Angelo Turchini. Geschichte, Kultur und Literatur der Romagna

Angelo Turchini Geschichte, Kultur und Literatur der Romagna Costa Rosa? Die Journalisten der lokalen und regionalen Medien bekamen sich dieses Jahr i...
Author: Gerburg Hertz
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Angelo Turchini Geschichte, Kultur und Literatur der Romagna Costa Rosa? Die Journalisten der lokalen und regionalen Medien bekamen sich dieses Jahr im Frühsommer fast nicht mehr ein als es darum ging, die „Rosa-Nacht“ von Rimini und Umgebung, die traditionell am ersten Juliwochenende stattfindet, herzunehmen, um aus Marketinggründen die gesamte romagnolische Adriaküste mit einem neuen Namen, nämlich „Costa Rosa - Rosaküste“ - zu versehen. Verdient die ganze Region einen anderen Namen? Damit wären wir schon beim Thema: Was ist die Romagna, was verbindet man mit ihr, wo findet sie ihre Grenzen? Die Romagna heute ist ein historisch-geograhphisch-kulturelles Konstrukt. Nach Roberto Balzan, der ein ganzes Buch darüber verfasst hat, kann sie ursprünglich als „Produkt einer imaginären frühmittelalterlichen Politikvorstellung“ angesehen werden. An ihr ist heute sehr vieles Künstliches, sehr viel Hinzugedichtetes. Gleichwohl ist auch dies mittlerweile integraler Bestandteil dessen, was man aktuell als Romagna versteht. Ich möchte mit Ihnen nachfolgend einen kurzen Spaziergang durch die Geschichte, vor allem die Kulturgeschichte machen und vor allem anhand von Personen und deren Aussagen auf das eingehen, was man im Laufe der Zeiten mit der Romagna, der Region, ihren Bewohnern und ihrer Kultur verbunden hat und noch verbindet. Kommt der Begriff Romagna von Rom, vom römischen Reich? Gewiss das Gebiet der heutigen Romagna befindet sich zumindest teilweise auf dem Territorium der antiken “Romana augustea”, der sog. Ämilia. Von größerem Bekanntheitsgrad ist der Fluss Rubicon, der die antike Grenze zwischen dem cisalpinen, also diesseitigen Gallien und dem damaligen „Italien“ bildete. Berühmt wurde der Rubicon, wie Sie sicherlich alle wissen, durch Julius Cäsar und seinen Ausspruch „Alea iacta est - Die Würfel sind gefallen“. Auch wenn im Laufe der letzten fünf Jahrhunderte eine heftige Diskussion darüber tobte, welchen Fluss den Cäsar tatsächlich überschritten habe. Vor allem im 18. (achtzehnten) Jahrhundert haben Heimatforscher, Lokalpolitiker und lokalpatriotische Schriftsteller den Flusslauf immer wieder für die Glorie des Territoriums des jeweils eigenen „Vaterlandes“ oder besser gesagt, Heimatortes reklamiert. Das Thema blieb aber auch von den Einmischungen allerlei durchreisender ausländischer Forscher und Gelehrter nicht verschont, wie das Beispiel von Johann Jakob Volkmann zeigt, der sich zwischen 1757-58 in der Gegend aufhielt und in seinen „Nachrichten von Italien“ einen Disput über das Thema, welcher Fluss denn von Cäsar nun eigentlich tatsächlich gemeint gewesen ist, der Rubicon, der Fiumicino, der Pissatello oder einer der anderen sehr zahlreichen kleinen Wasserläufe in dieser Ecke der Romagna, wiedergibt. Von offizieller Seite wurde die Frage, wer denn nun den Rubicon sein eigen nennen darf, abschließend durch die Faschisten geklärt: Der Duce, selbst in der Romagna geboren, verfügte ex officio, dass dem Städtchen Savignano der Beiname „sul Rubicone“, am Rubikon, verliehen wurde. In Wahrheit ist die Frage noch immer offen … Der Begriff “Romania” - ursprünglich bezogen auf das Staatsgebiet des römischen Imperiums - kam auf mit dem Kommen der Langobarden und der Bildung der Lombardei (damaliger Prägung). Im Gegensatz dazu stand die sog. Romania oder Romandiola (= Gebiet wo man lateinisch spricht), die sich nach dem Verschwinden

