Autismus geht mit Besonderheiten der visuellen

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MIT GEISTIGER ODER MEHRFACHER

B EHINDERUNG – 6. J AHRGANG – H EFT 2 – D EZEMBER 2009

Visuelle Wahrnehmung bei Autismus – Wenn Details bedeutsam werden Zusammenfassung

Christoph Michael Müller

A

utismus geht mit Besonderheiten der visuellen Wahrnehmung einher, die mit dem Begriff der „Wahrnehmungsstörungen“ nur unzureichend beschrieben sind. Der Beitrag zeigt anhand des aktuellen Forschungsstands vielmehr ein differenziertes Profil von Stärken und Problemen der Verarbeitung auf. Details scheinen von Menschen mit

Autismus besonders gut verarbeitet und gegenüber bedeutungsbezogenen Informationen vorgezogen zu werden. Die Befunde werden hinsichtlich ihrer Relevanz für die praktische Unterstützung autistischer Menschen diskutiert.

Summary

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Autism often is associated with general perceptual deficits. However, especially in visual processing, research shows a specific profile of strengths and problems. Details appear to have a particular meaning for individuals with autism and are spontaneously preferred to conceptual information. This way of information processing on the one hand leads to assets like re-

cognizing small things quickly but on the other hand can result in problems to understand complex situations. Implications for a better understanding and support of persons with autism are discussed.

1. Einleitung

werden dabei Erkenntnisse zur visuellen Informationsverarbeitung fokussiert.

Autismus wird meist mit dem Begriff der „Wahrnehmungsstörungen“ assoziiert. Diese Feststellung bleibt ohne eine genauere Spezifizierung jedoch zu allgemein und ist wenig hilfreich für ein besseres Verständnis autistischer Menschen (23). Erst auf der Grundlage einer systematischen Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen ergibt sich ein klareres Bild der autistischen Wahrnehmung. In dem vorliegenden Beitrag

Schlüsselwörter: Autismus – Wahrnehmung – Informationsverarbeitung – Zentrale Kohärenz

Grundsätzlich wird Autismus nach DSM-IV als eine tiefgreifende Entwicklungsstörung verstanden, die mit Problemen der Interaktion, Kommunikation und stereotypen Verhaltensweisen einhergeht. Das autistische Spektrum umfasst einerseits die autistische Störung, welche mit einer unauffälligen Intelligenz („High-functioning Autismus“) aber häufig auch mit einer ge-

Keywords: Autism – perception – information-processing – central coherence

Korrespondenzadresse: Dr. Christoph Michael Müller Universität Freiburg/ Schweiz Heilpädagogisches Institut Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg/ Schweiz Tel. 0041 26 300 77 25 E-Mail: christoph.mueller2@ unifr.ch

trennt diagnostizierten geistigen Behinderung („Low-functioning Autismus“) einhergehen kann. Andererseits besteht die Diagnose der Aspergerstörung, bei welcher eine intellektuelle und sprachliche Beeinträchtigung ausgeschlossen ist. In den im vorliegenden Beitrag diskutierten Studien wurden vor allem autistische Menschen ohne intellektuelle Beeinträchtigungen

untersucht. Dies begründet sich zum einen darin, dass dieser Personenkreis eher für psychologische Untersuchungen zugänglich ist. Zum anderen bleibt bei Untersuchungen von Menschen, die sowohl Autismus als auch eine geistige Behinderung zeigen, unklar, auf welche der beiden Auffälligkeiten die Studienergebnisse zurückzuführen sind. In der Regel wird davon ausgegangen, dass sich Besonderheiten von durchschnittlich begabten Menschen mit Autismus auch bei schwerer behinderten autistischen Personen finden. Bei diesen kommt durch die geistige Behinderung allerdings eine zusätzliche Problematik hinzu (24). Um die autistische Wahrnehmung verstehen zu können, ist es notwendig, zuvor die generelle Funktionsweise der visuellen Informationsverarbeitung zu betrachten. Bei der Reizaufnahme treffen Lichtwellen von außen auf das Auge und werden dort in elektrische Signale gewandelt, um im Gehirn verarbeitet werden zu können. Auf der folgenden Ebene der Wahrnehmungsorganisation wird das Gesehene in seine Einzelmerkmale wie Ecken, Farben und Linien aufgegliedert. Durch die gerichtete Aufmerksamkeit ist es dann möglich, diese einzelnen lokalen Fragmente zu einem globalen Gesamtbild zusammenzufügen. Der Prozess des Zusammenfügens eines solchen inneren Bildes erfolgt unter Berücksichtigung des Reizkontextes. So führen die in der visuellen Illusion in Abbildung 1 großen und kleinen Außenkreise beispielsweise dazu, dass der linke Innenkreis als größer erlebt wird, obwohl dies objektiv nicht der Fall ist.

