2. Der Strukturwandel als Bedingungsrahmen jugendpastoraler Neuorientierung

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Author: Nikolas Albert
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2. Der Strukturwandel als Bedingungsrahmen jugendpastoraler Neuorientierung Eine Arbeit, die sich mit einer Neuorientierung im Bereich der Jugendpastoral beschäftigt, kommt nicht umhin zu fragen, in welchem Kontext diese Neuorientierung steht: Mit welchen tiefgreifenden Veränderungen ist man konfrontiert, so dass es notwendig erscheint, neue Wege zu beschreiten? Als leitendes Motiv dieser einleitenden Überlegungen wird das des Wandels herangezogen. Ein Motiv, das die Diskussionen innerhalb der verschiedenen Bezugsfelder bestimmt und über den Schwerpunkt der Veränderung – der veränderten Bedingungen, Funktionen und Herangehensweisen – versucht, Neues mit Altem in Verbindung zu setzen bzw. es in seiner Neuartigkeit abzugrenzen, teilweise erst einmal zu identifizieren. Dabei bildet die Ausgangslage häufig eine Situation der Verunsicherung. Bestehende Gewissheiten verlieren ihren Geltungsanspruch. Dies gilt auch und insbesondere für das Verhältnis von Jugend, Religion und Kirche, insbesondere aufgrund der Tatsache, dass auch schon die Einzelelemente dieser Trias einem Strukturwandel unterliegen.12 Um eine Klärung dieses Strukturwandels soll es in dieser ersten Annäherung gehen. Dabei werden die Elemente dieser Trias sowohl im Einzelnen als auch in ihrer Bezogenheit aufeinander betrachtet.

2.1. Der Strukturwandel ‚der‘ Jugend Heutzutage ist es nicht einfach, etwas über die Jugendzeit, noch weniger über die heutige Jugend zu sagen. Schon die bislang gültige Eingrenzung der Jugendzeit als Zeit zwischen der Geschlechtsreife und dem Berufseintritt wirft Schwierigkeiten auf, weil sie keine allgemeingültige und zeitlose Definition bietet – so stellt man im Vergleich zum 19. Jahrhundert fest, dass sich die Pubertät zeitlich um mehrere Jahre vorverlagert hat13 und der Eintritt ins Berufsleben bei derselben Jugendgeneration zeitlich sehr weit auseinanderdriften kann. Die Schwierigkeit der zeitlichen Eingrenzung und das Nebeneinander von unterschiedlichen Festlegungen ist jedoch kein bzw. ein wieder neues Phänomen: Wenn man in die Geschichte des Jugendbegriffs schaut, so stellt man eine verwirrende Begriffsvielfalt und eine große sich durchziehende Uneinheitlichkeit von Lebensalterseinteilungen fest. So bildeten sich im alten Griechenland beispielsweise gleichzeitig drei- bis siebenteilige Lebensaltersstufen aus, im Römischen eine Drei- bzw. Vierteilung, und das europäische Mittelalter kannte sechs, später auch sieben bis zehn Lebensaltersstufen.14 Das, was man unter dem Begriff „Jugend“ verstand und versteht, ist und war somit kontextabhängig und selbst kontextbezogen nicht immer eindeutig.15 12

Vgl. Gabriel, Karl: Bildung, 1995, S. 9f. Vgl. Ferchhoff, Wilfried: Jugend an der Wende, 1999, S. 73. 14 Horn, Klaus-Peter: Jugend, 1998, S. 12; Hermsen, Edmund: Jugendleben, 1998, S. 123. 15 Vgl. Ferchhoff, Wilfried: Jugend an der Wende, 1999, S. 67. 13

