Augenblicke im Leben eines Menschen von Roland Stickel - Teil 2

Augenblicke im Leben eines Menschen – von Roland Stickel - Teil 2 Klein Klärus liegt im Bett, der Kopf ist heiß, die Glieder schmerzen und er bemüht ...
Author: Gitta Krause
0 downloads 0 Views 166KB Size
Augenblicke im Leben eines Menschen – von Roland Stickel - Teil 2

Klein Klärus liegt im Bett, der Kopf ist heiß, die Glieder schmerzen und er bemüht sich, sich ohne Unterstützung der Hände im Bett aufzurichten. Dies konnte er ja bisher und nun, bei immer wieder erneuten erschreckenden Versuchen zuerst über Seitenlage, zuletzt Bauchlage mit Abstützen beider Hände, von Mal zu Mal immer weniger und schließlich geht es gar nicht mehr. Das Aufrichten aus eigener Kraft. Er ist völlig gelähmt. Der Krankenwagen kommt, die Eltern weinen. Klein Klärus redet zu ihnen mit tröstenden Worten, als die Sanitäter ihn aus der Wohnung bringen. Es ist ein schreckliches Gefühl, in diesem Zustand von den zwei fremden, weiß bekittelten Männern auf der Tragbahre festgeschnallt zu werden. Er spürt unbewusst, dass er jetzt nicht leiden darf. Mit den Eltern leiden würde für sie mehr Leid bedeuten. Das will er nicht. Das weiß er intuitiv. Es ist einsam und dunkel um ihn. Die Nacht alleine im Krankenhaus, in einem Gitterbett, ein gedämpftes Licht hinter dem Glasfenster der Eingangstüre spendet einen rudimentären Trost. Niemand hört ihn, wenn er versucht, mit seiner restlichen Stimme zu rufen. Klein Klärus riecht ständig den Geschmack von Pfefferminztee, mit dem er das nach Zitrone schmeckende Medikament einnimmt, das er in dieser Nacht erbrechen wird. Klärus fühlt sich völlig alleine. Getrennt von allem, was ihm lieb ist. Niemand ist da, der bei ihm wacht. Klärus weiß nicht, dass er überhaupt nicht alleine ist. Der Ganz Große Liebe Geist ist völlig nah. Li Mai und viele Wesenheiten von seiner geistigen Familie sind in diesem Raum. Nur, er sieht sie nicht. Er spürt nicht ihren Trost. Oder ist sein Gefühl der Teilnahmslosigkeit an seinem eigenen Wesen, seine Schicksalsergebenheit, was ihn irgendwie beruhigt, ihrer Anwesenheit zuzuschreiben? Und irgendwo erblickt zu dieser Stunde ein neuer Erdenbürger das Licht der Welt, um zu erfüllen, was versprochen wurde, ganz im Sinne des Ganz Großen Liebe Geistes. Aber all dies weiß Klärus nicht bewusst. Klärus verbringt drei Monate auf der Intensivstation, sein Bett steht neben der sogenannten Eisernen Lunge, damit er bei stärker werdender Atemnot mit dieser beatmet werden kann. Er ist ganzkörperlich gelähmt und kann nichts mehr bewegen. Für Monate liegt er zum Schutz für andere Menschen isoliert. Die Eltern können durch eine Glastüre mit ihm reden. Wie es denen in dieser Zeit so geht, bekommt er nicht mit. Wenn sie da sind, zeigen sich alle mit einem Lachen im Gesicht. Später liegt er in einem Massenquartier. Sein ganzer Körper steckt in einem Gipsbett. Einer harten Schale, in der sein Körper mit Binden fixiert wird. Beim Anpassen dieses Gipsbettes, in dem auch die Beine geformt wurden, brechen die unsensiblen Modelleure fast einen Fuß. Sie hören nicht auf das Jammern des kleinen Klärus. Wochenlang tut das zusätzlich weh. Er kann sich schon deswegen nicht bewegen. Viele Kinder liegen nebeneinander. Eltern dürfen nicht dabei sein. Rechts neben ihm ein Schreibtisch. Die Nachtwache sitzt da die Nacht ab. Außerdem hat er in dieser Zeit eine Vision, ein inneres Bild. Was es bedeutet, weiß er erst später. Er sieht eine Gruppe buddhistischer Mönche, welche ihm sagen: „Wenn du mal nicht mehr weiter weißt, dann komme zu uns.“ An dieses Bild erinnert er sich später. Auch hört er aus einem Radiogerät, welches auf einem Regal über dem Nachtwachenschreibtisch steht, die Stimme eines Mannes, den er vierzig Jahre später erst kennenlernen wird. Das weiß er jetzt aber natürlich auch noch nicht. Nach anfänglicher völliger Gelähmtheit ist er nach zahlreichen Aufenthalten in eigens für solche Kinder bestehenden Heileinrichtungen wieder soweit, laufen und wieder am üblichen Leben teilnehmen zu können.