Abb. 1: Visuelle Illusion

Auf der dritten Ebene des Identifizierens und Einordnens wird dem wahrgenommenen Bild eine Bedeutung zugewiesen. Hierzu erfolgt ein Abgleich mit bekannten Gedächtnisinhalten und dem Situationskontext. Die neu eintreffende Information wird in das bestehende Kategoriensystem eingegliedert und beeinflusst dessen Aufbau. Im Folgenden gilt es herauszuarbeiten, an welcher Stelle des Wahrnehmungsprozesses Menschen mit Autismus eine andere Verarbeitung zeigen als nicht autistische Menschen. Anschließend kann auf die Bedeutung dieses Wissens für die Unterstützung von Personen mit Autismus eingegangen werden.

2. Auffälligkeiten der visuellen Wahrnehmung bei Autismus

detailorientierten Wahrnehmung zeigen, aber Probleme im Bereich der globalen, holistischen Wahrnehmung. Demnach könnten autistische Menschen beispielsweise sehr gut kleinste Gegenstände auf dem Teppich entdecken, aber auf der anderen Seite Mühe haben, Bilder in ihrer Gesamtheit und nicht nur bezüglich der Details wahrzunehmen. Auch das Verknüpfen verschiedener Bedeutungszusammenhänge fällt Menschen mit Autismus nach dieser These schwer. Im Folgenden wird dargestellt, inwieweit die Hypothese einer schwachen zentralen Kohärenz in den letzten Jahren bestätigt werden konnte. Dazu werden die einzelnen Ergebnisse vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Wahrnehmungsstufen diskutiert. Befunde zur Reizaufnahme

Die Londoner Forscherin Uta Frith (6) hat sich früh mit der autistischen Wahrnehmung beschäftigt und verschiedene Untersuchungsergebnisse in der Theorie der schwachen zentralen Kohärenz zusammengefasst. Ihre Hypothese war, dass Menschen mit Autismus besondere Stärken im Bereich der lokalen,

Als erstes stellt sich die Frage, ob bei Autismus bereits eine veränderte Aufnahme der Außenreize besteht. Ein eintreffender Reiz würde dann beispielsweise zu stark oder zu schwach empfunden. Aufgeworfen wird die Frage vor allem durch Berichte autistischer Autoren, die Reizü-

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ber- und Unterempfindlichkeiten nahe legen (1). Teilweise wird von einer inkonsistenten visuellen Wahrnehmung berichtet; so könne beispielsweise der gleiche visuelle Reiz einmal als sehr hell und einmal als dunkel erscheinen. Teilweise wird auch von „Bildstörungen“ ausgegangen, bei denen Formen und Bewegungen verzerrt erscheinen. Die Auffälligkeiten variieren jedoch stark in Art und Häufigkeit, vor allem in Abhängigkeit der intellektuellen Beeinträchtigung. Solche schwer wiegenden visuellen Probleme scheinen nicht auf alle Menschen mit Autismus zuzutreffen, sondern eher in Einzelfällen und vor allem bei einer zusätzlichen geistigen Behinderung vorzukommen. Befunde zur Wahrnehmungsorganisation