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der antiken Ämilia bis ins 8. (achte) Jahrhundert unter dem sog. Exarchat der Byzantiner, also dem Statthalter des oströmischen Kaisers in Ravenna herausbildete. Im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte, also der Zeit des Mittelalters und der frühen Neuzeut änderten sich die Grenzen dessen, was man mit dem Begriff Romagna umschrieb, mehrfach. Dies betraf auch die Frage, ob Bologna, die heutige Hauptstadt der Region Emilia-Romagna, Teil der (historischen) Romagna ist oder nicht. Die damals nur schwach ausgeprägte Macht des Kirchenstaates führte zur der Herausbildung von mehr oder minder unabhängigen Stadtstaaten und deren lokalen Herrschergeschlechtern. Zur gleichen Zeit wurden idenditätsstiftende Mythen zum Ursprung bzw. Herkommen der einzelnen Orte lebendig: Letztere reichten von biblischen Motiven, wie Noha bzw. dessen Söhne und Töchter und Enkelkinder bishin zu denen mit antiker Tradition, also vor allem geknüpft an die Sagen um die Figur oder die Taten des Herakles und anderer antiker Heroen oder auch verbunden mit angeblichen römischen Gründungsväter der einzelnen Civitas. Manchmal mussten aber auch mehr oder minder erfundene christliche Heilige und Märtyrer als mythische Gründungsväter herhalten. Geblieben ist aus dieser Zeit die logistische, urbane Achse, die fast die gesamte Romagna durchzieht, die antike Via Emilia, die von Rimini nach Bologna und weiter nach Piacenza führt und dabei die Städte Cesena, Forli, das antike Forum Livii, aber auch Imola und Faenza durchquert. Letzteres berühmt für seine Keramikarbeiten, die sog. Fayence, auch wenn der berühmte englischen Historiker (?) Alban Butler während seiner Reise im Jahre 1746 (siebzehnhundertundsechsundvierzig) bemerkte, „dass die Produktion viel niedriger ist als die der Glaskeramik in Marseille und vor allem gegenüber der Porzellanproduktion Sachsens, wo man mit großer Sorgfalt das Geheimnis der Porzellanherstellung hütet, ist es doch die primäre Quelle des enormen Reichtums des Kurfürstentums, deutlich hinterhinkt.“ Nicht mehr wegzudenkender Bestandteil der Romagna mit einer im Laufe der Jahrhunderte immer mehr gewachsenen Bedeutung ist die adriatische Küste mit ihren zahlreichen Klein- und Mittelstädten. Von ihrer Öffnung hin zum Schiffsverkehr und dem Seehandel ganz allgemein profitiert die ganze Region. Last but not least bleibt die Bedeutung des Appenin zu erwähnen, aber auch der wasserreichen Ebenen zwischen Faenza, Ravenna und Comacchio. Bei dem Diskurs über ihre Grenzen und Besonderheiten der Romagna kann zumindest aus volkstümlich-populärwissenschaftlicher Sicht das Thema Wein nicht außen vor bleiben. Eine Volksweisheit lautet, dass die (Kultur)Grenze zur Romagna dann überschritten ist und man sich in der Romagna befindet, wenn einem, wenn man durstig ist und man etwas zu trinken wünscht, automatisch Wein gereicht wird. Diese Auffassung reicht weit in die Geschichte zurück. So berichtete bereits der namhafte Rechtsgelehrte aus Frankfurt am Main, Johannes Fichard, der sich 1536 in Ravenna aufhielt, dass ihm dort von Mönchen großzügig Wein und Wasser angeboten worden war. Ein anderer Bericht stammt von einem gewissen Fra Serafino Razzi. Letzterer bemerkte 1572, dass auf der Straße von Cesena nach Ravenna eigentlich keine Gasthäuser zu finden waren außer an Fähr- bzw. Flussübergängen, dafür waren entlang der Straßen immer wieder Häuser und Hütten von Bauern mit Brunnen zu finden, die den durstige Reisenden freizügig zur Verfügung gestellt werden. Und weiter führt er aus: „Die Bauern sind obwohl

