lebensweg betrachte und insbesondere die letz-

Vielleicht ist Krebs deshalb zur Krankheit unserer Zeit

ten Jahre. Es beschäftigt mich, doppelt, da ich Psycholo-

geworden, weil er mit dem Körper des Einzelnen umgeht

gin geworden bin. Vielleicht reicht die Zeit zum Rück-

wie wir mit der Mutter Erde. Der Krebs beutet den Men-

blick, zur Versöhnung mit mir selbst.

schen aus, ohne zu merken, dass er im Todesfall selber

Jetzt regt es mich mehr auf, warum negative Erscheinun-

draufgeht.

gen immer Tiernamen tragen:

So zerstören wir die Erde. Achtung und Liebe fehlen,

Krebs, der ängstliche Hase, der dumme Esel, das dreckige

für sich selbst, für die anderen Menschen, die Natur. Es

Schwein.

ist bemerkenswert, dass jedes Organ von Krebs befallen

Die Zuordnungen sind definitiv falsch. Der Esel bei-

werden kann, nur das Herz nicht. Das Herz als Symbol

spielsweise ist klug, und das Schwein muss sich schüt-

der Liebe. Es wurde nichts gelernt, die Folgegeisel wurde

zen, weil es keine Schweißdrüsen hat und sich deshalb

AIDS. AIDS hat nun explizit mit Liebe, Verbundenheit

im »Dreck« wälzt. Eine besondere Beziehung habe ich zu

und Nähe zu tun. Wirklich Liebe? Habe ich genug ge-

Elefanten entwickelt, seit ich sie im Zirkus näher kennen

liebt?

gelernt habe. Als Jugendliche durfte ich einige Zeit mit Tante Grete und Onkel Heinz im Zirkus mitfahren. Die Elefanten sind sehr sozial, beim Schlafen wacht zum Beispiel im Wechsel einer, um die anderen zu schützen. Auch die Leichtigkeit und Eleganz, mit der sich diese Tiere bewegen, ist bewundernswert. Die Menschen haben die Achtung vor der Tierwelt, vor der Schöpfung verloren. Es ist bis zum Erbrechen schlimm geworden, wenn ich an die Tierhaltung, Legebatterien oder Tiertransporte denke. Auch das Abholzen von Wäldern gehört dazu. 14

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»Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe

sinkt und sinkt. Im Krankenhaus hat mich immer sehr

und hinter tausend Stäben keine Welt«

verletzt, wenn in meiner Anwesenheit über mich in der

- so fühlt Rilke mit dem Panther im Zoo mit.

dritten Person gesprochen wurde. Das widerspricht bereits jeder Benimmregel. Darüber hinaus ist es entwürdigend für das Selbstwertgefühl.

Ein

Anderes lässt sich im Betrieb und bei dem PersonalmanKRANKENHAUS

gel nicht vermeiden. Jedes freundliche Wort, jede fürsorgliche Geste, jedes Lächeln wird zur Beglückung. Beein-

ist nun sicher kein Käfig, eine eigene Welt mit eigenen

druckt hat mich von der ersten Minute im Krankenhaus

Gesetzmäßigkeiten, Spielregeln und Abläufen ist es

die Solidarität unter den Patienten. »Willkommen im

schon. Das Zuhause ist weit weg, das Wohlbefinden so-

Club«. Jeder ist zu jedem nett. Und sehr schnell wird über

wieso, sonst wäre man ja gar nicht im Krankenhaus, die

wesentliche Themen wie Leiderfahrung, Sinn, Trauer,

reale Welt draußen verblasst. Nichts ist mehr privat, ich

Hoffnungen gesprochen. Es ist nicht nur ein Verbündet-

schlafe öffentlich, wasche mich öffentlich und pinkle öf-

sein im Schicksal oder gegen bestimmte negative Erfah-

fentlich. Jeder hat jederzeit Zutritt in mein Zimmer und

rungen im Tagesablauf. Die Menschen werden sensibler

kann mich besichtigen, egal in welchem Zustand. Beim

in der Krankheit, ihre Herzen öffnen sich ... Das habe ich

Personal sehe ich das ein, bei den unangemeldet auftau-

in vielen kleinen Begegnungen als sehr tröstlich empfun-

chenden Besuchern ist es manchmal sehr unangenehm für

den.

mich.