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Nach der Reizaufnahme wird das Gesehene auf der Ebene der Wahrnehmungsorganisation bezüglich seiner einzelnen Merkmale analysiert und unter Berücksichtigung des Kontextes zu einem Gesamtbild zusammengefügt. An dieser Stelle spielen Aufmerksamkeitsprozesse eine wichtige Rolle. Einige Forscher haben deshalb untersucht, ob bei Autismus Probleme der Aufmerksamkeitskapazität vorliegen. Dies würde bedeuten, dass nicht genügend Ressourcen vorhanden wären, um mehrere Umweltreize gleichzeitig verarbeiten zu können (Überselektivität). Eine übermäßige Reizselektion scheint aber eher mit entwicklungsbezogenen Schwierigkeiten als ursächlich mit Autismus zusammenzuhängen (17). Autistische Menschen scheinen nicht per se eine verminderte, sondern eher eine veränderte Aufmerksamkeit

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zu zeigen, bei der sie sich an anderen Hinweisreizen als üblicherweise orientieren. Sie haben auch mehr Mühe, sich von einem einmal fokussierten Reiz zu lösen und die Aufmerksamkeitsrichtung zu wechseln (15). Teilweise wird von einer Art „Tunnelblick“ berichtet, bei dem autistische Menschen auf Teilausschnitte eines Gesamtbildes fixiert bleiben (16). Dieser enge Aufmerksamkeitsfokus könnte auch eine Ursache für die Besonderheiten der Wahrnehmung von Details bei autistischen Menschen sein. Sollen Probanden beispielsweise kleine Elemente in einem großen Muster entdecken, können autistische Personen dies in der Regel schneller als andere (25). Ebenso zeigen sie überdurchschnittliche Fähigkeiten, wenn es darum geht, zwei Dinge, die sehr ähnlich sind, voneinander zu unterscheiden (26). Des Weiteren gibt es Hinweise darauf, dass sich Menschen mit Autismus weniger vom Kontext eines Einzelreizes beeinflussen lassen. Kinder mit Autismus beurteilen visuelle Illusionen wie die oben dargestellte Täuschung (Abb. 1) oft objektiver als nicht autistische Personen (33). Gesichter scheinen eher detailorientiert und nicht holistisch wahrgenommen zu werden, was Probleme beim Identifizieren von Personen (4) und dem emotionalen Ausdruck (9) zumindest teilweise erklären kann. Über das gesamte Intelligenzund Altersspektrum hinweg wurde bei Menschen mit Autismus ein typisches Untertestprofil im HAWIE/ HAWIK-Intelligenztests festgestellt (10). Auffällig sind besonders die herausragenden

Fähigkeiten beim „Mosaik-Test“, bei dem die Zergliederung eines optischen Gesamtmusters in seine Einzelelemente erfolgt. Ähnliche Stärken werden bei Aufgaben wie dem „Eingebettete Figuren-Test“ beobachtet, bei denen Figuren, die in ein größeres Muster eingefügt sind, entdeckt werden sollen (5). Die Beobachtung des Zeichenstils von autistischen Personen zeigt, dass diese oft bei einem sekundären Teil des Objektes zu zeichnen beginnen und das Bild aus diesen Einzelteilen zusammensetzen (19 aber s.a. 28). Im Gegensatz dazu beginnen die meisten Menschen mit einer globalen Außenlinie und fügen dann die Einzelelemente ein. Zusammenfassend bestätigen Untersuchungen auf der Ebene der Wahrnehmungsorganisation einen wichtigen Baustein der Theorie der schwachen zentralen Kohärenz: Gesamtbilder können sehr gut in ihre lokalen Einzelmerkmale aufgegliedert werden. Diese Beobachtungen werden als Ausbleiben der in der normalen Entwicklung zunehmenden Loslösung von Details zugunsten eines globalen Vorrangs bei Autismus interpretiert (27). Befunde zum Identifizieren und Einordnen Die innere Repräsentation des Gesehenen muss an dieser Stelle des Wahrnehmungsprozesses mit vorhandenen Kategorien verglichen, identifiziert und eingeordnet werden. Nach der Theorie der schwachen zentralen Kohärenz wird erwartet, dass Menschen mit Autismus hier Mühe haben, verschiedene Informationen zu Bedeutungen