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wohlhabend nett und zuvorkommend zu den Vorbeikommenden. So geschah es uns als wir zu Fuss des Weges kamen und an einem Brunnen trinken wollten, dass uns ein tugendhaftes Mägdelein ungefragt Wein zu trinken anbot.“ Weiter geht es in der Geschichte. Die Romagna gehörte ab dem frühen 16. Jahrhundert zum Kirchenstaat. Der Papst, Julius der Zweite (II.), setzte 1512 nach dem Ende der Herrschaft der Bentivoglio in Bologna und nach dem der berühmtberüchtige Papstsprössling Cesare Borgia, genannt il Valentino, der leibliche Sohn seines unmittelbaren Vorgängers, des nicht weniger berüchtigten Alexander dem Sechsten (Borgia) in mehreren Feldzügen die übrigen lokalen Stadtherrschaften in Cesena, Imola, Faenza, Forli etc. verjagt und die Romagna damit mehr oder minder „vereinigt“ hatte, ein neues, strafferes Verwaltungssystem ein. Die Romagna, einschließlich des vormaligen Exarchats von Ravenna, wurde in eine sogenannte Legazion, das heisst einen Verwaltungsdistrikt mit der Hauptstadt Bologna umgewandelt. Ihr stand in der Regel ein Kardinal vor. Die Situation veränderte sich wieder grundlegend mit der Ankunft der französischen Revolutionstruppen um das Jahr 1796 (siebzehnhundertsechsundneunzig). Sie errichteten an Stelle der Legazion ein sogenanntes „Dipartimento del Rubicone“. Damit verändert sich auch radikal der geographisch-wirtschaftlich-politische Bezugspunkt: Nicht mehr Bologna als das „kleine Rom“ (gegenüber dem „großen“ päpstlichen Rom) steht im Mittelpunkt, sondern man kehrt in gewisser Weise in die Antike, ja die Zeit Cäsars zurück. Aber nicht das vormals ebenfalls päpstliche Ravenna erlebt eine Wiederbelebung, sondern das neue regionale Zentrum wird die Stadt Forli. In der Folgeperiode, der nachnapoleonischen Zeit, die eine Restauration des Kirchenstaates und seiner Herrschaftsstrukturen brachte, sah eine erneute Veränderung. Jetzt gliederte sich die Romagna zunächst in zwei Verwaltungsdistrikte, nämlich die von Ravenna und die von Forli (Bologna mit einem eigenen Distrikt zählte man nicht mehr zur Romagna!); danach folgte eine neue Verwaltungsreform mit dem Ergebnis das jetzt vier sogenannte Legazioni, nämlich die von Bologna, das jetzt – nota bene - wieder zur Romagna zählte (!), Ferrara , Ravenna und Forli. Jetzt sprach man dann auch nicht mehr von der Romagna, sondern von „den Romagne.“ Die Romagna gibt es aber auch als literarisches Phänomen. Dabei werden die Region und ihre Bewohner sehr unterschiedlich wahrgenommen bzw. dargestellt. Es gibt zum einen die „Romagna, oh sonnenbeschienen, süßes Land, wo Guidi und Malatesta herrschen…“, wie es zwischen 19. (neunzehntem) und 20. (zwanzigstem) Jahrhundert der Dichter Giovanni Pascoli, ein Schüler des noch viel wortmächtigeren Giosue Carducci, Liebhaber des Sangiovese, des Rotweins aus der autochthonen Rebsorte gleichen Namens und der liebreizenden Hügel von Bertinoro, dort wo in einer Villa seine Geliebte lebte, romantisierend formulierte, zum anderen das Romagnabild von Dante Alighieri in dessen „Göttlicher Komödie“, wo der ganze erste Gesang von dem immer wiederkehrenden Thema der „perfiden Romagnolen“ durchzogen ist . Letzteres verdichtet sich schließlich mehr und mehr zu einem literarischen, aber auch zu einem politischsoziologischen Gemeinplatz, wie z.B. im 16. (sechzehnten) Jahrhundert in den Werken des Francesco Guicciadini um schließlich in dem vor allem in der Toskana gepflegten Mythos von einer gewalttätigen, ja verbrecherischen, sich der Blutschuld und dem Betrug

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ergebenden Romagna zu kulminieren. Ein Körnchen Wahrheit mag an diesem Negativbild dran gewesen sein. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Ausführungen von Evelyn Carrington Martinengo in den „Lombard Studies“ von 1900: „Der Romagnole ist ein lebendes historisches Dokument und es wird oft übersehen beziehungsweise ignoriert, dass er genauso erhellend sein kann, wie die Archive oder die Denkmäler…Fügsamkeit und Nachgiebigkeit waren noch nie die Tugenden der Romagnolen. Eine Rasse, geboren zum Heldentum oder zum Verbrechen!