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2.1.1. Von der Statuspassage zur Entstrukturierung Wenn es uns heute schwer fällt, mit einer neuen Uneindeutigkeit und Unübersichtlichkeit des Jugendbegriffs umzugehen, liegt es unter anderem daran, dass es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine recht eindeutig umrissene Vorstellung von der Jugend als eigenständiger Lebensphase gab. Die Jugend war eine kollektive Statuspassage, die den Übergang vom Kindsein ins Erwachsenenalter ‚regelte‘ und die gleichzeitig der Individuation und Integration dienen sollte. Den Heranwachsenden wurde im Angesicht des Modernisierungszwangs der Industriegesellschaften ein zeitlich befristetes Moratorium zugestanden, das der Verbesserung ihrer „Individuierungschancen, ihres Innovationspotenzials und der Bildung von Probeidentitäten diente“16. Dies war auch mit weiteren (teilweise entgegengesetzten) gesellschaftlichen Erwartungen verbunden: Es zielte mit Hilfe der Institution Schule auf die Eingliederung in die Gesellschaft und die Übernahme der je geschlechtsspezifischen Rollen. Jugendliche sollten ihren Platz in der Gesellschaft finden und eine neue, eigene stabile Identität entwickeln.17 Die Ausbildung einer unabhängigeren Identität, die von dort an durch das gesamte Leben trägt und die Grundlage der eigenen Zukunft bildet, stand beispielsweise im Zentrum von Eriksons Modell der adoleszenten Entwicklung.18 Jugendzeit als Moratorium war hier klar geprägt durch die Zielperspektive des Erwachsenwerdens, der Übernahme einer Berufsrolle, einer Partner- und Familienrolle, einer Kultur- und Konsumentenrolle und einer politischen Bürgerrolle19, die jedoch erst im Erwachsenenstatus voll ausgeprägt war. Die Jugendzeit war damit auch eine Zeit des ‚Noch-Nicht‘. Betrachtet man heutiges Kind-, Jugend- und Erwachsenensein, so kann man mit Blick auf die der einzelnen Phasen zugeschriebenen Privilegien feststellen, dass diese so nicht mehr bestehen: Schweitzer weist darauf hin, dass Verhaltensweisen, die früher Erwachsenen vorbehalten waren, wie beispielsweise die Aufnahme sexueller Beziehungen oder ein hohes Maß an persönlicher Unabhängigkeit, heute bereits von Jugendlichen in Anspruch genommen werden.20 Aber eben diese Entgrenzung gilt auch für das Kindheitsalter, in dem man die Übernahme jugendtypischer Erlebnisformen, was Kognition, Selbstreflexivität und Autonomiestreben angeht, feststellen kann. Während der Erwerb der Konsumentenrolle klassisch dem Jugendalter zugeschrieben wurde21, hat sich dies bereits ins Kindheitsalter verschoben. Dies zeigt sich mitunter daran, dass sich Werbung immer häufiger direkt an Kinder richtet. Festgestellt wurde, dass Kinder nicht nur über eigenes Geld verfügen, sondern auch die Kaufentscheidungen ihrer Eltern beeinflussen.22 Kein Wunder, dass man dieser Konsumentengruppe bereits einen eigenen Namen gegeben hat: „,Skippies‘ – School Kids with income and purchasing power.“23

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Schöll, Albrecht: Jugend, 2001, S. 917. Vgl. Schöll, Albrecht: Jugend, 2001, S. 917. 18 Vgl. Schweitzer, Friedrich: Postmoderner Lebenszyklus, 2003, S. 65. 19 Vgl. Hurrelmann, Klaus: Lebensphase Jugend, 1999, S. 47. 20 Vgl. Schweitzer, Friedrich: Postmoderner Lebenszyklus, 2003, S. 71. 21 Vgl. Hurrelmann, Klaus: Lebensphase Jugend, 1999, S. 47. 22 Vgl. Baacke, Dieter: Jugend, 1999, S. 248. 23 Gottwald, Eckart: Kinderkultur, 1995, S. 73. 17

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Aufgrund dieser Wahrnehmungen kann mit Ferchhoff übereinstimmend festgestellt werden, dass Kindheit, Jugend und Erwachsensein zuweilen ineinander übergehen.24 Ebenfalls kann man auch von der Erwachsenenseite solche Auflösungsbestrebungen beispielsweise in einer „Tendenz zur Verjugendlichung“25 wahrnehmen. Jugend sei fast so etwas wie ein Markenzeichen von moderner Identität geworden26, der Anspruch auf Jugendlichkeit mache vor keiner Altersgruppe mehr halt27. So hat sich auf eine gewisse Weise die Zielperspektive verändert, der Wert der Jugendlichkeit hat gegenüber dem des Erwachsenseins zumindest aus Sicht der Erwachsenen an Attraktivität gewonnen. Wenn beispielsweise Erwachsene Kleidungsstile Jugendlicher adaptieren und Freizeitaktivitäten Jugendlicher für sich entdecken, trägt dies wiederum zur Konturverwischung28 bei. Jugendliche haben es heute um einiges schwerer, sich von Erwachsenen zu unterscheiden und eine Identität in Abgrenzung zur Erwachsenengruppe und in spezieller Zugehörigkeit zur Jugendgruppe auszubilden. Andererseits kann man sich fragen, ob die Lebensphase Jugend in ihrer neuen Ausprägung – einer Phase, die ihren Charakter als verlängerte Warte-, Übergangs- oder Reifezeit weitgehend verloren hat und sich zu einem offenen Lebensbereich gewandelt hat29 – auch für die Jugendlichen eine höhere Attraktivität gewinnt. Teilweise bewusst von den Jugendlichen zeitlich aufgeschobene Übergänge ins Erwachsenenalter können zumindest als Indiz dafür gelesen werden; sie weisen jedoch auch auf Schwierigkeiten, zum Teil auf Perspektivlosigkeiten hin (beispielsweise bezüglich des Übergangs ins Berufsleben), die mit dem Übergang in Verbindung stehen. Jugendliche sind nicht mehr nur die, die über das ‚Noch-Nicht‘-Erwachsenensein beschrieben werden, sondern ihnen werden stärker auch eigene Kompetenzen zugesprochen. Ihre Fähigkeiten im Umgang mit neuen Medien übertreffen die der Erwachsenen häufig um einiges. Erfahrungsvorsprünge und Beratungskompetenzen sind nicht mehr einseitig auf der Seite des Erwachsenenalters zu verbuchen. Man kann von einer doppelten Relativierung der Erfahrungsvorsprünge der Älteren gegenüber den Jüngeren sprechen: Zum einen lernen die Jugendlichen im Verhältnis mehr Neues, was die Erwachsenen nicht gelernt haben und sie somit auch nicht weitergeben können. Zum anderen entwertet sich das Wissen Erwachsener aufgrund explosionsartiger Vermehrung und erhöhter Umschlagsgeschwindigkeit schneller.30 Insgesamt lässt sich ein verändertes Generationenverhältnis beschreiben, das nicht mehr durch ein Autoritätsgefälle zwischen Erwachsenen und Jugendlichen, sondern durch Gleichberechtigung charakterisiert ist. Kinder und Jugendliche werden zunehmend als persönliche Partner der Eltern ernstgenommen und als Gesprächspartner auch für Probleme der Eltern akzeptiert.31 24