Um noch einmal auf den Panther im Käfig zurückzu-

Über die Lebensbedingungen in einer sogenannten »to-

kommen: Ich habe auch Zeiten erlebt, in denen es mir

talen Institution« mit ihren Folgen für die Identität der

so erbärmlich schlecht ging, dass ich mich in meinem

Bewohner, Insassen oder wie sie so genannt werden, ist

Krankenbett sicher und geborgen gefühlt habe, von den

schon viel geschrieben worden. Das Selbstwertgefühl

Schwestern und Ärzten beschützt.

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Es folgt nun eine lange Zeit, wochenlang, in der die großen

versuche, die Selbstsorge zu leben, und pflege mich selbst mit Sorgfalt. Ich bereite mir schöne Stunden mit Musik,

SCHMERZEN

Meditation, Selbstreflexion. Schönheit wird wieder sehr wichtig für mich. Schöne Dinge wahrnehmen, im Kleinen

mich regieren. Die Organisation des Haushalts, des All-

wie im Großen, im Außen und im Inneren. Schöne Dinge

tags und der Hilfen, die ich brauche, gelingt gut. Das Aus-

gestalten. Nachdenken, Nachspüren vergangenen guten

halten der Schmerzen, die mit starken Schmerzmitteln nur

Dingen in meinem Leben und vorsichtig an der Zukunft

gelindert werden können, bringt mich an die Grenzen der

bauen. Vielleicht »lohnt« sich diese lange Krankheitszeit,

Belastbarkeit. Sie dominieren und überlagern alle anderen

wird mich positiv verändern, zu einer größeren Intensi-

Empfindungen. Nur im Kopf kann ich noch andere Inhal-

tät des Lebens führen und überhaupt zum sorgfältigeren

te denken und bewegen. Ich erinnere mich an einen guten

Umgang mit mir und den anderen Menschen. Vielleicht

Text von Wilhelm Schmid in seinem Buch »Philosophie

werde ich auch in absehbarer Zeit sterben, und die ganze

der Lebenskunst« (Suhrkamp Frankfurt 1998) und suche

Erfahrung dient nur der notwendigen Übung des Loslas-

ihn lange in meinen Papierbergen. Ein Glück, dass ich ihn

sens. Ich lebe nun Beides: ein gutes Leben im Hier und

finde. Er tröstet mich in seiner Versöhnlichkeit. Schmid

Jetzt und die Vorbereitung auf das Verlassen dieser Erde.

spricht von einem »Kosmos der Schmerzen«, weil ihre

Letzteres führt zum Aussortieren, zur Befreiung von Bal-

Erfahrung weitreichend und überwältigend sein kann. Der

last, in der Wohnung, im Keller, in Beziehungen, in mir.

Schmerz sorge für die größte Intimität des Selbst mit sich

Es entsteht die Idee, meine Erfahrungen aufzuschreiben,

selbst und führt in eine große Einsamkeit. Der Sinn kann

vielleicht mit einem selbstverfassten Buch gut verarbei-

nur in einem Anstoß zur Selbstsorge bestehen. Die Wunde,

ten zu können. Und mein Bewusstsein für diesen wichti-

meine Wunde des Darms, gilt es zu integrieren. Ich muss

gen Prozess zu schärfen.

die Schmerzen akzeptieren und an ihnen wachsen. Novalis sah in Krankheiten »Lehrjahre der Lebenskunst«. Ich

Mit solchen Gedanken und dem entsprechenden Tun geht

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es mir besser, und irgendwann lassen auch die Schmerzen

Die Lebenslust wächst. Es gilt nun auch, das verlorene

nach, die Lebenslust wächst, wofür ich dankbar bin, mehr KÖRPERGEFÜHL

als je zuvor.

und damit ein Stück Identität zurückzugewinnen. In diesem neuen Körper bin ich nicht mehr zuhause, behandle ihn zunächst wie etwas Fremdes. Ich muss mich daran gewöhnen, das »Stück Darm auf der Welt« zu reinigen, die große Bauchnarbe anzuschaun und zu pflegen, mit ihr zu leben. Sie gehört nun für immer zu mir. Wie der Port, dieser Kasten auf meiner Brust, die andere Narbe von der Drainage in die Lage. Der Muskelschwund ist ungeheuerlich, passt so gar nicht zu meiner sportlichen Kondition. Es wabbelt die Haut an mir rum. In wenigen Monaten bin ich um 10 Jahre gealtert. Ich gewöhne mich an diese neue Hülle, in der ich lebe, langsam, beharrlich. Es ist wichtig und unwichtig zugleich. »Du bist nicht dein Körper.« Ich weiß es. Ich muss mich trotzdem in ihm wohlfühlen, schließlich soll er mich noch eine Weile auf dieser Erde herumtragen. Also pflege ich ihn tapfer weiter, kaufe ihm schöne Öle und lerne, alles so zu mögen, wie es ist. Irgendwann in diesem Prozess »untersuche« ich meine erogenen Zonen, Punkte und bin erleichtert, dass alle 54

