1. Bericht Oktober 2002

Anne Wenk

Flughafen Düsseldorf - 26. September 2002 - Nun war also der große Tag gekommen: "I´m Leaving On A Jetplane" Das Gepäck war bereits aufgegeben und unterwegs, und so schlich ich, mit meinem Reisepass bewaffnet, durch das Gate, um meinen ersten Flug anzutreten. Meine Eltern und David waren bereits außer Sichtweite, so dass ich nun allein zwischen hektisch telefonierenden oder gelangweilt dösenden Geschäftsleuten auf den Aufruf meines Fluges wartete. Und plötzlich trafen mich Hilflosigkeit, Unsicherheit und die Angst vor dem Ungewissen mit voller Wucht. Ohne wirklich zu wissen was da geschieht, folgte ich den anderen Passagieren in das Flugzeug und ließ mich in meinen Sitz fallen. Die Gedanken fuhren in meinem Kopf Karussell, während der Kapitän seine Durchsagen runterleierte, ich mich wie vorgeschrieben anschnallte und meine Finger immer fester um die Armlehnen krallte. Gleichzeitig drückte ich meine Nase an die kühle Fensterscheibe - schließlich wollte ich auch nichts verpassen. Irgendwann starteten wir dann endlich und ich werde dieses unbeschreibliche und seltsame Gefühl, das mich überkam, als wir abhoben und den Boden immer weiter unter uns zurückließen, wohl nie vergessen. Den gesamten Flug über saß ich verkrampft in meinem Sitz (die Armlehnen tragen wahrscheinlich noch heute Abdrücke meiner Fingernägel), unfähig einen klaren Gedanken zu fassen oder mich mit irgendetwas zu beschäftigen. Also schaute ich aus dem Fenster und sog den Anblick von vorbeiziehenden Wolkenfeldern und Miniaturlandschaften wie ein Schwamm in mich auf. Erst als ich nach der reibungslosen Landung, auf dem Weg zur großen Anzeigetafel, durch den riesigen Frankfurter Flughafen spazierte, löste sich die Anspannung Schritt für Schritt. Ich begann meine neue Freiheit zu genießen und freute mich nun richtig auf den elfstündigen Flug nach Salvador. Dieser verging dann auch recht rasch, da ich mich mit meiner Platznachbarin Viktoria sehr gut verstand und sich mir atemberaubende Aussichten auf Afrika boten. Blick auf Salvador

Gegen 20 Uhr Ortszeit, also etwa 1 Uhr deutscher Zeit, landeten wir schließlich. Erleichtert, dass mein Gepäck den Flug ebenfalls gut überstanden hatte, aber auch ein bisschen genervt und verwirrt, da der Zollbeamte erst beim dritten Anlauf mit meinem Zollzettelchen (das natürlich auf portugiesisch geschrieben war) zufrieden war, rollte ich meinen Gepäckwagen in die Empfangshalle. Während ich verunsichert Ausschau hielt, rasten eine Vielzahl von Fragen durch meinen Kopf: Holt mich nun jemand ab, oder nicht? Wenn ja, wer, und wie erkennen wir uns? Wenn nicht, muss ich mir wohl ein Taxi nehmen, aber wie und wo geht das? Ich schaute in ein Meer von ebenfalls suchenden Gesichtern und viele Pappschilder mit fremden Namen streckten sich mir hoffnungsvoll entgegen. Hinter mir fragte plötzlich jemand "Ani? ". Ich wirbelte herum und erblickte drei Personen, eine davon Aluisio, den ich schon von Fotos her kannte. Die anderen Beiden waren mir zwar unbekannt, nahmen mich aber auch sofort in die Arme. Gemeinsam gingen wir erleichtert zum Ausgang. Ein Freund hatte mich vor meiner Abreise gebeten, doch ein wenig deutschen Regen einzupacken. Ich hatte es wohl etwas übertrieben, denn auf dem Weg vom Flughafen zur Wohnung präsentierte sich mir die Sintflut. Ganze Straßenzüge standen kniehoch unter Wasser, so dass die Autos sich wie kleine Schiffchen ihren Weg durch die Wassermassen bahnen mussten. Dazu kam noch eine unglaubliche Schwüle, die mir in meinen langen Sachen die Schweißperlen auf die Stirn trieb und die Fenster zum beschlagen brachte. Wenn dann noch ein Bus 2

vorbeisauste und dem Wagen eine Dusche verpasste, war es mit der Sicht ganz vorbei. Trotz alledem fuhren wir in rasantem Tempo über die mit unzähligen Schlaglöchern übersäten Straßen und der Fahrer benutzte öfter die Hupe als die Bremse. Dies scheint in Brasilien allerdings normal zu sein, wie ich mittlerweile gelernt habe. Als Fußgänger muss man hier beim überqueren der Straße besonders vorsichtig sein. In den ersten paar Tagen wäre ich wohl einige Male überfahren worden, wenn mich nicht immer wieder einer meiner Begleiter zurückgezogen hätte.... An diesem ersten Abend habe ich die Stadt nur sehr verschwommen und durch die Straßenlaternen in orangenes Licht getaucht wahrgenommen. Alles war so anders und neu, ungewohnte Gerüche und Geräusche strömten mir entgegen, während so viele Wörter in einer so fremden Sprache auf mich niederprasselten. Ich saß nur staunend da und brachte kaum einen Ton hervor. Auch später in der Wohnung war ich noch ziemlich verwirrt und aufgedreht. Man zeigte mir mein Zimmer: ein für brasilianische Verhältnisse großer, hellblau gestrichener Raum mit einem kleinen Schreibtisch und einer auf dem Boden liegenden Matratze. Von zwei weiteren Matratzen im Nebenraum abgesehen war die restliche Wohnung allerdings leer. Selbst die Dusche, unter die ich dankbar sprang, war nur provisorisch befestigt und alles machte einen schäbigen und verfallenen Eindruck. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen und beschloss, später darüber nachzudenken. Viele neugierig blickende Menschen wollten mir etwas zu Essen besorgen, doch ich wollte nur Wasser, viel Wasser, denn das Klima machte mich ziemlich fertig. Außerdem verspürte ich plötzlich, wie sich eine bleierne Müdigkeit auf mich legte und ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es in Deutschland mittlerweile schon fünf Uhr morgens waren. Deshalb packte ich auch bald meinen Schlafsack aus, legte mich auf die Matratze und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen wachte ich auf und wusste zunächst nicht wo ich war. Verwirrt und immer noch müde trat ich aus dem Zimmer. Acht bis zehn geschäftig durch die Gegend wuselnde Personen lächelten mich an und wünschten mir einen schönen Nachmittag, da ich wohl Ewigkeiten geschlafen hatte. Ich hatte ein wenig Zeit mich umzuziehen und zu waschen, als Airi mir auch schon zuwinkte und mich bat ihr zu folgen. Zu viert gingen wir dann zum Supermarkt und luden fünf Einkaufswagen mit allem, was der Mensch zum Leben braucht - und noch vielem mehr - voll, und schoben sie über die mit Schlaglöchern übersäte Straße zurück zur Wohnung. Hier hatte sich einiges verändert: plötzlich standen da Gasherd und Kühlschrank, überall flogen Kartons und Koffer herum, und meine Matratze lag nicht mehr auf dem Boden, sondern in einem Bettgestell. Airi, die Tochter Aluisio`s, klärte mich nun endlich auf: nicht nur für mich war es die erste Nacht in dieser Wohnung gewesen, sondern auch für Aluisio, Airi und ihren Freund Djailton, mit denen ich von nun an zusammenwohnen sollte. Mittlerweile sind noch ein paar Möbel hinzugekommen und mit meinem ersten Eindruck besitzt die Wohnung kaum noch Ähnlichkeiten. In meinem Zimmer steht nun auch ein Kleiderschrank, den ich mit Djailton in stundenlanger Arbeit selbst zusammengeschraubt und gehämmert habe, wobei der Plan allerdings keine große Hilfe gewesen ist. Hier in Salvador gibt es zwar keine Malaria, aber die Mücken haben mich trotzdem zum Fressen gern, und so habe ich mich letzte Woche auch endlich dazu aufgerafft, mein mitgebrachtes Moskitonetz aufzuhängen. Die Konstruktion ist zwar etwas abenteuerlich, aber es hält (noch). Mein Zimmer 3

Um alles etwas gemütlicher zu machen habe ich mir Räucherstäbchen und Kerzen besorgt, und nun fühle ich mich schon ein wenig heimisch. Natürlich gibt es Unterschiede zu einem Haushalt in Deutschland. So haben wir z. B. nur kaltes Wasser zum Duschen, Spülen und Waschen zur Verfügung. Gewaschen wird übrigens alles mit der Hand, was manchmal ziemlich nervig und zeitaufwendig sein kann. Und wenn mal wieder gar kein Wasser aus der Leitung kommt, muss einer von uns nach unten rennen und die Pumpe, die das Wasser in einen Tank auf dem Dach des Hauses transportiert, anstellen. Zum Trinken ist dieses Wasser allerdings nicht geeignet. Unser Trinkwasser holen wir bei der ISPAC (Instituto Social Para uma Ação Comunitaria "Soziales Institut für gemeinschaftliche Arbeit"). Von hier aus koordiniert Aluisio, der auch mein Chef ist, das ganze Projekt. Das ISPAC-Gebäude liegt nur wenige Meter von unserer Wohnung entfernt, und so ziehen wir täglich mit diversen Flaschen und Krügen beladen los, um Trinkwasser aus einem großen Tongefäß mit integriertem Filter zu zapfen. Eine andere Besonderheit hier ist der Gang zur Toilette. Da die Abwasserrohre in Brasilien sehr dünn sind und leicht verstopfen, ist es üblich, das Toilettenpapier nicht ins Klo, sondern in einen daneben stehenden Mülleimer zu werfen - eine sehr gewöhnungsbedürftige Angelegenheit. Der Stadtteil, in dem ich wohne, wird Ribeira genannt und meine Adresse hier lautet: Anne Wenk, Rua do Soares 36, 40420-470 Ribeira, Salvador - BA, Brasil. Diego, ein etwa 12-jährige Junge, hat sich darüber gewundert, dass ich nur einen Nachnamen besitze, da man in Brasilien mindestens zwei Nachnamen (Name von Mutter und Vater) hat. Deshalb gab er mir kurzerhand den Namen "SOL" -Sonne-, ohne zu wissen, dass ich auch in Deutschland von einigen Freunden "sunnyanne" genannt werde. Da es den Brasilianern schwer fällt "Anne" richtig auszusprechen, werde ich von allen "Ani" gerufen. Mein brasilianischer Name lautet also "Ani Sol Wenk" (wobei "Wenk" auch keiner aussprechen kann). Wenn ich aus meinem vergitterten Fenster und durch eine schmale Gasse zwischen den benachbarten Häusern schaue, habe ich einen zwar eingeschränkten, aber trotzdem wunderbaren Blick auf das Meer, das nur etwa 50 Meter von unserer Wohnung entfernt liegt. Dies sind natürlich ideale Vorraussetzungen für eine Wasserratte wie mich, und so gehe ich, wenn es die Zeit zulässt, nachmittags gerne mal ein halbes Stündchen im klaren, warmen Wasser schwimmen. Hier sieht man mich zusammen mit Diego nach dem Schwimmen

Der Strand vor meiner Haustür

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Von dem paradiesischen Sandstrand einmal abgesehen, ist und bleibt Salvador jedoch eine Großstadt mit ca. drei Millionen Einwohnern, und ich als „Dorfkind“ muss mich an den vielen Lärm und Verkehr erst noch gewöhnen. Die Geräuschkulisse ist breit gefächert und reicht vom freudigen Lärmen spielender Kinder und dem Zwitschern der verschiedensten Vögel über das wütende Kläffen aufgeschreckter Hunde bis hin zum heiseren Geschrei der Gas- oder Gemüsehändler, die täglich durch die Straßen ziehen und ihre Ware lauthals anpreisen. Nachts dreht ein Sicherheitsmann auf seinem klapprigen Fahrrad seine Runden durch die Straßen des Viertels und hält mich mit seiner Hupe und den schrillen Pfiffen aus der Trillerpfeife immer noch ein Weilchen wach. Doch er vermittelt auch ein wenig Sicherheit, und so zahlt jeder Einwohner seinen monatlichen Beitrag, denn staatlich ist dieser Service nicht finanziert. Zurzeit hält sich in unserer Gegend angeblich ein landesweit gesuchter Verbrecher versteckt und deshalb geschieht es nicht selten, dass die Polizei Straßensperren errichtet, um die durchfahrenden Autos zu kontrollieren. Letztens haben wir auch beobachtet, wie ein paar Polizisten mit gezogenen Waffen und laut schreiend, eine Gruppe von jugendlichen Motorradfahrern angehalten hat, um deren Ausweise und Papiere zu kontrollieren. Diese Szene hat mich in Angst und Schrecken versetzt, da sie mir zum ersten Mal bewusst gemacht hat, wie nah und wirklich Gewalt und Auseinandersetzungen, die ich sonst nur aus dem Fernsehen kenne, doch sind. Besonders am Anfang meines Aufenthalts habe ich mich nicht selten wie in einem goldenen Käfig gefangen gefühlt, da ich immer, wenn ich irgendetwas besorgen, oder einfach nur die Gegend kennen lernen wollte, von jemandem begleitet werden musste. Mittlerweile kenne ich mich hier schon ein bisschen aus und gehe auch gerne mal allein zur Post oder zum Strand. Aber eine Bewegungsfreiheit, wie ich sie von Deutschland her kenne und schätze, besitze ich hier nicht. Und obwohl mich dies oft mit Wut und Traurigkeit erfüllt, weiß ich auch, dass diese Sicherheitsmassnahmen richtig und notwendig sind und werde wohl lernen müssen damit umzugehen. Aufgrund meiner hellen Haut falle ich hier besonders auf, und ich gewöhne mich nur sehr langsam an die vielen Augenpaare, die ständig auf mich gerichtet sind. Und wenn ich als "branca", als Weiße, dann doch mal alleine unterwegs bin, kriege ich nicht selten Kommentare zugerufen und zugeflüstert, die zwar meistens schmeichelhaft gemeint sind, mich aber nerven und verunsichern. Aber dies ist hier wohl Gang und Gebe und daran werde ich nichts ändern können... Besonders in der ersten Woche wurde ich viel herumgeführt und unendlich vielen Menschen vorgestellt, deren Namen ich aber nur zu einem geringen Teil behalten konnte. Überall wo ich hinkam strömte mir eine herzliche Gastfreundlichkeit entgegen, so dass ich mich vor köstlichen Speisen und Getränken, die zum Teil sehr fremd für mich waren, kaum retten konnte. Viele fragten mich auch nach Benedito - Benedikt Neikes, meinem guten Freund und Vorgänger hier in Brasilien - der auch einige Wochen in Salvador gelebt hat und in guter Erinnerung geblieben ist. Mittlerweile kenne ich ein paar Leute schon etwas besser und kann sie neben Airi und Djailton, mit denen ich ja zusammenwohne und die mich überall mit hinnehmen und mir alles erklären, zu meinen Freunden zählen. Doch trotzdem habe ich hier niemanden, dem ich hundertprozentig vertrauen oder mit dem ich ausgiebig über meine Sorgen, Wünsche und Probleme sprechen kann. Deshalb fühle ich mich manchmal sehr allein und vermisse meine Freunde und Familie in Deutschland sehr. Aber auch dies wird sich wohl mit der Zeit lindern, wenn ich mich etwas besser auf Portugiesisch verständigen kann. Ich bin zwar mittlerweile Meisterin der Zeichensprache und spreche von Tag zu Tag mehr, doch mir fehlt einfach noch das nötige Vokabular, um tiefere Gespräche führen zu können. Doch ich höre aufmerksam zu und löchere Airi und Djailton mit Fragen, wenn ich etwas nicht ganz verstanden habe. Meistens lässt sich auch alles ganz gut umschreiben und im Notfall verschafft mir mein kleines Wörterbuch, dass ich immer mit mir herumtrage, 5

Klarheit. Außerdem habe ich meine Lehrbücher mitgenommen, mit denen ich hier gut arbeiten kann. Zum Korrigieren habe ich Carmen, mit der ich mich einmal in der Woche zum Lernen treffe. Sie führt mich durch den Dschungel der portugiesischen Grammatik und ich helfe ihr im Gegenzug bei den Aufgaben für ihren Englischkurs. Dabei habe ich bemerkt, dass die meistens Brasilianer große Probleme mit der englischen Aussprache haben, was zum Beispiel auch daran liegt, dass im Portugiesischen das "R" wie ein "H" ausgesprochen wird. Davon abgesehen habe ich aber auch noch nicht viele Brasilianer getroffen, die überhaupt Englisch sprechen - den Standardsatz "Hello, what´s your name?" einmal ausgenommen. Obwohl ich mich immer besser einlebe, komme ich mir manchmal vor wie ein kleines Kind, das zunächst einmal krabbeln muss, bevor es laufen lernt. Für mich als anscheinend typische Deutsche, wenn es so etwas gibt, kann alles nicht schnell genug gehen und so stolpere ich manchmal über meine eigenen Füße, wenn ich wieder einmal mit zu viel Eifer und zu großen Erwartungen an eine Sache herangehe. Dazu gehört nicht nur, dass ich am liebsten schon fließend Portugiesisch sprechen könnte, sondern auch, dass sich nicht immer alle Probleme so schnell und reibungslos lösen lassen, wie ich es gerne hätte. Mir wurde vor meiner Reise oft erzählt, dass es zur brasilianischen Mentalität gehört, dass die Menschen hier ein anderes Zeitgefühl besitzen und sich gerne mal verspäten oder Anliegen nicht unbedingt direkt erledigen. Ehrlich gesagt habe ich mich darüber gefreut, denn auch ich bin nicht immer die Pünktlichste und lasse mir gerne ein wenig Zeit....doch was ich nie gedacht hätte ist nun eingetreten: ich kann zum ersten Mal nachvollziehen, warum die Menschen, die auf mich warten mussten, immer so genervt reagiert haben...Letzte Woche hatten wir zum Beispiel mit allen Verantwortungsträgern des Projektes eine wichtige Versammlung, welche für acht Uhr angesetzt war. Als gegen neun Uhr dann endlich begonnen wurde, waren immer noch nicht alle erwarteten Personen anwesend! Und selbst ich werde langsam ungeduldig, wenn ich nach tagelangem Anfragen endlich vor einem Computer mit Internetzugang sitze, und dann die Verbindung nicht aufgebaut werden kann, oder die Tastatur fehlt...Vieles wird mit dem Wort "amanha", was keinesfalls immer "morgen" bedeutet, abgetan....doch auch daran werde ich mich wohl noch gewöhnen müssen. Da Salvador sehr nah am Äquator liegt, wird es hier immer schon zwischen fünf und sechs Uhr morgens hell und um sechs Uhr abends ist es bereits wieder stockdunkel. Danach richtet sich auch der Tagesrhythmus und mein Organismus hat sich relativ schnell darauf eingestellt. So ist es für mich (auch wenn mir das jetzt wahrscheinlich keiner, der mich näher kennt, glauben wird) kein Problem mehr, morgens um sechs aufzustehen und gegen zehn Uhr abends todmüde ins Bett zu fallen. Dies ist ziemlich praktisch, da wir jeden Morgen gegen halb acht unseren Weg zur Arbeit nach Mangueira antreten. Eine Straße in Mangueira

Mangueira, was übersetzt Mangobaum bedeutet, ist eines der ärmsten Viertel Salvadors und ist von unserer Wohnung aus zu Fuß in etwa zehn Minuten zu erreichen. Ich bin dort nur sehr selten alleine unterwegs, da ich dieses Labyrinth von staubigen Straßen und kleinen Gässchen nur langsam durchschaue. Als ich das erste Mal hier war, habe ich mich schon erschrocken, da einem die Armut auf Schritt und Tritt entgegenspringt. Die hauptsächlich aus Schlaglöchern, Sand und Müll 6

bestehenden Straßen sind gesäumt von Häusern, die zum Großteil entweder an Rohbauten erinnern oder stark verfallen sind, und grundsätzlich vergitterte Fenster und Türen besitzen. Manche Menschen wohnen aber auch nur in Verschlägen aus zusammengesammelten Holzbrettern mit einem Wellblechdach, bei denen nur die aufgemalte Hausnummer verrät, dass es sich hierbei um ein Wohnhaus und keinen Geräteschuppen handelt. Neben den herumstreunenden Hunden bevölkern Horden von spielenden Kindern die Straßen, wo sie begeistert kleine Drachen (pipas) basteln und steigen lassen, oder auf viel zu großen Fahrrädern durch die Gegend düsen. An jeder Ecke findet man eine "Lanchonette", eine Art Imbissbude, vor denen sich oft kleine Grüppchen von Männern und Frauen ansiedeln, die auf Plastikstühlen sitzend ein kühles Bierchen trinken und sich heftig gestikulierend unterhalten. In Mangueira geht es eigentlich immer zu wie in einem Ameisenhaufen und man trifft ständig Freunde und Bekannte auf dem Weg von hier nach dort, mit denen man sich dann ein Weilchen über die Familie oder den neuesten Tratsch und Klatsch unterhält. Es herrscht eine sehr freundliche und aufgeweckte Atmosphäre und so erbärmlich die Lebensverhältnisse hier auch sein mögen, so verbreiten die Menschen doch eine regelrecht ansteckende Lebensfreude und sind insofern reicher als mancher Millionär. Verstreut auf das ganze Viertel liegen die unterschiedlichen Einrichtungen des Projektes ALMM (Associação Livre de Moradores de Mangueira - "Vereinigung für das Leben der Einwohner Mangueiras"), dessen Gründer und Koordinator Aluisio ist. Ein Teil dieses Projektes ist die CEFP (Cooperativa de Educação e Formação Profissional - "Vereinigung für professionelle Erziehung und Ausbildung"), wo zum Beispiel Unterricht im Umgang mit dem PC gegeben wird. Einwohner Mangueiras haben hier die Möglichkeit für wenig Geld (ca. 2 Euro im Monat) ein Diplom abzulegen, mit dem sie gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Unterricht in der Cooperativa

Aluisio und Djailton vor der Cooperativa

Ein paar Straßen weiter befindet sich die Schule ECEL (Escola Comunitaria Educar para Libertar - "Gemeinschaftsschule zur Erziehung zur Freiheit") mit mehreren hundert SchülerInnen, im Alter von 3 bis 12 Jahren. Neben dem Unterricht erhalten die Kinder auch täglich eine warme Mahlzeit, die in manchen Fällen wahrscheinlich die Einzige des Tages ist.