Vgl. Ferchhoff, Wilfried: Jugend an der Wende, 1999, S. 73. Gabriel, Karl: Bildung, 1995, S. 9. 26 Vgl. Ferchhoff, Wilfried: Jugend an der Wende, 1999, S. 68. 27 Vgl. Gabriel, Karl: Bildung, 1995, S. 9. 28 Diese Tendenz beschreibt schon die Shell-Studie Jugendliche und Erwachsene ’85 (Jugendwerk der Deutschen Shell: Jugendliche, 1985), so Baake diesbezüglich resumierend: „Mütter und Väter haben längst den jugendlichen Habitus übernommen, joggen, gehen in Discos, pflegen ihr outfit und bieten so keine nennenswerten Reibungspunkte, an denen man seine eigene Kontur schleifend konturieren kann.“ – Baacke, Dieter: Jugend, 1999, S. 212. 29 Vgl. Ferchhoff, Wilfried: Jugend an der Wende, 1999, S. 73. 30 Vgl.: Ferchhoff, Wilfried: Jugend an der Wende, 1999, S. 202. 31 Vgl. Baacke, Dieter: Jugend, 1999, S. 248; vgl. ferner Ferchhoff, Wilfried: Jugend an der Wende, 1999, S. 202–205. 25

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Die Jugendzeit ist im Sinne des steigenden Eigenwerts nicht mehr nur die mit hohen Anstrengungen verbundene Wartezeit und damit hauptsächlich zukunftsorientiert, sondern sie zeichnet sich in besonderem Maße durch ihre (notwendige) Gegenwartsbezogenheit und eine damit einhergehende Erlebnisorientierung aus: „Die Aktualität des Augenblicks gewinnt Prominenz und Übergewicht gegenüber der ungewissen Zukunft.“32 So lassen sich heutige Jugendkulturen als freizeitbezogener, konsumorientierter und entschieden schulferner beschreiben.33 Diese Entwicklungen macht sich auch der Jugendkonsum und Medienmarkt zu Nutze, dessen Angebote nach dem Prinzip des sofortigen Genusses strukturiert sind und die versprechen, „kleine und große Träume im Hier und Jetzt schnelllebig, aber auch transitorisch unverbindlich zu befriedigen.“34

2.1.2. Differenzierung des Jugendalters und Pluralisierung der Bezugszusammenhänge Wenn man heute über die Jugendzeit spricht, ist also ein Merkmal die im Vergleich größere zeitliche Ausdehnung, die auch zu der Formulierung neuer ‚Übergangs‘altersgruppen führte: „Die Adoleszenz setzt immer früher ein, so daß sie bereits die erste Lebensdekade mitzubestimmen beginnt. Die späte Kindheit […] wird damit zur Frühadoleszenz.“35 Zwischen Kindheit und Jugend haben sich die sogenannten „Kids“ geschoben und ans Ende der Jugendzeit die Postadoleszenz bzw. die sogenannten „Jungen Erwachsenen“.36 Diese Ausdifferenzierung betrifft jedoch nicht nur das Jugendalter, sondern ist allgemein typisch für eine neue, kleinschrittigere Betrachtung der Lebenszyklen: Im geschichtlichen Rückblick zeigt Hurrelmann beispielsweise auf, dass von der Zweiphasigkeit um 1900 (Kindheit und Erwachsenenalter) sich die Lebensphasen fortschreitend ausdifferenzierten – 1950 unterteilt er die Lebensspanne in vier Phasen (Kindheit, Jugend, Erwachsenen-, Ruhestandsalter) 1990 in sechs (hinzugekommen sind das Nachjugendalter sowie das späte Erwachsenenalter zwischen Erwachsenen- und Ruhestandsalter).37 Auf diesem Hintergrund ändert sich auch die Vorstellung von und die Stellung des Identitätserwerbs innerhalb der Lebensspanne. Der Jugendzeit kommt aufgrund der Ausdifferenzierung nicht mehr ihre einstmalig exklusive Stellung zu. Man geht nicht mehr davon aus, dass Identitätsentwicklung ein einmaliges, allein der Jugendzeit zugeordnetes und abgeschlossenes Geschehen darstellt. „In dem Maße, in dem sich die Erfahrung von Übergangsperioden im Leben vervielfacht – mit beruflichen Veränderungen, neuen Ausbildungen, zweiten und dritten Ehen usw., wird auch das Bedürfnis, die eigene Identität neu auszugestalten und neu zu begründen, zu einer dauerhaften Aufgabe, die sich niemals ganz abschließen lässt.“38

