Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt

2 Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt Zunächst muss erwähnt werden, dass eine erwünschte Auswirkung, nämlich ein Rückgang der Arbeitslosigkeit, nur se...
Author: Stephan Kolbe
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Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt

Zunächst muss erwähnt werden, dass eine erwünschte Auswirkung, nämlich ein Rückgang der Arbeitslosigkeit, nur sehr bedingt zu merken ist. Mit Ausnahme von Deutschland, wo die Arbeitslosenquote seit 2008 kontinuierlich abgenommen hat, beklagen fast alle Länder Europas in den letzten Jahren eine mehr oder weniger große Zunahme derselben. Vor allem die Länder Südeuropas sehen sich mit der dramatischen Situation konfrontiert, dass dem vielleicht negativsten Aspekt der demografischen Veränderung – der niedrigen Geburtenrate – gleichzeitig eine sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit gegenübersteht.1 Ohne auf die wirtschaftlichen Krisensituationen einzelner Länder einzugehen, soll an dieser Stelle auf einen zentralen Aspekt hingewiesen werden: Während die Bemessungszeiträume für die meisten volkswirtschaftlichen Parameter und Entwicklungen relativ kurzfristig sind, rechnen Demografen meistens in Dekaden oder noch längeren Zeiträumen.2 Da es hier um die demografische Entwicklung der Gesellschaft geht, sollen die volkswirtschaftlichen Parameter nur insoweit betrachtet werden, als sie direkt davon beeinflusst sind. Der oben beschriebene demografische Wandel wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vor allem die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter direkt treffen. Für den Arbeitsmarkt werden dabei vier Aspekte eine besondere Rolle spielen: die generelle Verfügbarkeit von Arbeitskräften, deren Alter, deren Qualifikation und deren Herkunft. Eine hohe Erwerbstätigenquote bzw. eine hohe Qualifizierung der Erwerbstätigen tragen wesentlich zum Wohlstand eines Landes bei. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes kann grundsätzlich auch daran festgemacht werden, wie viele Arbeitskräfte es gibt Ein kausaler Zusammenhang kann an dieser Stelle nur vermutet werden. Hingegen zeigen mehrere internationale Vergleiche keinen direkten Zusammenhang zwischen höheren Erwerbsquoten Älterer und einer höheren Arbeitslosigkeit Jüngerer. 2  Welcher Volkswirt interessiert sich schon für das Jahr 2030, welches für Demografen praktisch schon vor der Tür steht und kaum mehr beeinflussbar ist? 1 

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015 H. Troger, 7 Erfolgsfaktoren für wirksames Personalmanagement, DOI 10.1007/978-3-658-10398-9_2

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Abb. 2.1   Entwicklung der erwerbstätigen Bevölkerung in Deutschland. (Daten: Statista 2015)

und wie qualifiziert diese sind. Es liegt auf der Hand, dass vor allem der erste Aspekt ganz entscheidend von demografischen Größen beeinflusst wird.

2.1 Immer weniger Erwerbstätige Ein Blick auf die Statistik in Deutschland scheint zunächst nur einen Schluss zuzulassen: Titel verfehlt. Seit 2005 ist die Zahl der Erwerbstätigen nämlich jedes Jahr angestiegen – auf knapp 43 Mio. im Dezember 2014 (vgl. Abb. 2.1). Dafür gibt es vor allem zwei konkrete Gründe: die gestiegene Erwerbsquote von Frauen und die hohe Zuwanderung aus Süd- und Osteuropa. Auch der Arbeitseinsatz älterer Menschen, die in früheren Zeiten bereits in Rente wären, scheint sich langsam bemerkbar zu machen. Voraussetzung für diese Entwicklung ist jedoch die positive wirtschaftliche Lage Deutschlands, die dazu geführt hat, dass die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze kontinuierlich gestiegen ist. Wir bewegen uns hier jedoch in den mittel- und langfristigen Sphären (alternativ: Dimensionen) der Demografie und dort wird sich die genannte Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung unweigerlich auch auf die Anzahl und Struktur der Erwerbstätigen auswirken. In den nächsten 15 Jahren werden die geburtenreichen Jahrgänge der Babyboomer, die derzeit noch einen Großteil der Erwerbsbevölkerung ausmachen, aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Gleichzeitig rücken immer weniger junge, qualifizierte Kräfte nach, was für die Unternehmen allgemein einen Verlust an Innovationskraft und Produktivität befürchten lässt.3 Auf den damit verbundenen gesellschaftlichen Wohlstandsverlust aufgrund sinkender Beitragszahlungen und steigender Sozialausgaben kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.