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Lustempfindungen noch da sind. Gott Eros grüßt. Immer-

nehmen, muss das alles aber dargestellt werden? Die Fra-

hin etwas, ich freue mich. Für andere vielleicht unver-

ge bleibt: Bin ich wichtig? Und für wen?

ständlich, brauchte ich dazu Mut. Eine andere Mutprobe

Jeder Mensch möchte wichtig sein, ist es ja, als Geschöpf

fiel mir da etwas leichter. Von einer guten, sehr hilfrei-

Gottes. Das Wichtigkeitsein darf aber nicht der Betonung

chen Freundin begleitet, habe ich mich in die öffentliche

von Eitelkeiten wie Hochmut, Arroganz oder Überlegen-

Sauna getraut, mit Unterhose, da der Anblick des Kack-

heit dienen.

Sacks kaum zumutbar erscheint. Es findet sich natürlich,

Für mich muss hier der Satz stehen: Du bist nichts Beson-

erwartungsgemäß, eine Stimme, die quakt: »Warum ha-

deres. Auch nicht als Behinderte, auch nicht als Krebs-

ben Sie denn die Unterhose an?« Vorbereitet antworte ich:

kranke. Weiter entwickeln möchte ich die Annahme mei-

»Da ist ein Verband drunter, das geht nicht anders.« Mutig

ner Unzulänglichkeiten, meiner Selbstliebe und damit

sein mag ich, bei mir, bei anderen. Und so gehe ich jetzt

meiner Fähigkeit zu lieben.

- wie seit über 40 Jahren - wieder regelmäßig auch allein in die Sauna und zeige mich. Damit gewinne ich KörperIdentität zurück und weiteres Wohlgefühl. Vielleicht wirken diese Aufzeichnungen egozentrisch, frage ich mich so ganz zwischendurch. Bin ich eigentlich so wichtig? Mein Ziel des Schreibens war ja Verarbeitung des Prozesses, der Hintergedanke, vielleicht anderen meinen zumindest für mich hilfreichen Umgang mit dieser Erkrankung anzubieten, Mut zu machen. Trotzdem entgehe ich der Frage, ob ich wichtig bin, nicht wirklich. Manches in der Versorgung meiner selbst muss ich ja ernst 56

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Bin ich wichtig? Diese Frage führt mich zu einer SELBSTBEOBACHTUNG

Wie schön! Sanftmut ist mein Ziel. Die sanfte Stärke. Seltsam, dass ich persönlich erst jetzt damit konfrontiert bin, da ich ja über 30 Jahre die Lehren

an mir, die mir allerdings wichtig erscheint. Ich spüre und

von Carl Rogers unterrichtet und mit den Studierenden

erlebe als Veränderung, dass ich bescheidener, dankbarer

Wertschätzung, Einfühlung, Echtheit / Kongruenz von

geworden bin. Dankbarer vor allem in den Beziehungen,

Fühlen und Handeln eingeübt habe. Ich selber habe das

mit meinem Bruder und auch den Freunden. Ich werde

in der therapeutischen Arbeit und auch als Dozentin wohl

achtsamer im Umgang, nehme Zuwendungen erheblich

realisiert - dafür gibt es sehr viele positive Rückmeldun-

deutlicher wahr, freue mich und spüre die Dankbarkeit.

gen -, im Privatleben anscheinend nicht wirklich. Anders

Vermutlich bin ich im Laufe meines Lebens zu anspruchs-

kann ich mir die neue Wahrnehmung nicht erklären.

voll geworden, immer weiter, immer höher, immer kost-

Mein Handlungsspielraum ist deutlich kleiner geworden,

barer. Das könnte ein Punkt für den »Absturz« sein. Es

die Teilnahme am gesellschaftlichen, vor allem kulturel-

gilt, die neue Achtsamkeit, nicht nur wie zuvor im be-

len Leben ist fast unmöglich geworden - der geistige Pro-

ruflichen Tätigsein, sondern für mich selbst und in den

zess, die Erfahrungen mit mir selber erlebe ich als große

persönlichen Beziehungen anzuwenden. Ein guter Ge-

Weite, horizontüberschreitend. Dafür bin ich auch dank-

danke. Er wird mich weiterführen, zu mehr Liebe auch.

bar.

