3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

ch03.qxd 17.07.2009 96 15:06 Uhr Seite 96 3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten 3.1 Nahrungserwerb Alle Lebewesen entnehmen ihrer Umwe...
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3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

3.1 Nahrungserwerb Alle Lebewesen entnehmen ihrer Umwelt Produkte, die sie zum Wachstum, zur Unterhaltung ihres Stoffwechsels und zur Fortpflanzung benötigen. Man teilt die Lebewesen nach ihrer Ernährungsweise anhand der Herkunft ihrer Energie- (chemooder phototroph) und Kohlenstoffquelle (auto- oder heterotroph) in vier Gruppen ein (€ Tab. 3.1). Während die Prokaryoten in allen vier Gruppen vertreten sind, haben sich die Eukaryoten auf zwei Ernährungsweisen spezialisiert: die photoautotrophen Pflanzen und die chemoheterotrophen Pilze und Tiere.

3.1.1 Spezialisierung Die Qualität der Nahrung hat nicht für alle Organismen die gleiche Bedeutung, denn die Lebewesen haben sich unterschiedlich spezialisiert. Solche Nahrungsspezialisierungen gehen noch viel weiter als die Herkunft von Energie und Kohlenstoff und sind besonders im Tierreich vielfältig ausgeprägt. Dort gibt es von extremen Nahrungsspezialisten, wie z. B. der Bohrfliege Urophora cardui, die in Mitteleuropa ihre Gallen nur in den Stängeln der Ackerkratzdistel (Cirsium arvense) erzeugt, bis zu extremen Generalisten, wie dem Menschen, der sich von einer Vielzahl tierischer und pflanzlicher Produkte ernährt, alle Übergangsstufen. Pflanzen haben dagegen im Unterschied zu Tieren recht ähnliche Ansprüche an ihre Nahrung; sie benötigen CO2 aus der Luft und einige Nährstoffe (hauptsächlich Stickstoff, Phosphor und Kalium) und Wasser aus dem Boden (bei aquatischen Pflanzen aus dem Gewässer). Gärtner machen sich dies zu Nutze und ziehen eine Vielzahl verschiedenster Pflanzenarten in der gleichen Erde und unter ähnlichen Lichtverhältnissen auf. In welchen Fällen wir von einem Generalisten und ab welchem Grad der Spezialisierung wir von einem Spezialisten sprechen, ist nicht einheitlich definiert. Bei phytophagen oder auch herbivoren (= pflanzenfressenden) Insekten, die etwa 25 % aller bekannten Arten ausmachen und zu einem großen Teil spezialisiert sind, spricht man in der Regel von monophagen Arten, wenn sie sich von einer Pflanzenart ernähren, von oligophagen, wenn sie von Arten einer Gattung, und von polyphagen Arten, wenn sie von Pflanzen verschiedener Gattungen leben. Pflanzenfresser werden häufig auch Herbivoren genannt, Fleischfresser Carnivoren und Allesfresser Omnivoren. Auch wenn eine Art ein breites Nahrungsspektrum hat und somit als Generalist gilt, haben häufig die einzelnen Populationen oder sogar Individuen ein relativ enges Nahrungsspektrum und neigen somit zur Spezialisierung (composite generalist). Unter den Menschen gibt es z. B. viele Vegetarier, und Inuits in Grönland stellen ihre NahTabelle 3.1: Einteilung der Lebewesen nach ihrer Ernährungsweise. Energiequelle

Kohlenstoff aus CO2

Kohlenstoff aus organischer Substanz

Licht

photoautotroph (z. B. Cyanobakterien, Pflanzen)

photoheterotroph (z. B. Purpurbakterien)

chemische Verbindungen

chemoautotroph (z. B. Schwefelbakterien)

chemoheterotroph (z. B. Pilze, Tiere, die meisten Bakterienarten)

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3.1 Nahrungserwerb

rung anders zusammen als asiatische Reisbauern. Beim Guppy (Poecilia reticulata) fressen einige Individuen im Wahlversuch bevorzugt Röhrenwürmer (Tubifex), während andere Taufliegenlarven (Drosophila sp.) vorziehen, obwohl beides in gleichen Mengenverhältnissen angeboten wurde (€ Abb. 3.1). Die ganze Population verhielt sich also wie ein Generalist, während sich die Individuen durchaus spezialisiert haben. Allgemein besteht der Nahrungserwerb aus zwei Phasen: dem Suchen von Nahrung und der Handhabung (Überwältigen, Fressen, unter Umständen auch Verdauen und sich hinterher Putzen; handling). Wichtig ist sich klar zu machen, dass ein Tier während der Handhabung einer Beute keine andere, sich vielleicht lohnendere Beute suchen kann. Ein Räuber sollte sich also vor einer Attacke überlegen, ob er nicht in der Zeit, die er mit der Handhabung dieser Beute verbringt, eine lohnendere Beute finden kann („Prinzip der verpassten Chance“). Aus diesen Betrachtungen haben MacArthur und Pianka (1966) folgende Schlussfolgerungen gezogen: Räuber mit relativ zu ihren Suchzeiten kurzen Handhabungszeiten sollten ein breites Spektrum an Beutearten akzeptieren, denn die kurze Zeit, die sie mit der Handhabung bereits gefundener Beute verbringen, hat nur einen geringen Einfluss auf die gesamte Suchzeit. Meisen (Parus sp.) z. B., die auf der Suche nach Insekten durch die Vegetation streifen, verbringen einen Großteil ihrer Zeit mit der Suche nach Beute, während die Handhabungszeit gefundener Beute vernachlässigbar ist. Im Einklang mit den Vorhersagen haben Meisen (wie übrigens auch viele andere insektenfressende Vögel) ein breites Beutespektrum. Im Gegensatz dazu leben z. B. Löwen (Panthera leo) mehr oder weniger in ständiger Sichtweite ihrer Beute, verbringen daher kaum Zeit mit der Suche. Bei ihnen würde die Theorie eine Spezialisierung auf besonders lohnende Beutetypen voraussagen, denn wenn sie eine weniger profitable Beute ignorieren, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie innerhalb kurzer Zeit eine profitablere Beute finden. Tatsächlich spezialisieren sich Löwen auf Beute, die mit einem relativ geringen Energieaufwand überwältigt werden kann (kranke, junge und alte Beutetiere).