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In der Escola Comunitaria Vom Dach der Schule blickt man direkt auf die Palafitas, in einer Meeresbucht gelegene Pfahlbauten, die von den Ärmsten der Armen hier errichtet worden sind, da das Meer allen gehört und sie so an niemanden Pacht oder Miete für ein Grundstück entrichten müssen. Ich war bisher nur einmal mit Aluisio dort, um Freunde von ihm zu besuchen, und konnte mir so ein etwas genaueres Bild machen. Zwischen den erschreckend dünnen Pfählen, auf denen die Hütten errichtet sind, schwimmen Berge von Müll im Meerwasser, und die Planken zwischen den Verschlägen machen einen alles andere als stabilen Eindruck. Dazu kommt der nahezu unerträgliche Gestank nach Müll, Verderbnis und Exkrementen. Schlimmere Lebensbedingungen kann ich mir kaum vorstellen und ich atmete auf, als wir dieses Gebiet Mangueiras wieder verließen.

Blick auf die Palafitas Neben Schule und Cooperativa umfasst das Projekt noch viele andere wichtige Einrichtungen, wie zum Beispiel eine Krankenstation, unzählige Freizeitangebote (Fußball, Caipoeira, Kunstkurse, Bands, etc.) und Gesprächsgruppen, die ich erst nach und nach alle kennen lerne. In meinem nächsten Bericht werde ich einmal versuchen einen genaueren Einblick in dieses einzigartige und wichtige Projekt zu geben. Die Musikgruppe „Swing Popular“ des Projektes ALMM mit Aluisio und Airi

Zur Zeit befinde ich mich noch in der Eingewöhnungsphase, und obwohl es mir in den Fingern kribbelt und ich mich nach einer richtigen Aufgabe sehne, sagt Aluisio, ich solle alles noch etwas genauer kennen lernen und überall mal ein wenig schnuppern, bevor ich mich festlege und in die Arbeit stürze. Wir haben aber schon überlegt, dass es sinnvoll wäre, wenn ich zunächst in der Schule helfen würde, und später dann in der Cooperativa Kunst- und Englischunterricht geben könnte. Ich bin ja mal gespannt... 8

Nach einem anstrengenden Vormittag in Mangueira kehren wir meistens zur casa (Wohnung) zurück, um dort gemeinsam zu Mittag zu essen. Auch das Gerücht, dass es in Brasilien hauptsächlich Reis und Bohnen gibt, kann ich nur bestätigen. Sie sind Grundlage jedes warmen Essens. Dazu gibt es bei uns meistens Hühnchen oder Fisch, und alles wird mit einer dicken Schicht "farinha" (Maniokmehl), das ein wenig an Paniermehl erinnert, bestreut. Danach nimmt zwar alles eine etwas pampige Konsistenz an, aber irgendwie schmeckt es ganz gut. Dazu trinkt man entweder Bier (cerveja) oder den Saft der verschiedensten tropischen Früchte. In die Vielzahl von frischen Früchten, die es hier gibt, habe ich mich sofort verliebt und kann gar nicht genug davon kriegen. Besonders den schmackhaften Saft einer frisch aufgeschlagenen Kokosnuss, die es hier an jeder Ecke für etwa 20 Cent zu kaufen gibt, werde ich in Deutschland wohl stark vermissen. Eine Spezialität Salvadors sind außerdem "acaraje" und "abara", frittierte Bohnenteigtaschen, die mit Krabben, Salat und einer undefinierbaren Paste gefüllt und sozusagen der brasilianische Döner sind. Und auch den legendären Caipirinha (Zuckerrohrschnaps mit Zucker und Limonen) habe ich schon während dem einen oder anderen der zahlreichen Feste getrunken. Bisher hatte ich mit der Nahrung zum Glück noch keine großartigen Probleme. Einmal habe ich allerdings den Fehler begangen am Strand einen Becher frisch zubereiteten Zuckerrohrsaft zu trinken. Nicht der Saft, aber wahrscheinlich die darin schwimmenden Eiswürfel, haben meine Verdauung ganz schön in Schwung gebracht....Daraus habe ich gelernt und passe nun etwas besser auf, was ich wo zu mir nehme. In dieser Stadt wimmelt es nur so von fliegenden Händlern, die neben Eis und gekühlten Getränken die verschiedensten Arten von Nüssen, über etwas Holzkohle geröstete Käsespieße oder auch CD`s und Schmuck zum Kauf anbieten. Oft sind es Kinder, die auf diese Art und Weise ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie sind sehr aufdringlich und ziehen meistens enttäuscht, manchmal aber auch wütend ab, wenn man nichts kaufen will. Besonders am Strand oder in den touristischen Gebieten Salvadors werde ich oft von kleinen, zerlumpten Kindern angetippt. Sie schauen mich dann mit großen, traurigen Augen an, während sie die Hand ausstrecken oder an meinem T-Shirt zupfen. Am Anfang war ich oft versucht in meine Tasche zu greifen und ihnen etwas Kleingeld zu geben. Doch Airi und Djailton hielten mich davon ab und schickten die Kinder weg. Sie erklärten mir, dass das erbettelte Geld nicht in Kleidung oder Nahrung investiert würde, sondern dass die Kinder meistens abhängig sind und davon Drogen kaufen. Was sie benötigen sei nicht Geld, sondern eine vernünftige Ausbildung. Ich habe zwar immer noch ein schlechtes Gewissen dabei, aber auch ich schicke die Kinder mittlerweile weg, oder gehe einfach weiter... Dieser Monat war von den Wahlen stark geprägt, und so zogen ständig Lautsprecherwagen durch die Straßen und warben mit dröhnend lauter Musik und nicht nur für mich kaum zu verstehenden Durchsagen für den einen oder anderen Kandidaten. Der Termin für die Wahlen war der 06.10. und es ist nahezu unglaublich, welch ein Aufwand dafür betrieben wurde. Hier in Brasilien wird nicht per Stimmzettel, sondern mit Hilfe von elektrischen Wahlurnen gewählt. Jeder Kandidat besitzt einen eigenen Zahlencode, der über eine Tastatur eingegeben und dann bestätigt wird. Jedes freie Fleckchen Mauerwerk ist mit dem Namen und dem Zahlencode eines Kandidaten angepinselt und im Fernsehen liefen nahezu mehr Wahlwerbespots, als normales Programm. Außerdem besitzt eigentlich jeder (Dank Bene auch ich) ein T- Shirt seines Favoriten. Am Tag der Wahl war in Salvador die Hölle los. Große und kleine Menschen trieb es auf die Straßen, wo sie eifrig Handzettel verteilten, Fahnen schwenkten und den Wahlkampfsong ihres Kandidaten aus vollem Herzen mitsangen. Abends saßen dann alle gespannt vor dem Fernseher und warteten auf die Ergebnisse. 9

Aluisio und ich mit ein paar Freunden am 06.10.

Die Bevölkerung Brasiliens ist mehr oder weniger in zwei Klassen unterteilt, wobei wenige sehr Reiche einer Vielzahl von armen Menschen gegenüberstehen. Eine Mittelschicht existiert nahezu nicht. Meine Bekannten sind zum Großteil Anhänger Lula´s und dessen Partei PT. Lula kämpft dafür, dass alle "Arbeit und Brot" bekommen, und strebt eine neue Landverteilung an. Da er auch schon einige Korruptionsfälle aufgedeckt hat und sich stark für die Armen dieses Landes einsetzt, wird er hier bereits als eine Art Volksheld gefeiert. Bei den Wahlen erreichte er dann auch 48% der Stimmen, während Serra, einer seiner Mitstreiter, sich mit 30% begnügen musste. Ich freute mich für meine Freunde: Lula wird Präsident, und vielleicht schafft er es ja wirklich etwas zu verändern....doch irgendwie wunderte es mich schon, dass die Propagandamaschinerie nicht still stand, sondern sich noch schneller drehte als zuvor. Irgendwann sprach ich Djailton darauf an, und er erklärte mir, dass Lula mindestens 50% der Stimmen benötige, um Präsident zu werden, und deshalb ein zweiter Wahldurchgang für den 27. Oktober angesetzt wurde. Als der große Tag der Entscheidung gekommen war, stand wieder einmal die ganze Stadt Kopf. Abends fuhren wir mit einer Gruppe von etwa 20 Leuten - alle in rote Lula-T-Shirts gekleidet und mit Fahnen ausgerüstet - in den Stadtteil Barra, wo eine der vielen Siegesfeiern schon in vollem Gange war. Dort standen große, mit überdimensionalen Lautsprechern ausgerüstete LKW’s, auf deren Dach Livebands inklusive Tänzerinnen spielten und der Menge gehörig einheizten. An einigen Orten waren Leinwände errichtet worden, auf welche die neuesten Wahlergebnisse projiziert wurden. Es hatten sich bereits Menschentrauben davor gebildet, und als angezeigt wurde, dass Lula landesweit mit 63% der Stimmen zum Präsidenten gewählt wurde, und in Salvador sogar eine Mehrheit von 89% erreichen konnte, brachen alle in lautes Jubeln und stürmischen Beifall aus. Die abgesperrten Straßenzüge waren überflutet von fahnenschwenkenden und sich freudig in die Arme fallenden Menschen. Es wurde viel getanzt und gesungen und ab und zu flossen auch ein paar Freudentränen. Neben den unzähligen Reportern und Fotografen, die diesen historischen Moment festhalten wollten, war auch ein Kamerateam des örtlichen Fernsehsenders anwesend. Am darauf folgenden Montag hatten wir zur Feier von Lula´s Sieg alle frei, und als wir gemütlich beim Frühstück saßen und uns die Nachrichten im Fernsehen ansahen, wurde doch tatsächlich auch eine Großaufnahme von Aluisio und mir gebracht. Mittlerweile hat sich aber alles wieder etwas normalisiert und die Spuren des Wahlkampfes werden nach und nach beseitigt. Nun soll Lula mal zeigen, ob er auch alles halten kann, was er versprochen hat.... Bei einem Wochenendausflug nach Canudos hatte ich auch schon die Gelegenheit das wunderschöne Sertão, das steppenähnliche Inland Brasiliens, kennen zu lernen. Während der fünfstündigen Busfahrt habe ich die meiste Zeit aus dem Fenster auf die unendlich weite Landschaft gestarrt. Hügel und Kakteen in den unterschiedlichsten Formationen zogen an mir vorbei, während der Bus immer weiter der schnurgeraden Straße ins Nirgendwo folgte. Ich wusste nicht so recht, was mich am Ende dieser langen Fahrt erwartete. Man hatte mir zwar erzählt, dass wir eine Art Pilgerreise mit dem Ziel Canudos unternehmen, aber darunter konnte ich mir nicht besonders viel vorstellen. Ich beschloss die Dinge einfach auf mich zukommen zu lassen und schlief ein. Als ich wieder erwachte, 10

herrschte um mich herum hektisches Treiben. Wir waren da. Alle verließen aufgeregt plaudernd den Bus und ich schloss mich ihnen an. Dann warteten wir eine Weile auf einem großen Platz, der den Mittelpunkt der kleinen Stadt Belo Monte mitten im Sertão bildete. Es war bereits dunkel und der Wind pfiff uns um die Ohren, so dass ich zum ersten Mal seit meiner Ankunft zwei Wochen zuvor das Bedürfnis verspürte meine Jacke überzuziehen. Schließlich erschien eine Frau, auf die anscheinend alle gewartet hatten, und führte die Gruppe zu einem großen, dunklen Gebäude, in dessen hinterem Teil sich viele kleine Zimmerchen befanden. Da es keinen Strom gab wurden Kerzen an alle verteilt. Airi, Djailton und ich öffneten die Tür zu dem uns zugewiesenen Quartier und sahen erstmal nicht viel. Nach näherem ausleuchten des Raumes stellte sich heraus, dass es auch nicht viel zu sehen gab, da der Raum bis auf eine steinerne Erhöhung, die uns als Bett dienen sollte, vollkommen leer war. Wir stellten unser Gepäck dort ab und beschlossen zunächst etwas essen zu gehen. Ein paar Andere schlossen sich uns an und so saßen wir bald in geselliger Runde, aßen Fisch und Fleisch, tranken dazu Bier und hatten jede Menge Spaß.

Djailton und ich in Canudos Nach einer Weile begann ein älterer Herr mit verwittertem Gesicht und abgegriffener Gitarre seine Lieder zum Besten zu geben und später folgten noch verschiedene Theaterstücke angereister und einheimischer Gruppen. Die Stücke erzählten die Geschichte des Märtyrers von Canudos, der im Einklang mit dem Sertão gelebt und dort kleine Wunder vollbracht haben soll. So genau habe ich das alles bis heute nicht verstanden, aber es war schön inmitten der Menge, die bis dahin auf eine Zahl von etwa hundert Personen angewachsen war, zu stehen und sich das Spektakel anzusehen. Irgendwann wurde ich jedoch sehr müde und kehrte zu unserer Kammer zurück. Ich betrachtete noch eine Weile den klaren, mit tausenden von Sternen gespickten Nachthimmel, bevor ich meinen Schlafsack auf unserem Steinbett ausrollte und in einen tiefen Schlaf verfiel. Am nächsten Morgen sollte es auch sofort weitergehen. Wir bestiegen den Bus und warteten wie gewöhnlich erstmal noch eine halbe Stunde, bis alle Fahrgäste eintrudelten. In der Wartezeit hatten wir noch die Gelegenheit zu beobachten, wie Schweine und Ziegen, die hier im Sertão überall frei herumlaufen, sich über unseren Müllbeutel freuten. Diesen hatten wir, wie es in Salvador üblich ist, vor die Tür gelegt. Die Tierchen verspeisten mit Vergnügen alles - von der Bananenschale bis zur Plastiktüte. Als wir endlich in Canudos ankamen, war ich ein wenig enttäuscht. Es gab dort ein kleines Museum, welches allerdings abgeschlossen war, und ein großes, buntes Denkmal, vor dem sich alle mehrmals fotografieren ließen.

Obligatorisches Gruppenbild

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Der Ort war an einem kleinen See gelegen, an dessen Ufer ein paar Imbissbuden und Souvenirstände aufgestellt worden waren. Hier verbrachten wir den ganzen Tag, und bis auf mich schien es niemanden zu langweilen die ganze Zeit herumzusitzen, die Theaterstücke des Vorabends noch einmal zu bestaunen und sich stundenlange Reden anzuhören. Vielleicht lag dies aber auch nur daran, dass ich nicht viel vom Inhalt der Reden verstanden habe. Um die Mittagszeit wurde es so unerträglich heiß, dass sich die Meisten zum Bus zurück begaben, um ein kleines Nickerchen einzulegen. Der Rest zog sich in den Schatten einer Bar, die wahrscheinlich lange nicht mehr einen so guten Umsatz gemacht hatte, zurück. Da auch ich von der Hitze wie erschlagen war, gesellte ich mich zu den Schlafenden im Bus. Als sich die Anderen am Nachmittag dann wieder zu den Buden begaben, beschloss ich mir die Umgebung ein wenig genauer anzusehen. Das Sertão

So lief ich auf schmalen Wegen, betrachtete Kakteen und Sträucher, und ließ meine Gedanken schweifen. Hier und da kreuzte eine Ziege oder ein Schwein auf der Suche nach Nahrung meinen Weg, doch davon abgesehen umgab mich absolute Stille. Diese war mir eine willkommene Abwechslung zu dem lauten und bunten Treiben Salvadors. Als sich die Sonne immer tiefer senkte, trat ich den Rückweg an und nachdem alle den wunderschönen Sonnenuntergang bestaunt und fotografiert hatten, fuhren wir wieder ab. Diesmal war Euclides da Cunha unser Ziel. Dieses Städtchen besitzt eine "Casa de Canudos" - eine Herberge für die Pilgerer. Dort gab es einen großen, aber gemütlichen Saal, wo sich jeder ein Schlafplätzchen reservierte, indem er seine Decke oder seinen Schlafsack ausbreitete. Nach dem heißen Tag im staubigen Sertão wollten natürlich alle erstmal duschen. Und so dauerte es gut zwei Stunden bis auch der Letzte der etwa 50 Pilgerer die Gelegenheit hatte, eine der vier vorhandenen Duschen zu benutzen. In dieser Zeit hatten die drei ehrenamtlichen Köchinnen in der winzigen Küche alle Hände voll zu tun, um für alle Reis, Bohnen und Salat zu bereiten. Doch sie gerieten nicht in Stress oder Hektik, wie es zu erwarten gewesen wäre, sondern pfiffen und summten munter Lieder vor sich hin und nahmen sich für jeden Zeit, der eine Frage hatte oder etwas benötigte. Eine der Köchinnen interessierte es sehr wo ich herkomme und was ich hier mache. Ich unterhielt mich ein Weilchen mit ihr, während sie verwundert meine Haare befühlte und ihre Hautfarbe mit der meinen verglich. Sie erzählte mir von ihrem Leben im Sertão und ihrer Tochter, die etwa in meinem Alter ist. Da sie im Fernsehen Bilder vom Münchener Oktoberfest gesehen hatte, wollte sie unbedingt wissen, ob es denn stimme, dass in Deutschland nur Bier getrunken wird. Ich konnte ihr versichern, dass wir auch noch andere Getränke kennen, und dass auch nur sehr wenige Deutsche Lederhosen tragen.... Am Abend packte zu meiner großen Freude ein Musiker seine zwölfsaitige Gitarre aus, und so saßen wir noch etwas zusammen und sangen Lieder oder führten leise Gespräche. Obwohl ich nicht wirklich viel von den Diskussionen und Vorträgen, die auch am nächsten Vormittag noch gehalten wurden, verstanden habe, war Canudos eine schöne Erfahrung für mich. Und wenn es mir in Salvador mal wieder etwas zu laut und hektisch zugeht, erinnere ich mich gerne an die stille Weite des Sertão. Natürlich hat auch Salvador so einiges zu bieten. Zusammen mit Carmen habe ich z. B. schon ein Tanz-Theaterstück, das uns regelrecht verzaubert hat, besucht. Und erst 12

gestern habe ich mir mit Airi den Film "Cidade de Deus" (Stadt Gottes) im Kino angesehen. Der Film spielt in einem Armenviertel im Rio de Janeiro der 50er und 70er Jahre und ist sehr empfehlenswert. Da es sich allerdings um eine brasilianische Produktion handelt, weiß ich nicht, ob man ihn auch in Deutschland sehen kann. Das kulturelle Angebot Salvadors ist im Allgemeinen groß und qualitativ gut. Doch obwohl alles mit deutschen Verhältnissen verglichen sehr preiswert ist, wird es leider nur von wenigen Brasilianern genutzt. Als es mir mal wieder nicht besonders gut ging , weil ich viel an zu Hause denken musste und mich fragte, was wohl meine Freunde gerade so machen, fragte mich José, ob ich nicht Lust hätte ihn ins Pelourinho zu begleiten. Er wolle dort mit Freunden etwas Gitarre spielen. Das Pelourinho ist die barocke Altstadt Salvadors und Zentrum der afrikanischen Kultur Brasiliens. Dort ist immer etwas los, und wo man auch hinschaut, entdeckt man Straßenkünstler, Capoeiragruppen, die ihr Können präsentieren, oder wohlgenährte Brasilianerinnen in prachtvollen afrikanischen Trachten. Eine Capoeiragruppe im Pelourinho In den farbenfroh restaurierten Gebäuden aus dem 17. - 19. Jahrhundert befinden sich unzählige Bars und Läden, die alles, was das Touristenherz begehrt, zu entsprechenden Preisen anbieten. Aus jeder noch so kleinen Gasse erklingt fröhliche Musik und ich könnte stundenlang durch dieses Viertel spazieren, ohne dessen überdrüssig zu werden. An diesem Abend hatte ich dafür aber kaum Zeit, da José ein wenig in Eile war. Wir liefen zum "Largo do Pelourinho", dem berühmtesten Platz des Viertels, wo auch die schöne Kirche "Igreja do Rosário dos Pretos", von der in nahezu jedem Brasilienreiseführer ein Bild zu finden ist, steht. Dort hatte sich vor einer Bühne bereits eine kleine Menschenmenge angesammelt. José stellte mich seinen Freunden vor und fragte, ob ich ein bisschen beim Ausladen der Instrumente helfen könnte, da die Zeit dränge. Und ehe ich mich versah, tanzten um mich herum alle begeistert zu den feurigen Sambarhythmen, die José und seine Band „Partidão“ oben auf der Bühne produzierten...

