Alice im Wunderland des Waschraums

Alice im Wunderland des Waschraums Ein Musikerlebnis mit der katalanischen Band Cabo San Roque Vom Zuschauerraum aus blicke ich auf die kleine, in wa...
Author: Jakob Hartmann
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Alice im Wunderland des Waschraums Ein Musikerlebnis mit der katalanischen Band Cabo San Roque

Vom Zuschauerraum aus blicke ich auf die kleine, in warmes, dunkelrotes Licht getauchte Bühne des E-Werks in Potsdam. Ich sehe allerlei Gerätschaften, die ich erst nach und nach als verschiedene Musikinstrumente erkenne. Trotz des einladenden Lichts, das an eine Wärmelampe in einem Kükenkorb erinnert, lässt diese Szenerie einsamer Instrumente und allerlei Gegenstände ein Gefühl der Verlorenheit aufkommen. Seitenwände und Boden sind schwarz und schlucken alles natürliche Licht. Dadurch wirkt die strahlende Bühnenbeleuchtung noch eindringlicher. Nachdem sich meine Augen an das Licht gewöhnt haben, kann ich nach und nach die Gegenstände als verschiedene Musikinstrumente identifizieren. Zuerst fällt mir ein großes Gerät auf, das zusammen mit einer etwas vergilbten Waschmaschine und einem selbst zusammengeschusterten Kontrabass auf einem Podest steht. Von der Seite zu sehen ist ein rechteckiges Gestell aus Metallstreben, in dem sich drei große Spulen befinden und das auf vier alte geschwungene Tischbeine montiert ist. Die linke Spule ist mit der mittleren Spule durch eine Fahrradkette verbunden. An diesem Gestell sind weitere Gegenstände wie etwa eine Trommel und ein Schlagzeugbecken befestigt. Von diesem eigenartigen Metallgestell geht eine weitere Fahrradkette zu einer rechts stehenden Waschmaschine ab. In diesem Wirrwarr findet sich außerdem vor dem Podest ein E-Piano und lehnen eine EGitarre und ein Akkordeon. Auf der linken Seite und in der Mitte sind jeweils ein Mischpult, umgeben von zahllosen Kabeln und Teile eines Schlagzeuges und ein weiteres E-Piano. Komplettiert wird die wilde Szenerie durch ein kleines Xylophon, eine Klarinette, Klangstäbe und weitere Dinge, die ich erst später, wenn sie zum Einsatz kommen, erkennen kann. Mein Blick versucht den Wirrwarr der Szenerie wie früher die Bilder in meinen Kinderbüchern zu lesen. Wo zuerst hinsehen? Die Bühne gleicht einem Findespiel für Kinder. Am hinteren Ende der Bühne hängt rechts neben der Waschmaschine eine Leinwand, auf der abwechselnd drei Videobilder gezeigt werden. Es sind Bilder in Großaufnahme von unterschiedlichen Positionen der sich drehenden Spulen und dem, was sie durch ihr Drehen in Bewegung setzen. Doch dazu gleich. Eine leere Wäscheleine quer hinter den Instrumenten im Raum aufgehängt, lässt mich an eine Waschküche denken, an jenen Ort heimeliger Geschäftigkeit, in dem alles in wohlig warmen Dampf gehüllt ist. Auch das ein Kinderbuchbild. Zunächst zaghaft, fast ein wenig schüchtern, kommen nacheinander die Musiker auf die Bühne. Vier Männer und eine Frau: Laia Torrents Carulla, Roger Aixut Sampietro, Josep Seguí Mata, Ramon Garriga Mas und Alberto Mezquiriz Aoiz: Die katalanische Musikgruppe Cabo San Roque. Sie wurde 2001 im berühmt berüchtigten Barrio Raval in Barcelona gegründet. Das ist die ehemalige Vorstadt Barcelonas jenseits der Rambla, die sich vom Placa 1