höherer Ordnung im Kontext zusammenzufassen (6). Grundlegend für die Prozesse des Identifizierens und Einordnens ist eine intakte Kategorienbildung. Autistische Menschen ohne intellektuelle Beeinträchtigungen haben in der Regel keine Schwierigkeiten, Objekte nach kategorialen Regeln zu sortieren (30). Einige Befunde deuten jedoch darauf hin, dass sie bei der Bildung von Kategorien eher starren Regeln folgen, statt Prototypen zu bilden. Hinweise darauf ergeben sich zum Beispiel in einem autobiographischen Bericht der autistischen Frau Temple Grandin (7), die beschreibt, dass sie keine verallgemeinerten Bilder von Kategorien bildet, sondern eine Art innere „Videothek“ von einzelnen Ereignissen und Informationen führt. Sie schreibt, dass sie bei dem Wort „Katze” alle ihr bisher begegneten Katzen vor Augen hat und keinen abstrahierten Prototyp der „durchschnittlichen“ Katze. Systematische Untersuchungen zu diesem Thema zeigen jedoch noch uneinheitliche Ergebnisse (14, 18). Autistische Menschen können sich inhaltlich zusammenhängende Wortreihen, bei denen die Wörter zu der gleichen Kategorie gehören (z.B. Giraffe, Hund etc. als Teil der Kategorie „Tiere“), oft genau so gut merken wie zufällig gewählte Wortfolgen (12, 31). Normalerweise kann man sich inhaltlich zusammenhängende Wörter hingegen besser merken als unzusammenhängende. Dies zeigt, dass autistische Menschen bedeutungsvolles Kategorienwissen seltener spontan aktivieren und dieses damit weniger nutzbar für sie wird. Ähnliche

Besonderheiten zeigen sich beim Lesen von Homographen (z. B. englisch „tear” – „Träne” oder „Riss”), bei denen die richtige Aussprache des Wortes aus dem Satzzusammenhang erschlossen werden muss. Autistische Kinder wählen hier oft die Aussprache, welche nicht in den Satzkontext passt (29). Werden sie aber darauf hingewiesen, auf die Bedeutung des Satzes zu achten, sprechen sie die Worte richtig aus. Die spontane Herangehensweise an Informationen scheint also detailorientiert zu erfolgen, wenngleich Bedeutungszusammenhänge erkannt werden können. Dieses Phänomen ist auch beim Puzzlen zu beobachten, was autistische Kinder oft gleich schnell können, egal ob die Teile mit dem Bild nach oben oder unten liegen. Normal entwickelte Kinder orientieren sich am bedeutungsvollen Gesamtbild des Puzzles, während autistische Kinder spontan auf den Umriss der Puzzleteile achten (6). Zusammenfassend zeichnet sich für die Ebene der Identifikation und des Einordnens eine Tendenz

ab, dass Menschen mit Autismus zwar grundsätzlich in der Lage sind, auf bedeutungsvolles Kontextwissen zurückzugreifen, dieses aber spontan weniger aktiviert wird. Insgesamt betrachtet lässt sich die Befundlage zur Wahrnehmung autistischer Menschen in Tabelle 1 zusammenfassen (ausführlichere Literaturangaben s. 21). Neue Annahmen zur schwachen zentralen Kohärenz Die dargestellten Ergebnisse zeigen, dass sich die Theorie der schwachen zentralen Kohärenz langfristig nur teilweise bestätigt hat. Während die Stärken bei der Detailverarbeitung durch viele Untersuchungen erwiesen wurden, scheinen nicht alle Menschen mit Autismus Probleme bei der globalen Verarbeitung zu zeigen. Angesichts dieses Forschungsstands haben Happé und Frith (11) die Theorie der schwachen zentralen Kohärenz weiter entwickelt. In der Neufassung gehen sie davon aus, dass eine schwache zentrale Kohärenz nicht zwangsläufig mit

Wahrnehmungsstufe

Besonderheiten bei Autismus

Reizaufnahme

Sensorische Probleme überdurchschnittlich häufig, aber nicht bei allen Menschen mit Autismus

Wahrnehmungsorganisation

Überdurchschnittliche Fähigkeit, Gesamtbilder in einzelne Merkmale aufzugliedern; Schwierigkeiten beim Wechseln der Aufmerksamkeitsrichtung; Fokus auf lokale Details aber nicht immer globale Probleme