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In Europa wird zwischen 2013 und 2020 der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter voraussichtlich um 7,5 Mio. zurückgehen. Ohne den positiven Effekt der Zuwanderung würde diese Abnahme in der EU-28 gar 12 Mio. betragen (Europäische Kommission 2015). Während man in den Ländern Südeuropas noch unter den Folgen der längsten Wirtschaftsrezession der Nachkriegszeit leidet und Arbeitslosenzahlen über 25 % (bei Jugendlichen sogar bis zu 50 %) beklagt, sieht die Situation in Deutschland und den meisten nördlichen Nachbarländern anders aus. Stabile bis rückläufige Arbeitslosenzahlen4 und bereits jetzt ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften – besonders in peripheren Gebieten – kennzeichnen den deutschen Arbeitsmarkt. Eine vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS 2013) in Auftrag gegebene Studie hat ergeben, dass die Bevölkerung im Erwerbsalter infolge des demografischen Wandels und ohne „Gegenmaßnahmen“ bis 2030 um über 6 Mio. sinken würde. Die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen und Älteren in den letzten Jahren sowie der positive Zuwanderungssaldo ab 2011 lassen hoffen, dass die Negativ-Szenarien nicht in der genannten Dimension eintreten werden. Dennoch wird das begrenzte Angebot an Fachkräften auch weiterhin die Diskussion auf dem deutschen Arbeitsmarkt bestimmen.

2.2 Arbeiten bis ins hohe Alter Als Deutschland unter Otto Bismarck 1889 das Gesetz zur Alters- und Invaliditätsversicherung einführte, konnte ein Arbeiter mit 70 Jahren in Rente gehen. 2014, also 125 Jahre später, sind es gerade mal drei Jahre früher (seit 2012 läuft die stufenweise Anhebung auf 67 Jahre) – bei wesentlich einfacheren Arbeitsbedingungen. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Arbeiters lag zu Bismarcks Zeiten bei gut 40 Jahren, während er heute fast doppelt so alt werden kann. Nicht die drei Jahre machen also den Kostenunterschied für die Rentenkassen aus, sondern die unvergleichlich längere Rentenbezugsdauer. Laut Berechnungen der Europäische Kommission (2014) wird sich die Zahl der über 64-jährigen Europäer bis 2060 mehr als verdoppelt haben. Der Anteil der über 79-Jährigen wird sich in diesem Zeitraum sogar fast vervierfachen. Demgegenüber wird der Anteil der EU-Bürger im klassischen Erwerbsalter von 20 bis 64 Jahren deutlich sinken: Nur jeder zweite Europäer wird zu dieser volkswirtschaftlich besonders produktiven Altersgruppe zählen. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass die größte Herausforderung für die europäischen Rentensysteme darin besteht, ein angemessenes Rentenniveau zu erreichen oder zu halten, und zugleich die zukünftigen Erwerbstätigen nicht zu stark zu belasten. Wie soll das gelingen? Indem immer mehr Menschen immer länger arbeiten.

Die Arbeitslosigkeit betrifft mittlerweile fast nur mehr sogenannte schwer Vermittelbare und Erwerbstätige mit sehr niedriger Qualifikation.