Ich beobachte auch mehr Ruhe, mehr Zugewandtheit, weniger Aufdringlichkeit, Besserwisserei und Ähnliches. Vielleicht zunächst aus Schwäche. Kämpfe oder Wortgefechte sind ja kaum möglich in meiner körperlichen Verfassung. Ich spüre aber in dieser Schwäche Wohlgefühl, Entlastung und mehr Nähe zu den anderen Menschen. 58

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Vorwurfsausbrüchen Erleichterung verschaffen, was mich

Die

für andere zum schwierigen Menschen stempelte. DANKBARKEIT

Wirklich erleichtert bin ich jetzt. Die Krankenrolle erfordert Hilfe, das Kranksein ruft Anteilnahme ab. Ich bekom-

wird in dieser ganzen Zeit zum immer wiederkehrenden

me sehr viel Zuwendung. Das ist eine vollkommen neue

Moment im Denken und Fühlen. Und tut mir gut. In mir

Erfahrung, ich, die überwiegend Gebende, die Schenken-

muss eine Umkehr stattgefunden haben, die ich als Ge-

de - Liebe erkaufend? - wird beschenkt. Ein großes Danke

schenk der Gnade empfinde. In meinem »anderen« Leben

meinen vertrauten, neu entdeckten Freunden.

waren es andere Gefühle, die immer wieder an die Ober-

Die innere Seite dieses Geschehens zeigt sich in eben die-

fläche gedrungen sind. Ich empfand mein Leben - schon

sen Einsichten, in der Selbsterfahrung, der Selbsterkennt-

aufgrund der Behinderung - als sehr, sehr beschwerlich.

nis in schweren Zeiten. Auch diesen Prozess erlebe ich

Das Gefühl der Ungerechtigkeit, der mangelnden Rück-

als Bereinigung, Reinigung. Die Seele, meine Seele wird

sicht zeigt sich für mich oft als Depression, von der Me-

befreit von Ballast, Unrat, Negativem, und so wird Raum

lancholie über die Trauer bis zur tiefen Hoffnungslosig-

frei für neue Erfahrungen mit mir selbst und anderen.

keit.

Auf dem Weg der Selbsterkenntnis laufe, stolpere, hopse

Meine Mutter hatte mich sehr zur Selbständigkeit erzo-

und tanze ich seit vielen Jahren. Was ich an mir richtig gut

gen, zum Alleskönnen - mit einer Hand -, zum Alleskön-

finde, ist die Gegebenheit, dass ich mir immer gute Lehrer

nen-, alles Machenmüssen. Das war sicher einerseits sehr

gesucht habe, die eine Perlenkette für mich gebildet ha-

gut, andererseits fehlte die Beachtung und Rücksichtnah-

ben: Carl Rogers, Reinhard Tausch, Thorwald Dethlefsen,

me auf die eben besondere Situation. Dem Anspruch »So-

Stephanie Krenn, Josef Reif, Sei Baba, Stanislav Grof,

tun-als-ob« habe ich mich früh gebeugt, er wurde lebens-

Konrad Pfaff, Nura Anwari und andere.

bestimmend. Um Hilfe zu bitten, hatte ich nie gelernt. So

Ohne diese Lernerfahrung und die gegenwärtige Beglei-

konnte ich mir allenfalls mit Klagen und gelegentlichen

tung wäre dieser Reflexionsprozess so nicht möglich.

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Großer Dank. Selbstverständlich haben mir auch viele, viele Begegnungen im Alltag, auf Reisen, im Bus, an irgendeinem Ort Freude, Einsichten und Glücksmomente ermöglicht. Ja, es gibt auch jetzt Glücksmomente. Manchmal empfinde ich es so, als sei ich nie glücklicher gewesen, ohne besonderen Anlass, einfach so, von innen heraus. Mein anstrengendes Leben ist noch immer anstrengend und doch auch leichter geworden. Der Weg geht weiter. Ein wichtiges Thema wächst als Aufgabe in mir. Ich hatte es mit Stephanie kurz vor ihrem Tod ansprechen können. Ich hatte ihr auch geschrieben, dass das Thema »Demut« für mich wichtig geworden ist. Das war für mich - von Ausnahmesituationen abgesehen - Grauzone geblieben. Vielleicht bedurfte es dieses Schicksalsschlags, um bescheidener und demütiger zu werden, dankbarer für das Glück zu leben und zu lieben.