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Ferchhoff, Wilfried: Jugend an der Wende, 1999, S. 201. Vgl. Baacke, Dieter/Ferchhoff, Wilfried: Jugendkulturen, 1996, Sp. 1064f. 34 Ferchhoff, Wilfried: Jugend an der Wende, 1999, S. 201. 35 Schweitzer, Friedrich: Verändertes Kindsein, 1995, S. 27. 36 Vgl. Ferchhoff, Wilfried: Jugend an der Wende, 1999, S. 68. 37 Vgl. Hurrelmann, Klaus: Lebensphase Jugend, 1999, S. 23. 38 Schweitzer, Friedrich: Postmoderner Lebenszyklus, 2003, S. 72. 33

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Ein weiteres bereits angedeutetes Charakteristikum des Strukturwandels in der ausgedehnten Jugendphase ist das schrittweise, zeitlich asynchrone Erwachsenenwerden. Hurrelmann spricht von einer neuen Ausprägung der Statusinkonsistenz seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, einer mit der Jugendzeit einhergehenden Ungleichzeitigkeit und Unausgewogenheit von sozialen Rollen: „In breiten Schichten der Jugend wird die Autonomie im Erwerbssektor erst lebensgeschichtlich spät erreicht, dagegen im Unterschied zu früher in den politisch-ethischen, partnerschaftlich-sexuellen und kulturell-konsumorientierten Handlungsbereichen schon eher.“39 Man kann also von einer Vervielfältigung des Übergangs ins Erwachsenenalter sprechen. Die eine große Stufe ins Erwachsenenleben, wie sie bei Erikson noch existiert, scheint es heute so nicht mehr zu geben. Zudem erschwert sich der Prozess der Identitätsentwicklung und Rollenfindung dadurch, dass sich in allen spezifischen Entwicklungsaufgaben, die der Jugend zugeschrieben werden, Lebensmöglichkeiten und Muster pluralisiert haben. „Der Verlust der (milieuspezifisch ausgeformten) allgemein gültigen Formen einer männlichen und weiblichen Normalbiografie ist zu kompensieren durch die eigenständige Leistung der Biografiegestaltung.“40 Dies gilt ebenso für den Lebenssinn: „Lebenssinn wird heute immer weniger von Institutionen selbstverständlich übernommen und muss mehr und mehr auf eigene Faust gesucht werden.“41 Die Jugendlichen sind in dieser Situation mit einer hohen Verantwortung konfrontiert, die sie jedoch nur für sich selbst übernehmen können. Sie müssen ihr Leben in die Hand nehmen, angesichts vielfältiger Formen und Lebenskonzepte eine eigene Vorstellung davon entwickeln, wie sie Leben wollen und diese mit den realen Möglichkeiten abgleichen. Die Chancen und Grenzen dieser ambivalent zu betrachtenden Individualisierungsnotwendigkeit, dieser Wahlbiografie wurden bereits vielfach beschrieben.42 Ebenso muss man davon ausgehen, dass die Identitätsentwicklung in der Jugendzeit, unter den Bedingungen einer radikalen Pluralisierung und einer Differenzierung der Handlungssphären, auch beim einzelnen Jugendlichen nicht singulär geschieht. Durch die Ausdifferenzierung und durch die teilweise Abkopplung der Bezugssysteme voneinander ist es wahrscheinlich, dass sich gleichzeitig verschiedene Identitäten ausbilden, die auf unterschiedliche Situationen und Handlungsfelder bezogen sind. Begriffe wie „das plurale Selbst“ bzw. „plurale Identitäten“, so Schweitzer, „sollen der Erfahrung Rechnung tragen, daß es nicht mehr einfach nur eine Antwort auf die Frage ‚Wer bin ich?‘ gibt, sondern mehrere unterschiedliche Antworten und Selbstdefinitionen.“43 Somit kann man neben der äußeren Differenzierung, der Pluralisierung der Bezugssysteme auch von einer inneren Pluralisierung in der Identitätsentwicklung sprechen, die typisch für die Postmoderne ist. Diskutiert wird diesbezüglich, ob das Gleichzeitige, das Nebeneinander ohne eine Einheit auskommen kann, bzw. diese nur noch in der physischen Personalunion besteht.44 Das Individuum kann dann in die 39

Hurrelmann, Klaus: Lebensphase Jugend, 1999, S. 298. Schöll, Albrecht: Jugend, 2001, S. 918. Meulemann, Heiner: Identität, 2001, S. 189. 42 Der prominenteste Vertreter ist Ulrich Beck – vgl. u. a. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft, 1987. 43 Schweitzer, Friedrich: Postmoderner Lebenszyklus, 2003, S. 72. 44 Vgl. Wippermann, Carsten: Religion, 1998, S. 81f. 40 41