6 4 2 0

0,0

0,25

0,50

0,75

Anteil Drosophila in der Nahrung

1,0

6

Energie

5

4

4

2

2

0

0

3 1 0

10

20 30 Muschellänge (mm)

40

Anzahl pro Tag gefressener Muscheln

8 Energiegewinn (J s–1)

Anzahl Fische

8

3.1 Links: Häufigkeitsverteilung der Nahrungszusammensetzung von Guppys, denen jeweils gleiche Anzahlen von Taufliegenlarven und Röhrenwürmern angeboten wurden. Die Individuen haben sich mehr oder weniger auf eine der beiden angebotenen Beutearten spezialisiert, jedoch haben sich die einzelnen Tiere auf unterschiedliche Beutearten spezialisiert: manche auf Taufliegenlarven andere auf Röhrenwürmer. Nach Murdoch et al. (1975). Rechts: Nahrungswahl von Strandkrabben (Carcinus maenas). Die Tiere bevorzugen die Muschelgröße, die den größten Energiegewinn verspricht. Nach Elner und Hughes (1978).

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Eines der Hauptargumente für eine Spezialisierung ist, dass nicht jede Nahrung gleich effizient physiologisch genutzt werden kann und daher eine Spezialisierung auf Nahrung, die leichter umgesetzt werden kann, vorteilhaft ist, weil sie die Fitness maximiert (physiologische Effizienzhypothese, physiological efficiency hypothesis). Dieses Argument leuchtet intuitiv ein, denn da verschiedene Pflanzenarten (und auch Individuen) sich in ihren chemischen und physikalischen Eigenschaften sowie ihrer Verbreitung und Phänologie unterscheiden, ist es unwahrscheinlich, dass Insekten an die meisten ihrer Nichtwirtpflanzen angepasst sind. Die Selektion sollte also eine Bevorzugung gut geeigneter Wirtspflanzen fördern. Obwohl diese auf den ersten Blick einleuchtende Hypothese häufig im Zusammenhang mit Nahrungsspezialisierung genannt wird, ist sie keineswegs durch experimentelle Untersuchungen breit abgesichert. Eine der Vorhersagen, die sich aus dieser Hypothese ergeben, ist, dass eine stärkere evolutionäre Anpassung der Performance (z. B. Wachstum, Überleben, Fekundität) der Nachkommen an eine Pflanzenart eine reduzierte Anpassung gegenüber anderen Pflanzenarten nach sich zieht. Einfach ausgedrückt heißt das, wenn man bestimmte Pflanzen besonders gut nutzen kann, kann man andere schlechter verarbeiten (ein so genannter trade-off, S. 73). Experimentelle Hinweise für einen solchen trade-off hat man in vielen Fällen gesucht, aber in der Regel keine derartige negative genetische Korrelation gefunden (für eine der wenigen Bestätigungen der Hypothese bei Spinnmilben siehe z. B. Agrawal 2000). Ebenso sagt die physiologische Effizienzhypothese voraus, dass Spezialisten ihre Wirtspflanze effektiver nutzen sollten als Generalisten. Mit anderen Worten, wenn Generalisten auf der gleichen Pflanzenart wie ihre spezialisierten Verwandten aufgezogen werden, sollten sie sich schlechter entwickeln oder eine geringere Fekundität haben als die Spezialisten. Doch auch diese Vorhersage hat sich in den meisten Experimenten nicht bestätigt. Ebenfalls aus dieser Theorie hervorgegangen ist eine dritte Argumentation, die zu erklären versucht, dass Generalisten ihr breites Nahrungsspektrum beibehalten und verschiedene Nahrungstypen mischen, um eine balancierte Nährstoffaufnahme zu gewährleisten (Pulliam 1975, Rapport 1980). Bei Wirbeltieren gibt es hierzu einige klassische Beispiele. Elche (Alces alces) suchen ihre Nahrung in zwei unterschiedlichen Habitaten, zwischen denen sie regelmäßig wechseln. Im Wald fressen sie Blätter von Laubbäumen, während sie in Teichen Pflanzen unter Wasser abweiden. Die Laubblätter haben einen hohen Energie-, aber einen geringen Kochsalzgehalt, während es bei den Wasserpflanzen genau umgekehrt ist. Da Elche beides benötigen, müssen sie eine gemischte Nahrung zu sich nehmen (Belovsky 1978). Bei phytophagen Insekten gibt es bislang nur bei Heuschrecken Beispiele für einen Vorteil vom Mischen verschiedener Pflanzenarten (Bernays und Bright 1993). Bei anderen Insekten (Schmetterlingen, Fliegen, Wanzen) scheint eine gemischte Ernährung nicht generell vorteilhaft zu sein (Singer 2001). Die Theorie stimmt also offensichtlich nicht immer mit der Natur überein, ist aber trotzdem nicht unbedingt falsch. Wenn man berücksichtigt, dass auch andere Faktoren eine Rolle bei der Nahrungsauswahl spielen können, erkennt man bald, dass die Qualität der Nahrung unter Umständen gegen andere Faktoren abgewogen werden muss. Dieses wird im Folgenden ausführlicher diskutiert. Insektenlarven können sich, besonders wenn sie noch klein sind, häufig nicht weit fortbewegen. Viele phytophage Insekten leben als Larve sogar innerhalb der Pflanze

