1.1. Die Stellung des Experiments im naturwissenschaftlichen Unterricht im zeitlichen Wandel

Experimente im Chemieunterricht. Ihre gestaltpsychologische Bedeutung und entwicklungsbedingte besondere Wahrnehmung durch Schüler. Dipl.-Päd. Ing. Ma...
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Experimente im Chemieunterricht. Ihre gestaltpsychologische Bedeutung und entwicklungsbedingte besondere Wahrnehmung durch Schüler. Dipl.-Päd. Ing. Mag. Dr. Dietmar Chodura

1. ALLGEMEINES UND EINLEITUNG 1.1. Die Stellung des Experiments im naturwissenschaftlichen Unterricht im zeitlichen Wandel

Im deutschsprachigen Raum wurde Chemieunterricht erstmals 1825 an der Berliner Gewerbeschule erteilt. Wöhler (1800 - 1882) - bekannt durch seine bedeutende Harnstoffsynthese war dort Chemielehrer. Chemische Praktika waren am Beginn des Chemieunterrichts gänzlich unbekannt und auch 40 Jahre später gab es erst 19 Schulen in ganz Deutschland, die diese anboten. 1825 hatte Liebig (1803-1873) - bekannt durch die Erfindung des Kunstdüngers (Minimalprinzip) - seine Lehrtätigkeit an der Universität Gießen begonnen. Er war es auch, der die Experimentalvorlesung für Chemiestudenten einführte. Doch er ging noch weiter: Neben seinen regulären Vorlesungen hielt er auch zahlreiche Vorträge für Laien (wie etwa Bauern (s. Kunstdünger)), denen er die Chemie näher bringen wollte - und dies tat er hauptsächlich durch leicht fassliche und aussagekräftige Experimente. Die Grundlagen für den heutigen Experimentierunterricht (die Primärdidaktik also) haben wir daher zum Großteil ihm zu verdanken. Die fortschreitende Industrialisierung half im Folgenden entscheidend bei der Erschließung der Schulen für den naturwissenschaftlichen Unterricht im allgemeinen und den Chemieunterricht im speziellen - insbesondere die Gründung der Firmen Merck (1867 Darmstadt) und BASF (1865 Mannheim, heute Ludwigshafen) schaffte enormen Bedarf an qualifizierten Mitarbeitern und dies wirkte sich rasch auf die Schulen aus. Dennoch war dieser Unterricht vorerst eine Domäne der Realschulen, erst nach und nach fand er auch Einzug in die humanistischen Gymnasien. Nach der Etablierung des naturwissenschaftlichen Unterrichts gingen viele Chemiker nach ihrem Studium als Lehrer an Schulen und gaben dort ihr Wissen im Ansatz unverändert (was Didaktik und Systematik des Stoffes [allgemeine, anorganische, organische Chemie …] betraf) an die Schüler weiter. Fachlogisch war dies zwar durchaus richtig, allerdings wurden

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Motivationsüberlegungen in diesem Zusammenhang noch nicht angestellt. Erst Diesterweg1 stellte den systematischen Lehrgängen methodische Lehrgänge gegenüber (DIDAKTIK). Er setzte sich für das induktive Arbeiten im naturwissenschaftlichen Unterricht ein (das Erschließen von allgemeingültigen Sätzen aus Einzeltatsachen). Für Diesterweg war der formale Zweck des Unterrichts, das Erlernen der Methode der Erkenntnisgewinnung, wichtiger als der materiale Zweck (die Menge des Wissens). Die ersten methodischen Lehrgänge für das Fach Chemie haben Arendt (1868) und Wilbrand (1870) veröffentlicht. "Der Unterricht in Chemie soll eine praktische Schule der induktiven Logik sein." (Wilbrandt) Arendt und Wilbrand sind der Didaktik des Anschauungsunterrichtes ganz verhaftet. Auch hier hat das Experiment einen hohen Stellenwert und Chemieunterricht ist für sie daher ein Demonstrationsunterricht. Dieser Ansatz ist übrigens umso bedeutender, wenn man ihn vor dem damaligen historischen Hintergrund betrachtet: So war es in dieser Zeit nämlich üblich, die praktischen Laborübungen vom Unterricht zu trennen und nur in der Oberstufe von Mittelschulen bzw. Gymnasien anzubieten2. Darüber hinaus ging man davon aus, dass die Schüler, die am Praktikum teilnahmen, mit den theoretischen Grundlagen vorab vertraut sein mussten. Der Lehrer führte dann die Versuche vor, die Schüler machten sie nach. Mit Aufkommen des Arbeitsschulgedankens3 hat man gefordert, das Schülerexperiment als Bestandteil des Chemieunterrichts anzusehen. Der Schüler sollte nun selbst etwas in die Hände bekommen - im eigentlichen Sinne "begreifen" - und über Handarbeit zur geistigen Tätigkeit gelangen. Der bedeutendste deutsche Theoretiker des Arbeitsschulgedankens, Kerschensteiner4, hat in diesem Sinne auf den naturwissenschaftlichen Unterricht starken Einfluss genommen. Mit der Arbeitsschule kam auch der Arbeitsgruppenunterricht in die Diskussion. Für Kerschensteiner war diese Unterrichtsform dabei auch soziale Erziehung zum Staatsbürger.