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Gefahr einer rein außengeleiteten Identität geraten, die quasi mit dem Verlust von innerer Identität einer übergreifenden Einheit gleichzusetzen ist. Die Grundlage für Konsistenz und Kontinuität, so Wippermann in Bezug auf Gergen45, bilden jedoch freie Ressourcen. Ein Individuum kann sich seine innengeleitete Identität nur bewahren, wenn es nicht bereits von den Außeneindrücken gesättigt ist. Innere Kraft, Potenzial und freier Raum zur Selektion, Verarbeitung und Konfiguration verhindere die völlige Außengeleitetheit und den Verlust der Identität. Auch wenn für die Postmoderne das Nebeneinander und Gleichzeitige ohne Einheitsanspruch programmatisch sei, so komme auch der programmatische Postmodernismus nicht ohne einen zumindest rudimentären Einheitsbegriff aus, so Wippermann: „Wer von vielen Identitätsfragmenten spricht, denkt für das fragmentierte Ganze und für jedes dieser Fragmente schon Einheit.“46 Bei Welsch besteht diese Einheit in der Transversalität, in der Möglichkeit des Übergangs von Identitätskonstruktionen: „Unsere Integrität – unsere […] nirgends gegenständlich zu fassende, sondern nur prozessual herzustellende ‚Ganzheit‘ – hängt daran, dass wir zwischen unseren diversen Identitätskonstruktionen überzugehen vermögen.“47 Höring sieht in diesem Konzept der transversalen Vernunft eine große Chance auch für den Umgang mit externer Pluralität und Grundlage einer in der postmodernen Gesellschaft zu erwerbenden Pluralitätskompetenz: „Die Anerkennung der anderen und des anderen als gleichwertig und gleichberechtigt beginnt nicht mit der Erkenntnis der (externen) Pluralität, sondern auch mit dem Umgang mit den eigenen, verschiedenen und unterschiedlichen Subjektanteilen.“48 Die Ausbildung von Akzeptanz und Anerkennung des Anderen (einer Pluralitätskompetenz) scheint entscheidend für ein friedliches Miteinander in einer durch ihre Pluralität geprägten Zeit. Eine solche Pluralitätskompetenz entwickelt sich auch unter den Bedingungen des Pluralismus jedoch nicht von alleine. So kann man trotz einer Vervielfachung auch der eigenen Identitäten – Ferchhoff weist in diesem Zusammenhang auf die neue identitätsstiftende Funktion und den schnellen Wechsel der über Musik und Mode ausdifferenzierten Lebensstile hin – gerade eine gegensätzliche Tendenz wahrnehmen: „Indem Jugendliche sich jugend(sub)kulturell via Stilformen szenespezifisch von anderen absetzen, um nach innen Zugehörigkeit und nach außen Grenzlinien zu markieren, neigen sie nicht selten zu einer quasi vormodernen egobzw. ethnozentrischen Gruppenhaltung, die die jeweils anderen kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten zuweilen sogar aggressiv ausschließt.“49

2.1.3. Zusammenfassende Überlegungen und Konsequenzen Fasst man nun noch einmal zusammen, ergibt sich auch nach der Suche nach Charakteristika für das Jugendalter ein uneinheitliches, teilweise paradoxes Bild. So bewahrheitet sich sowohl die Rede von einem vorgezogenen Erwachsenenalter, quasi von einer Auflösung der Jugendphase, als auch die Rede von einer verlängerten 45

Vgl. Gergen, Kenneth: The saturated self, 1991. Wippermann, Carsten: Religion, 1998, S. 98. 47 Welsch, Wolfgang: Subjektsein, 1993, S. 179. 48 Höring, Patrick C.: Jugendlichen begegnen, 2000, S. 257. 49 Ferchhoff, Wilfried: Jugendkulturen, 1990, S. 143. 46