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3.1 Nahrungserwerb

(Minierer oder Gallbildner). Die Larven wählen daher in der Regel ihre Wirtspflanze nicht selbst aus, sondern sind an die Pflanze gebunden, auf die das Weibchen ihre Eier abgelegt hat. Die Weibchen wählen also die Wirtspflanze für ihre Nachkommen aus. Nach unserer Theorie sollte bei Insekten also die Präferenz der Weibchen für gewisse Wirtspflanzen mit der Performance der Larven korreliert sein (Präferenz-Performance-Hypothese, preference-performance hypothesis). In Experimenten, in denen Pflanzen verwendet wurden, die relativ nahe mit den natürlichen Wirtspflanzen der Insekten verwandt oder ihnen chemisch ähnlich waren, gab es allerdings häufig nur eine schlechte Korrelation zwischen Eiablagepräferenz der Weibchen und der Performance der Nachkommen. Weibchen des Schwalbenschwanzfalters (Papilio machaon) legen z. B. überhaupt keine Eier auf einige Pflanzenarten, die praktisch ebenso geeignet für ihre Larven sind wie ihre normalen Wirtspflanzen (Wiklund 1975). Andere Insekten wiederum legen Eier auf Pflanzen, die nahezu ungeeignet als Nahrung für die schlüpfenden Larven sind. Die Weibchen verhalten sich also auch hier in vielen Fällen nicht so, wie es die Theorie vorhersagt. Es gibt inner- und zwischenartliche Gründe, warum Weibchen nicht immer das offensichtlich Beste für ihre Nachkommen tun, z. B. wenn es ihnen selbst schadet und ihre Fitness herabsetzt. Interaktionen mit anderen Arten können ebenfalls verhindern, dass eine ansonsten gut geeignete Pflanzenart von den Weibchen als Wirtspflanze akzeptiert wird. Dies können entweder Konkurrenten (S. 119) oder natürliche Feinde (S. 127) sein. Wenn eine konkurrenzüberlegene Art auf einer ansonsten bevorzugten Wirtspflanze vorkommt, kann dies zur Verdrängung der unterlegenen Art und schließlich zur Meidung dieser Wirtspflanze führen, auch wenn die Weibchen die Pflanze eigentlich anderen Wirtsarten vorziehen würden. Doch auch die natürlichen Feinde eines Insekts können dessen Wirtswahl beeinflussen. So variiert bei vielen Insektenarten die Anfälligkeit gegenüber ihren natürlichen Feinden mit der Pflanzenart, auf der ihre Larven fressen. Auf einigen Wirtspflanzenarten ist die Mortalität durch Feinde dementsprechend höher als auf anderen. Experimente mit Minierfliegen (Agromyzidae), die gezwungen wurden, sich auf verschiedenen Pflanzenarten zu entwickeln, von denen einige normalerweise nicht genutzt werden, haben gezeigt, dass spezialisierte Schlupfwespen (Parasitoide) höhere Parasitierungsraten der Fliegen verursachen, wenn sich diese auf bekannten, normalen Wirtspflanzenarten befinden, als wenn sie sich auf neuen Wirten entwickeln (Gratton und Welter 1999). Solch ein Schutz vor Feinden (oder allgemeiner: feindfreier Raum, enemy free space), der durch die Pflanze vermittelt wird, kann zur Spezialisierung führen, wenn Anpassung an eine Wirtspflanzenart die Fitness auf anderen Pflanzenarten reduziert. Dies wird deutlich am Beispiel der Krypsis (S. 128 und 239). Larven, die auf einer Pflanzenart schwer zu entdecken sind, weil sie z. B. in Form und Farbe einem Zweig dieser Pflanze ähneln, können auf anderen Pflanzenarten, die ein anderes Aussehen haben, leicht entdeckt werden. Auf der ersten Art sind die Larven also vor ihren Feinden getarnt (kryptisch) und überleben besser als auf den anderen Arten, wo ihr Überleben, und damit ihre Fitness, reduziert sind.