Identifizieren und Einordnen

Intakter Zugriff auf bedeutungsvolle Informationen, gespeichertes Wissen und Kontextinformation aber geringe spontane Aktivierung; Möglicherweise geringe Prototypbildung beim Kategorisieren

Tab. 1: Übersicht zur Wahrnehmung autistischer Menschen

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globalen Problemen einhergeht, sondern eher als ein Vorzug gegenüber Details („local bias“) zu verstehen ist. Immer mehr Studien unterstützen diese Hypothese. So konnte in mehreren Untersuchungen von Müller und Nußbeck (Übersicht s. 21) gezeigt werden, dass sich Kinder mit Autismus spontan an Details orientieren, wenn sie mit widersprüchlichen Lösungsmöglichkeiten konfrontiert sind. Beispielsweise setzten sie im Vergleich zu nicht autistischen Kindern an das Bild eines Hundevorderteils in Abbildung 2 häufiger einen Schiffsbug (richtig im Detailübergang der Bemalung, falsch in der Bedeutung) an als einen nicht genau passenden Hundeschwanz (falsch im Übergang der Bemalung, richtig in der Bedeutung). In Kontrollaufgaben zeigte sich, dass sie dies taten, obwohl sie die richtigen Bedeutungszusammenhänge kannten. Auch beim Zuordnen von Bildern fand sich dieses Muster: Bei den Bildern in Abbildung 3 ordneten autistische Probanden der unteren Flasche häufiger als die Vergleichsgruppe den Mond zu, weil dieser in den kleinen quadratischen Details mit der Flasche übereinstimmte. Sie nahmen dabei in Kauf, dass konzeptuell eigentlich das Glas passt, welches aber in den Details nicht mit der Flasche übereinstimmt. Wurden die Probanden vor dem Zuordnen allerdings gebeten, die Bilder zu benennen, wechselte die große Mehrzahl der autistischen Kinder von einer detailorientierten zu einer bedeutungsorientierten Lösungsstrategie. Dies macht deutlich, dass die Aufforderung zum Benennen zu einer Bedeutungsaktivierung

Abb. 2: Zuordnen von Puzzleteilen nach Detail oder Bedeutung

führen kann, wenngleich spontan eine lokale Herangehensweise vorgezogen wird (22). Möglicherweise besteht ein solcher Vorzug nicht nur für Details, denn in einem weiteren Experiment orientierten sich autistische Kinder beim Zuordnen von Legofiguren häufiger als die Kontrollgruppe an der Farbe anstatt der Bedeutung der Figuren (21). Diese Befunde, welche von Studienergebnissen anderer Autoren unterstützt werden (13, 20), sind ein Hinweis darauf, dass sich Menschen mit Autismus öfter spontan an perzeptuellen Merkmalen orientieren, obwohl sie grundsätzlich konzeptuelle Zusammenhänge erkennen können. Die Stärke der Ausprägung einer Detailorientierung scheint zumindest für den bisher untersuchten Kreis von Personen ohne intellektuelle Beeinträchtigung empirisch nachweisbar mit dem Schweregrad autistischer Verhaltensweisen zu korrelieren (8, 2). Dies verdeutlicht das Potenzial der Theorie der schwachen zentralen Kohärenz

für die wissenschaftliche Erklärung autistischen Verhaltens und ermöglicht damit auch die Ableitung praktischer Unterstützungsmaßnahmen autistischer Menschen.

3. Schlussfolgerungen für die Unterstützung autistischer Menschen Für Begleiter von Menschen mit Autismus, die das Verhalten dieses Personenkreises häufig als sehr herausfordernd erleben, kann bereits das Wissen um den autistischen Wahrnehmungsstil eine Hilfe darstellen. Wissenschaftlich fundierte Kenntnisse zu diesem Thema ermöglichen es, autistisches Verhalten in seiner Fremdheit zumindest teilweise erklärbar zu machen und dadurch neue Handlungsoptionen zu gewinnen. Die schwache zentrale Kohärenz bietet beispielsweise Interpretationen für Schwierigkeiten der sozialen Interaktion: Um sich in sozialen Zusammenhängen angemessen verhalten zu können, müssen verschiedene Einzelinformationen einer Situation zu einem kohärenten Ganzen