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Jugendzeit. Einer Jugendzeit, die zum einen durch Statusinkonsistenz – insbesondere durch den späten Berufseintritt –, zum anderen aber auch durch Statusgewinn – Attraktivität und Eigenwert der Jugendzeit, verändertes Generationenverhältnis etc. – beschrieben werden kann. Auch lebensgeschichtlich lässt sich diese Uneindeutigkeit weiter verfolgen: So verliert die Jugendzeit beispielsweise bezüglich der Identitätsentwicklung ihre herausragende Stellung. Identitätsarbeit wird zur immerwährenden Aufgabe. Auf der anderen Seite ist die Jugendzeit als Schul- und Ausbildungszeit mit der Vergabe trotz inflationär an Wert verlierenden Bildungsabschlüssen ein die spätere berufliche Zukunft und damit auch die Identität maßgeblich beeinflussender und auch in unterschiedlicher Weise ermöglichender Faktor. Somit behält Jugend trotz ihrer neuen Gegenwartsbezogenheit auch eine Zukunftgerichtetheit; eine Zukunftsgerichtetheit unter erschwerten Bedingungen, bei der im Gegensatz zu früher die Perspektive des Scheiterns stärker mitbedacht werden muss – nicht nur bezüglich des Arbeitsmarktes, sondern beispielsweise auch im partnerschaftlichen, familiären Bereich. Diese zusammenfassende Betrachtung fördert in anderer Weise jedoch ein einheitliches Ergebnis zu Tage: Pluralisierung ist hier als sich durchziehendes Moment zu benennen. Pluralisierung sowohl als ein markantes Wesensmerkmal der Jugendzeit als auch Bedingungskontext. Sie betrifft zum Ersten die Ausdifferenzierung der Jugendphase, soweit man von einer Jugendphase überhaupt noch sprechen kann, zum Zweiten die Ausdifferenzierung des Bezugsrahmens, in dem sich Identität ausbildet, und zum Dritten auch die Ausdifferenzierung in der ‚inneren‘ jugendlichen Identitätsbildung. Mit der auf vielfachen Ebenen stattfindenden Pluralisierung geht die Notwendigkeit zur Individualisierung einher50, die zum einen als große Chance zur Selbstgestaltung, zum anderen aber auch in der Unübersichtlichkeit und aufgrund begrenzter realer Möglichkeiten als Last angesehen werden kann. Die in der Moderne erlangte Freiheit in Form der Individualisierung geht mit dem Wegfall von unverrückbaren Plausibilitäten einher. Gewissheiten sind damit immer Produkte individueller Entscheidungen. So ist „jeder und jede in der Lage, aber auch gezwungen sich sein eigenes Biographiedesign, einschließlich des persönlichen Sinnsystems, zu konstruieren und dies stets neu und im Bewusstsein der Eigenproduziertheit und daher Revidierbarkeit und Partikularität der eigenen stets temporären Sicherheiten.“51 Die Aufgabe der Jugendlichen ist es heute nicht mehr, wie bei Erikson beschrieben, in einer vorgegebenen Weltanschauung Sinn52 zu finden, sondern Sinn aus vielen Bezugsquellen immer wieder selbst zu konstruieren und auf das eigene Leben abzustimmen. 50 „Mit der Aufweichung oder gar dem Schwinden der traditionellen Lebensprägungen etwa durch Klassen-, Konfessions-, Sozial-, Verbands- und Familienmilieus (der Arbeiterschaft, des (Bildungs-, Besitz-)Bürgertums, der ländlich bäuerlichen Gesellschaft, der christlich-religiösen Gemeindearbeit, der Nachbarschaft, des ortsbezogenen Sportvereins etc.) kommt es systemtheoretisch gesprochen […] zu einer kontinuierlichen Ausdehnung einer Sphäre der sozialstrukturellen Unbestimmtheit oder risikogesellschaftlich gesprochen aufgrund des relativen Bedeutungsverlustes der institutionalisierten Ungleichheit zu einer Enttraditionalisierung und Entstrukturierung der Lebensführung bzw. zu einer tendenziellen Individualisierung von Lebenslagen und einer Pluralisierung von Lebensstilen.“ – Ferchhoff, Wilfried: Jugendkulturen, 1990, S. 78. 51 Bucher, Rainer: Gott, 1995, S. 4. 52 Diesem Sinn wird in der Identitätsentwicklung eine stabilisierende Komponente zugeschrieben – vgl. Schweitzer, Friedrich: Postmoderner Lebenszyklus, 2003, S. 68.

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Diese Aufgabe muss im Umgang mit Jugendlichen jedoch erst einmal akzeptiert werden. Pluralisierung wird auf der einen Seite als freiheits- und identitätsfördernder Faktor beurteilt, auf der anderen Seite führt sie nicht automatisch zur Selbstbestimmung, sondern kann auch zu einer neueren, pluraleren Außengeleitetheit beitragen. Bezogen auf die Aufgaben der Jugendzeit scheint es mir heute insbesondere wichtig: à Räume für Kreativität und zum Ausprobieren zur Verfügung zu stellen: „Das wichtigste Kapital auf dem Weg ins Ungewisse des Erwachsenenlebens ist Neugierde, Freude am Experimentieren und Gestalten, Offenheit für Neues und Risikobereitschaft.“53 à Orientierungsmuster anzubieten und gemeinsam zu entwickeln, um damit zu helfen, die plurale Wirklichkeit besser kennen und unterscheiden zu lernen. Als Bezugsgröße kann aus Sicht der Jugendlichen nur die eigene Biografie gelten, denn ihnen „wird ein hohes Maß an Individuierung und Autonomie abverlangt, da sich die einheitlich kollektive Statuspassage Jugend in plurale Zeit- und Verlaufsformen ausdifferenziert“54. Diese Ichbezogenheit sollte nicht unter dem Vorwurf der Selbstfixierung betrachtet, sondern als Verantwortungsübernahme für das eigene Leben anerkannt werden. à Reflexive Rückzugsräume anzubieten, um eigene Ressourcen zu reaktivieren und Identitätsarbeit zu ermöglichen und damit der Gefahr einer reinen Außengeleitetheit des Individuums (Gergens) entgegenzuwirken. Dies könnte die Entwicklung einer reflexiven Haltung unterstützen, in der sich der bzw. die Jugendliche selbst als Richtungsgeber/in seines bzw. ihres Lebens verstehen lernt. à Produktives „Cocooning“ zu ermöglichen: Die Verhaltensweise des „Cocooning“, des sich Einspinnens, des Rückzugs ins Private angesichts einer überkomplexen Welt55, macht darauf aufmerksam, dass Jugendliche immer noch eines Moratoriums bedürfen. Aufgabe wäre es Möglichkeiten zu eröffnen, sich einmal mit einer speziellen Anforderung intensiver zu beschäftigen, differenzierte Unterstützung auf dem Weg zum Erwachsenwerden anzubieten. à Nicht die alte Statuspassage Jugend aufrechterhalten zu wollen, sondern Jugendlichen verantwortliches Handeln zuzutrauen – beispielsweise in Bezug auf den Umgang mit Konsumgütern oder im Umgang mit der eigenen Sexualität. à Die neue(n) Statuspassage(n) „Jugend“ nicht zu glorifizieren: Durch die Rahmenbedingungen, in der Jugend heute stattfindet, sind Jugendliche einem immensen Druck56 ausgesetzt. Längst ist es nicht mehr möglich, die Jugendzeit unbekümmert zu genießen. Die Zweiseitigkeit der Jugendzeit, soziokulturell relativ selbstständig agieren zu können, sozioökonomisch jedoch weithin in Abhängigkeit zu leben, wird zu einer problematischen Konstellation, weil ihr Ende unabsehbar geworden ist. Die Ungewissheit darüber, ob, wie und wann man selbst sozioökonomische Selbstständigkeit erlangen wird, wirkt so auch schon in der ‚jüngeren‘ 53