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Diesterweg, Adolph, *)Siegen 29.10. 1790, †)Berlin 7. 7. 1866, dt. Pädagoge. 1847 aus polit. Gründen vom Dienst suspendiert; ab 1858 Mgl. der Fortschrittspartei im preuß. Abg.haus, wo er bes. die volksschulfeindl. preuß. Regulative von 1854 bekämpfte. Sein Ziel war u. a. die Hebung der Volksbildung, Vereinheitlichung und Verbesserung der Lehrerausbildung sowie Unabhängigkeit der Schule von Kirche und Staat. 2 Diese Trennung wurde in Österreich übrigens weitgehend bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts (!) beibehalten. 3 Arbeitsschule, im Ggs. zur bloßen ›Lernschule‹ jede Schule, die die manuelle, körperl., fachl., prakt. oder auch die selbsttägige geistige Arbeit in ihren Unterricht einbezieht. Sie ist im wesentl. ein Produkt der pädagog. Reformbestrebungen seit dem 19. Jahrhundert. 4

Kerschensteiner, Georg, *)München 29. 7. 1854, †)ebd. 15. 1. 1932, dt. Pädagoge. Bed. Schulreformer; K. führte 1900-06 fachlich gegliederte Berufsschulen und in der Volksschule den Arbeitsunterricht ein. Als Vorkämpfer der Arbeitsschule zahlr. theoret. Schriften, u. a. ›Theorie der Bildung‹ (1926). Vgl. Gaudig: Freie geistige Schul-Arbeit

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Bedingt durch die beiden Weltkriege wurde die Entwicklung der Chemiedidaktik unterbrochen. Erst danach wurden alte Vorstellungen darüber, wie naturwissenschaftlicher Unterricht sein sollte, hinterfragt und neue Ansätze geschaffen und in der Praxis erprobt. Die Öffentlichkeit war jedoch erst bereit, diese Entwicklungen zu finanzieren, nachdem es der UdSSR 1957 noch vor den Westmächten gelungen war, einen Satelliten in die Erdumlaufbahn zu schießen. Im Westen war es damals eine wichtige Frage, ob man in Zukunft auf naturwissenschaftlichtechnischem Gebiet mit der UdSSR würde konkurrieren können (Sputnik-Schock).

In jüngster Zeit wurden schließlich Themen wie Luft- und Wasserverschmutzung, Energiereserven der Erde etc. in den Unterricht miteinbezogen und auf Grund der aktuellen Umweltsituation immer stärker bewertet.

Aus den vorangegangenen Theorien und Überlegungen kam man nun nach BRUNER zu dem Schluss, dass sich moderner naturwissenschaftlicher Unterricht aus drei Grundbestandteilen und Darstellungsformen zusammensetzen sollte: 1. Enaktiv (Handlungen, Versuche, Vormachen) 2. Ikonisch (bildliche Mittel, graphische Darstellung) 3. Symbolisch (Sprache und Zeichen, chemische Formeln)

Heute stellt das Experiment das wichtigste Medium im Chemie-Unterricht dar. Wie sagte schon Einstein: "Ein hübsches Experiment ist schon an sich oft wertvoller als zwanzig in der Gedankenretorte entwickelte Formeln!"

Die Begründung dieser zentralen Rolle liegt einmal darin, dass das Experiment an sich beim Erkenntnisprozess in der Fachwissenschaft eine außerordentlich bedeutende (sowohl bei induktivem als auch bei deduktivem Vorgehen) Rolle spielt (Falsifikation / vorläufige Bestätigung) und zum anderen, dass es große didaktische Bedeutung hat (was man sieht, oder gar selbst gemacht hat, merkt man sich leichter).

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1.2. Arten von Experimenten: • Forschungsexperimente: Sie kommen auf der Stufe des Problemlösens zum Einsatz und vermitteln neue Erkenntnisse und Kenntnisse. • Didaktische Experimente: Sie sind für den Lernprozess notwendig.

FORSCHUNGSEXPERIMENTE:

1. Bestätigungsexperiment: Eine Hypothese wird durch ein Experiment vorläufig bestätigt. 2. Falsifikationsexperiment: Das Experiment bringt ein anderes Ergebnis als in der Hypothese formuliert und widerlegt diese somit.