Lorbeer Heute schlage ich einmal das Buch meiner Gefühle auf und widme mich ihrem Wellenschlag, den Staus, ihrer Glückseligkeit und allem Leid. Erst die Erfahrung lehrt, wie vergänglich Gefühle sind, wie sehr sie dem Diktat der Zeit unterliegen. Verliebtsein, Verzweifeltsein, Angst haben, Mut beweisen, Schwachsein und stark. Alle sind sie da, die Unruhstifter. Drei Schätze habe ich in meinem Buch der Gefühle gefunden, die ich Dir schenken möchte. Es sind auch Gefühle, nähren sich aber von dem Geist, mit dem wir sie verbinden können.

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Heute ist SILVESTER Den Jahresrückblick erspare ich mir, meine ProzessbeobDa ist die ACHTUNG

achtungen sagen mir genug. Ich bin allein zuhause. Die

vor allem Lebendigen, vor der Schöpfung, die Achtung

Chemotherapie hat mich körperlich zu geschwächt, um

vor der Würde eines jeden Menschen.

bei anderen zu sein, es längere Zeit auf einem fremden

Dann gibt es die VEREHRUNG, die unendlich gutgut,

Stuhl auszuhalten. Obwohl ich das Reden unter allen

Dich in Dankbarkeit wachsen lässt.

»Umständen« im Beruf über Jahrzehnte trainiert habe und

Die ANBETUNG führt Dich zur Demut und

es immer noch gut kann, spüre ich jetzt die Anstrengung

zur Erhabenheit, zu Deiner Heiligkeit, zum Göttlichen.

im Nachhinein. Allein zuhause. Schön will ich es mir gestalten, freue mich auf ein für mich neues Buch von Adolf Holl, der so

Drei Schätze, die immer grün sein können wie die Blät-

besonders leicht sehr weise schreibt. Mit der Knallerei um

ter des Lorbeer, wenn sie gepflegt werden.

Mitternacht werde ich geweckt und merke dann erst, dass ich meinen gutgemeinten Abend total verschlafen habe.

Welches Immergrün lässt Du in Dir wachsen?

Den höllischen Lärm habe ich noch nie gemocht und finde ihn in diesem Jahr besonders grauenvoll. Es ist, als werde ich von allen Seiten beschossen. Soo laut, stinkig und die klare Nachtluft verpestend. Ist Krieg oder wird mir auf diese Weise der Prozess gemacht? Muss ich es symbolisch verstehen, als Analogie zu meinem eigenen

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desolaten Zustand. Im Haushalt gehen auch ständig Sa-

Und die Angst vor der neuen

chen kaputt: die Brille, der CD-Player, die Fliesen, ein CHEMO

Teller, ich weiß schon gar nicht mehr alles. Mein Kopf ist auch dösig geworden, oft unkonzentriert, mit Wortfindungsstörungen und Ähnlichem. Die Chemotherapie hat

Mit ihren erschreckenden Auswirkungen gilt auch. Seit

meinen Körper hingehunzt, allenfalls seelisch-geistig bin

zwei Tagen hat sie mich wieder im Würgegriff. Bisher

ich noch brauchbar.

habe ich es vermieden, genauere Einzelheiten des Krank-

Die Silvesternacht geht vorüber, ohne den hoffnungsvol-

heitsprozesses zu benennen. Die Auswirkungen der Che-

len Blick nach vorn, ohne Pläne, Vorfreude. Das positive

motherapie sind aber so gravierend, dass ich vielleicht

Denken fällt mir schwer, zu viele Fragezeichen, Unsicher-

später mal nachlesen will, was ich und die anderen Pati-

heiten, Unklarheiten. Einen schönen Satz von Novalis

enten durchlitten haben. In der Tagesklinik werden der-

nehme ich dennoch mit in das neue Jahr 2010. »Glück ist

zeit 1500 Menschen damit »versorgt«. Jede Chemosauce

das Talent für das eigene Schicksal.« Damit ist es wieder

wird individuell zubereitet und am Tag der Verabreichung

da, das Gefühl der Dankbarkeit, jetzt für meine »Talente«,

frisch von der Apotheke geliefert. Bei mir stellen sich fol-

die mir einen relativ guten Umgang mit der Erkrankung

gende Nebeneffekte ein:

ermöglichen. Danke sagen - ein Weg zu mehr Demut und

- Massive Schlafstörungen mit ausgeprägter, aber künstlicher Wachheit

Bescheidenheit für mich.