In diesen Einrichtungen vermeidet man den Kontakt der Kinder zu ihren Eltern. Schon Wochen vor der Fahrt in diese Heilanstalten hat Klein Klärus Angst vor der Trennung. Diese Fahrten dort hin sind schrecklich. Klärus hat dann immer einen Kloß im Hals und es ist ihm regelmäßig schlecht. Nur die Freundlichkeit der dortigen Schwestern ist ihm ein kleiner Trost. Dann kommt der Abschied von den Eltern und Klärus versinkt in der Einsamkeit des Heimwehs. Wie es dann so ist, die kleinen Menschen gewöhnen sich an solche Umstände und es tritt ein Alltag ein, der vergessen macht. So wird es empfunden. Nach vier Wochen dürfen die Eltern für einen Nachmittag kommen. Eine Woche vorher beginnt die Aufregung, die sich immer mehr steigert. Am Besuchstag steht er schon am Morgen in seinem Rollstuhl am Jägerzaun des Freigeländes, um auf seinen Besuch zu warten. Dann ist der Besuch da und mit ihm ein Stück Seligkeit. Aber schon zwei Stunden vor dem Abschied ändert sich Seligkeit in Schmerz. In der Schule wird er anfänglich wegen seiner Körperlichkeit viel gehänselt, ja sogar getreten. Auch Kinder können grausam sein. Er erlebt aber auch, dass Kinder sich liebevoll um ihn kümmern. Die Eltern kaufen sich einen kleinen Handwagen, der in der Mitte eine Achse mit zwei Rädern hat. Da wird Klärus zum Transport in die Schule hineingesetzt. Damit er die Füße ausstrecken kann, wird die Rohrumrandung des Wagens am Fußende einfach weggesägt. In der Schule läuft Klärus mit zwei Stöcken und immer, wenn die Mutter den Sohn abholt oder in die Schule bringt, bildet sich beim Einoder Aussteigen eine riesige Kindertraube um die beiden. Das ist dem Klärus total peinlich, weiß er doch um seinen unnormalen Status. Der Vater leidet unter seinem Sohn, auch die Mutter lebt mit viel Kummer und Mehrarbeit. Der kleine Klärus weiß nicht, dass es in dieser Zeit eine Schande ist, ein körperlich behindertes Kind zu haben. Für den Vater ist es eine Strafe des Ganz Großen Liebe Geistes. Klärus ist ständig bemüht, so zu sein, wie Kinder ohne Belastung. Er sieht die Trauer der Eltern und zeigt ihnen deswegen ständig körperliche Fortschritte. Seit dieser Zeit ist er stets bemüht, körperlich so zu sein wie andere Menschen auch. Später kann er sich dann recht gut selbständig vorwärts bewegen. Die meiste Zeit seiner Fortbewegung verbringt er auf dem Fahrrad. Anfangs mit Stützrädchen, dann, recht schnell, ohne. Das rechte Bein steht einfach auf dem Pedal. Da es keine Kraft hat, wird es immer wieder mit dem rechten Arm gekonnt in Position gebracht. Mit dem linken Bein bringt er das Gerät vorwärts. Beim Nachuntendrücken mit dem linken Bein wird das rechte nach oben befördert, dann muss der oberste Punkt überwunden werden, damit das Gewicht des rechten Beines und der nachlassende Druck des linken dieses dann wieder nach oben bringt. Das Ganze ist doppelt so anstrengend wie für Zweifüßler, aber er kommt so gut vorwärts und ist relativ unabhängig. Zahlreiche Stürze begleiten seinen Weg, denn nur links kann er beim Anhalten das Rad abstützen. Bekommt er zufällig mal das Übergewicht nach rechts, gibt es kein Halten mehr. Hinterm Haus, in dem die Familie von Klärus wohnt, gibt es einen Hof und einen angrenzenden Garten. Der Hof darf von den Mietern betreten werden, der Garten nicht. Der gehört dem Hausbesitzer und darf nur von ihm benutzt werden. In der Mitte des Hofes steht eine riesige Fichte, die Klärus immer wieder berühren muss. Daneben ein uralter Schuppen mit einer Schaukel. In den Nachbarhof kann Klärus nicht sehen. Das verhindert eine hohe Mauer. Vom Balkon der Wohnung im unteren Stockwerk kann Klärus das Küchenfenster der Nachbarswohnung sehen. Eines Tages hört er Glas splittern und lautes Schreien. Klärus wird Zeuge, wie der Nachbar aus dem irdischen Leben scheiden will. Der will sich am Fensterkreuz aufhängen, aber seine Frau sieht das von außen, kommt hinzu, schlägt mit der Faust die Fensterscheibe ein und versucht zu retten, was zu retten ist. Die Mutter von Klärus rennt schnell in die Werkstatt des Vaters und holt diesen zur Verstärkung. Der Mann wird dann vom Krankenwagen abgeholt. Klärus ist es schlecht nach dem Erlebnis. Die Schulzeit ist für Klärus fast immer angstbesetzt. Er scheint einfach für so ein Bildungssystem nicht geschaffen zu sein.