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3.1.2 Optimaler Nahrungserwerb Auch wenn viele Arten zur Spezialisierung neigen, akzeptieren die meisten doch zumindest mehrere Nahrungstypen. Selbst für monophage Arten ist nicht jedes Nahrungsindividuum gleich gut geeignet. Ackerkratzdisteln, die Wirtspflanzen der gallbildenden Bohrfliege Urophora cardui, unterscheiden sich z. B. in ihrem Stängeldurchmesser, ihrer Höhe oder ihrem Proteingehalt. Dünne Stängel können nur kleine Gallen mit wenigen Nachkommen tragen, werden allerdings auch seltener von Feinden (Schlupfwespen) gefunden. In einem anderen Beispiel unterscheiden sich Muscheln, die einen Hauptteil der Nahrung der Strandkrabbe (Carcinus maenas) ausmachen, in ihrer Größe. Große Muscheln geben mehr Energie, sind aber auch schwieriger zu knacken als kleine Muscheln. Während der Nahrungssuche begegnet eine Bohrfliege oder eine Strandkrabbe unterschiedlichen Wirtspflanzen oder Beuteindividuen. Welche sollten akzeptiert, welche abgelehnt werden? Tiere, die ihre Wirte effizient nutzen, erreichen gegenüber Artgenossen eine erhöhte Fitness. Die natürliche Selektion wird diese Individuen also bevorzugen. Im Zuge der Evolution sollten sich also Strategien zum optimalen Nahrungserwerb (optimal foraging) ausbilden. In diesem Kapitel beschäftigen wir uns damit, wie solche Strategien aussehen können. Weiterführende Literatur zu diesem Thema gibt es bei Krebs und Davies (1997).

Präferenz oder Wechsel der Nahrung Kommen wir noch einmal zurück zur Strandkrabbe. Wenn man Strandkrabben die Wahl zwischen verschieden großen Muscheln lässt, zeigen sie eine Präferenz für die größte, die den höchsten Energiegewinn pro Zeit zu versprechen scheint (€ Abb. 3.1). Die größten Muscheln enthalten zwar die meiste Energie, doch benötigt die Krabbe so lange, sie zu knacken, dass wiederum kleinere Muscheln mitunter einen größeren Energiegewinn pro Zeit zu liefern scheinen. Die kleinsten Muscheln sind zwar leicht zu knacken, aber sie enthalten so wenig Energie, dass sich der Aufwand kaum lohnt. Die profitabelsten Muscheln sind also die mittelgroßen. In der Natur werden aber eine Reihe von verschieden großen Muscheln gefressen und nicht nur die profitabelsten. Warum fressen die Krabben manchmal kleinere und manchmal größere Muscheln? Ein möglicher Grund könnte sein, dass die Zeit, die sie brauchen, um die profitabelsten mittelgroßen Muscheln zu finden, ihre Wahl beeinflusst. Wenn es lange dauert, um eine profitable Muschel zu finden, dann kann die Krabbe eine höhere Energieaufnahme pro Zeit erreichen, wenn sie weniger profitable Muscheln frisst, die leichter zu finden sind, als wenn sie länger nach den besten Muscheln sucht. Kasten 3.1 zeigt ein einfaches Modell, mit dem man quantifizieren kann, wieviele Individuen von jedem Beutetyp gefressen werden, wenn ein Räuber die Wahl zwischen zwei Beutetypen mit unterschiedlichem Energiegehalt hat (Charnov 1976). Das Modell sagt voraus, dass, wenn der profitablere Beutetyp häufig angetroffen wird, der Räuber ausschließlich diesen fressen sollte. Diese Schlussfolgerung erscheint offensichtlich, denn wenn eine besonders lohnende Beute leicht zu haben ist, sollte man sich nicht mit der weniger profitablen zufrieden geben. Eine weitere Vorhersage ist, dass die Entscheidung, sich auf den besseren Beutetyp zu spezialisieren, unabhängig

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3.1 Nahrungserwerb

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von der Häufigkeit der Begegnung mit der weniger profitablen Beute ist, denn die fünfte Gleichung in Kasten 3.1 enthält nicht mehr die Variable λ2. Auch dies leuchtet ein: Wenn die lohnende Beute häufig genug angetroffen wird, sodass die schlechtere Beute ignoriert werden kann, ist es unter keinen Umständen vorteilhaft, sich mit der schlechteren Beute abzugeben, selbst wenn der Räuber dieser häufig begegnet. Die dritte Vorhersage dieses Modells besagt, dass bei geringen Dichten der lohnenderen Beute beide Beutetypen gefressen werden (und zwar bei jeder Begegnung). Wenn aber die Dichte der lohnenderen Beute steigt, sollte es einen abrupten Wechsel von keiner Präferenz (beide Beutetypen werden gefressen) zu einer absoluten Präferenz der lohnenderen Beute (nur diese wird gefressen, die schlechtere wird immer ignoriert) geben. Diese Vorhersage wird auch die Alles-oder-Nichts-Regel (zero-one rule) genannt. In der Natur findet man hingegen selten Tiere, die der Alles-oder-NichtsRegel entsprechen, also keine komplette, sondern eine teilweise Präferenz (partial preference) für bevorzugte Nahrungstypen zeigen. Einige Tiere lehnen in manchen

Kasten 3.1 Modell der Beutewahl zweier unterschiedlich profitabler Beutetypen Nehmen wir an, ein Räuber sucht während Ts Sekunden Beute (Ts = Suchzeit). Er begegnet dabei zwei Beutetypen mit den jeweiligen Begegnungsraten λ1 und λ2 (Begegnungen pro Sekunde). Die Beutetypen enthalten jeweils E1 und E2 Kilojoule pro Individuum Energie und der Räuber benötigt h1 und h2 Sekunden, die Beute zu handhaben (überwältigen, fressen, verdauen), bevor er wieder neue Beute suchen kann. Die Profitabilität der Beute, also der Energiegewinn des Räubers pro Zeit, während er die jeweilige Beute frisst, ist demnach E1/h1 und E2/h2. Wenn der Räuber beide Beutetypen frisst, nimmt er folgende Energie zu sich:

Nehmen wir an, dass der Beutetyp 1 den höheren Energiegewinn pro Zeit verspricht. Wenn der Räuber den gesamten Energiegewinn pro Zeit E/T maximieren will, sollte er sich auf Beutetyp 1 spezialisieren, wenn der Energiegewinn vom alleinigen Fressen der Beute 1 grösser ist als der Energiegewinn vom Fressen beider Beutetypen. Oder mathematisch

E = Ts(λ1E1 + λ2E2)

1/λ1 ist die durchschnittliche Suchzeit, die der Räuber benötigt, um den Beutetyp 1 zu finden. Die Entscheidung, ob ein Räuber nur den profitableren oder beide Beutetypen fressen soll, ist unabhängig von der Häufigkeit, mit der er die schlechtere Beute antrifft. Das heißt, auch wenn die weniger profitable Beute sehr häufig ist, sollte er sie nicht fressen, wenn die profitable häufig genug ist.

Die gesamte Zeit T, die er dazu benötigt, ist die Suchzeit Ts und die Handhabungszeit Th (Th = Tsλ1h1 + Tsλ2h2) zusammen. T = Ts + Ts(λ1h1 + λ2h2) = Ts(1 + λ1h1 + λ2h2) Die Rate, mit der der Räuber Energie zu sich nimmt ist demnach λ E + λ2E2 E = 1 1 (die Suchzeit Ts kürzt sich heraus) T 1 + λ1h1 + λ2h2

λ1E1 λ1E1 + λ2E2 > 1 + λ1h1 1 + λ1h1 + λ2h2

Aufgelöst ergibt diese Gleichung E 1 < 1 h − h (λ hat sich weggekürzt) λ1 E2 2 1 2

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Fällen normalerweise bevorzugte Nahrungstypen ab, während andere wiederum Nahrung akzeptieren, die in der Regel abgelehnt wird. Wie sich ein Räuber entscheidet, eine bestimmte Nahrung zu akzeptieren oder abzulehnen, hängt stark von der individuellen Erfahrung (oder genauer: Einschätzung) des Räubers ab, mit welcher Wahrscheinlichkeit er wohl bessere Nahrung in absehbarer Zeit finden würde. Weiterhin bestimmt auch sein Hungerzustand (oder Eiablagedruck bei Tieren, die Wirte für ihre Nachkommen suchen) seine Entscheidung. Ein hungriger Räuber wird eher eine weniger geeignete Beute akzeptieren als ein satter. Basierend auf der Alles-oder-Nichts-Regel haben Courtney et al. (1989) ein allgemeines Modell aufgestellt, das die Nahrungswahl veranschaulicht und auch die in der Natur beobachteten partiellen Präferenzen erklärt (Hierarchie-Schwellenwert-Modell, hierarchy-threshold model; € Abb. 3.2). Sie nehmen an, dass ein Räuber (immer noch im weitesten Sinn) seine möglichen Beutetypen anhand ihrer Profitabilität hierarchisch in einer Rangliste anordnen kann. Die Profitabilität korreliert im Modell mit der Präferenz; die Tiere wissen also, was gut für sie ist. Da sich die Profitabilität der Nahrung in der Regel nicht ändert, bleibt diese Rangliste gleich. Nun hat der Räuber einen Schwellenwert, anhand dessen er entscheidet, ob er eine Beute bei einer Begegnung ablehnt oder akzeptiert: Beutetypen, deren Rang über dem Schwellenwert liegt, werden akzeptiert, andere abgelehnt. Während die Rangfolge der Beutetypen gleich bleibt, ändert sich der Schwellenwert mit dem Hungerzustand des Räubers und dessen Einschätzung der Häufigkeit der Beute. Wenn der Räuber z. B. in der letzten Zeit nur Beute von schlechter Qualität (also unter dem Schwellenwert) angetroffen hat, wachsen sowohl sein Hunger als auch seine Einschätzung, dass qualitativ hochwertige Beute wohl eher selten ist. Dies muss nicht unbedingt richtig sein; er kann einfach Pech gehabt haben und nur zufällig in letzter Zeit auf schlechte Beute gestoßen sein. Seine ablehnende Haltung gegenüber qualitativ schlechter Beute wird sinken und damit der Schwellenwert. Jetzt liegen Beutetypen über dem Schwellenwert (und würden bei der nächsten Begegnung akzeptiert werden), die vorher abgelehnt wurden. Wenn der Räuber nach der nächsten Mahlzeit satt ist, steigt der Schwellenwert wieder und der Räuber wird erneut wählerischer.

Dichteabhängigkeit: Funktionelle Reaktion Nicht alle Räuber haben eine klare Hierarchie in der Präferenz ihrer Nahrung. Manche Beutetypen mögen gleich beliebt sein. Diese werden dann, wenn sie in gleichen Anteilen in der Umgebung vorkommen und gleich leicht gefunden werden können, auch zu gleichen Anteilen gefressen. Ein Beispiel zeigt Abbildung 3.2. Wenn Rückenschwimmern (Notonecta glauca) als Beute Wasserasseln (Asellus aquaticus) und Eintagsfliegenlarven (Cloeon dipterum) in gleichen Anteilen angeboten wurden, haben sie auch beide Beutetypen gleich häufig gefressen. Wurden aber ungleiche Anteile angeboten, haben sie die häufigere Art bevorzugt. Die Tiere haben sich somit immer auf die Art spezialisiert, die momentan häufiger war. Die Nahrungspräferenz kann also auch von der relativen Häufigkeit der Beute abhängen. Ein wichtiger Parameter bei der Nahrungsaufnahme ist die Prädationsrate, also die Anzahl Nahrungsobjekte, die ein Tier in einer bestimmten Zeit zu sich nimmt. Die Prädationsrate wurde ursprünglich für Räuber definiert, gilt aber vom Prinzip für