zusammengefügt werden. Vernachlässigt beispielsweise ein Jugendlicher mit Autismus den sozialen Kontext einer Situation, kann dies zu Verhalten führen, das gegen soziale Normen verstößt. So ist das faszinierte Berühren des Ohrrings der Mutter zu Hause möglicherweise legitim, das gleiche Verhalten in der Öffentlichkeit von ihr aber nicht erwünscht. Wenngleich die Mutter dem Jugendlichen diese Regel schon oft gesagt hat, versucht er dennoch in der Bäckerei ihre Ohrringe zu berühren. Das Wissen zur schwachen zentralen Kohärenz bietet der Mutter hier die Option, dieses Verhalten nicht zwangsläufig als Provokation, sondern als spontan fehlende Berücksichtigung des Ortes als sozialem Kontext zu interpretieren. Um dem zu begegnen könnte man den Jugendlichen vor Betreten der Bäckerei darauf aufmerksam machen, dass man jetzt ein Geschäft besucht und mit ihm bei Bedarf noch einmal besprechen, welches Verhalten an diesem Ort angemessen ist. Stereotype Verhaltensweisen können im Kontext der Theorie

Abb. 3: Visuelle Illusion

der schwachen Kohärenz als Kompensation einer Unsicherheit in einer schwierig zu verstehenden Welt von Einzelheiten verstanden werden (2). Beispielsweise kann es aus pragmatischer Sicht unerheblich sein, ob ein Fernseher rechts oder links neben dem Wohnzimmerfenster steht. Die Bedeutung des Konzepts „Wohnzimmer“ bleibt für nicht autistische Menschen in beiden Fällen erhalten, denn alle bedeutungsvollen Merkmale bestehen weiterhin (z.B. Möglichkeit zum Sitzen und Fernsehen). Ist ein Mensch mit Autismus aber auf Details fixiert, kann das Verschieben eines Fernsehers das Gesamtkonzept des heimischen Wohnzimmers vollkommen durcheinander bringen, da dieses Konzept vor allem auf Einzelheiten (z.B. Fernseher links neben dem Fenster) beruht. Hier wird ersichtlich, dass eine Orientierung an Einzelheiten die Entwicklung von bedeutungsvollen Erwartungen und Regeln, welche dem Menschen Sicherheit geben, erschweren kann. Stereotype Verhaltensweisen, die immer gleich ablaufen, können vor diesem Hintergrund als

Bedürfnis nach Vorhersagbarkeit und Sicherheit interpretiert werden. Neben einem besseren Verständnis für Menschen mit Autismus lassen sich aus den Befunden zur zentralen Kohärenz auch konkrete Unterstützungsmaßnahmen ableiten. So kommt Begleitern bei Berücksichtigung einer schwachen zentralen Kohärenz die Aufgabe zu, Menschen mit Autismus „Erklärungsmöglichkeiten“ der Welt aufzuzeigen und Bedeutungszusammenhänge deutlich zu machen. Wird die Umwelt als konzeptuell unzusammenhängend erlebt, ist es umso wichtiger, klare äußere Strukturen anzubieten. So kann mit Hilfe von Bildkarten der Tagesablauf für autistische Menschen zumindest teilweise vorhersehbar werden (3). Damit diese einzelnen Bilder nicht wiederum „abzuarbeitende“, unverbundene Einzelschritte bleiben, sollten Zusammenhänge bewusst aufgezeigt werden, auch wenn diese für nicht autistische Menschen vielleicht selbstverständlich erscheinen. Um die inhaltliche Verbindung zwischen den Bildkarten „Essen“ und „Abwaschen“ hervorzuheben, könnte beim Besprechen des Tagesablaufs in einem Wohnheim beispielsweise verbal angefügt werden, dass nach dem Mittagessen das Geschirr schmutzig ist und abgewaschen werden muss, damit man es beim Abendessen wieder benutzen kann. Die Befunde zur Wahrnehmung autistischer Menschen deuten darauf hin, dass bei der Erstellung solcher Bildkartensysteme sensibel mit dem Einsatz von Details und Farbe umgegangen