In der Volksschule muss beim Musikunterricht zur Notenvergabe jedes Kind einzeln ein Lied singen. Dazu muss es nach vorne kommen und mit dem Gesicht zur Klasse gewendet neben das Klavier des Lehrers stehen. Das ist für viele der reinste Horror. Klärus, der immer wieder sein Handicap vor anderen Menschen verbergen will, hat hier ein zusätzliches Problem. Nach vorne laufen, sich umdrehen, die dreißig Kinder sehen, die ihn anstarren, und als wäre das noch nicht genug, soll er jetzt auch noch ein Lied seiner Wahl singen. Der Lehrer wartet. Er wird das Lied auf dem Klavier begleiten. Klein Klärus steht da, hat kein Blut mehr, das Gehirn arbeitet nicht mehr. Aus. Immer wieder versucht der Lehrer, ihm klar zu machen, dass er ihm ohne Lied keine Musiknote geben kann. Nach ewiger Zeit presst der unter Schock stehende Klärus eine Strophe von „What shall we do with the drunken sailor“ hervor. Dann darf er gehen und ist für den Rest seines Lebens geschädigt. *

*

*

S

o einfach geht das. Ruck zuck hat die Seele eine weitere Wunde, die vielleicht irgendwann einmal, nachdem sie viel Leid gebracht hat, ihre Erlösung findet. Der für das Seelenheil der Schüler zuständige Religionsunterricht trägt auch wesentlich mehr zu dessen Seelenunheil bei. Bei der Abfrage von Glaubenssätzen kann es schon passieren, dass der glaubenssatzunkundige Schüler vom Herrn Pfarrer eine gewischt bekommt. Das hat den Vorteil, dass der Schüler diesen Unterricht in der Regel ebenso unmotiviert beginnt und religionsgeschädigt später die Schule verlässt. Li Mai, die himmlische Schutzgeistin von Klärus, hat einen heiligen Zorn, wenn sie mitbekommt, was die lieben Erdenkinderlein so über die geistige Welt erzählt bekommen. Die Vorbereitung zur Erstkommunion ist für Klärus eine erkenntnisreiche. Die erste Beichte steht an, aber zuvor wird natürlich gelernt, was dies ist und was es in der Regel zu beichten gibt. Die Beichte ist das Eingeständnis einer schuldhaften Verfehlung unter vier Augen mit einem Beichtvater. Man beichtet seine Sünden, die letztlich zur Verurteilung im Jüngsten Gericht führen werden, sollten sie nicht vorher gebeichtet und ausgesöhnt worden sein. Es gibt leichte und schwere Sünden, die sogenannten Todsünden. So wird es in dieser Zeit dem Klärus beigebracht, zumindest ist es das, was bei ihm hängen bleibt. Er weiß auch, dass eine Todsünde eine Höllenstrafe nach sich zieht und wenn man mit einer Todsünde stirbt, dann muss man bis zum Jüngsten Gericht dort verharren. Wann das Jüngste Gericht dann ist, wird Klärus nicht verraten. Das kann unter Umständen lange dauern. Dann gibt es da noch das Fegefeuer, in dem man nach dem Tode brennt und wenn sich Klärus dann noch überlegt, wie das weh tat, als er sich mal beim Karamellbonbonmachen mit seiner Dreiradsschwester am Finger verbrannte, dann ist es ja nicht auszudenken, wie das sein muss, in so einem Fegefeuer wegen einer Sünde zu schmoren. Die Vergebung der Todsünde kann nur in der Beichte oder durch vollkommene Reue erreicht werden. Bei einigen Todsünden muss Klärus recherchieren, weil er die Begriffe nicht kennt, hat aber im Gefühl, alle begangen zu haben. Die Hoffart, die Habsucht, die Unkeuschheit. Wie sich dann herausstellt, ist die wichtigste Todsünde die Unkeuschheit. Hundert Pro. Klärus fragt seinen Vater nach dem Wort Unkeuschheit. Was das denn sei. Der Vater überlegt auffällig lange, so dass Klärus schon glaubt, ihn mit dieser Frage überfordert zu haben. Schließlich antwortet er mit gefasster Stimme: „Unkeusch ist, wer Mädchen unter den Rock schaut!“ Zack! Aha! Jetzt weiß er es, der Klärus, und er merkt, dass er wohl rot wird im Gesicht. Diese Antwort hat er nicht erwartet. Aber so lernt man hinzu. Klärus hat das noch nicht gemacht, da drunter geschaut, aber er würde es gerne machen, ertappt er sich in aller Ehrlichkeit. Jetzt hat er wieder was zu denken. Klärus schaut in diesem zarten Alter schon liebend gerne nach den