Schöll, Albrecht: Jugend, 2001, Sp. 918. Schöll, Albrecht: Jugend, 2001, Sp. 918. 55 Vgl. Sellmann, Matthias: Jugend, 2002, S. 5. 56 Vgl. Shell Deutschland Holding: Jugend, 2006. 54

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Jugendzeit besorgniserregend. Den schon das Jugendalter bestimmenden Fragen nach sozialer Anerkennung, akzeptablen Zukunftschancen, materieller Lebensqualität ist zu begegnen; Jugendliche müssen lernen, mit ihnen umzugehen, sie auszuhalten! Insbesondere Jugendliche, die keine Ausbildungsstelle finden, sind zu unterstützen und in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken! Eine Ersetzung des Arbeitslosengeldes I und II durch ein jedem Bundesbürger zugesichertes Grundeinkommen57 könnte Jugendliche und Junge Erwachsene zumindest vor den finanziellen Sorgen und Stigmatisierungen verschonen. Auch dies befreit jedoch nicht, ihnen eine Aufgabe anzubieten, die von ihnen und auch von der Gesellschaft geschätzt und anerkannt wird.

2.2. Der Strukturwandel ‚der‘ Religion Ebenso wie der Begriff der Jugend ist auch der der Religion in eine ‚Krise‘ der eindeutigen Bestimmung geraten. „Auch hier verschwimmen die Wahrnehmungskategorien, und die Grenzen des Phänomens Religion werden bis in den Alltag hinein unsicher.“58 Wie lassen sich die Entwicklungen in diesem Bereich angemessen beschreiben? Ist beispielsweise die Rede vom Verschwinden oder die von der Ausweitung von Religion zutreffender? Oder kann man trotz der augenscheinlichen Widersprüchlichkeit bei genauer, differenzierter Betrachtung sogar beides nachvollziehen, ähnlich wie es bei dem Begriff der Jugend bereits festzustellen war? Die beschriebene Uneindeutigkeit lässt sich zum einen auf verschieden weite Definitionen des Begriffs zurückführen, die zu unterschiedlichen Aussagen über die Existenz und die Bedeutung der Religion in und für unsere heutige Gesellschaft führen. Geht man von einem substantiellen Religionsbegriff aus – zumeist orientiert an den kirchlich-religiösen Manifestationen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts59 – und untersucht die Gesellschaft anhand quantitativer Befragungen daraufhin, so kommt man, die Religion betreffend, zu ernüchternden Ergebnissen. Spürt man hingegen mittels qualitativer Verfahren zumeist noch unbekannte religiöse ‚Phänomene‘ oder funktional fungierende Äquivalente einer individualisierten Religiosität auf60, so sieht das Ergebnis anders aus. Selbst innerhalb der beschriebenen Zugangsweisen lassen sich uneindeutige, teilweise widersprüchliche Bilder zeichnen. Geht man mit der Säkularisierungthese vom Ende der Religion in der Moderne aus, insbesondere auch von ihrer christlich verfassten Form, lassen sich Phänomene wie die Massenmobilisierung bei (katholischen) Weltjugendtagen oder die weiterhin bestehende Vormachtstellung der christlichen Kirchen in Religionsunterricht, Erwachsenenbildung und im Sozialwesen61 nicht einordnen. Auf der anderen Seite weist vieles darauf hin, dass Religion nicht einfach wie bisher weiter existiert, dass es Abbrüche einer bestimmten Form institutionell geprägter und gemeindlich verorteter Religion gibt.62 57

Vgl. u. a. Bundesvorstand BDKJ: Solidarität, 2003. Gabriel, Karl: Bildung, 1995, S. 10. Vgl. Ziebertz, Hans-Georg/Tzscheetzsch, Werner: Religiöse Suchbewegungen, 1996, S. 12. 60 Vgl. Gabriel, Karl: Wandel, 1996, S. 47. 61 Vgl. Gabriel, Karl: Wandel, 1996, S. 54ff. 62 Vgl. u. a. Zinnecker, Jürgen: Jugend, 1993. 58 59