Auch wenn ich mich zeitweise sehr allein und unverstanden fühle, schaffen es dieses Land, und die Menschen, die ich hier kennen lerne, immer wieder mich zu überraschen und in ihren Bann zu ziehen. Mal sehen, wie es weitergeht. 13

2. Bericht November 2002

Anne Wenk

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Nun lebe ich schon gute zwei Monate hier in Salvador und die Zeit scheint wie im Fluge zu vergehen. Während es in Deutschland immer kälter wird, kehrt bei uns langsam der Sommer ein und bringt immer höher steigende Temperaturen (zurzeit sind es im Durchschnitt 33 Grad Celsius), prallen Sonnenschein, heftige Regenschauer und Scharen von Touristen mit sich. Das Klima bereitet mir allerdings nur noch selten Schwierigkeiten und auch sonst sind die vielen kleinen und großen Unterschiede zu Deutschland für mich bereits zur Normalität geworden. Ich habe meinen Platz hier gefunden und fühle mich dieser Stadt, diesem Projekt und den Menschen, die ich hier kennengelernt habe, zugehörig. Vor etwa einem Monat, also Ende Oktober/Anfang November, sah das allerdings noch ganz anders aus. Ich fühlte mich plötzlich verloren zwischen zwei völlig unterschiedlichen Welten und wusste nicht mehr wirklich zu sagen, wer ich bin oder wo ich hingehöre. Völlig orientierungslos, dachte ich viel über meine Vergangenheit und Zukunft nach, während das gegenwärtige Leben an mir vorbeizog, ohne dass ich wirklich Teil davon war. Aufgrund des anstehenden 31. Jubiläums des Projektes und der damit verbundenen Neubesetzung der verantwortungstragenden Posten für die kommenden drei Jahre ging es überall drunter und drüber. Besonders Aluisio war ununterbrochen damit beschäftigt, alles zu organisieren und überall mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. So blieb kaum Zeit, ein Aufgabenfeld für mich abzustecken und mich in das Projekt einzugliedern. Ich zog mich immer mehr in mich zurück, sprach Anliegen und Probleme nicht mehr aus und wurde von Tag zu Tag trauriger. Nach mehreren gescheiterten Anläufen schaffte es Djailton eines Tages, ein paar Leute ausfindig zu machen, mit denen ich Volleyball spielen konnte. Wir verbrachten mehrere Stunden in der Halle, spielten ein Spiel nach dem anderen und ich war überglücklich. Dann knickte ich mir allerdings ziemlich ungünstig den Fuß um, so dass ich die restliche halbe Stunde auf der Bank verbrachte. In der darauf folgenden Nacht wachte ich wegen starker Schmerzen auf und musste feststellen, dass mein Knöchel auf etwa die Größe einer halben Orange angeschwollen war. Na wunderbar - auch das noch. Die nächsten drei Tage konnte ich kaum laufen und verbrachte die meiste Zeit damit, den Fuß zu massieren, mit ganz viel Eis halb absterben zu lassen, um ihn dann wieder in feste Verbände zu packen... Und nun, etwa einen Monat später, ist der Knöchel zwar immer noch ein wenig geschwollen, aber, von Rennen und Springen einmal abgesehen, wieder funktionstüchtig und wird fast jeden Tag beim Schwimmen trainiert. Aber etwas Gutes hatten die drei Tage, die mich sozusagen an die Wohnung fesselten, wohl doch: Ich weiß nicht wie und warum, aber danach kehrte meine positive Einstellung zum Leben samt neuen Energien zurück. Ich hörte auf, mir über alles den Kopf zu zerbrechen und sprach Probleme, die mich bedrückten, endlich aus. Da ich es zum Beispiel satt hatte, ständig von Anderen abhängig zu sein und manchmal stundenlang auf irgendjemanden warten zu müssen, habe ich nun meinen eigenen Schlüssel. Jetzt unternehme ich auch mehr alleine und fühle mich insgesamt viel freier und unabhängiger als zuvor. Außerdem habe ich einige lange Gespräche mit Aluisio geführt, nach denen wir entschieden haben, dass ich zunächst in der Escola Comunitária, der Gemeinschaftsschule des Projektes, Kunstunterricht geben solle. Gesagt - getan: Am nächsten Morgen hieß es früh aufstehen und ab nach Mangueira. Die Lehrerinnen und ein paar der Kinder kannte ich bereits von früheren Besuchen dort und - nach einer kleinen Besprechung bei einem “cafézinho” - begleitete ich eine der Lehrerinnen zu ihrer Klasse. Ich wurde mit einem fröhlichen Liedchen aus etwa 20 Kinderhälsen begrüßt und allen vorgestellt. Dann fragte mich die Lehrerin, welche Materialien ich benötigte, und verschwand, um sie zu besorgen. Sogleich wurde ich mit unzähligen Fragen bestürmt, während viele kleine Hände in meinen Haaren rumwuschelten, um auch die letzte Perle darin zu entdecken. Nachdem ich erklärt hatte , dass ich die vielen Fragen nur verstehen und beantworten kann, wenn sie mir einzeln, laut, deutlich und vor allem langsam gestellt werden, wurde es ein lustiges Frage-und15

Antwort-Spiel, wobei natürlich auch ich einige Fragen an die Kinder hatte. Schließlich kehrte die Lehrerin mit Papier und Farben zurück, so dass wir mit dem Malen beginnen konnten. Da nicht genug Pinsel für alle vorhanden waren, beschlossen wir einfach mit den Fingern zu malen. Die Kinder hatten auf jeden Fall viel Spaß dabei und nachher konnte man die Kunstwerke nicht nur auf dem Papier, sondern auch in den Gesichtern bewundern. Im Laufe der Zeit habe ich auch die anderen Klassen besucht und die unterschiedlichsten Sachen mit ihnen gemalt und gebastelt, hatte wider allen Erwartungen jedoch keine großen Probleme, die Vorgehensweise zu erklären oder bei Fragen zu helfen, da die Kinder noch eine relativ einfache und für mich leicht verständliche Sprache sprechen. Außerdem halfen sie mir mit dem größten Vergnügen, wenn mir mal ein Wort nicht einfallen wollte und ich auf Gesten zurückgreifen musste. Die kleinen Racker sind zwar manchmal etwas anstrengend und ich bin nach einem Vormittag in der Schule immer ganz schön erschöpft, aber alles in allem macht mir die Arbeit in der Schule sehr viel Spaß und ich habe die Kleinen schon richtig lieb gewonnen. Sie mich anscheinend auch, denn wenn ich nun durch die Straßen Mangueiras laufe, geschieht es nicht selten, dass ich mich umringt von einer Kinderschar wiederfinde, die mich ausfragt, wie es mir geht, was ich gerade mache und wann ich das nächste Mal in ihrer Klasse bin. Diese Woche haben allerdings schon die Sommerferien begonnen und diese dauern hier in Brasilien nicht nur sechs Wochen, sondern ganze drei Monate. Deshalb werde ich mir nun wohl eine andere Beschäftigung suchen müssen, was allerdings bei der Größe des Projektes nicht schwer werden dürfte. Irgendwo gibt es immer etwas zu tun. Letzte Woche habe ich zum Beispiel das Weihnachtsbasteln mit den Jugendlichen der Cooperativa geleitet, da die Lehrerin kurzfristig krank geworden war. Weihnachtsbasteln in der Cooperativa

Irgendwie ist es schon seltsam mitten im Sommer Weihnachtsbäume zu malen und Watteschnee aufzukleben. Mich schauten auch alle mit großen Augen an, als ich erzählte, dass ich die Schneemänner, die sie nur als Bilder oder Plastiknachbildungen kennen, schon mit eigenen Händen und richtigem Schnee gebaut habe. Und ein bisschen vermisse ich sogar die langen Winterabende der Vorweihnachtszeit mit ihrem sanftem Kerzenschein, einem heißen Glühwein und dem Plätzchenduft in der Nase.... Doch der brasilianische Sommer hat auch so Einiges zu bieten. Statt viel Besinnlichkeit gibt es hier zurzeit jede Menge Aktionen, an denen ich mit steigender Begeisterung teilnehme. Am 15. November begannen endlich die lang vorbereiteten Festlichkeiten anlässlich des 31. Geburtstages des Projektes ALMM. Zur Eröffnung sollte ein kleiner Wortgottesdienst abgehalten werden, für den mal eben die Straße durch ein quergestelltes Fahrzeug und eine im Handumdrehen zusammengezimmerte Holzschranke abgesperrt und mit den üblichen Plastikstühlen bestuhlt wurde. Beginn sollte um neun Uhr sein, doch als gegen 9:30 Uhr immer noch nicht besonders viele Leute eingetroffen waren, beschloss Aluisio noch ein bisschen Werbung zu machen. Ein kleiner Lautsprecherwagen wurde mit 16

vereinten Kräften aus der Garage eines Freundes geschoben und drehte dann seine Runden durch die umliegenden Straßen, während Aluisio über ein sehr eigenwilliges Mikrofon das Programm der folgenden Tage verkündete und alle Einwohner herzlich dazu einlud. Und siehe da - nach und nach trafen immer mehr kleine Grüppchen ein und der Wortgottesdienst konnte beginnen. Dieser war wie immer sehr bewegt und mit viel Musik unterlegt, so dass ich nun auch weiß, woher der Ausdruck “eine Messe feiern” kommen muss. Am Nachmittag, nachdem die prallste Mittagssonne bereits vorübergegangen war und man es auf der Straße wieder aushalten konnte, präsentierten die einzelnen Gruppen des Bereiches Kunst & Kultur ihr Können. Kleine und große Capoeiratänzer attackierten ihr Gegenüber mit geschmeidigen, doch kraftvollen Bewegungen, ohne sich dabei überhaupt zu berühren. Denn Ziel dieses Tanz - Kampf - Sportes ist es, lediglich den Mitstreiter aus der Balance zu bringen (und dabei die eigene zu wahren), nicht aber ihn zu berühren oder gar zu verletzen. Dazu benötigt man natürlich eine gute Körperbeherrschung, ein waches Auge und ein schnelles Reaktionsvermögen. Nach diesen beeindruckenden Darbietungen sorgte die Band “Swing Popular” wieder für mitreißende Rhythmen, so dass die Straße bald von herumspringenden und tanzenden Kiddies übervölkert war. Danach wurde das Programm durch abwechslungsreiche Tänze und fantasievolle Theaterstücke komplettiert. Als die Dämmerung hereinbrach und die ersten Müdigkeitserscheinungen auftraten, gab es für alle Kinder noch einen Becher Fruchtsalat. Diesen zu verteilen war allerdings gar nicht so einfach, da die knurrenden Bäuche die Kinder in kleine Monster zu verwandeln schienen und man, wo man auch hinsah, nur noch ausgestreckte Hände erblickte. Zu guter Letzt traten aber alle satt und zufrieden den Heimweg an.

Aktionsreicher Nachmittag vor dem SEDE – Gebäude Am nächsten Tag standen zunächst Diskussionsrunden zum Thema “Consciência Negra” auf dem Programm. In drei unterschiedlichen Gruppen (aufgeteilt in Kinder, Jugendliche und Erwachsene) unterhielten wir uns über Rassismus und was es bedeutet, nicht nur mit schwarzer oder brauner Haut geboren zu werden, sondern auch ein Bewusstsein für die eigene, afro-brasilianische Kultur zu entwickeln. Ich war zusammen mit den anderen Lehrerinnen der Escola Comunitária in der Gruppe der Erwachsenen, wo viel diskutiert, zustimmend genickt oder heftig mit dem Kopf geschüttelt wurde. Manchmal wurde es allerdings ein wenig kompliziert für mich, dem interessanten und energischen Meinungsaustausch ganz zu folgen. Ich habe viel erfahren und gelernt, fühlte mich in meiner weißen Haut aber auch ein bisschen ausgeschlossen und eher wie ein Zuschauer. Nach den Gesprächen trafen die drei Gruppen wieder zusammen. Die Kinder steckten bereits in typisch afrikanischen Kostümen und wurden von uns noch mit einer kunterbunten Kriegsbemalung versehen. Die Jugendlichen formierten sich in den verschiedensten Musik-, Capoeira- oder Tanzgruppen und in jede noch freie Hand wurde ein Musikinstrument, eine Fahne oder das Ende eines Bannerzuges gedrückt. Dann machte sich der farbenfrohe und ausgelassene Zug auf, um durch die Straßen 17

Mangueiras zu ziehen und mit allen Bewohnern das Jubiläum zu feiern sowie einen Teil der im Projekt geleisteten Arbeit zu präsentieren. Auch der kleine Lautsprecherwagen war wieder dabei und ließ, umringt von unzähligen neugierigen Kindern, die unterschiedlichsten Songs, Hymnen, Reden und Einladungen zur Teilnahme im ganzen Viertel erschallen. Auch ich wurde von der fröhlichen Stimmung mitgerissen und zog mit den Kindern und Betreuern der einzelnen Gruppen singend und tanzend durch die unzähligen Straßen und Gassen Mangueiras. Kunterbunter Umzug durch die Straßen Mangueiras

Nach etwa drei Stunden kehrten wir alle erschöpft zum SEDE - Gebäude zurück. Den Namen SEDE konnte mir bisher noch niemand zufriedenstellend erklären, aber dieses Gebäude stellt neben der Schule, der Cooperativa, der “Officina” für Kunst & Kultur und der kleinen Krankenstation das Herz und Basislager des Projektes dar. Mit diesem Gebäude wurde vor 23 Jahren das Projekt zu einer festen Einrichtung in Mangueira, und heute ist es immer noch ein Treffpunkt für die Kinder und Jugendlichen, Trainingsort für die Capoeiragruppen und Schauplatz von Versammlungen und Veranstaltungen. An diesem Abend des 16. November 2002 stand nun die große Generalversammlung zur Wahl und Präsentation der neuen Koordinatoren der einzelnen Bereiche an. Die Posten werden alle drei Jahre neu gewählt. Letztendlich trafen 120 aktive Mitglieder des Projektes ein und verteilten sich auf die etwa 90 Plastikstühle und entlang der Wände des kleinen Versammlungsraumes, so dass jeder Quadratzentimeter perfekt genutzt und die Luft zum Atmen langsam knapp wurde. Dann begann Aluisio, die neue Organisation des Projektes für alle verständlich zu erklären, was etwa 1 ½ Stunden in Anspruch nahm (daran waren aber auch die vielen Zwischenfragen und gelegentliche Kabbeleien unter den Kiddies Schuld).

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Auch ich will nun einmal versuchen, die Organisation und die einzelnen Bereiche des Projektes mit Hilfe des von Aluisio entworfenen Schaubildes genauer vorzustellen:

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COORDENAÇÃO DA ALMM AUFBAU DES PROJEKTES ALMM Die Basis des Projektes bilden zwölf Bereiche mit unterschiedlichen Aufgabenbereichen. Diese sind im Einzelnen: CONVIVÊNCIA ZUSAMMENLEBEN Im Rahmen dieses Bereiches treffen sich unterschiedliche Gruppen von Kindern und Jugendlichen, um über Lebensperspektiven und aktuelle und allgemeine Probleme des Zusammenlebens zu diskutieren. Der Grossteil dieser Kinder lebt in ärmsten Verhältnissen und weiß, was es heißt wirklich Hunger zu leiden. Viele Eltern sind arbeitslos, ertränken ihre Probleme in “cachassa” oder “cerveja” und werden dann oft den Kindern gegenüber gewalttätig. In der festen Gruppe finden sie eine Art Zuflucht und sind mit ihren Sorgen nicht alleingelassen. Außerdem werden gemeinsam Aktionen geplant, durchgeführt und anschließend bewertet. Wichtig hierbei ist, dass den Gruppen nicht fertige Aktionen vorgesetzt werden, sondern sie selbst aussuchen und entscheiden, was sie in Angriff nehmen möchten und dafür auch die Verantwortung tragen müssen. Einmal im Jahr unternehmen sie mit Aluisio einen kleinen Ausflug auf eine nahe gelegene Insel, wo sie mehrere Tage an einem bestimmten Thema arbeiten, dazu Plakate entwerfen und natürlich jede Menge Spaß haben. Dieser Tapetenwechsel tut ihnen unheimlich gut und sie freuen sich das ganze Jahr auf diese paar Tage, da ihre Familien meistens zu groß und zu arm sind, um gemeinsam in Urlaub zu fahren. GRUCON (Grupo de União e COnsciência Negra) GRUPPE ZUR VEREINIGUNG UND BEWUSSTSEINSBILDUNG DER FARBIGEN Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind auf der Suche nach den Ursprüngen ihrer Kultur. Für den Großteil der Bevölkerung Salvadors liegen diese in Afrika, da Bahia zur Zeit der Kolonialisierung Haupthafen für Tausende von Sklavenschiffen war. GRUCON befasst sich mit der Aufrechterhaltung dieser afrikanischen Kultur. Dazu werden z.B. Tänze einstudiert, afrikanische Kleidung, Schmuck und Musikinstrumente hergestellt, und gezeigt, wie die typischen Frisuren gemacht werden. Neben diesem praktischen Teil gibt es aber auch viele Informationen über Kultur, Kunst und Geschichte, sowie Diskussionen über Rassismus und Diskriminierung. GRUCON ist eine landesweite Bewegung mit vielen Anhängern, die sich jährlich am 20. November zu großen Demonstrationen treffen. PCS (Posto Comunitário de Saude) GESUNDHEITSSTATION Die kleine Gesundheitsstation leistet Erste Hilfe und ist Anlaufpunkt bei leichten Verletzungen und Krankheiten. Da es immer noch an einem qualifizierten Arzt mangelt, besteht der Großteil der Arbeit jedoch in der Gesundheitsvorsorge. Bei Fragen und Unsicherheiten erhalten die Anwohner hier Auskunft und zudem Informationen zu richtiger Ernährung, Hygiene, etc.