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In vielen europäischen Ländern sind gegenwärtig zwei gegenläufige Tendenzen zu beobachten: Auf der einen Seite möchten viele Unternehmen ihre älteren Mitarbeiter (in der Regel so ab 55) oft gern in Frührente schicken. Im besten Fall, um sie durch junge (und günstigere) High-Potentials zu ersetzen, und im schlechtesten Fall, um in wirtschaftlichen Notsituationen Personal abzubauen. Auf der anderen Seite erhöht die Politik sukzessive das gesetzliche Renteneintrittsalter und schafft Anreize, damit Arbeitnehmer wieder länger berufstätig bleiben. Erwerbstätige, die früher in Ruhestand gehen, sollen spürbar weniger Rente erhalten als jene, die länger arbeiten. Im Grunde möchte man wieder in die Situation der 70er Jahre zurück, wo in den meisten europäischen Ländern ein Pensionsalter von 70 Jahren die Normalität war. Beispielsweise arbeiteten die Menschen in der Schweiz und in Portugal bis zum 73. Lebensjahr. Die seitdem eingeführten nationalen Vorruhestandsprogramme senkten das Renteneintrittsalter in den letzten Jahrzehnten immer weiter. Und noch heute verlassen viele Erwerbstätige in Europa den Arbeitsmarkt, bevor sie 60 Jahre alt werden bzw. bevor sie das gesetzliche Renteneintrittsalter erreicht haben. Mit Blick auf die Geburtenentwicklung einerseits und auf die steigende Lebenserwartung andererseits müsste die Entwicklung genau in die entgegengesetzte Richtung laufen. Rein ökonomisch betrachtet ist der Kollaps des Rentensystems ansonsten vorprogrammiert und nur eine Frage der Zeit. Obwohl die Lebenserwartung in Europa kontinuierlich rund drei Jahre pro Jahrzehnt wächst, findet eine Anpassung des Rentenalters nur sehr zögerlich statt – die Rente mit 67 wurde in den betroffenen Ländern als Errungenschaft gefeiert, wird aber bei weitem nicht ausreichen. Früher oder später wird man nicht umhin kommen, das Renteneintrittsalter mit einer größeren Flexibilität an die Lebenserwartung zu koppeln. Seit etwa 100 Jahren liegt das Renteneintrittsalter bei rund 65 Jahren, während die Lebenserwartung um rund 30 Jahre gestiegen ist. Im Grunde ist also die veranschlagte Lebenserwartung heute genauso unrealistisch wie um 1900 bei der Einführung der Rente (Schwentker und Vaupel 2011). Abbildung 2.2 zeigt die Entwicklung der Erwerbstätigenstruktur in Deutschland.

2.3 Es fehlt an „MINT’s“ Ein 25-jähriger MINT müsste man sein, und zwar nicht ein akademisch gebildeter MINT, sondern einer mit Fachausbildung. Die meisten Unternehmen in Europa würden den roten Teppich ausrollen und die (Arbeits-)Welt zu Füßen legen. MINT steht nämlich nicht nur für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, die Abkürzung steht auch für eine große personelle Lücke bei vielen Unternehmen Europas, die Ingenieure und Facharbeiter benötigen. Laut den Erhebungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW 2014) fehlten Deutschland im Herbst 2014 rund 124.000 Fachkräfte aus den sogenannten MINT-Bereichen. Gesucht werden aber nicht die schon gewohnt raren Ingenieure und Physiker, sondern vor allem Arbeitskräfte mit einer MINT-Berufsausbildung.

2.3 Es fehlt an „MINT’s“

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Abb. 2.2   Erwerbstätige nach Altersgruppen. (Daten: Statista 2015)