Catalunya bis zum Hafen erstreckt. Das frühere Rotlichtviertel entwickelt sich heute immer mehr zu einem Künstler- und Szeneviertel. Die Band Cabo San Roque, ursprünglich als Lounge- oder Hausmusikorchester gegründet, widmet sich heute vor allem der Kammermusik. Es ist sozusagen eine “Kammeroper der Dinge“, in der Alltagsgegenstände zu Instrumenten umfunktioniert werden und sie damit eine neue Zuschreibung bekommen. Die Musiker sehen sich selbst als avantgardistische Gruppe, frei nach dem Motto: Man kann mit jedem Ding Musik machen. Das Unmögliche und nicht Vorstellbare macht Cabo San Roque erlebbar. Indem sie auch scheinbar nutzlosen Dingen wieder einen Gebrauchswert geben, zeigen sie, dass man auch mit einem Stück Schlauch oder einem Trichter Musik machen kann. Man kann es konkret als Befreiung von engen Konventionen und starren Standards in der Musik verstehen und allgemein als Kritik an unserer Konsum- und Wegwerfgesellschaft: Gib den Dingen einen neuen Wert! Mit der Fülle der Gegenstände, die sich äußerst kreativ einsetzen lassen und der Freiheit ihrer Performance öffnet sich Cabo San Roque den Weg für die unterschiedlichsten künstlerischen Spielplätze: Theater-, Puppen- und Objektfestivals. Ganz in Rot und Weiß gekleidet nehmen die Musiker ihre Plätze ein. Besonders sticht einem die schöne Laia ins Auge. Sie ist die einzige Frau in der Band, eine sehr zierliche und sportliche Person, sie trägt ein knallrotes Kleid, eine Mischung aus Cocktail- und Flamencokleid. Das mit Pailletten besetzte Kleid schmiegt sich bis zur Hüfte eng an den Körper an und funkelt im roten Bühnenlicht. Nur die Ärmel und der Teil unterhalb der Hüften bauschen sich in Rüschen. Sie trägt die Haare streng nach hinten gekämmt und zu einem Dutt gezwirbelt, daran ist ein roter Kopfschmuck gesteckt, der an eine kleine Krone erinnert. Ihre Kleidung und ihre zarte Silhouette verleihen ihr etwas Feenartiges. Doch je länger die Aufführung währt und sich dynamisch entwickelt, desto mehr bekommt man den Eindruck, dass sie hier „die Hosen anhat“. Als schließlich alle fünf Musiker auf der Bühne sind, beginnen sie, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen. Einige der Männer ziehen ihre Hose aus, andere ihr T-Shirt, dann stecken sie die Kleider in die Waschmaschine und schalten sie ein. Überraschend, befremdliche und äußerst amüsant ist der Anblick der Männer in gediegen weißer Unterwäsche. Eine kleine Phantasiewelt, märchenhaft und grotesk zugleich tut sich dem Zuschauer hier auf, mit Hauptdarstellern in weißem Unterhemd und Unterhose. Damit nimmt alles eine unerwartete Wendung ins Intime. Wir Zuschauer werden unwillkürlich in die Szenerie hineingezogen, Verbündete, sind Zuschauer und Statisten in einem. Unwillkürlich muss ich schmunzeln. Die Waschmaschine läuft und mit ihr beginnen sich auch die drei Spulen zu drehen. Die Schrauben, die an der Oberfläche der Spule befestigt sind, bringen beim Drehen andere Mechanismen in Bewegung und so entwickelt sich ein kleines Orchester unterschiedlichster Klänge: Kleine Hämmer schlagen Saiten, ein größerer Hammer bearbeitet rhythmisch eine Trommel. Das Gerät funktioniert zwar wie ein Leierkasten, bringt aber anstatt einer Melodie verschiedene Klänge gleichzeitig hervor. Begleitet wird diese Klangorgie vom Schlagen der Kleider gegen die Innenwand der Waschmaschine. 2

Der Mann am E-Piano auf der linken Seite hat im wahrsten Sinne des Wortes die Zügel in der Hand. Indem er nämlich an Schnüren, die von der Art Leierkasten zu seinem Platz gespannt sind, zieht beziehungsweise sie löst, verändert er bestimmte Mechanismen des Leierkastens und neue Töne entstehen. Er stimmt mittels der Schnüre bei seinem E-Piano und dem neben ihm stehenden Mischpult eine Art Grundfrequenz ab, auf die die anderen Musiker reagieren. Das Spiel beginnt. Das erste Stück klingt wie ein Gemisch aus Minimal Electro und alternative Jazz, wie sie zum Beispiel die Band Youngblood Brass Band spielt, und anderer zusammengewürfelter Klangfragmente. Ich beginne etwas unruhig auf meinem Stuhl zu rutschen, so etwas habe ich nicht erwartet. Vergebens versuche ich einen Rhythmus auszumachen, eine Harmonie, irgendetwas an dem ich mich festhalten kann. Von