“ – und weiter Carrington Martinengo – „Die Romagnolen haben gewalttätige Leidenschaften und die Kraft sie auch auszuleben.“ Sie fügt ausserdem vieldeutig hinzu, dass zu ihrer Zeit die Städte der Romagna vor allem von Verbrechen aus mehr oder minder politischen Gründen gekennzeichnet waren, die in ihrer Art aber oftmals so ungewöhnlich sind, dass sie auch die Aufmerksamkeit von Psychologen verdienen würden. In Dantes „Göttlicher Komödie“, die, das muss hier nochmals ausdrücklich festgestellte werden, ja in Ravenna im Exil geschrieben worden war, nimmt die Schilderung der Romagna nach der heimischen Toskana den meisten Platz ein: Dante schildert sehr umfänglich Orte und Flüsse, die kleinen städtischen Adelsgeschlechter, die Grausamkeit der herrschenden Familien in den Städten, die großen (verbotenen) Lieben, wie die zwischen Paolo und Francesca, genauer Paolo dem Schönen, einem Malatesta aus Rimini und Franscesca di Polenta aus Ravenna. „Amor, ch’a nullo amato amar perdona – Liebe, die ja keinen Geliebten mit Lieben verschont“. Zeilen und Verse, die Raum und Zeit hinter sich lassen. Der große, weite Pinienwald, die Pineta bei Ravenna, die bereits im Werk von Paulus Diaconus, des berühmten langobardischen Poeten und Geschichtsschreibers im 8. (achten) Jahrhundert Erwähnung findet, liefert Dante in der „Göttlichen Komödie“ die Inspiration zum Entwurf seines irdischen Paradieses. Aber dabei bleibt es nicht: Die Süße der Verse des Don Giovanni von Lord Byron, dem englischen Romantiker, der nicht nur in die Natur verliebt war, sondern - vielleicht sogar noch mehr - in die ravennatische Gräfin Teresa Guiccioli finden ihre Begründung zumindest teilweise sicherlich auch dort. Lange zuvor hatte der Wald aber bereits Einzug ins Werk von Giovanni Boccaccio gefunden. Boccaccio verwandelt in seinem berühmten Werk dem Decamerone V, 8 den besagten Pinienwald in ein Stätte seltsamer und unheimlicher Erscheinungen, weswegen „alle Ravennerinnen sich ängstigten und sich dem Vergnügen der Männer umso lieber hingaben.“ Aber nicht nur die Autoren sind von dem prächtigen Pinienwald, der sich entlang der antiken Straße zwischen Venedig und Rimini erstreckt, angetan. Er dient über Jahrhunderte auch als Schauplatz sehr banaler Geschehnisse. Er wird nämlich zum bevorzugten Versteck für allerlei Banditengesindel, das dort auf Reisende und Kaufleute lauert, um sie auszurauben. Viele von diesen zogen es daher vor, auf dem Seewege von Rimini nach Venedig und umgekehrt zu reisen. Aber der Pinienwald produziert auch Holz und Pinienkerne, beides schon immer hochgeschätzt als Heizmaterial das eine und als hochwertiges Nahrungsmittel das zweite, was in einer Ausgabe der Iconographia von Cesare Ripa, also dem

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wichtigsten einschlägigen Nachschlagewerk zu Beginn des 17.Jahrhunderts als besondere Attribute der Romagna ausdrücklich vermerkt wurden. Reisende, Geographen, Forscher und Gelehrte finden in der Romagna ein dankbares Objekt ihrer Interessen, eine Gebiet reich an “Stimulanzen” unterschiedlichster Art, es bietet Überbleibsel und Zeugnisse der Antike genauso wie des Mittelalters und der Renaissance, oftmals ineinander übergehend, das eine das andere integrierend, so das Vergangene wieder und neu belebend, in tatsächlicher und literarischer Hinsicht. Die (All)Gegenwart der Antike ist für die Romagna immer wichtig gewesen. Nicht nur in der Renaissance, sondern auch während der Aufklärung und danach in der Zeit des Klassizismus und der Romantik. a) Mit der Wiederbelebung der antiken Traditionen and dem Entstehen der humanistisch gesinnten Adelshöfe, vor allem dem der Malatesta in Rimini (im glücklichen Austausch mit dem der d’Este in Ferrara) kommt es zum Bau des Tempio malatestiano durch Leon Battista Alberti, der großen Grablege des Sigismund Pandolfus Malatesta in Rimine und