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Akzeptanz des Wirtes

3.1 Nahrungserwerb

X Y

Asellus in der Nahrung (%)

A

B

C

D

100 75 Erwartung ohne Präferenzwechsel

50 25 0

0

20

40

60

80

100

Asellus in der Umwelt (%)

3.2 Oben: Das Hierarchie-Schwellenwert-Modell erklärt partielle Präferenz für bevorzugte Nahrungstypen. Tiere haben eine feste Rangfolge der Präferenz der verschiedenen Nahrungstypen (A – D). Die Tiere X und Y legen aufgrund ihres Hungerzustands einen Schwellenwert (horizontale Linien) fest, der entscheidet, ob ein Nahrungstyp bei einer Begegnung akzeptiert oder ignoriert wird. Da sich der Hungerzustand der Tiere mit der Zeit ändert, liegt dieser Schwellenwert mal tiefer (bei einem hungrigen Tier; Y) und mal höher (bei einem satten Tier; X). Ein hungriges Tier würde daher auch Nahrungstypen akzeptieren, die ein sattes Tier ablehnen würde. Während das satte Tier X nur den Nahrungstyp A akzeptieren würde, akzeptiert das hungrige Tier Y zusätzlich auch B. Unten: Spezialisierung von Rückenschwimmern (Notonecta glauca) auf jeweils den Beutetyp, der momentan häufig ist. Die Rückenschwimmer wurden mit einer Mischung aus Wasserasseln und Eintagsfliegenlarven (Cloeon sp.) gefüttert, wobei die Gesamtdichte konstant gehalten wurde. Nach Lawton et al. (1974).

jede Form der Nahrungsaufnahme, also auch für z. B. Herbivoren. Sie kann ebenfalls auf die Eiablage von Parasitoiden und phytophagen Insekten angewendet werden. Der Einfachheit halber werden wir im Folgenden von Räuber und Beute reden. Die Anzahl Beutetiere, die von einem Räuber in einer bestimmten Zeit gefressen wird, hängt von der Häufigkeit oder Dichte der Beutetiere ab. Diese Abhängigkeit nennt man funktionelle Reaktion (functional response). Warum sollte die Anzahl Beutetiere, die ein Räuber frisst, von der Beutedichte abhängen? Nehmen wir einmal an, ein Räuber würde, wenn er könnte, jeden Tag eine bestimmte konstante Anzahl Beutetiere fressen, um satt zu werden. Wenn genügend Beutetiere vorhanden sind, also bei hoher Beutedichte, kann er dies wohl erreichen, nicht aber, wenn die Beutedichte gering ist. Der Nahrungserwerb besteht wie bereits auf Seite 97 erwähnt aus dem Suchen und der Handhabung der Beute (handling). Wichtig ist, dass während der Handhabung in

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der Regel keine weitere Beutesuche möglich ist. Bei geringer Beutedichte verbringt ein Räuber den Großteil seiner Zeit mit der Suche nach Beute. Die Anzahl Beutetiere, die ein Räuber frisst, ist also bei geringer Beutedichte durch die Suchzeit limitiert. Anders ist die Situation bei hoher Beutedichte, denn ein Räuber muss nur wenig Zeit für die Suche aufwenden. Bei hoher Beutedichte ist die Anzahl Beutetiere, die gefressen wird, durch die Handhabungszeit oder den Sättigungsgrad der Räuber limitiert. Holling (1959) hat als Erster ein mechanistisches Modell für funktionelle Reaktionen aufgestellt, bei dem die Anzahl der von einem Räuber gefressenen Beutetiere Ne in einem bestimmten Zeitintervall T von dessen Angriffsrate a, der Handhabungszeit Th und der Beutedichte N abhängig ist. Die bekannteste und bis heute meist benutzte Gleichung von Holling wird häufig Scheibengleichung (disc equation) genannt (€ Kasten 3.2), weil in den ursprünglichen Experimenten Menschen mit verbundenen Augen (Räuber) auf einer Tischfläche nach runden Scheiben aus Sandpapier (Beute) suchen mussten. Die durch die Scheibengleichung beschriebene funktionelle Reaktion (€ Abb. 3.3b) sagt voraus, dass ein Räuber bei geringen Beutedichten nahezu seine gesamte Zeit mit dem Suchen von Beute verbringt. Die Anzahl gefressener Beutetiere Ne ist bei geringen Beutedichten praktisch proportional zur Angriffsrate a, steigt also anfangs linear. Mit zunehmender Beutedichte spielt jedoch die Handhabung eine immer stärkere Rolle, sodass die Kurve abknickt und sich bei hoher Beutedichte einem Plateau annähert. Bei hoher Beutedichte verbringt der Räuber fast die gesamte Zeit mit der Handhabung von Beute. Die maximale Anzahl Beutetiere, die vom Räuber gefressen werden können (das Plateau), ist durch T/Th gegeben. Eine solche funktionelle Reaktion

Kasten 3.2 Herleitung der Scheibengleichung für funktionelle Reaktionen eines Räubers nach Holling (1959) Ein Räuber auf Nahrungserwerb verbringt seine gesamte Zeit T mit Suchen und Handhaben von Beute: T = Tsuchen + Thandhaben