Zwei Drittel der offenen Stellen entfallen auf Facharbeiter, Meister oder Techniker. Vor allem der Fachkräftemangel im Bereich der Nicht-Akademiker wird sich in Zukunft nach Ansicht aller Experten noch deutlich verschärfen. Bis zum Jahr 2020 macht der MINT-Herbstreport von 2014 des IW eine Lücke von 1,3 Mio. Fachkräften aus, wovon rund die Hälfte aus Altersgründen ausscheiden werden. Aber selbst diese demografischen „Nachbesetzungen“ werden nicht vollständig gelingen, da hier auch die Zuwanderung nur bedingt Abhilfe schaffen kann: das hierzulande so erfolgreiche duale Ausbildungssystem kennt man im Ausland kaum. Weniger dramatisch sieht die Situation bei Akademikern aus: Die Lücke von derzeit (Herbst 2014) knapp 50.000 fehlenden MINT-Kräften mit Hochschulabschluss werde sich bis zum Jahr 2020 nur auf rund 70.000 erhöhen. Diese Lücke könne aber leicht geschlossen werden, wenn weiterhin hochqualifizierte Zuwanderer nach Deutschland kommen (IW 2014). Von einigen Autoren wird bereits vor einer Akademikerschwemme gewarnt, die den Wirtschaftsstandort Deutschland gefährden würde – weil eben auf der anderen Seite die Handwerker ausgingen. Ein eindeutiger Aufruf an die Bildungspolitik des Landes (Borstel 2014). Tatsache ist jedenfalls, dass immer mehr junge Menschen ein Studium beginnen – eine Lehre ist für sie dagegen immer weniger attraktiv. Zwischen 2006 und 2012 stieg die

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Zahl der Universitätsstudenten in Deutschland um 25 %, die Zahl der Abitur-Anwärter um 16 %. Dagegen ging die Zahl der Teilnehmer an einer beruflichen Ausbildung im gleichen Zeitraum um fünf Prozent zurück. Während die Zahl der Schulabgänger aus Haupt- und Realschulen in den letzten zehn Jahren um 150.000 sank, stieg die Zahl der Abiturienten im selben Zeitraum um 90.000 (Statistisches Bundesamt 2014). Vor allem das Handwerk und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) warnen vor dem zunehmenden Trend zur Akademisierung. Der Handwerkspräsident forderte ein Umdenken in der Gesellschaft: „Berufliche Bildung ist gleichwertig der akademischen Bildung – diese Botschaft muss nun bei den Menschen ankommen.“ „Dem Wirtschaftsstandort Deutschland droht nachhaltiger Schaden, wenn der Trend zur Akademisierung um jeden Preis nicht gestoppt wird“, warnt auch DIHK-Präsident Eric Schweitzer. Jahrelange Forderungen nach einer Erhöhung der Studierendenquote hätten dazu geführt, „dass Hörsäle aus allen Nähten platzen, während Unternehmen händeringend Azubis suchen.“ (DIE WELT vom 07.02.2014) Auf diese Entwicklung hin zu einer möglichen „Über-Akademisierung“ wurde bereits 2010 aufmerksam gemacht, als das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) in Kooperation mit dem Fraunhofer Institut für Angewandte Informationstechnik (Fraunhofer-FIT) und der Gesellschaft für wirtschaftliche Strukturforschung (GWS) die ersten Modellrechnungen im Rahmen der BIBB-IAB-Qualifikations- und Berufsfeldprojektionen (QuBe-Projekt) vorgelegt haben (Helmrich und Zika 2010). Unter anderem wurde schon damals festgestellt, dass nicht bei den Akademikern, sondern vor allem auf der mittleren Qualifikationsebene (Berufsfachschulen und Abschlüsse nach dem dualen System) mit einem Fachkräfteengpass zu rechnen ist, der sich spätestens gegen Ende des damaligen Projektionszeitraums 2025 bemerkbar machen wird. Offensichtlich hat sich die prognostizierte Entwicklung wesentlich schneller vollzogen. Insbesondere Gesundheits- und Sozialberufe sowie der Gastronomie- und Reinigungssektor wurden als die Berufshauptfelder identifiziert, bei denen am ehesten mit einem Fachkräfte- beziehungsweise Arbeitskräfteengpass zu rechnen sein wird. Demografie-bedingt werden im Zeitraum zwischen 2015 und 2030 über 15 Mio. Erwerbspersonen den deutschen Arbeitsmarkt verlassen, während im gleichen Zeitraum lediglich rund 13  Mio. neu auf den Arbeitsmarkt kommen (BiBB-Report 2014). Zudem verteilt sich dieser Neuzugang nicht proportional auf alle Qualifikationsebenen. Während aus der mittleren Qualifikationsebene knapp 9 Mio. Erwerbspersonen aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und nur rund 6,2 Mio. neu hinzukommen, verzeichnet der akademische Bereich sogar einen größeren Zulauf (4 Mio.) als Abgang (2,6 Mio.). Insgesamt wird sich die Zahl der Erwerbspersonen bis 2030 auf 41,8 Mio. (− 4,8 %) verringern (vgl. Abb. 2.3). Der Rückgang beträgt bei Erwerbspersonen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung 11,5 %, bei Fachschulabsolventen, Meistern und Technikern 4,5 % und bei Erwerbspersonen ohne abgeschlossene Berufsausbildung 7,2 %. Hingegen steigt die Zahl der Akademikerinnen und Akademiker um insgesamt 17 % und erhöht damit ihren Anteil an allen Erwerbspersonen von heute 18,6 auf 23 % im Jahr 2030. Gleichzeitig sinkt der Anteil