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32 | Der Strukturwandel als Bedingungsrahmen

Die Säkularisierung, an deren Ende die Nichtexistenz von Religion gedacht wurde, scheint eine die Gegenwart unzutreffende Deutung zu sein: „Daß die Moderne von der Religion einmal ganz loskommen könnte, gehört offenkundig zu den modernen Illusionen, von denen sie loskommen muß.“63 Davon loszukommen heißt auch religionsempirische Forschung heute differenzierter zu betreiben und selbstkritisch zu fragen, inwieweit Ergebnisse bereits durch die Anlage von Untersuchungen produziert werden. Im Falle der Säkularisierung sprechen Tzscheetzsch und Ziebertz in Rückbezug auf Matthes64 von einem Interpretationstheorem, bei dem das zu Beweisende allzu oft als erwiesene Voraussetzung behandelt worden sei und wo Berge von empirischen Daten produziert worden seien, die diese Position stichhaltig beweisen sollten.65 „Jenseits aller Religions- und Modernitätskritik galt Säkularisierung empirisch analytisch als erwiesen.“66 Nimmt man von dieser Säkularisierungsthese Abstand, sieht sie zumindest nicht als bereits vorher bewiesenes67, alternativloses Erklärungsmodell, so geraten neuere, weniger durch ihre kirchliche Prägung bestimmte Ausformungen von Religion und Religiosität in den Blick.68 Das Problem der Uneindeutigkeit und Unübersichtlichkeit scheint sich damit jedoch keinesfalls zu lösen. Im Angesicht der Unübersichtlichkeit und des stetigen Wandels des religiösen Feldes69 scheint nicht nur Unklarheit darüber zu herrschen, wie Religion phänomenologisch vorkommt, sondern es bestehen auch konkurrierende Vorstellungen, welchem Zwecke bzw. welchen Zwecken Religion heute dient70 bzw. dienen sollte. Verschiedene Funktionen, Intentionen und Definitionen von Religion sind nicht nur das Ergebnis unterschiedlicher, individueller In-Gebrauchnahme, sondern auch der Vervielfachung von Anbietern, die in dem Interesse, ihr Angebot auf dem Markt zu platzieren, bemüht sind, die Definitionshoheit nicht anderen zu überlassen.71 63

Höhn, Hans-Joachim: Zerstreuungen, 1998, S. 9. Vgl. Matthes, Joachim: Suche, 1992. 65 Vgl. Ziebertz, Hans-Georg/Tzscheetzsch, Werner: Religiöse Suchbewegungen, 1996, S. 9. 66 Ziebertz, Hans-Georg/Tzscheetzsch, Werner: Religiöse Suchbewegungen, 1996, S. 8. 67 Pollack weist darauf hin, dass sich auch eine weitere Beschäftigung mit dem Prozess der Säkularisierung lohnt, da er analytisch noch nicht ausreichend erfasst wurde. So fragt er zum Beispiel nach dem Einfluss verschiedener Faktoren wie der Urbanisierung und Industrialisierung, der Bedeutung der rechtlichen Stellung von Religionsgemeinschaften im Staat, der Pluralisierung, der Individualisierung auf die Form von Religion und den Säkularisierungsprozess. – Vgl. Pollack, Detlef: Diskussion, 1995. 68 Andere, sich in herkömmlichen Formen und Orten ausprägende Religion und Religiosität, werden dabei vielleicht manchmal aus dem Blick verloren. Detlef Pollack weist darauf hin, dass der Rückgriff auf das Individualisierungstheorem genauso wenig die Realität zu beschreiben fähig ist, wie allein der der Säkularisierung. In diesem Zusammenhang konstatiert Pollack, dass es neben Abbruchstendenzen im Bereich der beiden großen Konfessionen auch gegenläufige Tendenzen gibt. In Auseinandersetzung mit den EKD-Studien weist er auf ein gestiegenes Verbundenheitsgefühl der evangelischen Christen, auf eine erhöhte Taufbereitschaft, auf einen Wandel der Motive von Kirchenmitgliedschaft am Beispiel der Konfirmation (von der Betonung der Entscheidung bis hin zur guten Tradition) usw. hin. – Vgl. Pollack, Detlef: Individualisierung, 1996, S. 75ff. 69 „Mit dem Wandel des religiösen Feldes und seiner Akteure verändert sich auch heute […], was als das Religiöse gilt, wie dessen Grenzen definiert werden und welche Funktionen ihm zugeschrieben werden.“ – Gabriel, Karl: Wandel, 1996, S. 48. 70 „Religion besteht fort nach ihrem Ende – aber als was? Als Widerlager technisch-industrieller Modernisierungsprozesse? Als Gegenraum im Raum der Moderne? Als Generator von Utopien, die es verdient haben, keine zu sein? Als Gegenmittel zu den Selbstverwundungen des Menschen? Als Kompensat von Lebensmängeln, welche Wissenschaft und Technik (als Kompensatoren von Religionsmängeln?) produzieren?“ – Höhn, Hans-Joachim: Zerstreuungen, 1998, S. 10. 71 Vgl. Bourdieu, Pierre: Das religiöse Feld, 2002, S. 77ff. 64

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