Mädchen. Das muss wohl krank sein. Denn wenn es eine Todsünde ist, einem Mädchen unter den Rock zu schauen, dann muss das Mädchengucken, verbunden mit diesem ruchlosen Wunsch, unwillkürlich ins Verderben führen. Klärus fühlt sich schuldig. Überhaupt, wenn er die sechs Todsünden liest, dann hat er die alle schon begangen. Das muss er sich zugestehen. Also muss er die dann lediglich auswendig lernen, und damit hat er ja Übung. Dann sagt er die bei der Beichte einfach alle auf. Die Todsünden. Vielleicht ist er dann noch zu retten. Der Tag der ersten Beichte ist natürlich aufregend. Der Pfarrer kommt wegen der Behinderung von Klärus ins Elternhaus, schickt die Mutter aus dem Zimmer, weil sie das nichts angeht und beginnt, sich sakral zu gewanden. Er schaut Klärus nicht direkt an, sondern auf den Fußboden. Das macht es Klärus leichter. Klärus sagt sie alle auf, die sechs verhängnisvollen Todsünden: „Ich bin stolz gewesen. Ich bin geizig gewesen. Ich bin neidisch gewesen. Ich bin zornig gewesen. Ich bin unmäßig gewesen. Ich bin träge gewesen.“ Und dann nimmt Klärus allen Mut zusammen und presst heraus: „Ich bin unkeusch gewesen.“ Klärus lugt verstohlen nach dem netten Pfarrer und erwartet eigentlich, dass dieser ob der Schwere der Schuld kollabiert und die Mutter besorgt das Zimmer betreten wird. Sein Herz klopft und sein Kopf fühlt sich heiß an. Der Pfarrer aber bleibt standhaft sitzen und schaut gefasst weiterhin auf den Boden. Klärus vervollständigt gekonnt seine Beichte. „Dies und alle meine Sünden tun mir schrecklich leid. Ich bitte um Buße und Lossprechung!“ Jetzt wartet er ab, was passiert. Gar nichts passiert. Der Pfarrer scheint dies alles gewohnt zu sein. Die Welt muss sündhafter sein als sich Klärus vorstellen kann. Der Pfarrer beginnt, sich zu rühren und nach der Lossprechung ist Klärus geläutert. Rein die Seele, gesäubert von all der Schmach, die er sich angetan. Klärus ist gerettet. Ab dieser Erkenntnis von Gut und Böse, hauptsächlich im Sektor der Unkeuschheit, wird Klärus aber kaum frei werden von tiefster Schuld. All dies kommt zur Schuld, eine Behinderung zu haben, noch hinzu. Dieser Pfarrer ist aber