- Ein sehr kalter Körper mit eiskalten, steifen Händen und Füße - Krämpfe im Bett - durchgängiger Durchfall mit der entsprechenden Gewichtsabnahme - rote Haut, besonders im Gesicht, mit schmerzhaften 66

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seinen Geist auf, so dass ich meine diesbezüglichen Ge-

Schwellungen - entzündete Mundhöhle mit Schmerzen beim Essen und

schenke weder hören noch sehen kann. Was kann jetzt noch kaputtgehen?

Trinken - starke Stimmungsschwankungen

»Das Leben ist eine Baustelle« lautet der passende Film-

- Unkonzentriertheit, Vergesslichkeit

titel. Heißt das für mich, in und auf dieser Baustelle die

Es ist unglaublich, was der Körper aushalten soll. Was das

Sanftmut zu lernen, die ich doch als Zielpunkt anstrebe?

Ganze mit den inneren Organen macht, kann ich glückli-

Sanftmut im Chaos? Viele Hindus und Buddhisten zeigen

cherweise erst mal nicht beurteilen. Mein Internist wird

uns ja, wie es gehen kann. Ein weiter Weg - für dekadente

schon wissen, was er gegen die potentiellen Krebs-Reste

Westler. Ich kann zumindest an mir beobachten, dass die

tun kann, potentiell.

Gelassenheit bei diesen ganzen negativen Überraschun-

In meinem Fall spiegelt sich das Ganze noch in weiteren

gen wächst. Das ist schon mal gut - überhaupt und für den

Zerstörungen im Außenraum:

Weg zu meiner Mitte. Und die Dankbarkeit für die Hel-

An drei Stellen der Wohnung gehen aufgrund einer Stö-

fer, auch die Schwestern in der Klinik gehören mit ihrer

rung in der Heizanlage die Fliesen hoch, was dringende

Freundlichkeit dazu, ist auch immer dabei. Dankbarkeit

improvisierte Reparaturen erfordert, um einen kumula-

und Gelassenheit sind die neuen Bausteine für den Wie-

tiven Effekt zu verhindern. Eigentlich müsste der ganze

deraufbau - innen und außen.

Boden erneuert werden - ein Alptraum in meiner jetzigen

Und an andere denken, Freude bringen. Das konnte ich

Situation. Die Brille ist nun so kaputt, dass ich eine neue

schon immer ganz gut. Und es vermehrt die eigene Freu-

kaufen muss. Der Computer bricht mehrfach zusammen,

de am Leben. »Ein Lächeln zeigt, dass das Herz zuhause

ich erbettele mir Hilfe beim Sohn der Nachbarin. Die Jun-

ist« las ich dieser Tage auf einer Postkarte. Und auf einem

gen sind zu beneiden, dass sie mit dieser Technik groß-

meiner neuen Kalender steht im Januar der Satz: »An trü-

geworden sind und ihren Eltern überlegen und hilfreich.

ben Tagen liegt es in unserer Hand, Sonne zu spielen.«

Pünktlich zu Weihnachten gibt der CD/DVD-Player

Das möchte ich gern, eine Sonne für andere sein.

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Im Licht leben, Segen sein, den heiligen Geist wirken

aalen.

lassen --- schöne Gedanken. Warum ist es oft schwer für

Nun bin ich aber schon eine alte Erwachsene und weiß,

mich mickrig gewordenes Erdenkind? Immerhin ermög-

dass Schuldprojektionen nicht wirklich taugen. Jetzt bin

licht mir meine neue Lage, dass ich mir diese Gedanken

allein ich verantwortlich für mein Leben, meine Gefüh-

machen kann. Darf? Mit diesem Fragezeichen bin ich bei

le, mein Handeln. Naja, es gibt ja noch meine Regierung,

dem mir wichtigen Thema, der

meinen Herrn Darm. Gerade war ich - mit Schmerzen dreimal auf der Toilette, nicht hilfreich für das reflektierte

DEMUT

Schreiben, für die Demut schon. Ein erster Zugang zur Demutshaltung ist sicher die Be-

angekommen.

scheidenheit. Wir brauchen, ich brauche die Hilfe und die

Mein indischer Meister Sei Baba sagt an vielen Stellen,

Gnade des Schöpfers zum Leben, zum Überleben, zum

dass es ohne Leiden kein menschliches Wachstum gibt.