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SRC (Serviço de Relação com Cliente) BEZUG ZU DEN MITGLIEDERN Um eine gute Arbeit des Projektes zu gewährleisten ist es wichtig, auch aktuelle Informationen über die Lebensumstände der einzelnen Familien zu besitzen. Deshalb werden die Familien der im Projekt registrierten Kinder zu Hause besucht. So kann man sich ein besseres Bild machen, wo genau die Probleme der einzelnen Familien liegen und gezielter an deren Lösung oder zumindest einer Verbesserung der Lebenssituation arbeiten. Diese Art von Feedback hilft auch den anderen Bereichen des Projektes, da sie zeigt, wo man noch Verbesserungen vornehmen kann oder welche Kurse (z.B. in der Erwachsenenbildung!) noch dringend benötigt werden. Die Ergebnisse dieser Umfragen werden außerdem in Form von Berichten an Visão Mundial (World Vision), eine der Trägerorganisationen des Projektes, weitergeleitet. DEC (Departamento de Desenvolvimento Econômico) ABTEILUNG FUER WIRTSCHAFTLICHEN AUFSCHWUNG Diese Abteilung hilft den vielen kleinen Geschäften und Bars Mangueiras, die oftmals kurz vor dem Ruin stehen. Hier erhalten die Besitzer nicht nur Informationen und Hilfe in Finanz - und Verwaltungsfragen, sondern können auch Kredite zu günstigeren Konditionen, als sie die Banken anbieten, beantragen. CEFP (Cooperativa para Educação e Formação Profissional) VEREINIGUNG ZUR PROFESSIONELLEN ERZIEHUNG UND BILDUNG Die Cooperativa, welche erst seit gut einem Jahr besteht, bietet eine Vielzahl von Kursen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene an. Diese sind aufgeteilt in drei Bereiche: Basiskurse; Praxiskurse und Spezialkurse. Basiskurse: Cidadania - Staatsbürgerschaft Dieser Kurs bringt den Teilnehmern die Rechte und Pflichten, die sie als brasilianische Staatsbürger besitzen, näher. Sie sollen ein besseres Rechts- bzw. Unrechtsbewusstsein entwickeln, um in kritischen Situationen (z. B. Konfrontation mit Drogen) eine verantwortungsbewusste Entscheidung treffen zu können. Außerdem ist hier wie immer Raum für Fragen, Probleme und Diskussionen. Sexualidade - Sexualkunde Aufklärung ist hier leider immer noch ein Tabuthema und wird in den Schulen kaum als Unterrichtsthema durchgenommen. Die Folgen daraus sind offensichtlich: es gibt eine Vielzahl von jungen Mädchen, die bereits mit 15 oder 16 Jahren schwanger werden. Außerdem ist das Risiko einer Aidserkrankung ohne vernünftige Aufklärung sehr hoch. Deshalb werden diese Kurse für alle Jugendlichen der Cooperativa im Alter von 10 bis 22 Jahren verpflichtend durchgeführt. Projeto de vida - Projekt Leben Viele Kinder in Mangueira besitzen ein sehr niedriges Selbstbewusstsein und selbst, wenn sie davon träumen einmal Arzt oder Anwalt zu werden, denken die meisten, dass es allein aufgrund ihrer sozialen Stellung nicht möglich ist. Im Rahmen dieses Kurses sollen sie ihre Zukunftsvorstellungen und Träume vorbringen und konkretisieren. Daraus sollen sie lernen, sich Ziele zu setzen und nicht von vorneherein aufzugeben. 21

Den Kindern und Jugendlichen wird gezeigt, dass ihr Leben keine Einbahnstraße ist, sondern viele verschiedene Möglichkeiten für sie bereithält. Estatuto da criança e dos adolescentes - Rechte von Kindern und Jugendlichen Um Rechte verteidigen zu können, muss man sie auch kennen. Aus diesem Grund werden sie nicht nur in der Escola Comunitária, sondern auch in diesem Kurs den Kindern und Jugendlichen beigebracht und vor allem besprochen. Sie erfahren hier z.B., dass Kinderarbeit illegal ist und sie ein Recht auf Schule, Spielzeit, ein Dach über dem Kopf, Nahrung, Kleidung und Schutz besitzen. Auto-estima e motivação - Selbstachtung und Motivation Ein Kurs, der den oftmals orientierungslosen Kindern und Jugendlichen Kraft geben und bei der Ausbildung ihres Charakters helfen soll. Lob und Anerkennung kommen in der Erziehung oft zu kurz, woraus Verunsicherung, Selbstzweifel und Zukunftsangst entstehen können. Den Kindern und Jugendlichen wird gezeigt, dass sie starke Persönlichkeiten sein können und sich nicht durch Drogen oder Gewalt Anerkennung verschaffen müssen. Denn dieses “soziale Risiko” ist in Mangueira leider noch sehr hoch und hält besonders für schwache und verunsicherte Kinder und Jugendliche viele Gefahren und Versuchungen bereit. Praxiskurse: Informatica - Informatik Wie ich bereits in meinem 1. Bericht geschrieben habe, sind die hier angebotenen Computerkurse sehr professionell, preiswert und eine gute Investition in die Zukunft der Teilnehmer. Vielleicht sollte ich auch mal so einen Kurs belegen, denn wenn Djailton von seiner Arbeit in der Cooperativa berichtet oder ich ab und zu mal einen Blick auf die Tafel bzw. Bildschirme werfe, verstehe ich ehrlich gesagt nur Bahnhof. In diesem Bereich sind viele neue Kurse geplant, die besonders die Erwachsenen ansprechen sollen. Die Zuschüsse sind bereits beantragt und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis auch diese Kurse laufen: Arte culinária - Kochkunst Artesanato - Kunsthandwerk Corte e costura - Nähen und Schneidern Alfabetização dos adultos - Alphabetisierung für Erwachsene Spezialkurse: Reis trabalistas - Arbeitsrechte Administração de empresas - Betriebswirtschaft Diese beiden Kurse werden für die Jugendlichen im Alter von 16 bis 22 Jahren durchgeführt und sollen ihnen ihren Start in die Arbeitswelt erleichtern. Hier erfahren sie zunächst einmal, wie der Arbeitsmarkt überhaupt funktioniert, wie man Bewerbungen schreibt und welche Rechte und Pflichten sie als Arbeitnehmer bzw. Arbeitsgeber besitzen. Außerdem bekommen sie einen Einblick in das Rechnungswesen und Informationen über Kredite und Schuldenfallen.

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PETI (Programma de Eradicação do Trabalho Infantil) PROGRAMM ZUR ABSCHAFFUNG VON KINDERARBEIT Dies ist einer der wichtigsten Bereiche des Projektes. Die Kinderarbeit ist hier in Brasilien noch sehr stark verbreitet, da die Familien, die nicht selten acht oder neun Mitglieder zählen, sich mit nur einem Gehalt einfach nicht ernähren können. In Brasilien gibt es kein Kindergeld und die wenigsten Eltern denken an die Zukunft ihrer Kinder, wenn sie nicht einmal wissen, ob sie für den nächsten Tag etwas zu Essen haben. PETI holt die bereits arbeitenden Kinder von der Straße und meldet sie dem Staat, so dass die Eltern monatlich mit R$ 40 (etwa 12 Euro) unterstützt werden. Diese Summe ist zwar kein Vergleich zu dem, was die Kinder durch Erdnussverkauf oder Schuhe putzen zum Teil verdienen, bietet aber zumindest eine kleine Entlastung. Um sicher zu gehen, dass die 7-14jährigen Kinder nicht trotzdem weiterarbeiten müssen, gibt es neben der vormittäglichen Schule auch noch ein mehrstündiges Nachmittagsprogramm mit den unterschiedlichsten Kursen und Aktionen. ARTE E CULTURA KUNST UND KULTUR Neben Tanz, Theater, Kunst, Musik und Capoeira, werden in diesem Bereich seit gut zwei Jahren Englischkurse angeboten. Das Schulenglisch in Brasilien ist grottenschlecht und hier haben die Kinder und Jugendlichen die Chance ihre Englischkenntnisse spielerisch aufzubessern. Dazu übersetzen sie z.B. englische Lieder oder üben sich in englischen Rollenspielen. Aber auch die anderen Gruppen aus diesem Bereich zeigen durchaus nennenswerte Ergebnisse. Letztens hat Aluisio z.B. einen seiner früheren Schützlinge, welcher nun als Capoeirameister durch die Welt reist, wiedergetroffen. Und einige der Jugendlichen aus der Theatergruppe treten bereits in Stücken der “Vila Velha”, einem von Salvadors Schauspielhäusern, auf. ESPORTES SPORT Unter diesen Bereich fällt zurzeit “nur” der Fußballclub mit dem Leitspruch: “Bom de bola bom de escola” - “Gut am Ball - gut in der Schule”. Es gibt verschiedene Teams, die in unterschiedliche Altersklassen unterteilt sind. Die Kinder und Jugendlichen trainieren hart und können sich im Vergleich zu Teams aus anderen Stadtvierteln durchaus sehen lassen. Die Pokalsammlung ist echt beeindruckend und die ehrgeizigen Trainer Balé und Fabio lassen sich immer wieder neue Trainingsmethoden einfallen. So wird z.B. auch gerne mal am Strand oder im Wasser trainiert. Es ist geplant diesen Bereich noch auf andere Sportarten, wie z.B. Volleyball auszuweiten. ECEL ( Escola Comunitária Educar para Libertar) GEMEINSCHAFTSSCHULE “ERZIEHUNG ZUR FREIHEIT Die Escola Comunitária ist in Vormittags- und Nachmittagsunterricht unterteilt. Morgens kommen die 4-6jährigen Kinder und erhalten eine Art Vorschulunterricht. Dieser ist sehr praktisch orientiert und gibt den Kindern Raum sich zu entfalten. Mittags erhalten sie hier eine kräftigende Mahlzeit, die für manche Eltern wohl der Hauptgrund ist, die Kinder überhaupt zur Schule zu schicken. Die Zahl der hungerleidenden Kinder, die die Schule des Projektes besuchen, ist erschreckend hoch und mir erst nach und nach aufgefallen. Manche Kinder kommen z.B. morgens schon vollkommen erschöpft in der Schule an, schlafen während des Unterrichts ein oder klappen einfach zusammen. Eine große Tasse 23

Kakao und ein paar Kekse wirken dann meistens Wunder. Deshalb wird überlegt, neben dem Mittagessen auch noch Frühstück für die Kleinen einzuführen. Doch dies würde zurzeit die ohnehin schon für die Schule kaum noch tragbaren Essenskosten übersteigen. Denn auch die 7-10jährigen Schüler, die am Nachmittag die Schule besuchen, bekommen zunächst eine Stärkung, bevor sie mit dem Unterricht, der mit dem einer Grundschule zu vergleichen ist, beginnen. Aufgrund der Vielfältigkeit ihrer Aufgaben ist die Organisation der Schule in drei Bereiche, die natürlich in der Praxis eng zusammenarbeiten, unterteilt. a) ADMINISTRAÇÃO DE ECEL VERWALTUNG DER GEMEINSCHAFTSSCHULE Darunter fällt eben alles, was unternommen werden muss, um den geregelten Schulablauf zu gewährleisten. So z.B. Registrierung der Schüler, Finanzen, Stundenpläne, Unterrichtsmaterial- und Nahrungsbeschaffung etc. b) APOIO UNTERSTUETZUNG Dieser Bereich befasst sich mit der Reinigung und Instandhaltung des Schulgebäudes, sowie der Nahrungsversorgung der Kinder. Besonders zu erwähnen ist hier Dona Lurdis, die jeden Morgen in riesigen Töpfen rumrührt, Berge von Früchten in Saft verwandelt, ein Liedchen summend mal eben 300 Plastikbecher spült, und einfach da ist, wenn bei irgendetwas Hilfe benötigt wird. c) ECEL PEDAGÒGICO PAEDAGOGISCHER BEREICH DER GEMEINSCHAFTSSCHULE Was wäre eine Schule ohne Lehrer? In diesem Bereich finden ständig Versammlungen statt, in denen es um die Unterrichtsgestaltung, die Stundenpläne, geplante Veranstaltungen, Weiterbildung, usw. geht. Außerdem sind die Lehrerinnen viel mit dem Kontakt zwischen Schule und Elternhaus beschäftigt. ECEL ist zwar nicht die einzige Schule in Mangueira, platzt vor Schülern aber aus allen Nähten. Neben den sechs Klassenräumen, dem Sekretariat, der Küche, dem kleinen Versammlungsraum im 2. Stock und der daran angeschlossenen Bibliothek (die z.Z. allerdings in Pappkartons unter Plastikplanen steckt, da das Dach undicht ist), gibt es nur einen winzigen Innenhof, der in den Pausen nur mit guten Nerven zu betreten ist. Die Klassen müssen abwechselnd auf den Hof geführt werden, wo die Kinder dann auf dem Boden oder Treppenstufen sitzend ihre Mahlzeit einnehmen und anschließend rumtollen können. Dieser Zustand ist äußerst belastend, da Kinder einfach Platz zum spielen und rennen brauchen. Seit Langem schon spielt Aluisio mit dem Gedanken, das ungenutzte Nachbargrundstück zu kaufen, die Mauern des Schulhofs einzureißen und für die Kinder, die auch sonst nur auf den staubigen Straßen Mangueiras spielen, eine Wiese mit Bäumen, Sträuchern und Spielgeräten anzulegen. Außerdem könnten so auch Sportunterricht und Aktionen im Freien durchgeführt werden. Doch wie so oft fehlt einfach das Geld, um dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Die gewählten Vorsitzenden der einzelnen Bereiche bilden den “CONSELHO DE COORDENADORES PEDAGÒGICOS DOS SETORES - RAT DER PAEDAGOGISCHEN KOORDINATOREN”. Insgesamt zählt das Projekt etwa 1200 Mitglieder, wovon allein 1000 Kinder und Jugendliche sind. Ein Projekt von dieser Größe bedarf natürlich auch einer gehörigen Organisations- - und Verwaltungsarbeit. Diese Aufgabe fällt in den Bereich der 24

“COORDENAÇÃO EXECUTIVA - DEM VORSTAND”. Der Vorstand ist in vier unterschiedliche Ausschüsse mit folgenden Aufgaben unterteilt: COMISSÃO DE FINANÇAS FINANZAUSSCHUSS Dieser Ausschuss behält den Überblick über die Finanzlage des Projektes und verteilt die benötigten Gelder an die einzelnen Gruppen. Ein Teil der Programme, wie z. B. PETI, ECEL und CEFP werden zwar vom Staat unterstützt, doch das Projekt an sich lebt von den Spenden der Trägerorganisationen zu denen “Visão Mundial” (World Vision), “Changer for Children”, “Fastenopfer”, “Eine-Welt-AG” des Cusanus Gymnasiums Erkelenz und die “Eine-Welt-Laden” Hückelhoven und Mönchengladbach, gehören. COMISSÃO DE PATRIMONIO EIGENTUMSAUSSCHUSS Der Eigentumsausschuss ist mit der Verwaltung und Instandhaltung der Gebäude und Materialien des Projektes beschäftigt. Er gibt z.B. notwendige Reparaturarbeiten in Auftrag und setzt sich mit dem Bewertungsausschuss in Verbindung, wenn neue Anschaffungen gemacht werden müssen. COMISSÃO FISCAL BEWERTUNGSAUSSCHUSS Dieser Ausschuss überwacht die Arbeit der unterschiedlichen Bereiche und schreitet ein, wenn es Probleme oder Unklarheiten gibt. Außerdem wird hier entschieden, welche Anschaffungen notwendig und für das Projekt tragbar sind. COMISSÃO DE DOCUMENTAÇÃO DOKUMENTATIONSAUSSCHUSS Der Dokumentationsausschuss behält den Überblick über die Mitgliederzahlen des Projektes. Dies ist gar nicht so einfach, da die Kinder und Jugendlichen ja nicht immer nur in einer Gruppe, sondern in bis zu drei oder vier verschiedenen Bereichen aktiv sind. Deshalb wird momentan daran gearbeitet für alle Mitglieder des Projektes eine Art Mitgliedsausweis auszustellen. Desweiteren werden hier Ideen für neue Projekte vorgebracht und Umsetzungs- und Finanzierungspläne dafür ausgearbeitet. Last but not least kommen wir zu Aluisio Simaõ Pereira, dem Gründer und “COORDENADOR GERAL - VORSTANDSVORSITZENDER” des Projektes. Seine Aufgabe ist es, die vielen unterschiedlichen Bereiche und Ausschüsse untereinander zu koordinieren und die anfallenden Fragen und Probleme gemeinsam mit den einzelnen Vertretern zu lösen. Zudem gibt er selbst noch Kurse im Rahmen des Bereiches “Convivência” und ist eigentlich ständig von einer Gruppe zur anderen unterwegs. Im September ist dann noch Bereich Nr. 13 mit Namen “Intercâmbio - Austausch” in Person von Anne Wenk hinzugekommen.

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Nun aber zurück zur Wahl: Nachdem also alle den Aufbau mehr oder weniger verstanden hatten, wurden die Kandidaten für die zu besetzenden Posten unter lautem Beifall und anderen Sympathieausbrüchen vorgestellt. Doch bevor es zur Abstimmung kommen sollte, musste sich noch jeder Stimmberechtigte mit Namen und Beziehung zum Projekt (z.B. Mitglied der Capoeiragruppe; Lehrer in der ECEL....) vorstellen und in eine Unterschriftenliste eintragen. Da das Projekt ja hauptsächlich für und mit den Kinder arbeitet, hatten natürlich auch sie volles Stimmrecht, so dass es eine weitere halbe Stunde dauerte, bis alle 120 Personen (darunter auch ich) ihren Namen in den Raum geschrieen und sich in die Liste eingetragen hatten. Die Abstimmung an sich verlief dann relativ schnell: es wurde gefragt, wer mit den vorgestellten Kandidaten einverstanden ist, woraufhin 120 Finger in die Luft schossen und das Schicksal von ALMM für die nächsten drei Jahre besiegelten. Fertig. Endlich. Und dann kam der Teil, auf den eigentlich alle die ganze Zeit gewartet hatten. Zwei große, in stundenlanger Arbeit von Dona Lurdis und den Lehrerinnen der Schule angefertigte Torten wurden angeschnitten und an die hungrige Gesellschaft verteilt. Die gewählten Vertreter wurden natürlich herzlich beglückwünscht (darunter war wohl auch die eine oder andere klebrige Kuchen-Hand) und als auch der letzte Krümel vernichtet war, trotteten alle geschafft aber glücklich nach Hause. Am Sonntag kam für den Bereich “Esportes” der große Tag. Gegen 8 Uhr versammelten sich die fussball-begeisterten Kiddies auf der Straße vor dem SEDE-Gebäude, um das Turnier zu beginnen. Zuerst musste das “Feld” allerdings von herumfliegendem Müll und Steinen bereinigt werden, da grundsätzlich barfuss gespielt wird. Von den begeisterten Mädels angefeuert, gaben die Teams den ganzen Vormittag lang ihr Bestes und die Siegermannschaft wurde schließlich mit einem kleinen Pokal und einer funkelnden Medaille für jeden, die natürlich stolz überall herumgezeigt wurde, geehrt. Alle anderen beteiligten Teams bekamen noch eine große Flasche Limonade und etwas Süß, so dass keiner leer ausging. Am Montagnachmittag hatten die Capoeiragruppen noch einmal die Gelegenheit, ausgiebig vor Publikum zu trainieren, bevor sich am Dienstagabend dann alle Gruppen gemeinsam in einem nahe gelegenen Festsaal mit einer kleinen Bühne versammelten. Hier konnte man dann auch die Präsentationen der Bereiche GRUCON, ECEL und PETI, sowie eingeladener Gruppen bestaunen, und damit wurde die “Geburtstagsfeierwoche” angemessen zum Ausklang gebracht. Am 20. November trafen sich dann noch viele Mitglieder des Bereiches GRUCON und andere Interessierte am Campo Grande, einem großen Park in der Innenstadt Salvadors. Von hier aus sollte um 16 Uhr ein großer Demonstrationsmarsch in Gedenken an João Cândido, “den Nationalhelden des Aufstandes von Chibata”, in Richtung Pelourinho starten. Neben den unzähligen aufmarschierten Gruppen, die natürlich alle mit Fahnen und Bannern ausgestattet waren, begleiteten den Zug diverse Lautsprecherwagen mit Live-Bands und Rednern. An den Straßenrändern drängelten sich Massen von Zuschauern, um dem Spektakel beizuwohnen, und Airí erzählte mir, dass es Karneval hier wohl ähnlich zugehen wird. Es dauerte etwa zwei Stunden, bis sich der Zug seinen Weg im Schneckentempo bis zum Pelourinho gebahnt hatte, aber während dieser Zeit tobte auf den Straßen eine einzige, riesige Party und es war ein unglaubliches Gefühl, inmitten von alledem mitzulaufen, zu tanzen und Fahnen zu schwenken (auch wenn ich am nächsten Tag ganz schön Muskelkater in den Armen hatte). Im Pelourinho angekommen, wurde noch die ganze Nacht gefeiert und ich war heilfroh, dass ich am nächsten Tag “schulfrei” hatte.