Musikgenuss kann zunächst kaum die Rede sein, alles hört sich unstimmig und schräg an. Undefinierbar sind die Klänge, sie scheinen aus einer anderen Welt zu kommen. Obwohl einem die Gegenstände und Instrumente vertraut sind, überfordert dieses fremdartige Zusammenspiel und die schiere Fülle origineller und eigenartiger Klänge mein an Harmonien und Rhythmen gewöhntes Ohr. Das erste Lied ist vorbei, ich klatsche zaghaft. Ein junger, charismatisch wirkender Mann mit einem etwas spitzbübischen Gesicht, beginnt kleine Anekdoten zu erzählen. Ich erfahre nun etwas über die Herkunft der alten Waschmaschine aber auch über ihre Musik, die sie machen. So hat das ganze Gerät bestehend aus der Waschmaschine, dem Leierkasten und der Befestigung mit den Schnüren den Namen: La rentadora de la família Caba, was katalanisch ist und so viel bedeutet wie: Die Waschmaschine der Familie Caba. Einige seiner Bandmitglieder fahren währenddessen fort, ihre Kleider bis auf die Unterwäsche auszuziehen und in die Waschmaschine zu stecken. Die bereits gewaschenen Kleider werden sorgfältig auf die Wäscheleine gehängt. Die Musiker werden zunehmend geschäftig. Sie wechseln die Plätze auf der Bühne und die Instrumente. Neben herkömmlichen Instrumenten wie Klavier, Akkordeon, Piccolotrompete und Klarinette kommen nun auch andere Gegenstände zum Einsatz. Ein Schlauch, in den vorne Löcher gemacht wurden, wird wie eine Flöte gespielt, zählt jedoch zur Familie der Saxophone. Ein anderes Blasinstrument, die Trombó de dutxa, ist aus Metallrohren zusammengestecktes und an ihrem Ende ist ein Trichter befestigt ist, sodass es an eine Posaune erinnert. Diese wundersamen Instrumente klingen im Zusammenspiel zunächst einmal schrecklich dissonant. und die Musiker scheinen große Mühe zu haben sie zu spielen. Noch immer suche ich Vertrautes, warte auf besänftigende Akkorde, stattdessen aber schräg klingendes Knarzen, Quietschen, Röhren. Im Hintergrund nehme ich immer wieder das Ticken einer Uhr wahr. Das Geräusch kommt wohl auch von der Waschmaschine und unwillkürlich denke ich an das Verrinnen der Zeit. Ist dies wiederum eine Anspielung auf unsere Konsumgesellschaft die damit verbundene Entwertung von Dingen oder aber, dass es mit unserem Planeten fünf vor zwölf steht? 3

Ich wollte mich gerade schon mit diesen akustischen Provokationen abfinden, da spüre ich zuerst zaghaft, danach deutlicher, dass alles doch irgendwie zusammenpasst und auf unerklärliche Weise zu einer „richtigen“ Musik wird. Diesmal entsteht eine Melodie, die mich sofort mitreißt und mich unwillkürlich an die von Yann Tiersen komponierte Musik von dem Film Amélie denken lässt. Eine sehr leichte und verspielte Musik, so originell wie der Film selbst, der 2001 in unseren Kinos erschienen ist. Die Musiker sind sehr konzentriert, alles ist aufeinander abgestimmt und ich bin mir nicht sicher, ob dies eine ins kleinste Detail einstudierte Aufführung ist oder ob sie doch von ihrer Offenheit und Improvisation lebt. Zumindest wirken sie manchmal selbst überrascht und sehr erfreut, wenn eine gute Komposition entsteht oder ein guter Einsatz gelingt und sich zunehmend im Takt der Musik bewegen. Grooven auf Katalan. Das Hin- und Herlaufen der Bandmitglieder während des Spiels erinnert mich an einen geschäftigen Marktplatz. Sie kennen ihre Wege, wissen, wo sie was finden und gehen sozusagen Klänge einkaufen. Eine unaufdringliche, frei wirkende Choreografie wie in einem modernen Tanztheaterstück. Es entstehen die unterschiedlichsten Töne, die von Zeit zu Zeit von einem Aufnahmegerät am Mischpult aufgenommen werden, um dann selbstständig weiterzuspielen, während die Musiker schon wieder andere Instrumente spielen. Laia benutzt für eine Aufnahme zwei kleine