in dessen Gefolge zur fast kultischen Verehrung des (Alt)Griechischen mit der ersten monumentalen griechischen Inschrift in der westlichen Welt sowie der besonderen Verehrung für einen neuplatonischen Philosophen, nämlich Gemisto Pletone b) Inspiriert durch und im Dialog mit der von Ludovico Antonio Muratori entwickelten historisch kritischen Methode in der zweiten Hälfte des 18. (achtzehnten) Jahrhunderts kommt es zur Herausbildung einer Schule, die einen großen Beitrag sowohl zur Epigraphik (Inschriftenlehre) als auch zur Archäologie leistet, zur Gelehrsamkeit und Geschichtswissenschaft ganz allgemein. Ihre bedeutendsten Vertreter wurden der Kardinal Giuseppe Garampi, Präfekt des Geheimarchivs des Vatikan (danach päpstlicher Nuntius am Kaiserhof in Wien) und sein Schüler, danach ebenfalls Präfekt, Gaetano Marini. Ihnen beiden und das dürfte Sie besonders interessieren, verdankt man die erste Kenntnis und Transkription des sogenannten Kodex Ravennatensis, einer ganz selten mittelalterlichen Rechtshandschrift auf Papyros vom Ende des 10. Jahrhunderts, die heute in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrt wird. c) Einerseits der Klassizismus des napoleonischen Architekten Giovanni Antolini aus Castel Bolognese, seit 1801 Leiter der Bauarbeiten auf dem sog. Forum Bonaparte in Mailand, der maßgeblich von der streng geometrisch-perspektivischen Malerei des Melozzo da Forli beeinflusst war. Auf der anderen Seite verdient die sog. klassische romagnolische Schule, gegründet von Vincenzo Monti und Giulio Perticari Erwähnung. Aus ihr geht die herausragende Erscheinung des Barolomeo Borghesi hervor, der zu den Gründungsvätern der ruhmreichen Rubiconda Accademia dei Filopatridi, den “Freunden des Vaterlandes”, gezählt wird und der sich in den bewegten 1848er Jahren als politischer Flüchtling auf das Gebiet der freien Republik San Marino zurückgezogen hatte. Er wurde unter anderem von Theodor Mommsen, dem großen deutschen Historiker und erstem Literaturnobelpreisträger als Lehrmeister verehrt.

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Das Zeitalter der sog. Grande Tour (vom 17. (siebenzehnten) bis zum) 19. (neunzehnten) Jahrhundert zog viele europäische Reisende, die ihre Eindrücke und Erfahrungen aufgeschrieben und veröffentlicht haben, auch in die Romagna. Wir haben bereits einige kennengelernt. Zwei Autoren, deren während ihrem Aufenthalt in der Romagna verfassten Werk für ihre weitere Karriere von großer Bedeutung war, sollen hier nochmals ausdrücklich genannt werden. Zum einen ist das der berühmte französische Humanist Gabriel Naudè. Er unterhielt eine sehr enge Arbeitsbeziehungen mit dem Kardinal Giovanni Francesco dei conti Guidi di Bagno lebte als Gast in der Romagna, um präzise zu sein, in Cervia und im Schloß in Montebello in der Nähe von Rimini. Nach seinem Hauptwerk, den Considerations politiques sur les coups d’Etat, schrieb er während seines Aufenthaltes in Cervia, der bedeutenden Salinenstadt, das Werk “Bibliographia politica, guida ragionata alla letteratura politica antica e moderna.“ Auf Bitte von Naudè schrieb Matteo Valli das höchst wertvolle Traktat über den Ursprung und die Regierung der Republik San Marino (veröffentlicht 1633 (sechzehnhundertdreiunddreißig) Der andere Autor ist Aurelio de' Giorgi Bertola, der fruchtbare Kontakte zu Vertretern der deutschen Literatur seiner Zeit pflegte. Damit förderte er das Interesse an einem Thema, das zu jener Zeit auf der italienischen Halbinsel nur auf sehr bescheidenes Interesse stieß. Er besucht den einzigen damals im Ausland namhaften deutsch-schweizer Poeten, Salomon Gessner in seinem Haus in Zürich und fasst seine Erinnerung daran in einer kunstvollen Eloge auf denselben zusammen. Schließlich schreibt er als erster Italiener einen Reiseführer über den Rhein und seine Umgebung im Gefolge einer Reise dorthin, die er 1787 unternommen hat. Das Buch, das 1793 erscheint, ist im Stile einer “sentimental journey” mit idyllischen Naturschilderungen abgefasst; es wurde umgehend ins Deutsche übersetzt. In diesem Jahr, in dem wir den 150.