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Nach dieser so ereignisreichen Woche blieb jedoch kaum Zeit zum verschnaufen. Im Rahmen seiner Arbeit bei der ISPAC gibt Aluisio zusammen mit seinem Kollegen Eloy Seminare in den verschiedensten Städten Bahias. Diese Seminare informieren die Volkserzieher der einzelnen Gemeinden über neue Methoden, damit sie ihre Arbeit vor Ort möglichst effektiv gestalten können. Außerdem haben sie hier die Gelegenheit zum Erfahrungsaustausch und können ihre Probleme vorbringen und gemeinsam nach Lösungsansätzen suchen. Die Seminare sind also sehr wichtig, um die Volksaufklärung und -erziehung auch in den abgelegensten Gebieten des Inlandes am Leben zu erhalten und vor dem Stillstand zu bewahren. Ermöglicht und unterstützt werden sie von der brasilianischen Caritas. Ein solches Seminar stand nun auch vom 21. bis zum 24. November an und Aluisio fragte Airí und mich, ob wir nicht Lust hätten ihn dorthin zu begleiten. Wir ließen uns natürlich nicht zweimal bitten und packten schnell ein paar Sachen zusammen, denn es sollte noch am selben Abend losgehen. Da das Eisenbahnnetz in Brasilien nur sehr schlecht ausgebaut ist und die wenigsten Familien ein eigenes Auto besitzen, werden nahezu alle längeren Strecken mit Reisebussen zurückgelegt. So trafen auch wir gegen 18 Uhr am Busbahnhof Salvadors ein und ich erfuhr endlich, wohin unsere Reise überhaupt gehen sollte: ins 800 km entfernte “Livramento de Nossa Senhora”. Diese Distanz ist für Brasilianer übrigens ein Katzensprung, was verständlich wird, wenn man bedenkt, dass dieses Land in etwa die Größe ganz Europas besitzt und allein der Bundesstaat Bahia so groß wie Deutschland ist. Die 12-stuendige Fahrt verlief relativ entspannt und wurde nur etwa alle drei Stunden durch eine kurze Pause an einem der großen Rasthöfe, wo Busse aus dem ganzen Land Halt machen, unterbrochen. Allerdings hatte einer der Busfahrer eine besondere Vorliebe für eine gut funktionierende Klimaanlage, so dass wir uns in unseren kurzen Klamotten regelrecht den A.... abfroren und sich die wie immer nur mit Badelatschen besohlten Füße langsam aber sicher in Eisklötze verwandelten. Er ließ aber auch nicht mit sich reden und so zog ich einfach alle meine Sachen übereinander an und wickelte meine Füße in einen Kopfkissenbezug. Danach sah ich einer Mumie zwar zum Verwechseln ähnlich, fand aber - mit dem Handtuch als provisorische Bettdecke - den langersehnten Schlaf. Bei Sonnenaufgang erreichten wir schließlich unser Ziel und beim Anblick der bezaubernden Landschaft traute ich meinen verschlafenen Augen kaum. Die Stadt lag inmitten von Bergen und man hätte glauben können sich in Österreich zu befinden, wenn da nicht die üppige tropische Vegetation mit ihren riesigen Palmen und bunt blühenden Bäumen und Sträuchern gewesen wäre. Mit dem Taxi fuhren wir zum Seminargebäude im Herzen der kleinen Stadt und nachdem wir unser Gepäck auf die Zimmer gebracht hatten, machten wir einen kleinen Rundgang. Von den Gärten war ich sofort begeistert. Hier wuchsen unzählige verschiedene Gemüse, Früchte und vor allem Kräuter, welche nicht nur in der Küche, sondern auch in der Hausapotheke verwendet werden. Die Krönung waren jedoch die drei riesigen Mangobäume. In ihrem Schatten sitzend verschlangen wir ein paar saftige Mangos und genossen das beruhigende Rauschen der Blätter im leichten Sommerwind. Im Laufe des Vormittages trafen auch die anderen Teilnehmer des Seminars ein, so dass Aluisio gegen Mittag mit den Kennenlernspielen beginnen konnte. Es war eine aufgeweckte und arbeitswillige Runde und auch während den Pausen zwischen den Arbeitseinheiten und an den Abenden verstanden sich alle prächtig. Am Freitag lud einer der Hausverwalter zu einem kleinen Spaziergang zu einer der beiden Sehenswürdigkeiten Livramentos de N. S. ein, wollte aber noch nicht verraten, um was es sich handelte. Wir liefen ein Stückchen, unterhielten uns angeregt und fanden uns auf dem Friedhof wieder. Airí und ich tauschten verwunderte Blicke aus und wussten nicht so ganz was das alles sollte. Doch unser Begleiter ließ sich nicht beirren und führte uns weiter auf den schmalen Wegen zwischen den Grabstätten hindurch. Plötzlich ragte inmitten der flachen Gräber ein in der Sonne glitzernder Turm vor uns auf. Wir gingen neugierig näher 27

heran und lauschten gespannt der Geschichte zu diesem bizarren Bauwerk: Einer der Einwohner ist wohl durch einen Lottogewinn auf einen Schlag steinreich geworden. Anscheinend wusste er nicht wohin mit dem ganzen Geld, und so beschloss er, sich für sein Leben nach dem Tod eine angenehme Behausung zu schaffen. Also baute er diesen Turm, welcher von außen mit Kristallen besetzt ist, eine Klingel besitzt und sogar schon den Namen des Erbauers in großen, prunkvollen Buchstaben trägt. Im Inneren des Turmes ist bereits alles fertig ausgestattet: die drei Stockwerke beinhalten eine kleine Küche mit Kühlschrank und Kochnische, ein winziges Schlafzimmer und sogar einen Fernseher mit Satellitenempfang. Auf der Dachterrasse stehen ein Tisch und Stühle für eventuelle Besucher bereit ... das Einzige, was noch fehlt ist das Sterbedatum des Mannes. Die Bewohner der Stadt nennen ihn nur noch den “Verrückten”, denn hinzu kommt noch, dass seine Schwester unter ärmsten Bedingungen lebt und er sie nicht mit einem “centavo” unterstützt. Sehenswürdigkeit Nr.1 Ansonsten waren die drei Tage, wie sich das für ein Seminar eben gehört, mit Vorträgen und Diskussionen vollgepackt. Allerdings erkannte Aluisio immer ziemlich schnell, wann die Seminargruppe reif für eine Pause war und packte ein paar Instrumente aus, um gemeinsam ein Liedchen zu singen, oder initiierte ein Bewegungsspiel, von denen er ein nahezu unerschöpfliches Repertoire zu besitzen scheint. Und wenn alle bereits sehnsüchtige Blicke aus dem Fenster warfen und es keiner mehr in den stickigen vier Wänden des Seminarraumes aushielt, wurde die Arbeitseinheit einfach nach draußen, in den Schatten der leise flüsternden Mangobäume verlegt. Zum gemütlichen Ausklang wurde am letzten Abend noch gemeinsam ein kleines Fest organisiert. Natürlich gab es Köstlichkeiten in Hülle und Fülle, so dass der Reiseproviant für den nächsten Tag auch schon gesichert war. Irgendjemand grub sogar noch einen museumsreifen Kassettenrecorder aus, so dass bald lustig das Tanzbein geschwungen wurde. Naja, und auch ich konnte mich nach der dritten Aufforderung nicht mehr drücken und musste wohl oder übel “Forro”, den Standardtanz des Inlandes, lernen. Als ich den Dreh einmal raus hatte, hat es sogar richtig Spaß gemacht. Am Sonntagvormittag machten sich die Meisten auf den zum Teil recht langen Heimweg. Nur einige Wenige, darunter Aluisio, Airí und ich, wollten diesen Tag noch nutzen, um auch die zweite Sehenswürdigkeit Livramentos, den “cachoeira”, oder auf Deutsch: Wasserfall, zu besichtigen.

Sehenswürdigkeit Nr.2

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Man konnte ihn schon von weitem bewundern, doch es war einfach noch fantastischer, ganz nah dran zu stehen, von einem leichten Wassertropfenfilm überzogen zu werden und den sich bildenden Regenbogen zu betrachten. Wir kletterten ein paar Steinstufen hinab, erreichten ein ruhiges, natürliches Schwimmbecken, und konnten es kaum erwarten ins erfrischend kühle Wasser zu springen und eine Dusche unter den hinabstürzenden Wassermassen zu nehmen. Es war echt der Wahnsinn und ich fühlte mich ein bisschen wie Sheryl Crow in ihrem Video zu “I´m gonna soak up the sun”. Der Zeitpunkt zum Aufbruch kam natürlich viel zu schnell heran, aber wir waren noch bei einem Freund eingeladen und um 18 Uhr sollte unser Bus schon wieder Richtung Salvador starten. Doch auch dieser Besuch entpuppte sich schnell als eine “Einladung ins Paradies”. Um erstmal zu dem Haus des Freundes zu gelangen, fuhren wir gut 20 Minuten auf Schotterpisten, die von unendlich grünen Plantagen umgeben waren. Die Erde Brasiliens scheint bei richtiger Nutzung wirklich ein gigantisches Potential an Fruchtbarkeit freigeben zu können. So weit das Auge reichte gedeihten Bananen, Mangos, Kokosnüsse, Caju, Zuckerrohr und unendlich viele andere tropische Früchte, deren Namen ich mir immer noch nicht alle merken kann und die ich auch vorher noch nie gesehen habe. Wir wurden mit frischen Kokosnüssen empfangen, unterhielten uns ein wenig im Schatten von Büschen und Palmen und ich fühlte mich inmitten von so viel sattem Grün einfach pudelwohl. Aber auch wenn es einem manchmal so erscheinen mag, bleibt die Zeit nicht stehen und mit einem Mal brach Hektik aus, da wir nur noch eine halbe Stunde hatten, bevor der Reisebus - mit oder ohne uns an Bord abdüste. Schnell verabschiedeten wir uns voneinander und jeder bekam noch eine Mango in etwa der Größe eines Footballs in die Hand gedrückt.

Einladung ins Paradies Und dann befanden wir uns auch schon wieder auf dem Rückweg... Den Rest des Monats verbrachte ich in Salvador mit was ich nun schon mehr oder weniger meinen Alltag nennen kann. Das heißt vormittags bin ich entweder in der Schule oder der Cooperativa in Mangueira und nachmittags gilt es mit Airí zusammen den Haushalt zu schmeißen, die Einkäufe zu erledigen und sich mit der lästigen (Hand)Wäsche herumzuschlagen.... ...im Dezember wird’s aber auf jeden Fall wieder spannend! Also bis dann. Ciao - Anne

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3. Bericht Dezember 2002

Anne Wenk

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Der Dezember war aufgrund der Ferien und Feiertage weniger von Arbeit, sondern vielmehr von Urlaub und kulturellen Ereignissen geprägt. Doch innerhalb dieser kurzen Zeit habe ich die unterschiedlichsten Seiten Brasiliens kennengelernt, was meinen Gefühlszustand aufs Neue Achterbahn fahren ließ. Bevor allerdings die Ferien richtig beginnen konnten, standen noch ein Elternabend und unzählige weitere ermüdende Versammlungen, die nicht selten mehrere Stunden in Anspruch nahmen, statt. Dabei ging es meistens um den Jahresrückblick, Probleme, sowie erfreuliche Ergebnisse und natürlich die Pläne für das kommende Jahr. Sozusagen als Belohnung war dann für alle Beteiligten am Wochenende vom 7. bis zum 9. Dezember ein kleiner Ausflug auf die nahe gelegene Insel Itaparica geplant. Alle waren schon voller Vorfreude und nach den arbeitsreichen letzten Tagen und Wochen regelrecht “reif für die Insel”. Als der große Tag gekommen war, gab es natürlich zunächst noch jede Menge Aufregung, da wir vor lauter Organisations- und Packstress beinahe unsere Fähre verpasst hätten...als wir uns dann aber vollzählig (etwa 20 Personen), samt allen Vorräten und beinahe im Bus vergessenen Gepäckstücken auf dem Oberdeck der Fähre befanden, der erste Becher Wein seine Runde drehte und die Silhouette Salvadors immer weiter in die Ferne rückte, war dies alles schon wieder fast vergessen und man konnte bereits den ersten Hauch von “Urlaubsfeeling” verspüren. Alle hatten mir zuvor schon stundenlang von “Dona Theresa´s Casa” in Barra Grande (Name der Bucht) vorgeschwärmt und mir das eine oder andere verwackelte Foto in die Hand gedrückt; doch was ich bei unserer Ankunft dort erblickte, überstieg mein Vorstellungs- und Fassungsvermögen bei weitem: Ich war am “Bounty-Strand” gelandet!!! Ein Meer in strahlenden und nie zuvor gesehenen Blautönen breitete sich vor mir aus, während ich unter den nackten Füssen den weichen Sand spüren konnte und die leichte Meeresbrise, die die Blätter der meterhohen Palmen sanft rascheln ließ, auch mich zum träumen einlud. Nur wenige Meter entfernt befand sich das kleine, gemütlich eingerichtete Häuschen von Dona Theresa, die hier zusammen mit ihrem Lebensgefährten und zwei süßen Töchtern von Fischfang und den gelegentlichen Besuchern lebt. Gemeinsam brachten wir Gepäck und Vorräte ins Haus und stürmten sogleich die drei Gästezimmer. Schnell wurde klar, dass die Anzahl der bereitstehenden Betten mit der der mitgekommenen Personen ganz und gar nicht korrespondierte. Also beschlossen wir, den älteren Semestern, den beiden Kindern und dem Pärchen mit dem vier Wochen alten Säugling den Vortritt zu lassen, während sich der Rest dann später mit den vorhandenen Sofas und Matratzen arrangieren sollte. Nachdem diese Frage also mehr oder weniger geklärt war, konnte man sich nun anderen Dingen, wie z.B. der Essenszubereitung oder der Strandbar (zu viele Köche verderben ja bekanntlich den Brei), zuwenden. Gemeinsames Kochen in Barra Grande Bei Reaggemusik, frischen Kokosnüssen und dem obligatorischen “cerveja” verbrachten wir einen lockeren und amüsanten Abend am Strand, wobei ich endlich die Gelegenheit hatte, mir alle Namen einzuprägen.

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Etwas später habe ich die ganze Truppe noch in helle Aufregung versetzt, indem ich beim Duschen unter freiem Sternenhimmel und ohne Licht an irgendeiner der gesprungenen Kacheln ein Stückchen Fingerkuppe eingebüsst habe. Zunächst dachte ich es wäre halb so wild, da ich so gut wie keinen Schmerz verspürte. Doch als ich immer hektischer mit dem Pflaster zu kämpfen begann und bereits das ganze Waschbecken, meine Klamotten und Teile des Fußbodens mit hellrotem Blut besudelt waren, kamen Aluísio und Selma angerannt und betteten meinen Finger in eine Hand voll Salz, um die Blutung endlich zu stoppen. Nun hatte ich Schmerzen (pra caramba!), doch nach einer zweiten Ladung Salz und ein paar Tropfen Limonensaft nahm der Blutstrom langsam ab, so dass Selma mir einen dicken Verband verpassen konnte. (An dieser Stelle nochmals vielen Dank an Oliver von der EineWelt-AG, der mir in weiser Voraussicht ein Erste-HilfePäckchen mit auf den Weg gegeben hatte.) Kleines Missgeschick Nun hatte ich also einen überdimensionalen und äußerst provokativen Stinkefinger und fragte mich zum wohl tausendsten Mal, warum so was eigentlich immer nur mir passiert. Meine allgemeine Verfassung besserte sich allerdings schlagartig, als Dona Theresa eine Hängematte hervorzauberte, in der ich die nächsten beiden Nächte verbringen durfte. Ich hatte noch nie zuvor in einer Hängematte geschlafen (es mir aber immer schon gewünscht) und dazu kam noch dieses traumhafte Ambiente. Während ich also den klaren Sternenhimmel betrachtete und dem Rauschen der nahen Wellen lauschte, breitete sich ein Gefühl von puren Glücks in mir aus und ich wäre am liebsten für immer an diesem paradiesischen Ort, in diesem unglaublichen Land, geblieben... ein paar Meter entfernt waren Aluísio, Djailton, Airí und Gilson noch in eine Diskussion vertieft. Ich war allerdings gerade so mit mir und der Welt im Einklang, dass ich mich nicht weiter daran störte - bis ich meinen Namen mehr als nur einmal vernahm, was mich natürlich zum aufhorchen brachte... Ich verstand zwar nicht alles, aber zu meinem Namen gesellten sich noch Situationen, die wir in den letzten zwei Monaten zusammen durchlebt hatten und Dinge, die ich gesagt, getan oder gefragt hatte. Nach weiteren zehn Minuten unvermeidbaren Zuhörens wurde mir schmerzhaft bewusst, dass die paar Personen, zu denen ich hier bereits Vertrauen geschlossen hatte, gerade dabei waren meine Person bis ins kleinste Detail zu analysieren und jeden Fehler bzw. “unübliche Verhaltensweise” zu kritisieren oder sich darüber lustig zu machen. Plötzlich legte sich eine tiefe Traurigkeit auf mich. Ich war noch nie so allein und fühlte mich nun klein und verlassen in einem riesengroßen, unbekannten Land, dessen Sprache immer noch fremd in meinen Ohren klang und dessen nach außen hin so freundlichen Bewohnern man offensichtlich doch nicht trauen konnte... in diesem Moment wollte ich nur noch nach Hause, zu den Menschen, die mich mögen und bei denen ich weiß, woran ich bin. Zurück zu alldem, was mir vertraut ist und Sicherheit gibt. Das Gespräch lief indes ungebremst weiter und ich konnte einfach nicht mehr zuhören, schaffte es aber auch nicht wegzuhören. Der Kloß in meinem Hals wurde immer dicker, in meinen Augen sammelten sich die ersten Tränen und in meinem Kopf tobte ein Sturm von Gedanken. Ich wollte nur noch weg, stand auf und lief zum Strand, um mir nicht noch weitere Details über mich anhören zu müssen. Ich lief und lief, ohne wirklich zu wissen 32

wohin überhaupt; meinen Blick starr auf das Meer gerichtet, ohne es jedoch wirklich wahrzunehmen. Der Gedankensturm ebbte langsam ab und an seine Stelle trat eine unendliche Leere. Aluísio und Gilson waren mir gefolgt, holten mich nun ein und sprachen mir zu. Mir war in diesem Augenblick eigentlich alles egal und so trottete ich mit ihnen zum Haus zurück. Nach einiger Zeit beruhigte ich mich wieder und nachdem ich zunächst nur schweigend dagesessen hatte, sprach ich nun mit Aluísio und Airí, die mich die ganze Zeit fragend angesehen hatten. Ich wollte von ihnen wissen, warum sie mir nicht einfach sagen können, wenn ich einen Fehler mache oder mich falsch verhalte, anstatt hinter meinem Rücken über mich zu lästern und das Vertrauen, dass ich ihnen entgegengebracht habe, mit Füssen zu treten. Daraufhin erklärten sie mir, dass sie zwar über mich gesprochen hätten, mich aber keinesfalls hintergehen oder verletzen wollten. Sie hätten lediglich die vielen großen und kleinen Unterschiede zwischen unseren Kulturen besprochen und versucht einiges besser zu verstehen. Sie entschuldigten sich bei mir und auch mir wurde plötzlich klar, dass ich die Satzfetzen, die ich aufgeschnappt hatte, vielleicht auch nur falsch verstanden oder überinterpretiert hatte - schließlich bin ich immer noch ein Portugiesisch-Anfänger und da sind Missverständnisse an der Tagesordnung. Nach diesem Gespräch beschlossen wir endlich ins Bett zu gehen und so schaukelte ich dank der Hängematte bald in den ersehnten Schlaf. Im Licht der Morgensonne sah dann auch alles schon wieder ganz anders aus und die nächsten Tage waren einfach spitze (soviel also zu innerer Ausgeglichenheit). Die meiste Zeit verbrachten wir mit Schwimmen, Sonnenbaden, Strandfußball spielen oder in der Hängematte baumeln; an den Abenden wurde dann gegrillt, philosophiert und natürlich getanzt. Die Zeit raste leider viel zu schnell dahin und ich verspürte nicht die geringste Lust, am Sonntagabend meine Sachen zu packen und nach Salvador zurückzukehren (verständlich - oder?). Zu meiner großen Freude fragte mich Joan, ob ich nicht noch mit ihr, den anderen Lehrerinnen der Escola und Aluísio zum Haus ihres Vaters nach Mar Grande kommen wollte. Dieser hätte am nächsten Tag Geburtstag und es würde ein kleines Fest geben. Ich war sofort einverstanden. Am Morgen wurden dann alle wieder in einen Kleinbus gepfercht, wobei ich mich jedes Mal frage, wie alle darin Platzt finden sollen - aber es klappt. Die etwa einstündige Fahrt war dank abwechslungsreicher Gesangs- und Trommeleinlagen alles andere als langweilig und als wir schließlich ankamen, wurde ich vom Grün der Umgebung fast erschlagen. Auf den Hügeln um uns herum wimmelte es nur so von Palmen und anderen wuchernden Pflanzungen, die nur an einigen Stellen den Blick auf kleine, einfache Hütten freigaben. Auf den grasbewachsenen Wegen spielten Kinder in Gesellschaft von weidenden Pferden und herumtollenden Hunden und all dies zusammen strahlte einfach nur Ruhe und Friedlichkeit aus. Da der Weg mit dem Bus nicht mehr zu befahren war, liefen wir das restliche Stück bis zur Hütte von Joan´s Vater. Dieser hat sich dort mit wenigen Mitteln, aber viel Mühe und Kreativität eine eigene kleine Existenz aufgebaut. Er lebt von den Erträgen, die ihm seine kleine Plantage mit Zuckerrohr, Caju, Bananen, Kokosnüssen und vieles mehr einbringt und ist glücklich. Dabei lebt er wirklich unter einfachsten Bedingungen. Die kleine, unverputzte, doch mit eigenen Händen errichtete Hütte besitzt drei Zimmer und ist nur mit dem Nötigsten ausgestattet, bietet aber somit noch genug Platz für Gäste. Gekocht wird auf einer selbstgebauten Feuerstelle vor der Tür und wer duschen möchte, muss das Wasser zunächst aus dem hauseigenen Brunnen schöpfen... Die anderthalb Tage, die wir dort verbrachten, haben mir wieder einmal eine andere Seite von Brasilien gezeigt und bewiesen, dass man auch mit (oder vielleicht sogar aufgrund von) wenigen Dingen glücklich sein kann. Wir hatten zum Beispiel einen Heidenspaß daran, mit einer Schubkarre ausgerüstet und im Gänsemarsch quer über den von allem möglichen Gesträuch überwucherten Hügel zu wandern, um in der Bar auf der anderen Seite Getränke zu besorgen. Und auch die Stromschwankungen am Abend nahmen alle ganz gelassen und als Selbstverständlichkeit hin. Wenn der Glühbirne wieder der Saft ausging, wurden eben einfach ein paar Kerzen zu Hilfe geholt. 33