Walkie Talkies, die sie eingeschaltet, dann nah aneinander bringt und somit eine störende Interferenz erzeugt, die unangenehm schmerzend in meinen Ohren tönt. Es entsteht eine Überlappung zahlreicher Töne, die sich zu einem riesigen Klangorchester vereinen. Wenn die Klänge zu einem Höhepunkt zusammengefunden haben, wird diese Melodie noch kurz ausgespielt, um dann abrupt mit dem Ausschalten der Waschmaschine abzubrechen. Das Betätigen der Waschmaschine ist hierbei zentral. Sie wird am Anfang und am Ende jedes Stücks betätigt und ist somit der Schlüssel zur Musik. Es ist wie ein Ritual, das immer wiederkehrt und damit eine gewisse Sicherheit vermittelt. Diese Wiederholungen geben der Aufführung den Eindruck einer Performance, nahezu eines Tanzes. Die alte, vergilbte Waschmaschine ist eine optische und akustische Klammer des jeweiligen Musikstücks. Zu diesem Ritual scheint auch das tiefe Einverständnis und Vertrauen der Musiker in sich selbst und sie anderen zu gehören. Sie werfen sich einvernehmliche Blicke zu, die aus einer Sprache herzurühren scheinen, die für die Zuschauer unverständlich bleibt. Die Band wirkt auf mich wie eine Familie, die ihrem täglichen Ablauf routiniert folgt, dennoch aber immer wieder freudige Erregungen zeigt. Es geht nicht um in Fleisch und Blut übergegangene Abläufe, sondern vielmehr um instinktives Handeln, um Ausdruck des Bauchgefühls. Sie bleiben sehr bei sich und nur hier und da öffnet sich eine kleine Tür für den Zuschauer, die einen privaten Zugang freigibt: Es ist der Moment, wenn kleine Geschichten und Anekdoten erzählt werden oder aber auch wenn die Musiker kurz das Publikum anlachen.

Die Band macht auf mich einen sehr authentischen Eindruck, was sie sehr sympathisch macht. Nichts Gewolltes, kein l`art pour l´art, keine inhaltsleere Selbstdarstellung der Künstler. 4

Der Anekdotenerzähler tritt ein wenig aus der Gruppe heraus und ist damit der einzige, der sich direkt dem Publikum zuwendet. Es macht Spaß ihm zuzusehen, wie er versucht die Sprachdifferenzen zu überwinden und auch seine Erzählweise hat einen großen Unterhaltungswert. Etwas unbeholfen versucht er auf Englisch zu erzählen und muss dadurch immer wieder über sich selbst lachen. Auch wenn man den Sinn nicht immer versteht, regt schon allein sein offenes, lachendes Gesicht und seine untermalende Gestik zum Mitlachen an. Er erinnert mich ein wenig an einen Klassenclown, der es genießt „sein“ Publikum zu unterhalten. Diese Musik steht für sich und bedarf keiner großen Performance. Allein ihre Entwicklung und das Zusammenspiel der einzelnen Klänge bis zum Höhepunkt macht sie erfahrbar und das mit sehr viel Spaß. War das erste Lied noch schwer verdaulich für mich, so fällt mir der Zugang zur Musik mit jedem Stück leichter und reißt mich mit in ihren Sog. Schon mit dem Beginn des zweiten Liedes tauche ich in eine andere Welt ein. Ich komme mir vor wie in einer Märchenwelt aus Farben, Formen, Klängen und wundersamen Figuren. Mittlerweile laufen die Musiker alle in ihrer weißen Unterwäsche umher. Ein sehr merkwürdiger Anblick, an den man sich mit der Zeit allerdings, da die Musiker selbst so natürlich damit umgehen, gewöhnt. Die Kleider werden allerdings nicht richtig gewaschen, sondern durchlaufen lediglich einen Trockenwaschgang, ohne Wasser und ohne Waschpulver. Mit dem Aufhängen der Wäsche auf der Wäscheleine verwandelt sich die Bühne mehr und mehr in einen Waschraum, in einen Waschsalon als allgemeiner Treffpunkt, in dem die Kunden wie emsige Bienen umhereilen. Die Unterwäschemodelle reichen von Unterhemden über kurze Unterhosen bis hin zu einer langen Feinrippunterhose, die ein wenig altbacken wirken. Automatisch habe ich das Bild einer Gasse irgendwo in einem