keiner, der den Glauben mit Feuer und Schwert verbreitet. Dieser Pfarrer ist ein verständnisvoller, lieber Pfarrer, der es auch schafft, den Klärus aus dem Haus zu bringen. Klärus wird Wölfling bei den Pfadfindern. Die müssen jeden Tag mindestens eine gute Tat tun und die können sie beim Klärus abhaken. Den holen sie immer zu den Gruppennachmittagen ab und bringen ihn wieder nach Hause. Das Aufregendste ist aber das Zeltlager und der Gang zum Donnerbalken. Der Donnerbalken ist die sanitäre Infrastruktur im Walde. Ein längerer Pfad führt vom Zeltplatz in den Wald hinein, dann ist da ein tiefes Loch zwischen zwei Bäumen und an denen ist ein Querbalken mit festen Seilen in Sitzhöhe gebunden. An einem der Bäume, in Reichweite an einer Schnur hängend, eine Rolle Klopapier. Der Pfadfinder in Not geht verstohlen um sich blickend diesen Pfad und ist dann für den Rest der Pfadfinderschaft für eine Weile nicht mehr zu sehen, bis er nicht mehr verstohlen blickend mit einer zufriedeneren Miene wieder zurückkehrt. Bei Klärus ist das anders. Der signalisiert seine Not einem Pfadfinder in Führungsposition. Der kommt dann freudig in Anbetracht seiner Punktesammlung in guten Taten und bleibt so lange vor dem notleidenden, verschämt auf den Boden schauenden Klärus stehen, bis dieser den Blickkontakt zum wartenden Führungspfadfinder aufnimmt. Er will ja schließlich seine Not lindern. Dieser schaut ihm

dann freundlich lächelnd ins Gesicht und nimmt ihn huckepack. Am Loch der Löcher setzt er den Klärus ab und lässt ihn mit sich alleine. Danach das gleiche Programm. Ein Signal und der Führungspfadfinder erscheint wieder, wartet, bis Klärus zu ihm Blickkontakt aufnimmt und dann huckepack zurück ins Zelt, denn es regnet. Das Wichtigste beim Pfadfindersein sind das Fahrtenmesser und die Bluejeans, die ausnahmsweise genehmigt wird. Die gibt es zu dieser Zeit kaum und ein Pfadfinderjunge hat in der Regel eine kurze Hose an. Später, als Klärus genügend Punkte gesammelt hat, bekommt er ein braunes Pfadfinderhemd und ein Pfadfinderhalstuch. Das gefällt wiederum dem Vater von Klärus nicht, denn der war nach dem unsäglichen Krieg braunhemdgeschädigt. *