Ich habe mich schon oft gefragt, wie die Menschen hier mit dem ganzen Leid und der Armut fertig werden, ohne jemals den Mut zu verlieren und einfach zu resignieren. Ich glaube der Schlüssel zu ihrem Glück liegt im Zusammenhalt, der Freude an kleinen Dingen und Gesten, sowie im tiefen und manchmal schon fast kindlich-naiven Gottvertrauen. Wo man auch hinschaut, entdeckt man Bilder von Heiligen, große JESUSSchriftzüge oder Plakate mit zitierten Bibelstellen. Besonders hier in Salvador mischt sich der katholische Glaube häufig mit dem Candomblé und buddhistischen bzw. spirituellen Ansichten. Aber vielleicht liegt gerade in dieser Vielfalt die Kraft des hiesigen Glaubens. Zurück in Salvador nahm der Alltag wieder seinen Lauf. Ich begleitete Aluísio weiterhin zu den nicht enden wollenden Versammlungen der unterschiedlichen Bereiche und lernte somit das Projekt und seine einzelnen Aufgaben immer besser kennen. Außerdem halfen mir Airí und Djailton in ausführlichen Gesprächen die Zusammenhänge besser zu verstehen und alle notwendigen Informationen für meinen 2. Bericht zusammenzutragen. An einem bis dahin ziemlich öden Sonntagnachmittag standen plötzlich Airís´s Bruder Uirá und dessen Freundin Danielle vor der Tür und fragten mich, ob ich mit ihnen zu einem Candomblé-Fest kommen möchte. Ich hatte zuvor schon einiges über Candomblé gehört und war schon ganz wild darauf, auch mal an einem dieser Feste teilzunehmen, um endlich zu erfahren, was genau daran so toll sein soll. So zogen wir also gemeinsam los. Als Danielle und Uirá nach etwa 20 Minuten Fußmarsch stehen blieben und sagten, wir wären angekommen, schaute ich mich zunächst suchend um, ohne jedoch jegliches Anzeichen von einem Fest zu entdecken. Die Beiden steuerten geradewegs auf ein ruhig daliegendes Häuschen zu, welches in bereits abblätternder blauer Farbe die Aufschrift “ILÊ AXÊ OMIM DEI” trug. Am Eingang nickten sie einem älteren Herrn zu, der daraufhin die Tür zu einem düsteren und verlassenen Treppenhaus öffnete. Als wir die steilen Stufen hinaufstiegen, hatte ich ein ziemlich mulmiges Gefühl, doch als wir im obersten Stockwerk ankamen und in die Wohnung eintraten, offenbarte sich uns eine vollkommen andere Szenerie. Verteilt auf zwei große, helle Räume, saßen verschiedene Grüppchen von Leuten und unterhielten sich, während einige in prachtvolle, weiße Gewänder gekleidete Bahianerinnen (Baianas) geschäftig durch die Gegend liefen und letzte Vorbereitungen trafen. Uirá und Danielle stellten mich zunächst noch einigen Leuten vor, bis sich schließlich alle Anwesenden im größeren der beiden Räume versammelten und auf den Bänken entlang der Wände Platz nahmen oder sich so hinstellten, dass wir letztendlich einen großen Kreis bildeten. Der Raum war erfüllt von erwartender Stille, die plötzlich durch den Klang einer einzigen Trommel durchbrochen wurde. Etwas später gesellte sich eine Zweite hinzu. Dann die Dritte und mit dem immer schneller und fordernder werdenden Trommelrhythmus traten endlich die Ritualteilnehmer ein und bewegten sich dem Rhythmus folgend in das Innere des Kreises. Außer den Baianas gehörten auch zwei Männer, die ebenfalls weiße Tücher um den Kopf gewickelt trugen und mit weiß-blauen Perlenketten geschmückt waren, zur Ritualgruppe, welche sich nun tanzend im Kreis bewegte. Das laute Trommeln und die sich im Takt dazu schwingenden, ausladenden Röcke der Baianas wirkten immer hypnotisierender. Nun stimmte einer der Männer einen flehenden und sich immer wiederholenden Gesang an, woraufhin auch der Rest des Publikums mit einfiel und zum Takt der Trommeln in die Hände klatschte. So sangen und klatschten wir eine Weile zu den wechselnden Trommelrhythmen und halfen den immer schneller tanzenden Ritualteilnehmern in Trance zu fallen. Ihre Augen waren abwesend auf den Rock des “Vordermannes” gerichtet und nur ab und zu griff jemand zum am Rockbund befestigten Tuch, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Plötzlich begann eine der Frauen am ganzen Leib zu zittern und zu zucken und laute, ungebändigte Schreie auszustoßen. Wie Danielle mir nicht mehr zu erklären brauchte, hatte sie einen Geist (Orixá) empfangen, was für die Anderen das Zeichen war sich langsam zurückzuziehen. Von der Besessenen, die nun immer wilder und ausgelassener zu tanzen begann, abgesehen, blieben lediglich zwei Begleiterinnen zurück. Eine der 34

Beiden hielt eine Rassel in der Hand, mit der sie die Besessene führte, wenn diese drohte aus dem Kreis auszubrechen. Die Andere wischte ihr den Schweiß von Gesicht, Hals und Armen oder stimmte sie zu neuen Tanzbewegungen an. Die Ausbrüche und Schreie häuften sich und nahmen immer weiter an Intensität zu. Die Besessene warf wild den Kopf hin und her, verdrehte die Augen und - ich kann mir auch nicht helfen, aber manchmal benahm sie sich wie eine Henne, die verzweifelt versucht ein Ei zu legen. In diesem Moment war mir aber gar nicht zum Lachen zumute. So etwas hatte ich noch nie zuvor miterlebt und ich war erfüllt von einer Mischung aus Furcht und Faszination. Zudem war der Raum von einer unglaublichen Schwüle, die sich schwer auf Geist und Körper legte, erfüllt. Irgendwann stoppten die Trommeln und es war als erwache man aus einem Traum. Die Besessene wurde in den Nachbarraum geführt, und man konnte noch den ein oder anderen gedämpften Schrei vernehmen. Das Publikum strömte indessen auf die Dachterrasse, wo die frische Luft und kühler, süßer Wein mit Apfel- und Traubenstückchen für Erfrischung sorgten. Nach einer etwa halbstündigen Pause wurde das Ritual wiederholt, wobei diesmal sogar zwei Baianas einen Geist empfangen konnten. In der nächsten Pause geschah dann etwas womit keiner - am wenigsten ich - gerechnet hatte. Eine Frau, die eben noch ganz normal dagesessen hat und in eine ruhige Unterhaltung vertieft war, sprang plötzlich auf und fauchte einen vorübergehenden Jugendlichen an. Sie hatte die Augen halb geschlossen, so dass man nur noch das Weiße sehen konnte und ihre Stimme klang seltsam tief und knurrend. Sie drängte ihn in eine Ecke, redete ununterbrochen befehlend auf ihn ein und stieß bedrohende Gesten aus. Letztendlich wurde sie von zwei Männern weggeführt und beruhigt. Nicht nur der Jugendliche, der nicht gewagt hatte ihr etwas entgegenzusetzen, sondern auch alle anderen Anwesenden waren von diesem Vorfall irritiert und ein wenig schockiert, so dass es ein Weilchen dauerte, bis die Unterhaltungen wieder aufgenommen wurden. Vor dem dritten und letzten Durchgang verteilte eine Baiana an Jeden eine Hand voll Blütenblätter. Diesmal verlief das Ritual ein wenig anders. Eine der Baianas trug statt dem typischen weißen nun ein prachtvolles goldenes Gewand. Ihr Gesicht wurde von einem Perlenschleier verdeckt und in den Händen trug sie einen goldfarbenen Säbel und einen reich verzierten Spiegel. Wie Danielle mir verriet, repräsentierte sie einen Orixá, also eine der Gottheiten des Candomblé, und das Fest wurde zu ihren Ehren abgehalten. Auch sie tanzte ausgelassen durch die Gegend und wir warfen ihr die Blütenblätter zu, als sie sich in unserer Nähe befand. Zum krönenden Abschluss der Zeremonie kniete sie in der Mitte des Raumes nieder, während die anderen Teilnehmer ihren Überrock am Saum packten und ausbreiteten. Von der Decke rieselten nun weitere bunte Blütenblätter auf sie herab, die in ihrem Rock aufgefangen wurden. Es war ein zauberhafter Anblick, den ich wohl so schnell nicht vergessen werde.

Krönender Abschluss bei einem Candomblé-Ritual Anschließend gab es für alle noch reichlich Reis und Bohnen zu essen. Wir verabschiedeten uns allerdings recht bald, denn ohne es zu bemerken, hatten wir über vier Stunden dort verbracht und es war bereits ziemlich spät geworden. Obwohl das Ritual teilweise ziemlich furchteinflößend auf mich wirkte, war der Abend doch eine faszinierende Erfahrung für mich und ich hoffe, in Zukunft noch einmal die Gelegenheit zu bekommen an einem solchen Fest teilzunehmen. 35

Für alle, die mehr über die Religion Bahias und vor allem über Candomblé erfahren möchten, habe ich den folgenden Abschnitt beigefügt. Der Text stammt von Dirk van Kerckhove, einem guten Freund “der Familie”. Er ist gebürtiger Belgier, lebt aber bereits seit über zwölf Jahren in Salvador und hat eine Homepage über Bahia verfasst, die er im Laufe dieses Jahres veröffentlichen möchte. Er hat mich gebeten die deutsche Übersetzung für ihn anzufertigen und hier sind sozusagen schon mal die ersten Ergebnisse: RELIGION Die in Bahia vorherrschende Religion ist der Katholizismus, welcher von den Portugiesen in dieses Land gebracht wurde. Bei ihrer Ankunft in Brasilien versuchten diese ersten Kolonialherren die heimischen Indios und später dann auch die aus Afrika geholten Sklaven mit Gewalt zu bekehren und sie dazu zu zwingen ihren bisherigen Glauben abzulegen. Doch die indianischen Kulte und vor allem die afrikanischen Religionen waren in den Menschen so stark und tief verwurzelt, dass sie es geschafft haben die Verfolgung durch die katholische Kirche zu überdauern. Die schwarzen Sklaven entwickelten eine Entsprechung zwischen ihren eigenen Gottheiten und den Heiligen der katholischen Kirche; so konnten sie, unter der Vorgabe sie feierten die katholischen Heiligen, die Feste für ihre eigenen Gottheiten zelebrieren. Diese Entsprechung zwischen den katholischen Heiligen und den afrikanischen Gottheiten wird “religiöser Synkretismus” genannt. Dieser Ausdruck umschreibt heute in seinem weitläufigstem Sinne auch die von der lokalen katholischen Kirche “tolerierte” Mischung von ursprünglich “richtigen” Riten und Bräuchen mit den Brauchtümern und Ritualen der afrikanischen Religionen. Es ist nicht zu leugnen, dass die afro-bahianische Religion, welche allgemein Candomblé genannt wird, bis heute große Macht besitzt und starken Einfluss auf die Bevölkerung Bahias ausübt. Mit der Praktizierung von Candomblé wurden die wesentlichen Elemente der kulturellen Identität der nach Brasilien verschleppten Afrikaner bewahrt. Darum behandelt der Rest dieses Kapitels über “Religion” ausschließlich den Candomblé, denn dieser ist verantwortlich für die zwei wichtigsten Aspekte der bahianischen Persönlichkeit: Wissen und Glaube. Außer dem Katholizismus und dem Candomblé existieren in Bahia natürlich noch unzählige andere Religionen, Sekten und Kulte mit ihren Glaubensanhängern. Dazu zählen: Protestanten, Adventisten, Zeugen Jehovas, Spiritisten, Buddhisten und viele mehr. Unter den typischen und lokalen Glaubensrichtungen verdient eine allerdings noch besondere Erwähnung: die Macumba, welche eine Mischung aus Spiritismus, Candomblé und indianischen Glauben darstellt. CANDOMBLÉ Wie der Candomblé nach Brasilien und Bahia kam Bei den Reisen um 1500 wurden auf den Schiffen unzählige Sklaven, die aus den verschiedensten Stämmen Afrikas kamen, nach Brasilien transportiert. Es waren Schwarze, die als Sklaven eingefangen wurden, jedoch eigenständige Leben mit traditionellen Bräuchen und Glaubensvorstellungen samt eigenen Göttern und Legenden besaßen. Diejenigen, die die Möglichkeit dazu hatten, schafften es, einige Erinnerungen an ihr Heimatland mitzuführen oder, im besten Fall, ein unzertrennbares Band zu ihren 36

Wurzeln und ihrer Kultur herzustellen. Diese Erinnerungen waren typischerweise eine Hand voll der geliebten Erde, ein Stein namens “Otá”, eine Wurzel oder ein Samenkorn eines Baumes. Jedes dieser Objekte besaß eine ganz besondere Bedeutung für sie, da sie zusammen mit ihnen auch ihre eigenen Gottheiten, die Orixás genannt werden, mitbrachten, welche für sie bei der Heilung von Krankheiten, sowie dem Schutz und der Reinigung des Körpers von großem Nutzen waren. Später benutzten sie diese Objekte zur Pflege ihres Kultes, den sie vor den Augen ihrer “portugiesischen Herren” verstecken mussten, da jene jeglichen religiösen Kult verboten, der von ihrer eigenen Religion, der römisch-katholischen Kirche, abweichte. Die Kulte variierten je nach dem Herkunftsort der Sklaven, wurden aber mit dem Begriff “Candomblé” zusammengefasst. Die nach Brasilien geschafften Sklaven stammten größtenteils aus dem alten Guinea (welches den Senegal und Sierra Leone mit einschloss), Angola und der Elfenbeinküste. Unter diesen Sklaven waren Angehörige der verschiedensten Stämme, wie z.B. Nagô, Jêje und Ketu, welche auch heute noch zu den kulturell am stärksten vertretenen Stämmen Bahias zählen. Die Ursprünge und Wurzeln des Candomblé Die aus Afrika eingeführten Kulte sind für ihren Monotheismus, welcher den Glauben an die Existenz eines einzigen und höchsten Gottes beschreibt, bekannt. Unter den Nâgos wird dieser Olorum genannt, was soviel wie Herr oder Beherrscher des Himmels bedeutet. Er besitzt aber auch noch viele andere Namen. Diese sind unter anderem: Olodumare, der Herr des ewigen Schicksals; Oduduá, der der von selbst existiert und der Erde gleich ist; sowie Obatalá, König oder Unsterblicher. Wie in anderen monotheistischen Religionen auch, besitzt diese höchste Gottheit weder Altäre noch einen organisierten Gottesdienst und kann auch nicht materiell dargestellt werden. Olorum schuf Himmel und Erde, führte danach sein Schöpfungswerk allerdings nicht zu Ende. Stattdessen gab er den “Sack der Schöpfung” an seinen Sohn Oxalá weiter, damit dieser die Menschheit schöpfen konnte. Aber Oxalá machte sich auf den Weg, ohne die gebührenden Opfer an Êxu, welcher den Vermittler oder Boten zwischen den Orixás und den Menschen darstellt, zu entrichten. Zur Strafe sorgte Êxu dafür, dass Oxalá von großer Hitze und Durst befallen wurde. Als Oxalá dann auf eine Palme traf, aus der Palmwein sprudelte, trank er gierig davon und fiel betrunken in einen tiefen Schlaf. Daraufhin nahm Olorum den “Sack der Schöpfung” wieder an sich und beendete die Erschaffung der Welt. Für Oxalá blieb nun nur noch die Schöpfung der Menschenrasse übrig. Er formte kleine Püppchen aus Lehm, backte sie und Olorum hauchte ihnen letztendlich Leben ein. Demzufolge kann Oxalá, welcher der Sohn des höchsten Gottes ist, einfach mit dem Jesus Christus des Christentums identifiziert werden. Die übrigen Gottheiten nehmen untergeordnete Positionen ein und man kann sie sozusagen als Delegierte oder Minister des höchsten Gottes Olorum betrachten. Sie sind allgemein als Orixás (auf Nagô) oder Voduns (auf Jêje) bekannt.

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Am 17. Dezember wurde unserer Schule die große Ehre zu Teil an einer Veranstaltung in der “Câmara Municipal”, dem Bürgeramt Salvadors, teilzunehmen. Aluísio war als Gastredner geladen und die Englischgruppe meiner Freundin Carmen hatte einen Auftritt vorbereitet. Die Kinder und Jugendlichen hatten in harter Arbeit englische Friedenslieder einstudiert, um so ein Zeichen gegen den Konflikt zwischen den USA und dem Irak zu setzen. Sie sangen unter anderem “Imagine” von John Lennon und es lag wohl nicht nur an der Klimaanlage, dass ich plötzlich eine Gänsehaut verspürte.

Präsentation in der Câmara Municipal Nun habe ich schon so viel über den Dezember geschrieben und noch kein einziges Wort über Weihnachten verloren. Dies liegt wohl auch daran, dass die Feiertage zwar immer näher rückten, Weihnachten für mich jedoch fern blieb. Natürlich wurde auch hier gefeiert, allerdings anders, ganz anders. Es stellte sich einfach keine Adventsstimmung ein, was bei 34 C und prallem Sonnenschein wahrlich kein Wunder ist. Weihnachten in Brasilien

Die Kaufhausweihnachtsmänner schwitzten sich in ihren langen Sachen fast zu Tode; unzählige Sonderangebote in den Supermärkten versprachen Billigpreise - in Wirklichkeit wurde jedoch alles teurer; statt echten Tannenbäumen wurden Plastikersatz oder geschmückte Palmen aufgestellt; und auch bei der Weihnachtsfeier in der Cooperativa gab es neben den Plätzchen hauptsächlich saftige Früchte und eisgekühlte Getränke...