kleinen italienischen Städtchen in meinem Kopf, in der kreuz und quer Wäscheleinen aufgehängt sind, auf denen die unterschiedlichsten und unmöglichsten Wäschestücke im Wind flattern. Die Farbe des Lichts auf der Bühne ändert sich abwechselnd von Rot zu Weiß und Blau. Ich beobachte, dass das Licht beim Erreichen des musikalischen Höhepunktes jedes Liedes rot wird und damit das nahende Ende ankündigt. Gibt es etwa doch eine Struktur? Womöglich mehrere, die ich nur noch nicht erkannt habe? Strukturen, die so verborgen sind, dass man nach ihnen suchen muss? Wieder das Findespiel aus dem Kinderbuch? Die Farbe Rot mit ihrer bekannten Signal- und Warnwirkung, lässt mich unwillkürlich angespannt sein, lässt meinen Adrenalinspiegel steigen, was mich die Musik automatisch noch intensiver erleben lässt. Steckt dahinter womöglich eine wohldurchdachte psychologische Manipulation, ein Spiel mit meinem Unterbewussten als Zuschauer, ist das vermeintliche Chaos womöglich ein schlaues Ablenkungsmanöver? Will man mir hier als Konsument deutlich machen, wie beeinflussbar ich bin? Das weiße und blaue Licht schafft hingegen durch seine Kälte einen größeren Abstand zum Geschehen. Das Licht bewirkt in mir das unterschiedliche Erfahren der Musik. Das warme 5

Licht erzählt etwas anderes, hinterlässt einen intensiven Eindruck, wobei ich beim kalten Licht leichter abschweife. Jedes Licht spiegelt im Moment seines Erscheinens auch die Abwesenheit der anderen Lichter wieder, was immer wieder eine neuartige Stimmung erzeugt. Peu à peu werden, fast wie im Tonstudio, Klänge und Töne zusammengefügt. Sie wechseln sich gegenseitig ab, überlagern sich, bis die scheinbar perfekte Komposition entstanden ist. Die Töne finden zueinander, vereinen sich und lösen sich wieder auf. Es ist wie ein Tanz, der auch durch das ritualhafte Verhalten der Musiker verstärkt wird. Musik als prozesshaftes Geschehen, als dialektischer Prozess von These und Antithese mit einer Synthese in Form einer wohlklingenden Melodie. Keine Frage: das ganze Geschehen auf der Bühne in Potsdam regt zum Philosophieren an. Ich bin bei jedem Neubeginn eines Liedes überrascht, wie zahlreich und vielschichtig die Klänge sind, die durch die drei Spulen entstehen. Auch das Schlagen der Wäsche in der Waschmaschine passt für mich überraschenderweise vortrefflich dazu. Ich habe mir darüber, welchen Sinn die Wäsche in der Waschmaschine macht, zunächst gar keine Gedanken gemacht. Das ändert sich allerdings schlagartig, als der Musiker, der die Anekdoten erzählt, das Publikum darauf aufmerksam macht. Sowohl die Menge der Wäsche als auch ihr Material und Beschaffenheit wirken sich auf den Klang aus. Alles, was auf dieser Bühne geschieht, hat etwas sehr Leichtes, Unbeschwertes an sich. Und dennoch fühle ich mich als Zuschauer auch ein bisschen wie ein Voyeur, der Teil einer sehr privaten Szene ist. Dieses Gefühl scheint zum Einen durch die Musiker in Unterwäsche in mir auszulösen, gleichzeitig auch durch das größtenteils zurückgenommene Verhalten der Band gegenüber dem Zuschauer. Außer dem Anekdotenerzähler scheint die Band nicht besonders am Publikum interessiert zu sein. Sie vermitteln eine sehr große Ernsthaftigkeit, das Geschenk, das sie dem Publikum mit ihrer Darbietung machen, ist Arbeit, harte Arbeit. Die Bandmitglieder handeln auf der Bühne in absolutem Einverständnis. Allein durch Blicke und kurzes Zuflüstern kommunizieren sie miteinander. Diese nahezu lautlose Kommunikation verstärkt bei mir das Gefühl, ein Außenstehender dieser harmonischen Gemeinschaft zu sein. Hier und da öffnet sich jedoch ein Türchen, das eine Verbindung zwischen der Band und dem Publikum herstellt. Besonders intensiv wird der Kontakt, als das Publikum um eine