(einhundertfünzigsten) Jahres der Einigung Italiens begehen, will ich nicht vergessen, einen Mann zu erwähnen, der aktiv an der mittlerweile mythischen Expedition der Tausend, also der Landung der tausend Freiwilligen unter Führung Garibaldis 1859 (achtzehnhundertneunundfuenfzig) bei Marsala im Westen Siziliens. Von dort aus brach sich die italeinische Einigung dann ihre Bahn, führte schließlich zur Eroberung Neapels und einige Jahre später auch von Rom. Die Aufzeichnungen, die sogenannten Notarelle, zum ersten Schritt, zur Expedition der Tausend verdanken wir einem Romagnolen, Giulio Cesare Abba, der danach erfolgreich am Gymnasium in Faenza unterrichtete. Nicht übergangen werden darf auch eine Persönlichkeit wie Aurelio Saffi, der weit über die Grenzen seiner Heimatstadt Forli höchste Anerkennung insbesondere in den schwierigen Jahren zwischen der sog. Römischen Republik - ein kurze Episode in den stürmischen 1848 er (achtzehnhundertachtundvierziger) Jahren - und dem eigentlichen Risorgimento, wo er neben Mazzini und Armellini in einem Triumvirat die Regierung der besagten Republik bildete - genoss, als er die Fahne der Einigungsbewegung auch im englischen Exil unverdrossen hochhielt. Nach ihm ist heute u.a. die Stadtbibliothek von Forli benannt, die Sie in den nächsten Tagen ja besuchen werden. Fortfahrend wie schon bisher geschehen, das heisst Kirchliches und Weltliches zusammen zu sehen und sowohl allgemeinhistorische als auch kulturgeschichtliche

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Aspekte im Kontext der Romagna aufzuzeigen, stelle ich neben Persönlichkeiten, wie Abba und Saffi eine dritte Person bzw. deren Werk vor, dessen Wert für die Einigung und das Zusammenleben der Italiener gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Ich spreche hier von Pellegrino Artusi aus Forimpopoli. Sein Buch “ Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Genießens” ist seit 1891 mehr oder minder unverändert immer wieder in vielen Sprachen aufgelegt worden. Von ihm sind seither über eine Million Exemplare verkauft worden. Dieses Hauptwerk der gastronomischen Literatur, das von Artusi in ganz Italien, vor allem aber aus der Romagna oder der Toskana gesammelte, überarbeitete und korrigierte Rezepte, die von seiner Köchin nachgekocht wurden, enthält, hat einen ganz entscheidenden Anteil zur Einigung Italiens geleistet, vor allem auch unter linguistischen Aspekten. Die Romagna ist eine Land glühender, bürgerlicher Leidenschaften, starker republikanischer Gefühle und genauso antimonarchischer sowie antiklerikaler Ressentiments. Vor diesem Hintergrund gilt es auch kurz eine herausragende, intellektuelle Erscheinung, wie Renato Serra zu würdigen. Serra, der sich selbst als einen “Provinzleser” bezeichnete, war eine der großen Autorenhoffnungen Italiens vor dem ersten Weltkrieg. Schüler des Nobelpreisträgers Carducci, Briefpartner von Benedetto Croce und Mitautor bei der damals wichtigsten intellektuelle Stimme Italiens, der Zeitschrift “La Voce” war er im “Brotberuf” - und das dürfte für Sie besonders interessant sein - schon in ganz jungen Jahren Direktor der Biblioteca Malatestiana in Cesena, seiner Heimatstadt. In seinem Hauptwerk, Gewissensprüfung eines Literaten, geschrieben im März 1915, hat er das Thema Krieg mit all seinen Facetten und (falschen) Mythen durchdrungen und auch was die Rolle der Intellektuellen dabei betrifft, sehr kritisch aufgearbeitet. Gleichwohl entschied er sich dann im Sinne einer Herzensangelegenheit und eines bewussten Opfers für das Vaterland als