Aluísio verteilt Leckereien bei der Weihnachtsfeier in der Cooperativa Eine Sache habe ich allerdings als sehr positiv empfunden: bis auf wenige Ausnahmen blieb mir der Lichterketten-Terror in diesem Jahr erspart (Graças a Deus)! Ansonsten bedeutet Weihnachtszeit hier in Salvador anscheinend Reisezeit. Die, die es sich irgendwie leisten können, nutzen die freien Tage, um entfernte Verwandte zu besuchen oder fernab von der Großstadt mal so richtig zu entspannen. Wir wollten unseren Weihnachtsurlaub wieder in Dona Theresa´s Casa verbringen und ich platzte 38

schon fast vor Vorfreude. Einen Tag vor der geplanten Abreise erfuhren wir jedoch, dass das Haus bereits belegt war und mussten unsere Pläne kurzfristig ändern. Stattdessen sollte die Reise nach Salinas da Margarida, zum leerstehenden Haus einer Bekannten, gehen. Bevor es allerdings losgehen konnte, habe ich mir noch so einen richtig fiesen Magen-Darm-Virus eingefangen, so dass ich während der vierstündigen Reise mit Fähre und Bus hauptsächlich damit beschäftigt war die beunruhigenden Gurgelgeräusche aus meinen Gedärmen zu ignorieren und im Schlaf Zuflucht zu suchen. In Salinas angekommen dauerte es zunächst noch ein Weilchen, bis ein Nachbar den Schlüssel hervorgekramt hatte. Als sich die Tür dann endlich öffnete, konnte man an der Wolke von muffiger Luft die uns entgegenschlug, sofort erkennen, dass dieses Haus seit über einem Jahr nicht mehr betreten worden war. Während die anderen damit beschäftigt waren alle Fenster und Türen aufzureißen, rannte ich schnurstracks zur Toilette, um dringendere Angelegenheiten zu erledigen. Ich öffnete die Tür, suchte nach dem Lichtschalter und schreckte kreischend zurück, als ich etwas sehr Haariges über meine Hand krabbeln spürte. Als ich mich dann in Begleitung von Airí wieder hinein traute, mussten wir zunächst feststellen, dass es an einer Glühbirne mangelte und man so nicht viel sehen konnte. Zum Glück hatten wir ein paar Kerzen eingepackt, so dass wir die “Schreckenskammer” von einer handtellergroßen Spinne, einer ausgewachsenen Kröte und drei Kakerlaken befreien konnten. Ich bin allerdings bis heute davon überzeugt, dass wir immer noch einige “Bewohner” übersehen haben. Der Rest der Wohnung war in nicht viel besserem Zustand. Überall hingen Spinnweben und alles war von einer zentimeterdicken Staub- und Dreckschicht bedeckt. Da es jedoch schon ziemlich spät war und wir alle von der Reise wie erschlagen waren, kehrten wir nur einmal grob durch und bereiteten dann unsere Nachtlager so gut wie möglich vor. Obwohl ich todmüde war, konnte ich einfach keinen Schlaf finden. Wo man auch hinsah oder hörte krabbelten, krochen, hüpften und flogen Insekten, Fledermäuse und wer weiß welches andere Getier rum; und wenn ich nicht gerade von erbarmungslosen Magenkrämpfen gefoltert wurde, hing ich auf dem Klo. Ich musste einfach etwas trinken und beschloss mir einen Tee zu machen. Als ich aber einen Topf aus dem Regal nahm, weckte ich die Kakerlakenfamilie, die darin wohnte und sah von diesem Vorhaben ab. Ich hatte bereits bedenklich viel Flüssigkeit verloren, konnte aber auch kein Wasser trinken, da der Filter noch nicht gereinigt war und ungefiltertes Wasser die Situation nur noch verschlimmert hätte. Nun machten sich die ersten Kreislaufbeschwerden bereits bemerkbar, so dass ich zu nicht viel mehr in der Lage war, als in regelmäßigen Abständen zum Klo zu kriechen und mir zu wünschen, dass diese schreckliche Nacht in diesem ekelhaften Haus endlich ein Ende nahm. Zu meinem Glück wachte Airí wenig später auf und blieb die ganze Nacht bei mir. Sie kochte Tees (die ich allerdings nicht lange bei mir behielt), bereitete mir eine Zucker-Salz-Lösung, um meinen Flüssigkeitshaushalt wieder einigermaßen auszugleichen, las mir Passagen aus der Bibel vor und war einfach da, als sich mein ganzer Körper gegen mich zu verschwören schien. Irgendwann graute der Morgen des 24. Dezembers, Hähne krähten in den Gärten der Nachbarschaft und ich hatte das Schlimmste überstanden. An diesem Tag wurde ich mit den bittersten Kräutertees, die man sich überhaupt vorstellen kann, abgefüllt, nahm weiterhin die aus Deutschland mitgebrachte Medizin und ernährte mich ansonsten hautsächlich von Kokoswasser und Bananen. Dies alles zusammen schien zu helfen, so dass ich zwischen den Toilettenaufenthalten sogar schon bei der Grundreinigung des Hauses mithelfen konnte. Danach konnte man sich darin sogar einigermaßen wohlfühlen und der Mensch gewöhnt sich ja bekanntlich an alles. Djailton schlägt eine Kokosnuss für mich auf 39

Lustiges Beisammen-sein in unserem Haus in Salinas

Am Abend wollte ich mit meinen Eltern telefonieren und freute mich bereits die ganze Zeit darauf. Eine Freundin aus Salvador, deren Familie nur einige Häuser entfernt wohnte, hatte mir zuvor ihre Nummer gegeben, so dass ich dort zu einer vereinbarten Zeit angerufen werden konnte. Nachdem ich aber bereits eine halbe Stunde vergeblich auf den Anruf meiner Eltern gewartet hatte, stellten wir fest, dass die Nummer nicht stimmte. Da man mit diesem Telefon aber nur Anrufe entgegennehmen und nicht selbst anrufen konnte, machte ich mich mit Aluísio auf den Weg, um ein öffentliches Telefon zu suchen. Das Neunte gab dann auch endlich ein Lebenszeichen von sich, so dass wir in Erfahrung bringen konnten, dass man in diesem Kaff von öffentlichen Telefonen aus keine Auslandsgespräche führen kann (dies ist anscheinend nur in Großstädten wie Salvador möglich). Durch Zufall trafen wir auf der Straße einen kleinen Jungen aus Mangueira, dessen Familie Aluísio gut kannte, und wir versuchten von ihrem Telefon aus in Deutschland anzurufen, kamen aber nicht durch, so dass wir ohne etwas erreicht zu haben, zum Haus zurückkehrten. Meine körperliche und geistige Verfassung befand sich dementsprechend im absoluten Minusbereich. Dies sollte also Weihnachten sein. Ich hätte Airí gerne zur Christmette begleitet, um wenigstens ein bisschen in Stimmung zu kommen, aber der Gedanke, zwei Stunden ohne eine Toilette in unmittelbarer Nähe auszukommen, ließ mich dann doch in unserem so gemütlichen Heim verweilen. Als Airí zurückkehrte, wurde unser Weihnachtsfestmahl, welches aus Panetone (einer Art Christstollen), Käse und trockenem Weißwein bestand, aufgetischt. Ich konnte von allem aber nur ein bisschen kosten, da mein Verdauungssystem immer noch eigenen Gesetzen folgte. Danach gingen alle recht früh ins Bett, d.h. ich legte mich auf die unglaublich dicke, versiffte Schaumstoffmatratze auf dem Fußboden und neben dem bereits bekannten Krämpfe- und Toilettenszenario habe ich den Großteil der Nacht heulend und “mich-nach-Hause-wünschend” verbracht. Am nächsten Vormittag schaffte ich es, dank Aluísio´s Bekanntheitsgrad, im Haus der Tante des zuvor getroffenen Jungen, sprich bei Leuten, die weder ich noch Aluísio je zuvor gesehen hatten, mit meinen Eltern zu telefonieren. Dies machte alles allerdings nur noch schlimmer, so dass ich einen Brief an sie verfasste, in dem ich lang und breit erklärte, dass sechs Monate Brasilien mehr als genug sind und sie sich nicht weiter um ein neues Visum für mich zu bemühen bräuchten. Zu allem Übel kam noch hinzu, dass ohne Vorwarnung in der ganzen Stadt das Wasser abgestellt wurde. Dieser Tag war - wie sollte es auch anders sein - unerträglich heiß und man konnte nicht einfach mal eine erfrischende Dusche nehmen. Zudem stapelte sich in der Spüle bereits der Abwasch, an Kochen oder Waschen war nicht zu denken, und die Toilettenspülung funktionierte auch nicht. Zum Glück konnten wir bei unseren Freunden, die einen kleinen Wassertank besitzen, Trinkwasser holen. Mir ist vorher nie so richtig bewusst gewesen, für was man im täglichen Leben so alles Wasser braucht, da es ja immer wie selbstverständlich aus der Leitung geflossen kam. Ich bewundere wirklich die 40

Menschen im trockenen Nordosten Brasiliens, die manchmal wochenlang fast ohne Wasser auskommen müssen und sich bereits darauf eingestellt haben. Ich war auf jeden Fall sehr erleichtert, als die Wasserpumpen im Laufe der Nacht wieder angestellt wurden und freute mich über jeden Tropfen. Die nächsten Tage verliefen ziemlich eintönig. Wir hingen eigentlich die meiste Zeit im Haus rum und nahmen nur selten die halbe Stunde Fußmarsch, um zum Strand zu gelangen, in Angriff. Ein wenig Abwechslung gab es glücklicherweise beim Cashewkernerösten. Endlich wurde für mich das große Geheimnis um die Herkunft dieser leckeren Kerne gelüftet. Diese fallen nämlich nicht bereits fertig verpackt von den Bäumen, sondern “verstecken” sich zunächst noch in einer anderen Frucht, der Caju. Diese schmeckt ziemlich süß und sieht aus wie eine geschrumpfte Paprika mit einer dicken Bohne als Stiel. Diesen Stiel hielt ich bis zu diesem Tag für Biomüll und wunderte mich schon, warum er immer aufgehoben wurde. Wenn man aber eine große Menge davon in offenem Feuer röstet und dann die verkohlte Schale mit Hilfe eines Steines aufbricht, offenbart sich - welches Wunder - der Cashewkern. Die ganze Prozedur ist ziemlich aufwendig und nun weiß ich zumindest jeden einzelnen Kern zu schätzen; und so selbst “hergestellt” schmeckt er dreimal so gut. Mühsames Cashewkerne-Knacken Mit der Ankunft von Uirá, Danielle und Gilson kam zum Glück ein wenig Schwung in die Bude. Wir gingen öfter zum Strand oder schlenderten durch die Straßen des Städtchens, welches allerdings ansonsten nicht viel mehr zu bieten hatte. Die Tage vergingen ohne sich großartig voneinander zu unterscheiden, mein Körper regenerierte sich langsam aber sicher wieder und eines Abends stand Silvester vor der Tür. Wir verbrachten die Nacht in einem der vielen Restaurants am Strand, dessen Kellnerinnen uns bereits kannten und warteten auf das neue Jahr. Dieses wurde, wie auch hier in Brasilien üblich, mit einem Feuerwerk begrüßt. Das besonders Tolle daran war aber, dass wir nicht nur dieses eine, sondern auch die Feuerwerke der drei umliegenden Inseln bestaunen konnten. Man wusste manchmal echt nicht mehr, in welche Richtung man schauen sollte, um nichts von dem Spektakel zu verpassen. Am Ende der zehn Tage in Salinas waren wir alle des ganzen Ausruhens und Nichtstuns ziemlich überdrüssig, so dass wir beinahe euphorisch unsere Sachen packten und nach Salvador zurückkehrten. Wieder “zu Hause” angekommen, änderte sich auch meine Einstellung zur Aufenthaltsdauer in Brasilien. Um Nichts in der Welt möchte ich all dies missen und jeder Tag, den ich hier verbringen kann, ist kostbar. Deshalb rief ich auch bald meine Eltern an, um sie vor dem Brief, den ich in Salinas geschrieben hatte, zu warnen und zu erklären, dass ich auf jeden Fall, nach meinem “Heimaturlaub” Ende März, zurückkehren möchte, will und muss. Dies war also der Dezember mit all seinen Höhen und Tiefen, die mich so Einiges - vor allem über mich selbst - gelehrt haben. Mal schauen, welche Überraschungen das neue Jahr noch so bereithält... Also bis demnächst - Anne

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4. Bericht Januar 2003

Anne Wenk

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Besonders spektakulär fing er ja nicht gerade an – der Januar. Nach unserem fast zweiwöchigen Aufenthalt in Salinas gab es noch so einiges in Ordnung zu bringen und zu organisieren. Ich nutzte die Zeit, um mich meinem Bericht zu widmen und zusammen mit Uirá und Danielle Salvador kennenzulernen. Außerdem freute ich mich mit Airí schon seit langem auf den 2. Teil der „Herr der Ringe“-Trilogie, der in Brasilien im englischen Originalton mit portugiesischen Untertiteln ausgestrahlt werden sollte. Wir hatten uns den ersten Sonntag des Monats ausgesucht und waren extra früh mit dem Bus in die Innenstadt gefahren, um mit Sicherheit noch Karten zu ergattern. Zwei Stunden später saßen wir mit Gratispopcorn in den Händen und auf die kleine Leinwand gerichteten Augen im ausverkauften Saal. Nach dem viel belachten, beredeten und schier endlosen Vorspann begann auch irgendwann der Film und zog das Publikum von Anfang an in seinen Bann. Alle - bis auf Airí, denn die verschwand schon nach den ersten paar Minuten auf die Toilette, kehrte nach einer geraumen Weile zurück und fragte, was in der Zwischenzeit alles geschehen sei, nur um zehn Minuten später wieder den Saal zu verlassen. Beim dritten Mal kam mir die Sache schon sehr seltsam vor und ich begleitete sie, um rauszukriegen was los sei. Ihr ging es ziemlich übel und allein die Farbe ihres Gesichtes sprach Bände. Um sicherzugehen, ob es sich hierbei um eine unangenehme Krankheit oder doch die ersehnte Schwangerschaft handelte, beschlossen wir zurück in unseren Stadtteil zu fahren und ein Hospital aufzusuchen. Dort wurden wir zuerst von einem zum anderen gereicht, bevor die ernüchternde Auskunft kam, dass sich zurzeit kein Gynäkologe im Haus befände. Dies war eigentlich zu erwarten gewesen, denn wie Airí mir beteuerte, verreckt man an einem Sonntag in Brasilien eher auf der Rampe zur Notaufnahme als auf ärztliche Hilfe zu treffen. Also mussten wir uns noch bis zum folgenden Dienstag gedulden, denn auch für Montag war beim besten Willen kein Termin mehr zu ergattern. Nach fünf Stunden Warten und Händchenhalten hatte ich bereits alle herum-liegenden Zeitschriften, die wie üblich nichts Informatives oder gar Interessantes enthielten, ein- bis zweimal gelesen. Das Wartezimmer leerte sich langsam, doch von Airí gab es immer noch keine Spur. Irgendwann kam sie dann endlich mit einem fetten Grinsen im Gesicht auf mich zu und wir fielen uns voller Freude über ihre Schwangerschaft in der vierten Woche in die Arme. Ein kleines Stückchen weiter spielte sich das gleiche Schauspiel vor Freude über eine Nicht-Schwangerschaft ab. Am Abend stürmten die Familien und Freunde von Airí und Djailton die casa und alle waren ganz aus dem Häuschen. Diese Freude wurde dann natürlich mit ausreichend cerveja begossen. Ansonsten hatte ich ziemlich viel Rennerei mit den Dokumenten für mein VoluntarierVisum, wobei mich die brasilianische Gemütlichkeit oft zu Warten lehrte. Und auch in Deutschland hatten meine Eltern alle Hände voll damit zu tun, Dokumente übersetzen, beglaubigen und überbeglaubigen zu lassen, dabei die Übersicht zu bewahren und auch noch Portugiesisch zu erraten. So um Mitte Januar trudelte dann auch ihr Weihnachtspaket an mich in der casa ein, und der Duft von Zimt, Apfel und Lebkuchen vermischte sich mit der schweren, heißen Luft des brasilianischen Sommers. Vom 16. bis 18. Januar fand die „Lavagem do Bonfim“, einer der höchsten Feiertage in der Candomblé-Religion, statt. Die in weiß gekleideten Baianas „waschen“ zu diesem Anlass die Treppenstufen der berühmten BonfimKirche mit Blumen und geweihtem Wasser; die ganze Stadt ist auf den Beinen und pilgert vom Mercado Modelo aus zusammen mit den Baianas, die die Krüge mit den Blumen und dem Wasser auf dem Kopf balancieren, in einem unablässigen Strom die 9 km in Richtung Bonfim. Baianas mit Krug auf dem Kopf 43

Wie bei so vielem, was ich in Brasilien bisher erleben durfte, war auch meine Teilnahme am 3. FORUM SOCIAL MUNDIAL (FSM) – oder auf deutsch 3. WELT SOZIAL FORUM (WSF) - eher Zufall. Genauer gesagt war es wieder einmal Djailton, der mir eines Tages davon berichtete und mich fragte, ob ich nicht mitkommen mag, denn er und Airí hätten auf jeden Fall vor, nach Porto Alegre in Rio Grande de Sul, dem südlichsten von Brasiliens 26 Bundesstaaten, zu fahren. Für mich war die Entscheidung nicht sofort klar. Am selben Wochenende sollte in Salvador nämlich das vielversprechende „FESTIVAL DE VERÃO“ veranstaltet werden, ein großes Musikfestival, bei dem nahezu alle bekannten Bands und Musiker Brasiliens (wie z. B. Cidade Negra, Olodum, Gilberto Gil...) auftreten sollten. Aber die Vorstellung, einmal quer durch Brasilien zu reisen und mit Menschen aus der ganzen Welt, hauptsächlich natürlich aus Südamerika, Meinungen und Ideen auszutauschen, war einfach verlockender als in Salvador zu bleiben. Die ersten beiden Welt Sozial Foren fanden in den Jahren 2001 und 2002 ebenfalls in Porto Alegre statt. Grundidee dieser Veranstaltung ist es, soziale Bewegungen und Organisationen zusammenzubringen, um gemeinsam nach neuen Möglichkeiten und Wegen zu suchen, in einer immer stärker zur Globalisierung neigenden Welt Frieden und Gerechtigkeit zu schaffen. Somit stellt das Welt Sozial Forum eine Art Gegenpol zum Welt-Wirtschafts-Forum, das in diesem Jahr nahezu zeitgleich in Davos stattfand, dar. Während sich in Davos Politiker und Wirtschaftsexperten zusammensetzen, bietet das WSF der zivilen Bevölkerung Raum zu Meinungsaustausch und Diskussionen, wobei die Teilnahme von Politikern von Anfang an abgelehnt wurde. Aufgrund der Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Anliegen sei es sowieso gar nicht möglich, eine einheitliche politische Lösung als Endprodukt vorzulegen. Und doch scheint es etwas, vor allem in den Köpfen der Teilnehmer, deren Zahl von Jahr zu Jahr wächst, zu bewegen. Angefangen hat es 2001 noch mit 2500, im folgenden Jahr waren es schon 50000 und in diesem Jahr sprengten über 100000 Teilnehmer, die 5717 verschiedene Organisationen aus 156 Ländern repräsentierten, fast den Rahmen des Machbaren. So gab es an jedem der fünf Veranstaltungstage durchschnittlich 321 verschieden „Werkstätten“, die sich mit den unterschiedlichsten Anliegen wie z.B. Landverteilung, Hunger, Erziehung, Krieg, Demokratie, Neo-Liberalismus, Menschenrechte, Rassen- und Geschlechtergleichheit, Umwelt, Wasser, Energie u.v.m. beschäftigten. Nun aber zu meinen ganz persönlichen Eindrücken und Erfahrungen, die ich beim WSF und auch auf der langen Reise dorthin sammeln konnte. Zunächst hatten wir großes Glück, dass Djailton sechs Plätze in einem der beiden Reisebusse, die von der Jugend der PT (Arbeiterpartei Brasiliens) und der MST (Bewegung der Landarbeiter ohne eigenen Landbesitz) gemietet wurden, ergattern konnte. So konnten wir zumindest bei den Fahrtkosten schon ein ganzes Stückchen Geld sparen. Das Forum selbst sollte vom 24. bis zum 28. Januar stattfinden und so wurde die Abfahrt in Hinblick auf die zurückzulegende Distanz von etwa 3100 km und die zum Teil miserablen Straßenzustände, die durch heftige Unwetter und Erdrutsche noch verschlechtert wurden, für den 20. Januar festgesetzt. Obwohl sich ein Großteil der Mitreisenden sogar pünktlich um 18 Uhr am Treffpunkt einfand, konnte es erst nach sieben Stunden zermürbender Wartezeit richtig losgehen, da zunächst der Bus nicht kam, dann das Erscheinungsbild und die Zuverlässigkeit eines der beiden Busse von einigen besorgten Müttern stark angezweifelt wurden und zu guter Letzt auch noch mehr Leute mitfahren wollten, als auf der Liste eingetragen waren. All diese Probleme wurden jedoch äußerst demokratisch und dementsprechend schleppend gelöst, so dass zur Abfahrt sämtliche Nerven blank lagen und die Mehrheit der Reisenden schnell in den ersehnten Schlaf verfiel. Dieser dauerte aber nicht besonders lange an, da wir in jener ersten Nacht eine Rundfahrt durch den Bundesstaat Bahia veranstalteten, um weitere Mitfahrer aus abgelegeneren Städten einzusammeln. Am folgenden Tag lernte ich einige meiner Platznachbarn näher kennen, und wenn wir nicht gerade in Gespräche vertieft waren, starrte ich aus dem Fenster auf die 44

vorüberziehende Landschaft oder schlief ein wenig. Alle vier bis fünf Stunden machten wir eine Pause an einem großen Rasthof, um etwas zu essen und eine erfrischende Dusche zu nehmen, doch die Pausen waren immer relativ kurz, weil wir ja schon vor der Abfahrt sehr viel Zeit eingebüßt hatten und nicht erst zum Ende des Forums in Porto Alegre ankommen wollten. Da die Brasilianer aber an sich ein sehr geselliges und grundsätzlich fröhliches Völkchen sind, wurde am Abend und bis spät in die Nacht eine Busparty veranstaltet. Wir hatten sogar das Glück eine kleine Kapelle mit an Bord zu haben, welche sich bald im Mittelgang formierte und für ausgelassene Stimmung sorgte. Irgendwann hielten es nur noch Wenige auf ihren Sitzen aus, und so wurde lustig über Lehnen geklettert, um die kreisende Weinflasche entgegenzunehmen und auch das restliche Businventar wurde nicht verschont, sondern als Trommelersatz benutzt. Der Busfahrer meldete sich lediglich, wenn wir uns einem Polizeiposten näherten und augenblicklich saßen alle wieder aufrecht und mucksmäuschenstill auf ihren Plätzen. Es dauerte aber selten lange, bis das Chaos wieder die Oberhand gewann und mit vollem Einsatz getanzt, gesungen und gelacht wurde. Am nächsten Morgen brach eine der Radachsen an unserem Bus, so dass es diesmal jeder schaffen konnte, unter die eine funktionierende Dusche zu springen. Nach etwa zweieinhalb Stunden versammelten sich alle gut gelaunt und in Aufbruchstimmung um den reparierten Bus, doch nach wenigen Metern brach die nächste Achse und der Bus konnte wieder zurück in die Werkstatt rollen. Statt genervt in der Ecke zu sitzen und den Bus zu verfluchen, wurden kurzerhand die Instrumente wieder ausgepackt und der Parkplatz zur Tanzfläche erklärt. Anderenorts wurde jongliert oder Ball gespielt und so wurde aus der unfreiwilligen Pause ein amüsanter und bewegter Nachmittag. Ausgelassene Stimmung bei unfreiwilligem Halt In der folgenden Nacht kamen wir in die vorhergesagten Unwetter und irgendwann wachte ich auf und konnte nicht mehr einschlafen, da ich das Gefühl hatte, der Bus würde jeden Moment umkippen. Ich hangelte mich in den vorderen Teil des Busses und bat um Eintritt in die Fahrerkabine, um herauszufinden was los war. Dort saß auch schon David, der eigentlich aus Spanien kommt, aber bereits seit einigen Monaten durch Südamerika reist, und diskutierte mit dem Busfahrer über die Musik. Davon bekam ich allerdings nur die Hälfte mit, denn mit Davids starkem spanischen Akzent hatten selbst die Brasilianer schon so ihre Problemchen und für mich als Deutsche, mit immer noch sehr eingeschränkten Portugiesischkenntnissen, war es schier unmöglich irgendwelche Zusammenhänge herauszuhören. Stattdessen beobachtete ich die Strasse und nun wunderte mich überhaupt nichts mehr. So etwas hatte ich noch nie gesehen; Schlaglöcher so groß wie Gartenteiche, dazu verwandelten sintflutartige Regenfälle und Erdrutschspuren die Fahrbahn in einen Slalomparkour, den der Busfahrer mit erstaunlicher Routine meisterte. Am nächsten Tag sind wir dann fast ohne Pause durchgefahren. Nicht nur diejenigen, die ihren Sitzplatz in der Nähe der Bustoilette hatten, sondern auch alle anderen fieberten einer baldigen Ankunft entgegen, da wir nun schon den dritten Tag im Bus verbrachten und sämtliche „Vier-Buchstaben“ durchgesessen waren. Meine Platznachbarn Ismael, Gabriel, David und ich arbeiteten schon an einem Entwurf für das Buch „1000 Sitzmöglichkeiten auf langen Busreisen“. Dabei hatten wir vom Kopfstand über das halbunterm-Sitz-kauern bis hin zum entspannten liegen in der Gepäckablage bereits alle nur erdenklichen gemütlichen und weniger gemütlichen Möglichkeiten ausprobiert. Das 45