DIDAKTISCHE EXPERIMENTE:

1. Einführungsexperimente (Induktionsexperimente): Werden eingesetzt, um die Schüler auf ein neues Problem aufmerksam zu machen. Außerdem sollen die Schüler dadurch motiviert werden, sich mit einem neuen Problem auseinanderzusetzen. 2. Wiederholungsexperiment: Experimente, die schon einmal gezeigt/durchgeführt wurden, aber aus didaktischen Gründen wiederholt werden. 3. Übungsexperiment: Es dient der Festigung einer bestimmten Handlungsfolge. 4. Anwendungsexperiment: Seine Zielsetzung ist darin zu sehen, dass die Schüler vorhandene Kenntnisse für die Entwicklung und Durchführung von Experimenten anwenden, bzw. das erworbene Wissen durch Querverbindungen zu anderen Fächern und der Umwelt sichern. 5. Sytematisierungsexperiment: Es dient dem Erkennen übergreifender und umfassender Zusammenhänge.

Weiters können Experimente nach dem Anteil an selbständiger Arbeit der Schüler unterschieden werden:

1. Lehrerexperiment, Variante 1: Hier arbeitet der Lehrer alleine und demonstriert einen Sachverhalt, führt ein Experiment durch. Diese Form wird verwendet, wenn sich der Versuch als solches für alle anderen Typen (s. unten) didaktisch nicht eignet oder wenn die Durchführung für Schüler zu gefährlich ist.

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2. Lehrerexperiment, Variante 2: Der Lehrer arbeitet zwar auch hier am Experimentiertisch vor der Klasse, ein oder mehrere Schüler assistieren ihm aber und übernehmen größere oder kleinere Segmente der Versuchsdurchführung. Diese Form wird verwendet, wenn sich der Versuch als solches für alle anderen Typen (s. unten) didaktisch nicht eignet. 3. Schülerexperimente, bei denen die Aneignung von Kenntnissen vollkommen selbständig durch den Schüler erfolgt (z.B. schrittweises abarbeiten einer Experimentieranweisung). 4. Schülerexperimente, bei denen die Vermittlung der Kenntnisse durch gemeinsame Arbeit erfolgt (mit dem Lehrer oder in Schülergruppen). 5. Schülerexperimente, die sich aus einer Kombination der beiden geschilderten Möglichkeiten ergeben.

Stufen der experimentellen Tätigkeit: 1. Theoretische Vorbereitung des Experiments 2. Praktische Vorbereitung des Experiments 3. Praktische Durchführung des Experiments 4. Theoretische Auswertung des Experiments

2. FRAGESTELLUNG:

Gibt es gestalt- und entwicklungspsychologische Unterschiede in der Wahrnehmung eines chemischen Experiments bzw. Versuchsaufbaus?

2.1. Theoretische Basis: Grundvoraussetzung für die optimale kognitive Verarbeitung von Demonstrationsexperimenten und den Beginn und Fortgang entsprechender Denkoperationen ist ihre möglichst prägnante Wahrnehmbarkeit. Mit diesem Phänomen der Prägnanz haben sich Wissenschaftler der Gestaltpsychologie eingehend beschäftigt und auch experimentell jene Effekte und Faktoren erforscht und nachgewiesen, die ein Objekt wahrnehmungsaktiv erscheinen lassen, ihm also Prägnanz verleihen. Auch dass die visuelle Wahrnehmung signifikant mit der Aufnahme des Geschehenen im Gedächtnis und mit Lernprozessen z.B. im Chemieunterricht verbunden ist, konnte dadurch gezeigt werden. (vgl. SCHMIDKUNZ 1992, 7) Die Gestaltpsychologie selbst entstand dabei in Deutschland etwa um 1910. Sie legt ihren Schwerpunkt auf die ordnenden oder organisierenden Kräfte des Geistes und kann durch die 5

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Aussage, dass das Ganze mehr ist, als die Summe seiner Teile, wohl am besten charakterisiert werden. Ihre Hauptvertreter waren Wolfgang Köhler (1887-1967), Kurt Koffka (1886-1941) und Max Wertheimer (1880-1943). Sie lehnten ebenso wie William James die Vorstellung ab, dass sich Geistesinhalte oder Erfahrungen auf wenige grundlegende Bestandteile reduzieren ließen. Sie bedienten sich u. a. naturwissenschaftlicher Theorien – wie z.B. der Feldtheorie aus der modernen Physik – um bestimmte Vorgänge zu erklären. Den Hauptsatz, dass nämlich das Ganze mehr sei, als die Summe seiner Teile und man den Wahrnehmungsprozess an sich nicht verstehen könne, wenn man ihn immer nur in kleinere Teile zerlegt, belegten sie z.B. mit dem Konzept der Scheinbewegung: Betrachtete man die einzelnen Bilder eines Films, so ist dies eben nicht dasselbe, als wenn man diese – so wie gedacht – mittels Projektor in schneller Folge sieht und sich so im Gehirn eine Bewegung ergibt. Oder mit dem Beispiel der Musik: Hier nimmt man auch beim Hören die gesamte Melodie, nicht einzelne Noten wahr (vgl. ZIMBARDO, 2003, 113). Die Gestalttheorie selbst ist aber laut Köhler nicht nur auf die Wahrnehmung anwendbar, sondern z.B. auch auf andere wichtige Bereiche des Verhaltens, wie etwa Lernen oder Problemlösen, denn auch dort würden die verschiedenen Komponenten einer Aufgabe im Geist organisiert und reorganisiert, um schließlich eine Lösung zu finden. Es wird dadurch aber klar aufgezeigt, dass es sich nach Auffassung der Gestaltpsychologie beim Lernen und Problemlösen um „Alles oder Nichts“-Prozesse oder „Aha-Erlebnisse“ handelt, denn entweder man gelangt zur Einsicht, oder eben nicht. Dies ist ein weiterer Punkt, in dem sie sich etwa vom Behaviorismus unterscheidet, „wonach Lernen ein Prozess kontinuierlicher Festigung von Reiz-Reaktionsverbindungen ist“ (vgl. BOURNE, 2001, 18 ff.).