Kleidungsspende gebeten wird. Ein junger Mann trennt sich von seinem Pullover und wird dafür vom Publikum mit Applaus bedacht. Eine Opfergabe an den Gott der wohlklingenden Töne? Glaubt man dem Erzähler, dann nimmt dieser Pullover Einfluss auf den Klang des nächsten Liedes. Das würde bedeuten, dass die Grenze zwischen Publikum und Band nicht mehr deutlich ist, ja sogar eine Verschmelzung beider stattfindet. Wieder zeigt sich das Motto: Jeder kann mit allem Musik machen. Irgendwie mystisch! Musik hat in Katalonien eine große Tradition. Sie schöpft aus einem riesigen Reichtum unterschiedlichster Musikrichtungen und Instrumente. So zeigt sie auch heute noch, trotz 6

moderner Einflüsse, den Rückbezug auf alte Epochen. Die Entwicklung eigenständiger katalanischer Musik wird auf das Jahr 900 nach Christus datiert. Zu jener Zeit wurde Musik hauptsächlich in Klöstern geschrieben und gespielt und so ist die Überlieferung alter traditioneller Musik vor allem Mönchen zu verdanken. Nach und nach haben die unterschiedlichsten Instrumente Eingang in die katalanische Musik gefunden. Die katalanischen Orgelkompositionen von Joan Baptista Cabanilles (1644-1712) finden auch heute noch durch ihre komplexe Kontrapunktik und die gewagte Verwendung von Dissonanzen einen großen Anklang bei den Liebhabern der traditionellen katalanischen Musik. Im 18. Jahrhundert wird auch die Gitarre eingeführt, der 1778 getaufte, sein Geburtsdatum ist unbekannt, Gitarrist Josep Ferran Sors hat zu seiner Zeit sogar als bester Gitarrist der Welt gegolten. Katalonien bietet aber auch Komponisten für das Klavier wie etwa Isaac Albéniz (1860-1909) oder auch Eric Granados (1867-1916), die sich als Pianisten weltweit einen großen Namen gemacht. Besonders die außergewöhnliche katalanische Spieltechnik von Albéniz wird auch heute noch an Musikschulen vermittelt. Die zeitgenössische Musik Kataloniens kann also aus einem überaus reichen Fundus traditioneller Stile schöpfen. Richtungsweisend waren dabei auch Künstler wie Joaquim Homs, Xavier Montsalvatge und Joan Comellas, deren Musik auf unzähligen Musikfestivals auf der ganzen Welt gefeiert wurde. Der Kampf Kataloniens um seine Unabhängigkeit von Spanien verstärkt das eigene Bewusstsein für die Sprache, Kultur und die alten Traditionen, die stolz gelebt werden, weil sie die katalonische Identität stärken. Das ausgeprägte Bewusstsein für traditionelle Wurzeln zeigt sich auch bei Cabo San Roque. Immer wieder klingen Klänge folkloristischen Ursprungs durch. So ist etwa das dritte Lied, das sie spielen, eine Interpretation eines alten katalanischen Weihnachtslieds. Aus dieser Auseinandersetzung mit der Musik und ihrer Entstehung kreiert das Quintett hier geradezu spielerisch etwas sehr Eigenes und Neues. Das Einsetzen von Gebrauchsgegenständen als Instrumente kommt auf der einen Seite aus der Philosophie der Avantgarde, andererseits liegt dem jedoch noch etwas anderes, ursprünglicheres zugrunde: das kindliche Spiel. Für Kinder ist es das natürlichste der Welt auf Gegenstände zu hauen, zu klopfen und damit einen Rhythmus zu erzeugen. Es ist ein Grundinstinkt, der das Kind dazu veranlasst, der Rhythmus des Herzens, der uns seit unserer Zeugung begleitet. Die Unbedarftheit des Kindes, sein Freisein von Konventionen, macht es ihm möglich Gegenstände nicht in nur einer festgelegten Funktion zu betrachten, sondern vielmehr es für alles Mögliche einzusetzen und so auch um Musik zu machen. Dieser spielerische, unvoreingenommene Umgang mit Dingen geht meist in der Entwicklung zum Erwachsenen verloren, doch zeigt der Mensch in vielerlei künstlerischer Hinsicht die Sehnsucht nach diesem naiven Spiel. So entstehen Kunstrichtungen wie die Avantgarde, Tanz- und Performancegruppen wie Stomp oder auch Blue Man Group und eben auch Cabo San Roque. Der Einsatz von Schläuchen, Trichtern, Blechtonnen, Besen oder auch einer Waschmaschine ist dabei die moderne Interpretation oder auch Weiterführung von Einsatz ursprünglicher Gegenstände aus der Natur. Die historische Entwicklung des Menschen zeigt, dass Rhythmus und Musik schon immer Teil des menschlichen Alltags waren. Sei es das Klopfen von 7