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werden sollte. So ist es empfehlenswert, auf detailreiche Zeichnungen zu verzichten, da Einzelheiten von der Gesamtbedeutung des Bildinhalts ablenken. Eher angebracht erscheinen einfache Zeichnungen mit wenigen graphischen Elementen. Auch mit Farbe sollte sparsam umgegangen werden, da diese sonst zu sehr im Vordergrund steht und von der Bedeutung der Abbildung ablenkt. Die Vorliebe autistischer Menschen für Farben kann jedoch genutzt werden, indem mit wenigen prägnanten Farben die Aufmerksamkeit auf konzeptuelle Schlüsselreize gelenkt wird. Beispielsweise kann die Zuordnung von zusammengehörigen Dingen auf der Grundlage von Farbcodes geschehen (z.B. rote Jacke an roten Haken). Neben der generellen Förderung der Bedeutungsverarbeitung sollten autistische Personen auch bei der spontanen Aktivierung eines konzeptuellen Wahrnehmungsstils unterstützt werden. Die dargestellten Befunde deuten darauf hin, dass Menschen mit Autismus ausreichend Zeit für eine tiefgehende, elaborierte Verarbeitung von Informationen benötigen, um Bedeutungszusammenhänge zu aktivieren. Weiter sollte bei spezifischen Anforderungen zum Benennen von wichtigen Informationen ermutigt werden und eine tief gehende Verarbeitung durch gezielte Fragen aktiviert werden. Beispielsweise ließe sich in einer Kochsituation in der Küche fragen „Wo bist du hier? Was macht man hier? Was willst du hier tun? Was brauchst du dafür?“ um die Aufmerksamkeit von perzeptuellen Merkmalen der Umgebung (z.B. das Glänzen eines Löffels) auf konzeptuelle Zusammenhänge zu lenken.

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Zusammenfassend hat die Betrachtung des Forschungsstandes zur visuellen Wahrnehmung autistischer Menschen gezeigt, dass es zu kurz greift, bei Autismus von einer allgemeinen Wahrnehmungsstörung oder einem generellen Wahrnehmungsdefizit zu sprechen. Vielmehr wurde deutlich, dass es sich bei den Besonderheiten um einen spezifischen Wahrnehmungsstil handelt, der sowohl Stärken als auch Probleme mit sich bringt. Insbesondere bei schwerer beeinträchtigten autistischen Menschen bleibt es trotz dieser allgemeinen Befunde unerlässlich, individuellen Besonderheiten der Wahrnehmung nachzugehen. Das Muster einer schwachen zentralen Kohärenz wurde zwar auch bei autistischen Personen mit einer zusätzlichen geistigen Behinderung nachgewiesen (32); trotzdem bleibt Autismus ein sehr heterogenes Störungsbild, bei dem Generalisierungen auf den Einzelfall zurückhaltend erfolgen müssen und stets individuell überprüft werden sollten.

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Delfintherapie für Kinder mit Behinderungen edition bentheim Würzburg 2006. 142 S., gebunden, viele farbige Abb. ISBN 978-3-934471-59-7 19,50 Euro

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In einem gemeinsamen Forschungsprojekt zwischen der Universität Würzburg und dem Tiergarten Nürnberg wurde in einem ersten Schritt ein theoretisch fundiertes Konzept zur Delfintherapie entwickelt. Mit seiner Hilfe wird beschrieben, was unter Delfintherapie zu verstehen ist, also wie die Behandlung ganz konkret aussieht und wie die Wirkweise der Delfintherapie bei schwer behinderten Kindern erklärt werden kann. In einem zweiten Schritt wurde dann dieses Konzept von Delfintherapie auf seine Wirksamkeit hin überprüft. Die dabei erzielten Ergebnisse zeigen, dass Eltern schwer behinderter Kinder stabile positive Veränderungen im sozialemotionalen und kommunikativen Verhalten ihrer Kinder wahrnehmen, die eindeutig auf die Delfintherapie zurück zu führen sind.

www.edition-bentheim.de

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