Aus den so gewonnenen grundlegenden Gesetzen der Gestaltpsychologie ergeben sich für den Experimentalunterricht in Chemie vielfältige Erkenntnisse: I) Das Gesetz des Figur-Grund-Kontrastes. Aus ihm ergibt sich, dass für die Bildung einer eigenständigen Figur im Gehirn das zu Beobachtende – im konkreten Fall die Apparatur – sich klar und deutlich vom Hintergrund abheben muss, zu dem auch die im Blickfeld liegende Umgebung zählt. Er sollte deshalb homogen und farblich unauffällig gestaltet sein. Mitunter kann die Umsetzung dieser Forderung in der Realität des Unterrichts schwierig sein – jedoch helfen bereits ein dunkles Tuch hinter dem Versuchsaufbau oder eine sauber gelöschte (dunkelgrüne) Tafel. 6

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Tropftrichter Stativ

Erlenmeyerkolben

Gaswaschflasche

Rundkolben

Abbildung 1 deutet einen inhomogenen Hintergrund an, bei dem nicht zum Versuchsaufbau gehörende Glasgeräte (Erlenmeyerkolben, Gaswaschflasche und Rundkolben mit Tropftrichter) die merklich prägnanzvermindernde Wirkung verdeutlichen und die Wahrnehmung des Figur-Grund-Kontrastes erheblich stören.

Ähnlich verhält es sich in Abbildung 1.1.: Zwei meiner Schüler aus dem „Technischen Seminar“ zeigen hier ihren Kameraden eine Destillation vor einem sehr inhomogenen Hintergrund. Die Verlagerung des Aufbaus in Richtung des grauen Kastens böte eine einheitliche Farbfläche und damit bessere Wahrnehmbarkeit.

II) Das Gesetz der Nähe, das besagt, dass unter sonst gleichen Bedingungen die nächstgelegenen (benachbarten) Reizelemente als zusammengehörig gesehen werden. 7

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Das bedeutet für Aufbauten von Demonstrationsexperimenten, dass nur Geräteteile mit gleicher Funktion nahe beieinander stehen sollten.

Bei dieser Apparatur in Abbildung 2.1. wird dieses Prinzip im Vergleich zu Abbildung 2 vernachlässigt; die nahe neben dem Erlenmeyerkolben stehende Gaswaschflasche vermittelt den irrigen Eindruck, dass beide zusammengehören.

III) Das Gesetz der Ähnlichkeit bzw. Gleichartigkeit, das besagt, dass am ehesten diejenigen Elemente zu Figuren gruppiert werden, die sich am ähnlichsten sind. Gleichartigen Teilen mutet man überdies unbewusst auch eine gleiche Funktion zu. Außerdem führen gleichartige Teile zu so genannten Objektzusammenschlüssen, d.h. zur Gruppenbildung. Innerhalb solcher Gruppen sind die differenzierten Funktionen einzelner Teile nicht mehr bzw. schlecht wahrnehmbar. Sollen also unterschiedliche Funktionen mit bzw. in einem Experiment verdeutlicht werden, so muss auf Gleichartigkeit unbedingt verzichtet werden. (vgl. SCHMIDKUNZ 1992, 7)

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Abbildung 4 zeigt denselben Funktions-Aufbau wie die Apparatur in Abbildung 2, nur wurden dort unterschiedliche Funktionen durch unterschiedliche Geräte dargestellt. Durch die Nichtbeachtung der Gesetzmäßigkeit der Gleichartigkeit erschließt sich dem betrachtenden Schüler hier die Funktion der einzelnen Teile wie auch der Gesamtapparatur nicht mehr „auf den ersten Blick“ – sie präsentiert sich im Gegenteil aufgrund dessen als höchst verwirrend.

IV) Das Prinzip des gemeinsamen Schicksals, dass besagt, dass Elemente, die sich in dieselbe Richtung mit etwa der gleichen Geschwindigkeit bewegen, als zusammengehörig befunden werden. Dieses Prinzip kann bei Demonstrationsexperimenten im Chemieunterricht dann Bedeutung erlangen, wenn z.B. zwei verschiedene Apparaturen, die miteinander nichts zu tun haben, zunächst vom Lehrer vorbereitend auf einem Laborwagen aufgebaut wurden und dann während der Unterrichtsstunde gemeinsam auf diesem in den Chemiesaal gefahren werden. Die Schüler könnten die Apparaturen dann beim Hereinfahren als Einheit empfinden und im Gedächtnis codieren. Der gleiche Effekt würde auch wirksam, wenn zwei voneinander unabhängige Versuchsanordnungen nebeneinander auf dem Labortisch des Lehrers stehen, während die Schüler das Chemielabor betreten.