Sucheffizienz (searching efficiency) genannt. Während der gesamten Suchzeit Tsuchen durchstreift der Räuber die Fläche aTsuchen und frisst Ne = aNTsuchen Beutetiere, wobei N die Beutedichte pro Fläche ist. Oder umgeformt: Ne aN

Nehmen wir an, dass der Räuber in der gesamten ihm zur Verfügung stehenden Zeit T eine bestimmte Anzahl Beutetiere Ne fängt. Wenn die Handhabungszeit für ein Beutetier Th ist, dann ist die gesamte Handhabungszeit des Räubers

Tsuchen =

Thandhaben = ThNe

Aufgelöst nach der Anzahl Beutetiere Ne, die der Räuber während T gefressen hat (€ Abb. 3.3), resultiert Hollings Scheibengleichung:

Während des Suchens durchstreift der Räuber pro Zeiteinheit durchschnittlich eine Fläche a und frisst sämtliche Beutetiere auf dieser Fläche. Der Parameter a wird auch häufig Angriffsrate oder

Nun können wir das Zeitbudget ausgleichen: T = Tsuchen + Thandhaben =

Ne =

aTN 1+ aThN

Ne +T N aN h e

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3.1 Nahrungserwerb

c

% gefressene Beutetiere

b

Anzahl gefressene Beutetiere

a

Anzahl angebotene Beutetiere N

Anzahl angebotene Beutetiere N

3.3 Typen von funktionellen Reaktionen. In der linken Spalte ist die Anzahl gefressener Beutetiere Ne gegenüber der Anzahl angebotener Beutetiere N dargestellt, in der rechten Spalte die Prädationsrate, d. h. der Quotient aus der Anzahl gefressener Beutetiere zur Anzahl angebotener Beutetiere Ne/N gegenüber der Anzahl angebotener Beutetiere N dargestellt. a) Typ 1: linearer Anstieg der funktionellen Reaktion. Die Prädationsrate bleibt in weiten Bereichen konstant (dichteunabhängig). b) Typ 2: eine Kurve, die sich asymptotisch einem Schwellenwert annähert, der durch die Handhabungszeit der Beute oder den Sättigungsgrad der Räuber bestimmt wird (z. B. Hollings Scheibengleichung). Die Prädationsrate sinkt stetig (negativ dichteabhängig). c) Typ 3: eine sigmoide funktionelle Reaktionskurve, bei der die Räuber bei niedrigen Beutedichten ineffizient die Beute aufspüren und/oder überwältigen. Mit zunehmend höheren Beutedichten steigt die Prädationsrate, weil die Räuber zunehmend effizienter werden (positiv dichteabhängig).

ist im Tierreich häufig. Eine wichtige Voraussetzung für eine derartige funktionelle Reaktion ist, dass sich Such- und Handhabungszeit gegenseitig ausschließen, d. h. während ein Räuber Beute handhabt, kann er nicht nach neuer Beute suchen. Generell werden anhand der Form der funktionellen Reaktion drei Typen unterschieden (€ Abb. 3.3). Hollings Scheibengleichung gehört zum Typ 2. Der Typ 1 ist durch einen linearen Anstieg der Anzahl gefressener Beutetiere Ne gegenüber der Beutedichte N gekennzeichnet (€ Abb. 3.3a). Die funktionelle Reaktion von Typ 1 tritt bei Räubern auf, bei denen das Aufspüren der Beute und deren Handhabung entkoppelt sind. Dies ist der Fall bei Räubern, die passiv Beute fangen, z. B. Filtrierern oder Netzspinnen. Wasserflöhe (Daphnia sp.) filtern mit ihrem Reusenapparat Plankton aus dem Wasser. Die vom Reusenapparat aus dem Wasser gefilterte Beute wird auf Wimperbändern bis zum Mund transportiert. Der Reusenapparat erzeugt einen konstan-

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3 Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten

ten Durchfluss einer bestimmten Menge Wasser pro Zeit, sodass die Beute (Plankton) proportional zu ihrer Konzentration im Wasser (Dichte) aufgenommen wird. Dasselbe gilt auch für Netzspinnen, die ebenfalls Beute in ihrem Netz proportional zur Dichte in der Umgebung fangen und fressen (das Netz darf dabei weder anlockend noch abstoßend wirken und auch bei hoher Beutedichte nicht zerstört werden). Bei hoher Beutedichte wird allerdings mehr Beute vom Reusenapparat oder Netz gefangen, als der Räuber handhaben kann. Bei der Spinne wird das Töten und Aussaugen limitierend, beim Wasserfloh das Schlucken. Der Übergang vom linearen Anstieg zum Plateau geschieht relativ abrupt, denn schon wenn die Anzahl gefangener Beuteobjekte geringfügig die Handhabungskapazität des Räubers übersteigt, tritt ein Beutestau im Fangapparat ein. Zu beachten bei funktionellen Reaktionen von Typ 1 ist, dass, während der Räuber die Beute überwältigt (z. B. im Reusenapparat), verschluckt (Transport auf Cilien zum Mund) und verdaut, unvermindert weiter nach Beute gesucht werden kann (Durchstrom von Wasser). Die Fangapparate einiger fleischfressender Pflanzen fangen ihre Beute passiv (d. h. sie locken sie nicht an; z. B. Wasserschlauch Utricularia sp., aber nicht Sonnentau, Drosera sp.), analog zu den Netzen der Netzspinnen. Diese Pflanzen sind daher ebenfalls Filtrierer im weitesten Sinn. Tatsächlich zeigen auch sie in der Regel eine funktionelle Reaktion von Typ 1. Die funktionelle Reaktion vom Typ 3 hat eine sigmoide Form (€ Abb. 3.3 c), d. h. mit steigender Beutedichte steigt die Anzahl gefressener Beutetiere stärker als linear an, der Räuber wird also mit zunehmender Beutedichte effektiver. Diese Form der funktionellen Reaktion kann entstehen, wenn der Räuber lernt, effektiver mit der Beute umzugehen. Sigmoide funktionelle Reaktionen werden häufig Räubern mit hochentwickeltem Gehirn zugeschrieben, in erster Linie also Wirbeltieren, sind aber auch im Insektenreich anzutreffen. Populationen der Feldwespe Polistes dominulus reagieren auf die Dichte eines ihrer Beutetiere, Larven vom Distelschildkäfer Cassida rubiginosa, in Form einer sigmoiden funktionellen Reaktion (Schenk und Bacher 2002). Da die Wespe ein Generalist ist und verschiedene Beutetypen nutzt, entsteht die sigmoide funktionelle Reaktion wahrscheinlich häufig durch eine Spezialisierung der Räuber auf das momentan häufige Auftreten dieser Beute (S. 102). Tatsächlich sollten solche Spezialisierungen auf momentan häufige Beute fast zwangsläufig zu funktionellen Reaktionen von Typ 3 führen (Murdoch und Oaten 1975). Da bei höherer Beutedichte der Räuber effektiver im Umgang mit seiner Beute wird, haben Hassell et al. (1977) vorgeschlagen, dass bei sigmoiden funktionellen Reaktionen die Angriffsrate a oder die Handhabungszeit Th selbst eine Funktion der Beutedichte ist. Eine realistische Funktion, die die Angriffsrate in Abhängigkeit der Beutedichte modelliert, hat eine ähnliche Form wie eine funktionelle Reaktion von Typ 2: Während die Angriffsrate a bei niedriger Beutedichte ansteigt, wird sie bei hoher Beutedichte nicht mehr wesentlich gesteigert werden können und sich einem Plateau annähern. a=

bN 1 + cN

(3.1)

Setzen wir dies in die Scheibengleichung ein, ergibt sich die sigmoide funktionelle Reaktion:

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17.07.2009

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3.1 Nahrungserwerb

Ne =

bTN 2 1+ dN + bThN 2

(3.2)

mit b, c und d als Konstanten.

Dichteabhängigkeit: Numerische Reaktion Unter einer numerischen Reaktion verstehen wir die Umsetzung von Nahrung in Nachkommen. Je mehr Beutetiere ein Räuber frisst, desto mehr Energie kann er in Reproduktion investieren, desto mehr Nachkommen kann er erzeugen. Eine Erhöhung der Beutepopulation führt also zu einer Erhöhung der Räuberpopulation. Wie wir im vorigen Abschnitt gesehen haben, ist die Anzahl gefressener Beutetiere über die funktionelle Reaktion f(N) eines Räubers von der Beutedichte (und unter Umständen auch von der Räuberdichte selbst; f(N,P)) abhängig. Die numerische Reaktion g ist also über die funktionelle Reaktion f ebenfalls von der Beutedichte abhängig (g(N)). Die Effizienz der Konvertierung von Nahrung in Nachkommen wird trophische Effizienz (trophic efficiency) oder Konvertierungseffizienz e genannt (S. 221). Eine Reihe von Arbeiten hat bei einer Vielzahl von Tierarten gezeigt, dass die Anzahl gefressener Beutetiere in der Regel proportional zur Anzahl produzierter Nachkommen ist, d. h. die Konvertierungseffizienz e ist eine Konstante (0 < e < 1). g (N ) = e ⋅ f (N )

(3.3)

Die Räuberdichte kann die numerische Reaktion auf zweierlei Art beeinflussen: über die funktionelle Reaktion und durch direkte Interaktion der Räuber untereinander. Bei hohen Räuberdichten bringen die einzelnen Räuber z. B. wegen Verletzungen bei aggressiven Auseinandersetzungen oder wegen Dichtestress weniger Nachkommen zur Welt. g (N ) = e ⋅ f (N )−hP

(3.4)

Der Parameter h ist ein Maß für die Stärke der direkten Beeinträchtigung der Räuber untereinander. Die numerische Reaktion eines Räubers kann nach oben begrenzt sein. Wenn z. B. die Anzahl Territorien oder Nistplätze begrenzt ist, kann ein Räuber auch bei genügender Nahrungsversorgung nur eine begrenzte Anzahl Nachkommen zur Welt bringen. Andererseits kann die numerische Reaktion auch nach unten begrenzt sein, sodass trotz genügender Nahrungsversorgung nicht die durch die Nahrungsmenge gegebene Anzahl Nachkommen erreicht wird. Dies wird der Allee-Effekt (S. 59 und 278) genannt. Bei geringer Räuberdichte haben die einzelnen Räuber mitunter Mühe, Partner zu finden, oder es können sich bei kleinen Populationen über einen längeren Zeitraum durch Inzucht Letalmutationen anreichern, sodass diese Populationen genetisch verarmen. Beide Effekte führen dazu, dass die Anzahl Nachkommen, die ein Individuum produziert, sinkt.

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http://www.springer.com/978-3-8274-2304-7

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