*

*

B

eichten tut Klärus einmal im Jahr. Einmal im Jahr macht der Vater Stress, und zwar an Ostern. Da ist es ein Muss, in die Kirche zu gehen und vorher natürlich zur Beichte. Das ist dann aufregend. Denn Ostern hat für Klärus eine Faszination. Die Zeit zwischen Beichte und der aufregenden Kommunion ist mit der eisernen Disziplin erfüllt, nicht wieder in eine Todsünde abzugleiten. Nach jeder Beichte schafft er es ungefähr zwei Tage lang, beim Herannahen eines Mädchens zur Seite zu schauen. Einmal ertappt er sich dabei, wie er kurz nach einer jährlichen Beichte in ein Schaufenster sieht und im Spiegelbild ein liebliches Mädchen erblickt. Er wendet sich nicht ab – ist er doch bereits abgewendet. Würde er sich jetzt vom Spiegelbild abwenden, wäre er ja mit dem Anblick des realen Mädchens konfrontiert. Also schaut er verwegen dem liebreizenden Spiegelbild nach, bis dieses verschwunden ist. Die Jahre vergehen, die Schulzeit nicht. Der Biologielehrer ist der Rektor, vor dem eh jeder Schüler Todesangst hat. In seinem Unterricht sitzt Klärus immer steckensteif da und spielt den aufmerksamsten Schüler, damit er von diesem Lehrkörper nicht gefoltert wird. Beim Rechnen müssen alle nach vorne, eine zackige Kopfaufgabe wird gestellt und der, welcher zuerst die richtige Antwort gibt, darf sich setzen. Solche wie der Klärus, die keinen Sauerstoff mehr im Gehirn haben da vorne, haben schlechte Karten. Klärus kann dann nur durch ein beherztes Vorsagen eines Schülers in der ersten Reihe vor einer großen Schmach gerettet werden. Später sieht das anders aus. Dann kommt ein sadistisch veranlagter Mathelehrer mit seinem knallroten Stoß Mathehefte urplötzlich in den Unterrichtsraum. In seinem Gesicht ein unsagbar fieses Grinsen. Der Protest der Schüler ist groß, aber die Macht des Lehrers größer. Geschichte ist auch der Hammer. Da bekommen die Schüler die Hausaufgabe: Seite soundso bis Seite soundso auswendig lernen, bis zum nächsten Mal. Beim nächsten Mal wird dann das auswendig Gelernte abgehört. Die Angst dranzukommen ist für alle allgegenwärtig. Als Klärus Französischunterricht hat, veranlasst der jähzornige Französischlehrer, der gleichzeitig der einfühlsame Musiklehrer von Klärus ist, eine Klassenfahrt nach Frankreich. Da geht es um einen Schüleraustausch. Das wird gerne gemacht und ist eine aufregende Sache. Klärus wird überredet und geht trotz vieler Bedenken mit. Vor Fahrtbeginn hält der Rektor noch eine kurze Rede in den Bus hinein, von wegen der Verantwortlichkeit im Ausland, dem richtigen Benehmen usw. Es soll ein Deutschland repräsentierender Schüleraustausch werden. In Frankreich dann gibt es einen großen Massenschlafsaal und Klärus kommt irgendwie zurecht. Bei einer Exkursion haben die Schüler Freigang. Die Schulkameraden von Klärus klauen an einem Andenkenkiosk wie die Raben. Klärus bekommt das gar nicht so richtig mit, wundert sich nur, dass er von einigen Schulkameraden immer wieder ein neues Geschenk erhält. Ein Ringchen, einen Brieföffner und dergleichen. Der Diebsstahl kommt heraus und die Verhöre sind brutal. Der jähzornige Musik- und Französischlehrer, ein großer Franzosenfreund mit der Mission der Völkerverbindung, ist völlig aus dem Häuschen und muss immer wieder von den französischen Kollegen gehindert werden, seine eigenen Landsleute umzubringen. Klärus wird nicht