V) Das Prinzip von der „guten Gestalt“, wonach wir solche Figuren als „gute Gestalten“ anderen vorziehen, die den Kriterien Einfachheit, Symmetrie und Regelmäßigkeit am ehesten entsprechen (vgl. ZIMBARDO, 2003, 133). Am nachfolgenden Beispiel lässt sich dies gut zeigen: Obwohl alle Figuren sechseckig sind, werden wohl die meisten Figur „a“ aus oben genannten Gründen bevorzugen.

VI) Prinzip der gewohnten und in sich geschlossenen Figur: In konsequenter Fortführung des obigen Prinzips neigt der Mensch weiters dazu, alles Neue zu bereits im Gedächtnis vorhandenen Mustern zu assoziieren. In diesem Falle versucht man, in einem neuen Gefüge bekannte Figuren zu erkennen, die sich von der Umgebung durch eine in sich geschlossene Figur abgrenzen (zu diesen bekannten Figuren zählen etwa Kreis, Quadrat, Rechteck, Ellipse u dgl. – allesamt auch Figuren, die dem Grundsatz der Einfachheit genügen). Das 9

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menschliche Gehirn konstruiert dann eine Geschlossenheit, auch wenn sie in der Realität nicht gegeben ist und modifiziert damit das an sich faktisch Vorhandene und Wahrgenommene. In gewissen Situationen gereicht uns diese Funktion, die eigentlich das rasche Erkennen von Figuren und das Zurechtfinden in der Welt inklusive schneller Entscheidungsfindung immens erleichtert, zum Nachteil. Geschickt genutzt, kann aber dadurch auch eine Fokussierung des Betrachters auf das Wesentliche ermöglicht werden: (vgl. SCHMIDKUNZ 2003, 11)

In Abbildung 2 bilden die beiden außen stehenden Stative und die Standlinie die Seiten eines nicht vorhandenen Rechtecks. Die Anordnung erscheint deshalb als eigenständige Figur, auch wenn die Geschlossenheit nicht durchgehend realisiert ist.

VII)

Gesetz der Einfachheit: Es ist leicht einzusehen, dass einfach strukturierte Objekte

visuell besser wahrgenommen werden können als komplexe. Die Komplexität bei chemischen Apparaturen wird durch die Vielzahl von Einzelteilen erreicht. Wenn diese Einzelteile dann zusätzlich noch gleichartig sind, erfährt die Komplexität eine Potenzierung.

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Abbildung 3: Vergleicht man diesen Aufbau mit dem aus Abbildung 2, so fällt der eklatante Verlust von Einfachheit insbesondere deshalb auf, da sich die Anzahl, Anordnung und Funktionsweise der Teile an sich nicht verändert haben; lediglich für den Versuch irrelevante Stative wurden hinzugefügt.

VIII) Das Prinzip von der glatt bzw. gerade durchlaufenden Linie: Es besagt, dass gerade Linien (wie z.B. Stative, die in der Wahrnehmung als Linien erscheinen) besonders wahrnehmungsaktiv sind.

Als subjektiver Nachweis dieses Gesetzes kann z.B. die in der Abbildung 11 gezeigte Figur dienen. Wahrgenommen wird immer zuerst eine gerade Linie, an der "unten" etwas hängt. Die Figur könnte man sich auch aus zwei Linien entstanden denken, wie sie in der Abbildung 12 dargestellt sind. Diese Anordnung wird allerdings vom Gehirn nicht als ‚Bestandteile der gezeigten Figur’ registriert. Dominant bleibt die gerade Linie. In bestimmte Linien können sogar andere, davon unabhängige Linien einbezogen werden.

Abbildung 13: So z.B. zeigt diese Schülerzeichnung, dass Klammern und Muffen, die lediglich zur Halterung eingesetzt werden, mit Glasrohren zu einer Einheit verschmelzen. Auch können Stative mit Rohrleitungen als gemeinsame "Linie" wahrgenommen werden.

Die Ergebnisse der psychologischen Forschung auf diesem Gebiet belegen, dass Objekte, die gut wahrgenommen werden, auch gut im Gedächtnis bleiben und was gut im Gedächtnis ist, kann auch gut verarbeitet respektive gut gelernt werden. Das bedeutet aber, dass prägnant wahrgenommene Stative andere Teile der Apparatur und auch

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kognitive Inhalte des Versuchs in der visuellen Wahrnehmung schwächen. Die Stärke der visuellen Wahrnehmung von solchen "Linien" ist zwar auch vom subjektiven Empfinden abhängig, aber die generelle Tendenz findet man qualitativ bei allen Menschen gleichermaßen. (vgl. SCHMIDKUNZ 2003, 11 f.) Für die Praxis ist dieses Prinzip somit in dreierlei Hinsicht bedeutsam: Zunächst neigen Menschen zu dem Verhalten, ihren Blick über gerade Linien gleiten zu lassen. Daher ist es bei Versuchsaufbauten wichtig, den Reaktionsweg nicht durchgehend auf gleicher Höhe zu gestalten, sondern ihn bereichsgemäß höhenmäßig zu staffeln.