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der Erwerbspersonen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung von derzeit 52,2 auf 48,5 % im Jahr 2030. Ohne im Detail auf die einzelnen Berufskategorien einzugehen, sei im Hinblick auf die Berufsfelder zusammenfassend festgehalten, dass es aufgrund der genannten hohen Abiturienten- und Akademikerrate in den nächsten Jahren auf dem Arbeitskräftemarkt wohl ein Überangebot im Bereich der „Lehrenden Berufe“ und der „Büro- und kaufmännischen Dienstleistungsberufe“ geben wird. Spüren werden das auf der Nachfrageseite vor allem die technischen und sozialen Berufe. In den Berufsfeldern „Logistik“ und „Transport“ im weitesten Sinne sowie die in den bereits erwähnten Bereichen der Gastronomie und der Reinigungsberufe, aber vor allem auf dem breiten Feld der Gesundheits- und Sozialberufe wird es in den nächsten Jahren ohne entsprechende Maßnahmen – Flexibilität der Erwerbspersonen, Bildungsmaßnahmen seitens Politik und Unternehmen, Zuwanderung – zu Engpässen kommen.

Abb. 2.3   Entwicklung der Erwerbspersonen nach Qualifikationsniveau. (Daten: BiBB-Reporte 18/2012 und 23/2014)

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2.4 „Multikulti“ am Arbeitsplatz 1.226.000 Menschen sind laut Statistischem Bundesamt im Laufe des Jahres 2013 nach Deutschland zugewandert. Bei gleichzeitig 789.000 Abwanderern ergibt das einen positiven Saldo von 437.000 Einwanderern. Ein neuer Rekordwert für Deutschland und – darin sind sich Volkswirte, Betriebswirte und Sozialwissenschaftler einig – ein Segen für den deutschen Arbeitsmarkt. War noch 2009 eine Netto-Abwanderung zu verzeichnen, so ist Deutschland in den letzten Jahren für Arbeitskräfte aus dem Ausland zunehmend attraktiver geworden und hat sich seinerseits stärker für Zuwanderer geöffnet – Stichwort „Willkommenskultur“ (Alichniewicz et al. 2014). Laut OECD war Deutschland für die Jahre 2012 und 2013 das zweitbeliebteste Einwanderungsland nach den USA, noch vor den klassischen Einwanderungsländern Kanada und Australien. Experten gehen davon aus, dass diese Zahlen in den kommenden Jahren wieder deutlich zurückgehen werden. Denn zum einen entfallen über 75 % der derzeitigen Nettozuwanderung auf süd- und osteuropäische Staaten, die selbst stark von den oben genannten demografischen Phänomenen Alterung und Geburtenrückgang betroffen sind.5 Entsprechend ist davon auszugehen, dass sich die betroffenen Länder gegen diesen Brain Drain wehren werden. Auf der anderen Seite sind die Wirtschaftskrise in den genannten Ländern und der damit einhergehende Rückgang von Arbeitsplätzen der Hauptauslöser für diese Migrationsbewegungen. Es ist also davon auszugehen, dass in den nächsten Jahren sehr viele dieser Arbeitskräfte Deutschland wieder verlassen werden. Experten empfehlen deshalb auch verstärkte Bemühungen um Fachkräfte aus demografisch starken Regionen wie Indien, Indonesien oder Vietnam (z. B. Geis 2014). Die nachfolgende Grafik zeigt die bedeutendsten Herkunftsländer der Zuwanderer in Deutschland (Abb. 2.4).