verhört, der ist ja behindert, also ein armes Schwein und steht deswegen nicht unter dem Verdacht des Diebstahls, sondern unter Naturschutz. Im Massenschlafsaal hat jeder Schüler einen Nachtkasten am Fußende des Bettes. Alle Schüler müssen stramm daneben stehen und eine zornige Delegation an Ermittlern schreitet die Reihe ab und durchsucht jeden der Nachtkästen nach Diebesgut. Nur Klärus bleibt verschont. In seinem Nachtkasten liegen all seine Geschenke. Der Schüleraustausch wird frühzeitig abgebrochen, weil es mit dem Benehmen eben nicht so geklappt hat und so verabschieden sich die deutschen und die französischen Schüler und Schülerinnen herzlich voneinander. Klärus bekommt von einer hübschen französischen Schülerin links und rechts einen Kuss auf die Backen und ist danach wie benebelt und völlig von den Socken. Er weiß nicht, dass diese Küsschen in Frankreich eine übliche Begrüßungs- und Abschiedsgeste sind. Das ist auch nicht so wichtig, denn so bildet er sich ein, von dieser schönen Maid doch irgendwie gemocht zu werden. Der Schüleraustausch hat sich also gelohnt. Später kommt dann noch ein rabiater Lehrer hinzu. Der heißt auch noch Lieb mit Nachnahmen. Wenn ein Schüler das Pech hat, durch das Akzeptanzraster des Herrn Lieb zu fallen, hat dies Konsequenzen. Der Herr Lieb bekommt dann einen cholerischen Rappel. Den hat er oft. Dann treibt er, völlig außer Rand und Band, diesen armen Schüler auch mal richtig durch das Klassenzimmer. Der Herr Lieb ist in solch einem Fall nämlich hoch motiviert, diesen Schüler zu verprügeln. Das ist dann lustig, denn Schüler sind fit im Über-Tische-und-Bänke-Springen. Einmal tut es der Lehrer mit einer Klobürste in der Hand. Wie er zu dieser Schlagwaffe kommt, weiß niemand. Später wendet sich das Blatt, denn ein Schüler macht dieses Rennen nicht mit und gibt stattdessen dem rabiaten Lehrer einfach eins auf die Glocke. Der Held wird deswegen von der Schule verwiesen. Der Schüler. Die Klasse rächt sich für diesen seltsamen, gemeinsamen Lebensweg, indem sie ihm, dem Herrn Lieb, in seinem Namen einen Zentner Kohle bei der Kohlehandlung bestellt. Man sagt dem zufriedenen Kohlehändler, dass er die Kohlen einfach auf den Gehweg vor das Kellerfenster schütten soll. Er, der Herr Lieb, würde sie dann selber in den Keller schaufeln. So bekommt der Herr Lieb fossilen Brennstoff. Zu guter Letzt tragen sechs kräftige Schüler bei einer – im wahrsten Sinne des Wortes – beispiellosen Nacht- und Nebelaktion dem Herrn Lieb sein Goggomobil drei Stockwerke im Schulgebäude hoch vors Lehrerzimmer. Ein Goggomobil ist ein richtiges Auto, ein Auto, das man, wenn man es erblickt, lieb haben muss. Man hat dann das Gefühl, es großziehen zu wollen und es zu behandeln fällt unter Brutpflege. So ein Auto hat der Herr Lieb. Es gibt einen riesigen Aufstand seitens der Lehrkörper, aber alle Schüler halten dicht. Für die Schüler dieser Schule hat dies einen hohen Unterhaltungswert. Klärus macht bei solchen Aktionen nicht mit, denn dafür ist er nicht gebaut. Er sympathisiert aber voll mit den Akteuren. Er findet das alles lustig. Die Klasse spaltet sich in linksgerichtete Schüler und rechtsgerichtete Schüler. Die linksgerichteten Schüler denken schon politisch und machen solche spektakulären Aktionen, die rechtsgerichteten Schüler sind die braven, die es halt auch überall gibt. Klärus hat Freunde in beiden Lagern und das wird von beiden wegen seiner Sonderstellung akzeptiert. Der Schulalltag als solcher ist nur durch die gegenseitigen Animationen der Schüler zu ertragen. Die Rockmusik ist ein wesentlicher Bestandteil des Lebens. Klärus ist Spezialist und sehr kreativ, was Spickzettel anbetrifft. Meistens braucht er sie nicht, denn beim Spickzettelschreiben lernt er am meisten. Nur eins kann er nicht, nämlich, wie die Damen in der Reihe hinter ihm, die Spickzettel unterm Rock in den reizvollen Nylonstrümpfen verschwinden zu lassen. Die müssen dann nur den Rock etwas zurückschieben und haben den Durchblick.