Abbildung 5 zeigt einen solchen unbedingt zu vermeidenden Fehler: Die gleiche Höhe der Zu- und Ableitungen im Reaktionsgefäß wirken sich negativ auf die Beobachtungen der Schüler aus und lenken die Aufmerksamkeit vom zu verdeutlichenden Geschehen ab.

Zweitens muss der Verlauf einer Reaktion innerhalb der Versuchsanordnung gut beobachtbar sein. Das bedeutet, dass die Zu- und Ableitungen von einem Gefäß zum anderen möglichst geradlinig erfolgen sollen. Insbesondere bei Schlauchverbindungen werden jedoch oft Schlaufen gelegt, so dass die Verbindungen auf den ersten Blick nicht mehr erkennbar oder zumindest nur schwer und mit erheblichem Aufwand nachvollziehbar sind.

Drittens verleihen etwa Stative, die hinter Geräten stehen, der Anordnung eine deutliche Unexaktheit. Die Geräte „verschmelzen“ mit den Stativen und hinterlassen im Gedächtnis ein undifferenziertes Bild – unter dem auch die Codierung der Zu- und Ableitungen leidet.

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Abbildung 6 zeigt die Wirkung von Stativen hinter Versuchsapparaturen: Die Prägnanz der Wahrnehmung wird so vermindert.

IX) Das Prinzip der Symmetrie: Grundsätzlich geht von symmetrischen Anordnungen eine deutliche Prägnanz aus. Beobachter konzentrieren ihre Aufmerksamkeit auf solche wahrnehmungsaktive Gebilde. Es erscheint deshalb sinnvoll, auch chemische Versuchsaufbauten (wo möglich) symmetrisch zu gestalten; insbesondere auch deshalb, weil Lernen in der Gestaltpsychologie hauptsächlich eine Veränderung im Wahrnehmungsprozess darstellt. Deutlich machen dies z.B. Köhlers berühmte Affenversuche: So hat man etwa Futter außerhalb der Reichweite eines Menschenaffen platziert und ihm präparierte Bambusstöcke gegeben, die er, um das Futter erreichen zu können, ineinander stecken musste. Sobald der Affe die Stöcke nicht mehr nur als Bambusstöcke, sondern als Werkzeuge erkannt hatte, war das Problem durch Umstrukturieren und Einsicht gelöst (vgl. HERBER 2002, 23). Motivation ergibt sich schließlich aus dem inhärenten Streben nach der Einsicht.

Abbildung 7 zeigt eine Versuchsanordnung, bei der ein Gas parallel in 2 symmetrisch angeordnete Reaktionskolben geführt wird. Dort kann das Gas identifiziert bzw. charakterisiert werden (z.B. Indikatorumschlag bzw. Fällungsreaktion). Die ebenfalls symmetrisch angeordneten Waschflaschen dienen der Entsorgung. 13

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Symmetrische Apparaturen sind dann besonders wichtig, wenn die Komplexität eines apparativen Aufbaus eine gute Wahrnehmung erschweren würde. Wie bei allen genannten Gesetzen und Prinzipien kommt es aber auch hier auf deren korrekte Anwendung an: So ist bei symmetrischer Anordnung von Geräten stets zu bedenken, dass das so geschaffene Symmetriezentrum die Aufmerksamkeit unwillkürlich auf sich zieht und damit von anderen Teilen der Apparatur ablenkt.

In Abbildung 8 wird die Aufmerksamkeit durch die gegebene Symmetrie auf die Gaswaschflaschen gelenkt. Möchte der Lehrer so auf eine spezielle Entsorgungsmöglichkeit z.B. für ein giftiges Gas hinweisen, ist der Aufbau richtig gewählt. Sollen die Schüler dagegen auf eine Reaktion im Rundkolben achten, so ist auf die Symmetrieschaffung im hinteren Teil der Anlage zu verzichten.

Schließlich sollten bei der Zusammenleitung von Gasen oder Flüssigkeiten unbedingt YStücke (z.B. anstatt von T-Stücken) verwendet werden, da sonst nicht nur der Materiefluss sondern auch die Dynamik des Zusammenfließens für den Betrachter zerstört werden würde.