Freiwilliger in den Krieg zu ziehen. Bereits im Juli 1915 ist er mit gerade 30 Jahren gefallen … Kommen wir zu einer letzten Persönlichkeit, die ich exemplarisch für die Romagna sehe und die einem Film von Federico Fellini entspringt. Mit dem Film “Amarcord”, in Rimineser Dialekt heisst das, “Ich erinnere mich…”, hat Fellini seiner Heimatstadt Rimini und auch der Region Romagna ein cineastisches Denkmal gesetzt. Gradisca, um die es hier geht, war eine seiner zahlreichen ersonnenen Traumfrauen, nämlich die seiner frühen Jugend. Sie geht nicht unmittelbar auf die Frauengestalten eines großen Malers der Region im 17. (siebzehnten)Jahrhundert und späteren kaiserlichen Hofmalers in Wien, nämlich Guido Cagnacci aus Santarcangelo di Romagna und dessen ekstatische Nonnen sowie schmachtend sterbende Kleopadras zurück, aber wie sie ist Filmfigur Gradisca von großer natürlicher Sinnlichkeit. Sie ist eine eigenartige, in gewisser Weise spöttisch-ironische Frauengestalt, wie ihr Autor, der Filmemacher Fellini selbst, der mit ihr wiederum ein Bild seiner Geburtsstadt zeichnen wollte: In der abschließenden Filmszene von „Amarcord“ wohnen Gradisca und die übrigen Riminesen in einer herrlichen Sommernacht der Vorbeifahrt des Ozeanriesen Rex in Booten auf dem Meer bei; sie begeistern sich an den tausend Lichtern, die das Schiff erleuchten. Das Schiff fährt vorbei, ohne von den Zuschauern auch nur Notiz zu nehmen, während letztere kaum an Land die wunderbare Vorbeifahrt erzählen werden. Die Moral der Geschichte: Alle glauben Handelnde, ja Hauptdarsteller eines Ereignisses zu sein, aber die Welt dreht sich,

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ohne sich im Geringsten darum zu kümmern. In Wahrheit sind die Riminesen und letztlich wir alle das Opfer der eigenen Wahrnehmung, der eigenen Illusionen… Fellini, der auf dem humanistischen Gymnasium Riminis, Julius Cäsar, zur Schule gegangen war, kannte natürlich die Bibliothek seiner Heimatstadt, die Gambalunga, gegründet von Alessandro Gambalunga 1619 (sechszehnhundertundneunzehn, nach der Ambrosiana in Mailand und der Angelica in Rom, wusste sicherlich aber nicht, dass sie die älteste Stadtbibliothek Italiens ist. Noch weniger dürfte er aller Wahrscheinlichkeit nach die prächtige Renaissancebibliothek in Cesena, die zuvor schon erwähnte Malatestiana gekannt haben. Genauso wenig wie eine weiteren beeindruckende kommunale Bibliothek in der Romagna, nämlich der in Lugo, die 1630 (sechszehnhundertdreissig) von dem Patrizier Fabrizio Trisi als Stiftung zum Wohle der Erziehung und Bildung seiner jungen Mitbürger gegründet worden war, aber erst 1803 ihren privaten Charakter verlor und in den Besitz der Kommune überging. Damit ende ich aber auch schon. Sie werden ja in den nächsten Tagen einige, die wichtigsten der historischen Stadtbibliotheken der Romagna persönlich besuchen. Dazu nur noch folgende Anmerkung: Die Probleme, die mit der wirtschaftlichen Krise, die Italien nunmehr seit mehreren Jahren heimsucht, haben ihren Niederschlag auch in der regionalen und kommunalen Bibliothekswelt gefunden. Im Gefolge von Ruhestandsversetzungen und (noch) nicht erfolgter Nachfolgerberufungen, sind seit geraumer Zeit die Stadtbibliothek von Forli, Lugo, Ravenna und Rimini ohne Leitung. Ich hoffe sehr, dass das nur ein vorübergehendes Phänomen bleibt, aber ich bleibe skeptisch. Es stimmt mich traurig, wie sehr diese glänzenden städtischen Institutionen derzeit leiden. Als Forscher der Lokal- und Regionalgeschichte bin ich direkt davon betroffen. Vor diesem Hintergrund möchte ich frei nach dem bekannten Musikstück von Secondo Casadei “Geliebte Romagna, fern von Dir ist kein wirkliches Sein”, wie folgt enden: “ Geliebte Romagna, fern von Deinen Bibliotheken kann ich nicht sein!”

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