Zu guter Letzt gibt es noch den sanften Killer. Jawohl, den Herrn Dunst. Zwei Seelen wohnen ach in seiner Brust. Der Herr Dunst war auch im unsäglichen Krieg und mit dieser Vergangenheit nimmt er den Kampf gegen die Dummheit der Schüler auf. Er betritt das Klassenzimmer, nachdem sich der raufende Schülerhaufen durch die Aufmerksamkeit eines wacheschiebenden Mitschülers in die brave Sitzposition katapultiert hatte. Der Herr Dunst steht nun mit versteinertem Blick sekundenlang vor der wartenden Schülerschaft und beginnt dann mit seiner Publikumsbeschimpfung. Pädagogisch wertvoll brüllt er die Schüler an und tituliert sie mit einer Kanonade Schimpfwörter, wie Eier, faule Eier, Hohlköpfe, die, wenn sie so weitermachen, nach der Schule die geringen Arbeiten tun würden. Die Gastarbeiter würden dann so langsam als gastarbeitende Gäste die besseren Positionen in der Arbeitswelt einnehmen, weil die Schüler halt alle Hohlköpfe und besagte Eier seien. Das kennen die Schüler und warten halt ab. Der Unterricht ist dann wirklich pädagogisch wertvoll und für diese Zeit revolutionär. Arbeitshefte brauchen die Schüler nicht. Ein Blatt Papier sollen sie aus einem ihrer Hefte reißen. Dann diktiert der Herr Dunst einen ellenlangen Satz, in dem alles enthalten ist, was ein Lehrer so denkt. Das ist für die Schüler völlig angstfrei. Dann gibt der Herr Dunst noch eins drauf. Er schreibt den ellenlangen Satz an die Tafel, lässt die Schüler ihren eigenen Satz korrigieren mit der Begründung, dass nur ein Hohlkopf hier nicht ehrlich sei und zu guter Letzt dürfen sich die Schüler eine eigene Note geben. Das versöhnt die Schüler mit dem Schimpfer. Was die zweite Seele – den Killer – anbetrifft, hat der Herr Dunst die Eigenart, sanft, gutmütig und lieb zu sein. Beobachtet er aber das Fehlverhalten eines Schülers, wie zum Beispiel heimliches Vesperbrotessen oder Reden mit dem Nachbarn, dann wird der Herr Dunst zum Killer. Ähnlich dem Herrn Lieb stürmt er dann wutentbrannt auf den Missetäter zu. Dieser hat durch Schulung durch den Herrn Dunst gelernt, sich dann adäquat zu verhalten. Der mannhafte, wackere Schüler steht bei Ankunft des Killerpädagogen wie eine Eins und rührt sich nicht von der Stelle. Er bekommt lediglich zwei heftige Ohrfeigen mit gespreizten Fingern, die sich gewaschen haben. Dann zieht sich der Pädagoge in Ehrfurcht vor der Mannhaftigkeit des Schülers zurück und wendet sich wieder der liebevolleren Seele zu. Der weniger wackere Schüler, der beim Herannahen der Katastrophe die Angst aufnimmt und wie ein Fluchttier schützend die Arme erhebt, um Leib und Leben zu retten, hat dann wahrlich nichts mehr zu lachen. Auf den wird dann eine Ewigkeit eingeprügelt, bis der Killerpädagoge selbst keine Luft mehr bekommt und seine Lehre als beendet erachtet. Der wenig wackere Schüler sieht dann recht alt aus. Nichts desto trotz ist der Herr Dunst ein anerkannter Lehrer, der mit den älteren Schülern auch mal am Abend in die Bierkneipe geht und über die Studentenunruhen diskutiert. *

*

*