X) Das Prinzip der Dynamik von links nach rechts: Vom Schüler wird der Reaktionsfluss von rechts nach links als normal und naturgegeben empfunden – ein Fluss in umgekehrter Richtung wird dagegen als unangenehm und der Wahrnehmung widerstrebend aufgefasst. Die Neuropsychologie begründet dies mit der Lage des visuellen Wahrnehmungszentrums im Gehirn. (vgl. SCHMIDKUNZ, 1992, 10)

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Abbildung 9 zeigt einen solchen Reaktionsfluss in „falscher“ Richtung. Der Prägnanzverlust wird durch die unglückliche Stellung der Stative und die wenig gestufte Zu- und Ableitung beim Rundkolben, in dem die Hauptreaktion abläuft, verstärkt.

Oft geschieht solch ein Aufbau auch einfach aus Gedankenverlorenheit des Lehrers, in dem er die chemische Versuchsapparatur für sich in „richtiger“ Richtung aufbaut, aber nicht daran denkt, dass diese erst aus Schülersicht gerade ungünstig erscheint.

Neben der mehr oder weniger optimalen Wahrnehmung an sich spielen aber auch entwicklungspsychologische Faktoren in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle. So gibt es in der Stärke der Wahrnehmung von chemischen Gerätschaften auch eine deutliche Altersabhängigkeit. Untersuchungen haben gezeigt, dass z.B. Stative für Schülerinnen und Schülern im Grundschulalter und der Unterstufe sehr wahrnehmungsaktive Objekte darstellen. Erwachsene und Schülerinnen bzw. Schüler in der Oberstufe sind durch ihre Erfahrung offensichtlich in der Lage, solch störende Wahrnehmungen weitgehend ausschalten und sich auf die gezeigten Vorgänge konzentrieren zu können. (vgl. SCHMIDKUNZ 2003, 11)

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Sehr eindrucksvoll zeigen dies die Abbildungen 13 und 14 – Schülerzeichnungen über Demonstrationsexperimente, die eine Stunde nach der Vorführung aus dem Gedächtnis angefertigt wurden: Während für einen Schüler der 7. Schulstufe die (noch dazu äußerst ungünstig platzierten) Stative die zentrale Rolle im Experiment spielen (obwohl sie mit diesem eigentlich überhaupt nichts zu tun haben) und die eigentliche Reaktionsapparatur geradezu in ihrer Bedeutung marginalisiert wurde, zeigt sich der Effekt bei einem Schüler der 8. Schulstufe deutlich reduziert (obwohl auch hier das Stativ noch sehr dominant erscheint).

Es scheint daher plausibel, dass die bislang erworbene Erfahrung und auch die entwicklungsbedingten Fortschritte im Bereich der Denkprozesse des Schülers einen Teil des wiederum eher ungünstigen Versuchsaufbaus zu kompensieren in der Lage sind. Betrachtet man in diesem Zusammenhang nun Piagets fünf Hauptstufen der intellektuellen Entwicklung, so könnten daraus wiederum entwicklungspsychologische Erklärungsmechanismen abgeleitet werden: •

die sensomotorische Intelligenz



das symbolisch-vorbegriffliche Denken



das anschauliche Denken



das konkrete Denken



das formale Denken

Wie unterscheiden sich diese Stufen nun voneinander, welche Fähigkeiten haben Kinder auf den einzelnen Stufen? (vgl. SCHNEIDER 1996, 64-81; ZIMBARDO et al. 2003, 464-475 und GAGE et al. 1996, 104-118)

Sensomotorische Intelligenz (Geburt – 2. Lebensjahr): Probleme können nur wahrnehmungsmäßig (also z.B. nicht sprachlich) aufgefasst und nur auf der Handlungsebene gelöst werden (motorisch, Bewegung). Sie wurde auch bei Schimpansen beobachtet, jedoch kann das Kind am Ende dieser Entwicklungsstufe (18-20 Monate) bereits neue Verfahren zur Lösung von Problemen finden, ohne sie jemals zuvor angewandt oder gesehen zu haben. Kritisch muss hierzu allerdings angemerkt werden, dass diese Stufe Piagets insofern in die Kritik geraten ist, als z.B. die Fähigkeit Neugeborener, Gesichter nachzuahmen, nur kognitiv und damit nicht mit der senomotorischen Intelligenz alleine zu erklären ist.