2.4.1 Mobile junge Zuwanderer aus Süd-Ost Es gibt in Deutschland rund 16 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund, also knapp 20 % der gesamten Bevölkerung (BiB 2013). Das Durchschnittsalter der Zuwanderer liegt bei 33 Jahren, also rund zehn Jahre unter dem der einheimischen Bürger. Ein Blick auf die Bevölkerungspyramide zeigt, dass alle Altersgruppen bis etwa 40 Jahre signifikant stärker besetzt sind (vgl. Abb. 2.5). Hierfür können vor allem zwei Gründe genannt werden: Zum einen weisen jüngere Altersgruppen naturgemäß eine höhere Mobilität auf; zum anderen liegt das Geburtenniveau bei Frauen mit Migrationshintergrund etwas über jenem des Bevölkerungsdurchschnitts.6 Eine Erhebung der zwischen 1999 und 2009 zugewanderten Personen ergab 2011 einen sehr hohen Grad an Erwerbsfähigkeit (Europäische Kommission 2011): über 85 % der Die bedeutendsten Herkunftsländer waren 2013 und 2014 Polen, Rumänien, Bulgarien, Türkei, Italien, Ungarn und Spanien. 6  Dies gilt nicht für die Kategorie der Ausländer, wo das Geburtenniveau darunter liegt. 5 

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Abb. 2.4   Zuwanderer nach Herkunftsländern. (Daten: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Migrationsbericht 2013, Januar 2015)

Migranten befanden sich im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 65 Jahren. Im Vergleich dazu waren zum selben Zeitraum nur 66 % der Gesamtbevölkerung Deutschlands im erwerbsfähigen Alter. Besonders interessant für den Fachkräftebedarf am Arbeitsmarkt ist die Altersgruppe zwischen 25 und 35 Jahren, da diese in der Regel ihre Ausbildung abgeschlossen und gleichzeitig noch den Großteil ihres Erwerbslebens vor sich hat. Während der Anteil dieser Altersgruppe an der deutschen Gesamtbevölkerung bei 12 % liegt, fällt mehr als ein Drittel der Migranten in diese für den Arbeitsmarkt so wertvolle Gruppe (Geis 2012). Nur am Rande erwähnt seien in diesem Zusammenhang die Vorteile für die hiesigen Sozialversicherungen, die infolge des demografischen Wandels einen wachsenden Finanzierungsbedarf haben. Bereits heute ist aufgrund der günstigen Altersstruktur unter den zugewanderten Personen der Anteil sozialversicherungspflichtig Beschäftigter höher als unter den in Deutschland Geborenen. An dieser Stelle sei auch ein kurzer Hinweis auf den Hauptgrund für die Migrationsbewegungen – abgesehen von politischen Verfolgungen – gegeben: keineswegs die Sozialleistungen oder sonstige Wohlfahrtseinrichtungen eines Ziellandes geben den Ausschlag,

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Abb. 2.5   Bevölkerungsstruktur mit und ohne Migrationshintergrund. (Daten: Statistisches Bundesamt 2013)

sondern Beschäftigung und Einkommen bilden die Triebfedern der Arbeitskräftemobilität in Europa (Boll et  al. 2014). Die Mär von der sogenannten Wohlfahrtsmigration kann nicht bestätigt werden: die jungen Menschen gehen ganz einfach dorthin, wo es gutbezahlte Jobs gibt. Weder wurde Schweden nach seiner relativ frühen Ost-Öffnung zum Ziel einer solchen Migration, noch gibt es derzeit in Mitteleuropa ein statistisch relevantes und signifikantes Phänomen dieser Art. Auch die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien der letzten Jahre lässt sich weitestgehend als „Arbeitsmigration“ bezeichnen (Biavaschi und Zimmermann 2014).

http://www.springer.com/978-3-658-10397-2

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