Schreiben und überhaupt. Erst jetzt, mit dem Darmkrebs,

Leiden öffnet das Herz und lehrt Demut. Demut bewirkt,

überprüfe ich in Bezug auf Hochmut und Stolz, und ich

dass wir uns dem Unfassbaren - in doppelter Hinsicht -

besinne mich auf mein Herz. Habe ich beispielsweise viel

öffnen, und hilft zur Erkenntnis tiefster Wahrheiten. Ich

geholfen, viel geschenkt, um gut zu sein und Anerken-

vermute, dass ich erst durch das nahezu allumfassende

nung zu bekommen? In einem Seminar zur Selbsterfah-

Zurückgeworfensein auf mich selbst, durch das Leiden

rung war ich mit der Begleiterin Beate schon einmal an

vom Sockel geflogen bin - freiwillig heruntergestiegen.

diesem Punkt.

Hochmut und Stolz stehen an diesem Sockel. Noch deutli-

Es geht darum, mir und anderen zu dienen, aus Ach-

cher sehe ich bei mir die hohen Erwartungen an mich und

tung und Freude. Es gilt, alles Menschliche als solches

andere, denen niemand auf Dauer gewachsen sein kann.

zu ehren, die eigene Größe ohne Größenwahn, die ande-

Ich könnte mich rausreden und mich in Erklärungen über

ren Menschen in ihrem Sosein ohne Besserwissen oder

meine Erziehung oder auch Kompensationsleistungen

Rechthaberei. Sehen, verstehen, nicht urteilen.

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Es geht nicht darum, mich klein zu machen oder andere.

diese dringend. Und das Vertrauen in eine höhere Macht.

Manchmal ist es notwendig, Grenzen zu setzen, sich selbst

Vertrauen, Geduld, Bescheidenheit, Sanftmut, Demut -

zu schützen. Dann kann es sinnvoll sein, selber wegzu-

all das hängt irgendwie zusammen. Das Wort »Demut«

gehen, sich von dem Betroffenen zu entfernen, ohne ihn

klingt für mich sehr edel. Was will ich denn nun damit

als Mensch zurückzuweisen oder ihn zu verletzen. Keine

sagen?

Selbstverachtung, keine Fremdverachtung.

Es flößt Respekt ein, vielleicht ist die Annäherung auch

So dolle habe ich es natürlich nicht getrieben. Schon be-

deshalb schwer. Ich werde mit der Bescheidenheit anfan-

ruflich sowieso und selbstverständlich nicht. Im Gegen-

gen. Mut steckt ja auch in dem Wort Demut, zum Beispiel

teil, hier konnte ich Einfühlung und Mitgefühl entwi-

der Opfermut. Die andere Wange hinhalten, wenn die eine

ckeln, zeigen und auch danach handeln. Letzteres war mir

bereits verletzt wurde. Mutig finde ich mich - auch ohne

immer auch besonders wichtig. Von Adorno soll der Satz

Beweisführung an dieser Stelle - und so gehe ich getrost

stammen: »Wer nicht helfen kann, soll auch nicht bera-

den schweren Weg so weiter, mit dem Ziel, die Demut

ten.« Tief eingeprägt hat er sich mir schon sehr früh in

in meinem Herzen lebendiger werden zu lassen. Üben,

meiner Berufstätigkeit.

üben. Sei Baba sagt, dass Ordnung im Leben stärkt. Und

In meinen persönlichen Beziehungen hat das Sanfte da-

er sagt weiter, dass Demut und Bescheidenheit als innere

gegen wohl öfter gefehlt. Da ging es mehr wie in einem

Ordnung wirken.

Abenteuerfilm zu. Entsprechend das Scheitern. Trotzdem möchte ich diese Abenteuer nicht missen, was ich hier nicht weiter ausführe. Bin ich doch bei der Demut - und diese hat für mich etwas mit Sanftmut zu tun. Auch der Langmut fällt mir dazu ein. Diese entspricht der Geduld, die mir so schwer fällt. Für die Heilung, vor allem die innere Gesundung, brauche ich 94

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Sich dem Unfassbaren öffnen. Das Unfassbare nennen

in der Kindheit in der DDR - tragend gewesen ist und

wir

somit jetzt in der Zeit der Krankheit. Ja, ich bin religiös im Sinne der Rückbindung an meinen Schöpfer, jenseits GOTT

aller Glaubensrichtungen oder Kirchen. Immer wieder habe ich versucht, eine Glaubensgemeinschaft zu finden,

oder das Göttliche, die Wirklichkeit, das Wirkende hinter

in der ich mich zuhause fühlen kann. Das ist immer wie-

der Welt der Formen. Das Wirkende ist die Kraft, die die

der gescheitert, mal an der Oberflächlichkeit des Kreises,

Erde und alles Lebendige schafft, Entwicklung ermög-

mal an Dogmen oder seltsamen Vorschriften. Und so gehe

licht. Diese Schöpferkraft wirkt in uns, in mir, das spüre

ich unfreiwillig, aber frei den Weg zu Gott allein weiter.

ich ganz deutlich.