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Symbolisch-vorbegriffliches Denken (2. - 4. Lebensjahr): Entscheidend für die Entwicklung des Denkens ist das Aufkommen von Vorstellungen. Ein Kind auf der Stufe der sensomotorischen Intelligenz würde einen Gegenstand, den es nicht sieht, auch nicht suchen. Auf der Stufe des symbolisch-vorbegrifflichen Denkens hingegen können Gegenstände auch dann noch im Bewusstsein vorhanden sein, wenn sie nicht mehr unmittelbar wahrgenommen werden können (Objektkonstanz). Das Kind kann diese Gegenstände also suchen oder beim Namen nennen. Das Kind kann dafür ein Wort oder ein anderes Zeichen verwenden, das stellvertretend für den Gegenstand oder die Handlung gebraucht wird; also ein Symbol dafür einführen. Weiters kann das Kind nunmehr zum ersten Mal zwischen Symbol (Wort) und dem realen Objekt unterscheiden. Das zeigt sich in dem nun systematisch einsetzenden Erwerb der Sprache. Auch die Spiele des Kindes wandeln sich: So kann es z.B. jetzt "schlafen" oder "essen" spielen, indem es die entsprechenden Bewegungen nachahmt. Auf der Stufe der sensomotorischen Intelligenz bestand die Erfahrung nur im wirklichen Tun, eine Simulation war undenkbar. Tiere erreichen diese Stufe nicht mehr. Das anschauliche Denken (4. - 7. Lebensjahr): In diesem Zeitraum haben die Begriffe einen anschaulichen Charakter, das Denken erfolgt in inneren Bildern oder Vorstellungen. Diese Denkstufe ist sehr typisch und die Fehler, die die Kinder hier machen, werden von ungeschulten Erwachsenen oft als Oberflächlichkeit oder Ungenauigkeit gedeutet. Tatsächlich führt diese Eigenart kindlichen Denkens dazu, dass das Denken dem tatsächlichen Verlauf der Ereignisse folgt und selbst in Gedanken nicht umgedreht oder rückläufig verfolgt werden kann. Das Denken ist "eingleisig" und führt nur in eine Richtung. Die Massenkonstanz ist dem Kind noch kein Begriff. Konkrete Denkoperationen (7. – 10. Lebensjahr): Die geistige Handlung besitzt nun nicht mehr Wirklichkeitscharakter, sondern kann jederzeit in ihrem Ergebnis wieder rückgängig gemacht werden. Piaget spricht daher von der "Reversibilität" der Denkoperationen. Darunter versteht man die Erkenntnis, dass es für jede Operation eine Umkehroperation gibt, die die Wirkung der ersten wieder aufhebt. Kinder erkennen nun auch die Invarianz der Masse. Allerdings ist bei den meisten Kindern gerade in diesem Bereich ein totales Verständnis erst ab dem 9. Lebensjahr möglich; besonders bei Volumenumformungen wird die Konstanz des Volumens nach einer solchen Umformung oft geleugnet (der Begriff der Dichte macht hierbei noch Probleme). 17

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Die Operationen haben noch konkreten Charakter, d.h. sie beziehen sich auf Gegenstände, die das Kind wirklich sieht und die es kennt und auf Handlungen, die es zumindest in der Vorstellung ausführen kann (Denken ist [verinnerlichtes] Handeln). Bei abstrakten Beziehungen versagt das Kind. Formale Denkoperationen (ab dem 11/12 Lebensjahr): Sie bilden die letzte Stufe der Intelligenzentwicklung. Jetzt kommt es zu einem Bewusstwerden der Denkoperationen, zu einem Operieren mit Operationen (Handlung, welche den Charakter der Reversibilität besitzt) oder ihren Ergebnissen. Der Jugendliche wendet nun das Denken auf Annahmen an, die in der Außenwelt nicht gegeben sein müssen. Aufgrund der überlegten Anwendung der Operationen kommt der Jugendliche zu Schlussfolgerungen, deren Richtigkeit nicht mehr an der äußeren Realität überprüft zu werden braucht. Damit ist der Punkt der formalen Logik und der mathematischen Denkweise erreicht. Im Vergleich zu den konkreten Denkoperationen werden jetzt auch Probleme durchschaut, die nur sprachlich formuliert sind. Wichtig ist dabei zu bemerken, dass • nicht alle Erwachsenen diese Stufe erreichen • man auch wenn man diese Stufe erreicht hat, nicht immer auf ihr denkt • der Anteil der formalen Denkoperationen am Gesamtdenken von der Tätigkeit der Person und ihrer Persönlichkeit abhängt • man, wenn man diese Stufe nicht erreicht hat, gewisse Abstraktionen nicht verstehen kann. „Die Übergänge zwischen den einzelnen Stufen sind nicht abrupt, sondern fließend. Ein Kind kann z.B. in einigen Bereichen noch präoperational denken, während es in anderen bereits logisch denken kann.“ (GAGE et al., 1996, 104)

Daraus lässt sich nun erkennen, dass das Kind in der Unterstufe, das evtl. noch auf der Stufe der konkreten Denkoperationen operiert, nicht über die Möglichkeiten eines Schülers in der letzten Klasse der Unterstufe bzw. in der ersten Klasse der Oberstufe verfügt, wenn es um die Abstraktion von durch den Lehrer schlecht aufbereiteten Wahrnehmungsinhalten - z.B. eben bei Demonstrationsexperimenten im Chemieunterricht - geht. Insbesondere bei jenen jüngeren Schülern

ist

daher

auf

jede

Erleichterung

des

Lernprozesses



z.

B.

durch

gestaltpsychologisch optimierte Versuchsaufbauten – zu achten. 18

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Literatur: •

Astleitner, H. (2002): Forschungs- und Untersuchungsplanung, Skriptum zur Vorlesung, Universität Salzburg, Salzburg.



Atteslander, P. (2003): Methoden der empirischen Sozialforschung. Berlin und New York: de Gruyter.



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