Steinen, das Schlagen von Hölzern oder Knochen, egal wie es passiert, Musik findet ihren Weg und die Welt ist Klang. Naturvölker haben sich, natürlich auch durch die Abgeschiedenheit von moderner Zivilisation, dieses kindliche Spiel von Alltagsgegenständen zum Musizieren bewahrt. Obwohl wir heute verstärkt elektrisch produzierte Musik hören und selbst Instrumente wie Gitarren oder Klavier am Computer nachgemacht werden können, hat der Gebrauch von Gegenständen zum Musizieren immer noch für viele Menschen eine große Faszination. Der Akt des Entkleidens während der Performance ist ein wichtiger Teil des kindlichen Spiels der Band, der Teil ihrer Identifikation ist. Der Schutz der Kleider geht durch das Ausziehen verloren und somit auch ein Teil der jeweils eigenen Identität der Musiker. Die Schutzfunktion übernimmt nun die Musik und wird dadurch nochmals betont. Die weiße Unterwäsche macht sie alle gleich, nur die Musik allein verschafft ihnen einen Namen, eine Identität. Auch hier zeigt sich ein stark kindlicher Charakter in ihrer Performance aber auch wiederum der Bezug zur Ursprünglichkeit, Einfachheit der Dinge und der Herkunft des Menschen. Dennoch ist der Unterhaltungsfaktor natürlich nicht unwichtig. Denn obwohl die Grundidee sein könnte von der Äußerlichkeit weg zum eigentlich Essenziellen zu führen, so ist der Akt des Auskleidens dennoch auffallend und drängt sich einem bei der Performance durch seine Ungewöhnlichkeit auf. Es ist der Facettenreichtum von Cabo San Roques, ihr Spiel mit der katalonischen Geschichte und dem Wunsch und der Sehnsucht nach der Unbekümmertheit aus Kindertagen, der das Publikum anspricht. Es ist eine generationsübergreifende Musik, die die unterschiedlichen Musikgeschmäcker miteinander versöhnt. Dennoch bleibt die Musik von Cabo San Roque vornehmlich modern, da sich der Bass und die elektronischen Anteile der Musik dominant gegenüber den folkloristischen Klängen zeigen. Jedes Lied ist anders. So entstehen bei mir als Zuschauer die unterschiedlichsten Bilder und Assoziationen mit jedem neuen Lied. Einmal befindet man sich in einem französischen Film, dann auf einem Balkanfest und dann wieder in einem Nachtclub mit durchdringendem Electrosound. Die circa siebzig minütige Machine Washed Music Aufführung ist ein Erlebnis, dem man sich als Zuschauer unmöglich entziehen kann. Zwar wird weder mitgetanzt oder mitgesungen, wie bei manch anderen Konzerten, dennoch wird man visuell wie auch akustisch stark gefordert. Eine wahre Sinnesorgie, der man wie ein neugieriges Kind begegnet und sich in ihren Sog ziehen lässt. Es lassen sich von Cabo San Roque auch CDs erwerben, jedoch denke ich, dass ihre Musik nur zusammen mit ihrer Performance verstanden und vermittelt werden kann. Die Klänge eigen und ausdrucksstark, doch vermittelt die Musik, wenn sie alleine steht, etwas anderes. Wir lauschen doch allesamt lieber einer Geschichte, die uns jemand direkt erzählt, als sie von einer CD zu hören. Denn der Erzähler ist doch immer auch ein Teil der Geschichte die er erzählt. 8

Cabo San Roque ist weder akustisches noch optisches Fastfood, sondern Slowfood mit Feinkostcharakter. Nichts für schnelle Konsumenten, eher was für Leute, die sich ihre Neugierde und Offenheit bewahrt haben.

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