Ganz allein wohl doch nicht, im Inneren von Gott geführt,

Und so sind auch wir göttlich, können es sein. Wir können

und im Außen helfen Vorbilder, Bücher, auch Gedichte

zum Beispiel die Eigenschaften, die Gott zugeschrieben

von anderen suchenden Menschen. Buchempfehlungen

werden und uns von Jesus Christus vorgelebt wurden, in

gebe ich vorsichtshalber keine. Auch hierbei geht jeder

uns zum Tragen bringen, so gut wir es eben können.

den eigenen Weg. Meiner Erfahrung entspricht es auch,

Ich möchte an dieser Stelle keine philosophischen Ab-

dass jeder Mensch - gemäß seinem jeweiligen Bewusst-

handlungen über dieses große Thema versuchen, dem

seinszustand - dem begegnet, das sein soll, ihn weiter-

wäre ich nicht gewachsen. Ich muss zum Verständnis

bringt, ein Erlebnis, eine Begegnung, ein Film, ein Buch.

aber sagen, dass ich mich als Gottsucherin sehe. Oft fühle

Einzige Voraussetzung ist die eigene Achtsamkeit.

ich mich Gott nahe, fühle mich von seiner Kraft und Liebe getragen, dann wieder ferner, immer aber im Dialog. Dieser immerwährende Austausch ist für mich das Wesentliche. Es gehört auch in mein Tagebuch, weil dieser Bezug zum Göttlichen in meinem ganzen Leben - auch 96

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Nach der Flucht in den

Im Jahr 2005 wurde die Professorin der Fachhochschule

Westen,

für Sozialwesen pensioniert.

in

das

noch

französische Saarbrücken

2009 erhielt Frau Professor Jacobi die Diagnose

1958, studierte die 1945

Darmkrebs und protokollierte den nun folgenden Erfah-

in Nordhausen am Harz

rungsprozess. Auch geprägt von ihrer Praxis als Schwes-

geborene und in Kloster

ternhelferin und Anstaltspsychologin im Justizvollzug,

Lehnin

entstand ein beeindruckender Einblick in die Psyche eines

aufgewachsene

Jutta-Verena Jacobi in den

Menschen, der einer extremen Situation ausgesetzt ist.

Sechzigerjahren Psychologie in Saarbrücken, Mainz und Mannheim. Nachdem sie in fast allen Justizvollzugsanstalten in Baden-Württemberg volontiert hatte, arbeitete sie bis 1973 in der JVA Rottenburg. Nach ihrem Umzug nach Berlin war sie als wissenschaftliche Assistentin am Institut für Sozialpädagogik an der FU Berlin angestellt. Mit ihrer Scheidung 1980 endete für Jutta-Verena Jacobi ihre bisher schwerste persönliche Zeit. 1981 startete sie einen Neubeginn als Professorin an der Fachhochschule für Sozialwesen in Esslingen. Esslingen hatte es ihr so angetan, dass sie der Stadt nicht nur bis heute treu geblieben ist. Ende der Achtzigerjahre saß sie sogar als Stadträtin im Gemeinderat von Esslingen. 120

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Jungen oder unbekannten Autoren den ersten Schritt auf dem Buchmarkt zu ermöglichen, ist das oberste Ziel unseres Verlags. Gemeinsam wird das Manuskript überarbeitet, lektoriert, korrigiert und zur Publizitätsreife gebracht. Ob als reines Verlagsprodukt, gemanagtem Selbstverlag oder reiner Eigenproduktion der Autorin oder des Autors, wir finden immer einen Weg Ihr Werk auf den Markt zu bringen. Senden Sie uns Ihr Manuskript (RTF oder DOC) oder mailen Sie uns Ihre Anfrage einfach zu. [email protected] Andere verlegen Ihr Manuskript, wir verlegen Ihr Buch.

Civitas Imperii Verlag Bisher in dieser Reihe erschienen: Carl Cairo Cramer - Zeitwellen ISBN 978-3-00-029164-7 Michael Schuster - Der Geist von Schloss Wagemuth ISBN 978-3-939300-02-1 Angelika Hentschel - Zwischen dem Jetzt ISBN 978-3-939300-04-5 122