Einzige, was die bedrückte Stimmung im Bus aufheitern konnte, war die unglaublich vielfältige Naturlandschaft in Rio Grande de Sul, die wir dank einer Regenpause in vollen Zügen und mit aus dem Fenster gestreckten Köpfen und Fotoapparaten, genießen konnten. Die Berge erinnerten mich ein wenig an die Alpen, der Weinanbau an Ausflüge an die Mosel, doch das satte, regengetränkte Grün und die frische, würzige Luft waren auch für mich einfach nur überwältigend. In diesem Moment konnte ich gut nachvollziehen, warum so viele Europäer, insbesondere Deutsche, in den Süden Brasiliens ausgewandert sind. Es gibt sogar einen Ort namens Blumenau, in dem es deutscher zugeht als in Deutschland. Die deutschen Einwanderer haben dort ihre Traditionen so strikt beibehalten, dass einige von den Einwohnern heute noch deutsch sprechen können und alljährlich ein großes Oktoberfest gefeiert wird. Ab und zu wurden wir noch von der Polizei gestoppt, die die Namen und Ausweisnummern auf den Listen der Busfahrer mit denen der Insassen verglich, doch am Abend kamen wir trotz aller Pannen und Pausen noch pünktlich in Porto Alegre an. Das Erste, was wir von der Stadt und dem Forum sehen konnten, war eine Antikriegsdemo mit mehreren tausend Beteiligten, die den Verkehr mehr oder weniger lahm legte, aber eine schöne Einstimmung für die kommenden Tage war. Unsere Busse hielten am Stadtpark, den circa 25ooo Jugendliche in eine kunterbunte Zeltstadt verwandelt hatten, an. Als Orientierungspunkte dienten Flaggen in allen nur erdenklichen Variationen; sie repräsentierten die Länder, aus denen die Zeltinhaber stammten, trugen ihre politische Zugehörigkeit, Che Guevara oder Bob Marley, die Regenbogenfarben der Schwulen und Lesben, u.v.m. Campingplatz mit der blau-weiss-gestreiften Flagge Argentiniens Nachdem alle ihre Gepäckstücke gefunden hatten, machten Airí, Djailton, Ricardo, Andrelina, Manuela und ich uns auf die Suche nach unserer Unterkunft. Ricardo hatte im Vorfeld mit der Freundin einer Bekannten, die in Porto Alegre lebt, abgesprochen, dass wir für die Zeit des Forums im zurzeit unbewohnten Appartement ihrer Tochter wohnen können. Die endgültige Kontaktperson kannte also keiner von uns and alle unsere Hoffnungen stützten sich auf eine Telefonnummer in Ricardos Händen. So reihten wir uns in die Schlange an der nächsten öffentlichen Telefonzelle ein und nach einer halben Stunde lauschten alle gespannt, wie es denn nun weitergehen sollte. Wir bekamen eine Adresse genannt und machten uns samt Gepäck auf die Suche. Als wir nach einer halben Stunde Fußmarsch unser Ziel immer noch nicht in Sicht hatten, trennten wir uns. Die eine Hälfte blieb mit dem Gepäck an einer Straßenecke sitzen und der Rest streifte weiter suchend und fragend durch die Strassen. Aber nicht nur wir schienen ein kleines Problem mit dem Auffinden unserer Unterkunft zu haben; durch die ganze Stadt zogen müde und schwer beladene Grüppchen. Airí mit einem Haufen Gepäck an der Straßenecke

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Es wurde später, dunkler und kälter und wir wussten mittlerweile weder genau wo wir waren, noch, ob die Adresse auf dem Zettelchen sich überhaupt in unserer Nähe befand. Also riefen wir unsere Kontaktperson nochmals an, berichteten wo wir uns ungefähr befänden und etwa eine halbe Stunde später kam eine nette Dame auf uns zu und hieß uns mit den Worten, das Appartement sei nur wenige Minuten Fußweg entfernt, herzlich in Porto Alegre willkommen. Als wir kurz vor Mitternacht dort ankamen, schafften wir es gerade noch, die Schlafplätze zu verteilen, bevor uns die Augen von alleine zufielen. Am nächsten Morgen machten wir uns früh in Richtung Kongressgelände auf, um unsere Ausweise und die Programmhefte abzuholen. Dorthin zu kommen stellte sich als schwieriger heraus als wir gedacht hatten, da die ganze Stadt von Menschenmassen, die das gleiche Ziel wie wir zu haben schienen, nur so wimmelte. Aber irgendwie war es auch sehr faszinierend, so viele unterschiedliche Gesichter, Hautfarben und Sprachen in ihrer kunterbunten Mischung zu erleben. An jeder Ecke wurde gegen oder für ein anderes Anliegen aufgerufen und meine Hosentaschen quollen vor lauter Informations- und Protestschreiben, Stadtplänen und Einladungen zu den unzähligen Veranstaltungen bald über. Dazu gesellte sich noch eine ganze Schar von Kleinkünstlern und Straßenverkäufern, die an den Wegesrändern und auf den Wiesen hockten und die vorbeiströmenden Teilnehmer mit allen nur erdenklichen Waren zu versorgen wussten. An der Ausweisausgabestelle bat uns Ricardo noch einen Moment zu warten, bevor wir uns in die Schlange einreihten. Er, Manuela und Andrelina waren als Abordnung des Bereiches Grucon (Gruppe für afrobrasilianische Kultur) zum WSF gefahren. Dieser Bereich gehört zwar zu unserem Projekt ALMM, ist aber ebenfalls eine landesweite Bewegung. Ricardo sprach mit den Grucon-Leuten vor Ort und brachte in Erfahrung, dass viele der begehrten Delegiertenausweise, die Eintritt zu nahezu allen Veranstaltungen verschafften, von den eigentlichen Inhabern gar nicht abgeholt worden waren. Und mit ein wenig Glück und Überredungskunst konnte er für jeden von uns einen solchen Delegiertenausweis erstehen. Dazu bekam jeder von uns noch ein daumendickes Programmheft und eine Tasche, um all die Broschüren und Flyer ordnungsgemäß verstauen zu können. Das fing ja schon mal gut an. Die folgenden zwei Stunden verbrachten wir zunächst damit, uns einen Überblick über das vollgestopfte Programmheft zu verschaffen und die Kurse und Werkstätten auszuwählen, die uns am meisten zusagten. An diesem Nachmittag entschieden Airí und ich uns für eine Informationsveranstaltung über das Projekt „Monte Azul“ in einem Armenviertel São Paulos. Wir versprachen uns davon neue Anregungen für unser Projekt in Salvador und vielleicht konnte man sich ja über Fragen und Probleme austauschen. Als wir im angegebenen Raum ankamen war es schon ziemlich voll und wir hatten Glück noch einen Sitzplatz zu bekommen. Die Jugendlichen, die in diesem Projekt mitarbeiten, hatten sich wirklich etwas einfallen lassen. Sie stellten die Geschichte des Projektes in Form eines äußerst amüsanten Theaterstücks mit Tanz-, Musik- und Gesangseinlagen dar. Schlussbild Theaterstück

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An einem Punkt berichteten sie von der Errichtung einer Schule und den anfänglichen Schwierigkeiten mit den Straßenkindern, die sich an den geregelten Schulalltag nur langsam gewöhnen konnten. Und dann begannen sie zu singen: „Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder...“, in diesem Moment wäre ich vor Überraschung beinahe vom Stuhl gekippt. In den mittlerweile vier Monaten in Brasilien, hatte ich von den regelmäßigen Telefonaten mit meinem Chef und meinen Eltern einmal abgesehen, mit keiner Menschenseele mehr Deutsch gesprochen und auf einmal singen die Jugendlichen da deutsche Kinderlieder – häh!?! Wie sich im Laufe der Vorstellung herausstellte, war das Projekt „Monte Azul“ vor einigen Jahrzehnten von einer Deutschen gegründet worden und die Jugendlichen bei diesem Theaterstück waren zum Grossteil deutsche Freiwillige - so wie ich. Später gab es noch eine Diskussionsrunde mit vielen Fragen, Anregungen und vor allem Zuspruch und Ermutigung vom Publikum. Airí und ich hatten noch die Gelegenheit mit der Projektleiterin zu sprechen und Kontaktadressen auszutauschen. Auch die Jugendlichen waren noch mit Aufräum-arbeiten beschäftigt und so sprach ich einfach ein Mädchen, das sehr deutsch aussah, an. Ihr Name war Helena und schon bald waren wir in ein interessantes Gespräch über das Freiwilligendasein vertieft. Bald wurde es aber auch schon Zeit, sich mit den anderen zu treffen und einen Bus ans andere Ende der Stadt zu nehmen, da Luiz Inácio LULA da Silva, Brasiliens neu gewählter Präsident, dort eine Rede anlässlich des Forums halten sollte, bevor er sich auf die Reise in die Schweiz zum Welt-Wirtschafts-Forum in Davos machen wollte. Da Helena noch nichts vorhatte und wir uns noch Vieles zu erzählen hatten, schloss sie sich uns einfach an. Die endlose Schlange an der Bushaltestelle begrub unsere Hoffnungen noch pünktlich zur Rede zu kommen. Als wir dann endlich einen Platz bekommen hatten und schon auf dem Weg waren, sahen wir Lula auf der anderen Straßenseite in seiner Limousine und unter polizeilichem Begleitschutz an uns vorbeifahren. Pech gehabt. Nun mussten wir uns zunächst darauf konzentrieren den Rückweg zum Appartement zu finden, was uns diesmal allerdings wesentlich schneller als am Vorabend gelang. Dort angekommen wurden erstmal die vollgestopften Taschen ausgelehrt und die qualmenden Füße hochgelegt. Nachdem sich alle geduscht, gestärkt und bei einem eiskalten cerveja erfrischt hatten, machten wir uns auf den Weg zur Zeltstadt und dem nahe gelegenen Veranstaltungsgelände, wo nicht nur an diesem Abend Livemusik bekannter brasilianischer Bands bis in die frühen Morgenstunden gespielt wurde. Dort traf ich, inmitten der zehntausend anderen Konzertbesucher, meine Platznachbarn Ismael und Gabriel wieder und zusammen mit Helena feierten wir bis spät in die Nacht. In den nächsten Tagen besuchten wir noch die unterschiedlichsten Vorträge und Diskussionen, darunter zum Beispiel einen Vortrag über Buddhismus und friedliches Zusammenleben, bei dem wir am Ende noch alle zusammen meditierten. Besonders aufregend war der Vortrag von Aleida Guevara, Tochter des Revolutionärs Che Guevara, an dessen Ende auch noch ein kurzer Dokumentarfilm gezeigt wurde. Leider war der Hörsaal so vollgestopft mit Menschen, dass man sich kaum bewegen konnte und sich ziemlich konzentrieren musste, um die Übersetzung durch die altersschwachen Kopfhörer überhaupt zu verstehen. An unserem dritten Abend in Porto Alegre luden unsere Vermieter uns zu einer Stadtrundfahrt mit anschließendem Grillfest bei ihnen zu Hause ein. Sie kamen uns mit einem Kleinbus am Appartement abholen, fuhren uns quer durch die Stadt und zeigten uns alle Orte die man in Porto Alegre gesehen haben muss. Gruppenbild 48

Dann fuhren wir zu ihrem Haus, das sich bei näherem Hinsehen als Villa entpuppte, und ich konnte mir zum ersten Mal vorstellen, was es bedeutet zur rar gesäten brasilianischen Oberschicht zu gehören. Es dauerte nicht lange, bis uns die Hausherrin berichtete, dass sie beim Fernsehen Karriere gemacht hatte und die erste weibliche Ansagerin im Staat Rio Grande do Sul war. Alle schlugen sich die Bäuche mit frisch Gegrilltem und leckeren Salaten voll, doch obwohl es ein schönes Fest war, waren die meisten von so viel zur Schau gestelltem Reichtum eher verwirrt als beeindruckt. Am folgenden Abend lief ich mit Djailton und Ricardo wieder zur Zeltstadt, wo unter der Flagge von Bahia ein Treffen aller Businsassen stattfand, um die Abfahrtszeit für den nächsten Abend gemeinsam festzulegen. Bei dieser Gelegenheit wurden wir auch noch Zeugen von einem nicht ganz alltäglichen Schauspiel; eine Gruppe von etwa 40 splitterfasernackten Demonstranten marschierte über das Gelände, rief zu Frieden und Versöhnung auf und appellierte an alle Anderen, sich doch auch von den Zwängen einer kranken Gesellschaft „frei zu machen“ und sich ihnen anzuschließen. Letztendlich nahm sich die Polizei die Freiheit dem Schauspiel ein vorzeitiges Ende zu bereiten, einen Teil von ihnen einzufangen und mit auf die Wache zu nehmen. Unser letzter Tag in Porto Alegre wurde einem ausgiebigen Stadtbummel mit anschließendem Andenkenshopping gewidmet. Dabei besuchten wir nicht nur verschiedene Märkte, sondern auch das Stadtmuseum, in dem gerade eine Picassoausstellung lief. Eine Sache die ich wohl für den Rest meines Lebens mit Porto Alegre verbinden werde, ist der Duft nach „churrasco“ – Grillfleisch und „cachoro quente“ – Hot Dogs, der einem an jeder Straßenecke entgegenschlägt. Eine weitere Tradition in Rio Grande do Sul ist das Schlürfen des „ximarão“. Aus einem vasenförmigen Holz- oder Metallbecher schlürft man mit Hilfe eines Trinkröhrchens einen Matetee, der mehrmals mit heißem Wasser aufgegossen wird. Im Klartext bedeutet das, dass man ständig Leuten über den Weg läuft, die das Trinkröhrchen nur zum Essen oder Sprechen aus dem Mund nehmen und grundsätzlich eine Thermoskanne mit heißem Wasser unter den Arm geklemmt haben. Nach einer Woche im Süden Brasiliens und der ständigen Begegnung mit solch seltsamen Sitten waren wir so traumatisiert, dass wir uns im „Grande Mercado“, den man in nahezu jeder brasilianischen Großstadt finden kann, alle mit „ximarões“ und einem Jahresvorrat an Mate eindecken mussten. Und in einem kleinen Eckladen fand ich zum ersten und wahrscheinlich auch letzten Mal während meines Brasilienaufenthaltes einen wahren Schatz: „ pão alemão“ – Schwarzbrot!!! Wörtlich übersetzt heißt es übrigens „deutsches Brot“ und nun darf jeder dreimal raten, worum es sich bei „pão francês“ handelt. Wie alles Schöne musste eben auch das Welt Sozial Forum irgendwann ein Ende haben. Für mich war es eine unglaubliche Erfahrung. Ich habe so viele neue und unterschiedliche Menschen, Meinungen und Kulturen kennengelernt; und hatte nach vier Monaten Brasilien das erste Mal die Möglichkeit mich mit anderen deutschen Freiwilligen auszutauschen, was mir sehr gut getan hat. Außerdem hat mich der in Südamerika noch sehr starke und lebendige Wille zu Revolution und Veränderung begeistert. Das WSF war für mich nicht nur Aufeinandertreffen und Diskussion von Meinungen und Ideen, sondern vielmehr ein Austausch von Mut und Hoffnung, dass wir diese Welt Stück für Stück und vor allem gemeinsam verändern und verbessern können. Das 4. Welt Sozial Forum findet übrigens Anfang 2004 in Indien statt. Forumgebäude mit Brasilienflagge 49

Wie schon vorherzusehen war, verschob sich unsere geplante Abfahrt trotz aller Bitten und Mahnungen um pünktliches Erscheinen aufs Neue um gute zwei Stunden, so dass wir Porto Alegre erst nach Mitternacht verließen. Am Vormittag machten wir unsere erste große Pause in der Nähe von Florianopolis im Bundesstaat Santa Katharina. Da wir ja nun nicht mehr unter Zeitdruck standen und alle die Reise so angenehm wie möglich gestalten wollten, wurde abgestimmt die Pause auf den ganzen Vormittag auszuweiten. So hatte jeder die Möglichkeit am Rasthof zu bleiben, die Stadt zu erkunden oder, was wohl die Meisten vorhatten, zum Strand zu gehen. Dazu musste man allerdings einmal quer durch die ganze Stadt laufen. Auch ich machte mich zusammen mit einigen Freunden auf den weiten Weg. Am hotelbebauten und touristenbevölkerten Strand angekommen, fragte uns bald ein geschäftstüchtiger Bootsinhaber, ob wir nicht mit ihm zu einer kleinen und ruhiger gelegenen Insel schippern wollten. Wir berieten uns und verhandelten lange über den Preis, doch dann nahmen wir schließlich die Gelegenheit wahr. Mittlerweile wollte fast die Hälfte der Reisegruppe mitfahren, so dass wir uns auf mehrere Fuhren aufteilen mussten. Doch es hatte sich gelohnt. Die Ruhe und der Ausblick auf die beeindruckende Silhouette der Stadt auf der einen Seite und auf das weite Meer auf der anderen Seite der Insel waren einfach traumhaft. Die Insel selbst war von riesigen Bäumen bewachsen und abgesehen von einer einfachen Fischerhütte, auf deren Veranda ein netter alter Mann saß und Netze stopfte, vollkommen unbewohnt. Blick von der Insel auf den Hotelstrand Wir liefen einen kleinen Trampelpfad durch mannshohes Gestrüpp entlang, kletterten über ein paar Felsen und schon waren wir auf der anderen Seite der Insel. Einziger Nachteil war, dass es keinen Sandstrand gab und wir nur ein bisschen in einem natürlichen Schwimmbecken zwischen den Felsen planschen konnten, da sich an den Felsen, die zum offenen Meer hinausführten, viele scharfe Muscheln und Korallengewächse befanden. Doch Wasser ist Wasser und nach dem Bad konnten wir uns herrlich auf den Felsen trocknen lassen und den vorbeifahrenden Schiffen nachschauen. Ismael erinnerte sich, bei dem alten Mann an der Hütte eine Gitarre gesehen zu haben, und nach kurzem Nachfragen durften wir sie uns ausleihen und somit dem kleinen Ausflug mit gemütlicher Musik noch den I-Punkt aufsetzen. Auf dem Rückweg hätten wir uns dann fast noch hoffnungslos verlaufen...auf Umwegen aber haben wir doch noch zurück zum Rasthof gefunden. Die nächsten beiden Tage und Nächte verlaufen in meiner Erinnerung irgendwie ineinander über. Wenn wir nicht gerade eine Essenspause einlegten, hörten wir Musik, schliefen oder veranstalteten eine kleine Busparty. Mittlerweile kannten wir uns untereinander schon ziemlich gut und hatten einfach jede Menge Spaß zusammen. Gruppenfoto im Bus 50

Einmal hielt der Busfahrer auf freier Strecke am Straßenrand an und alle fragten sich, was denn nun schon wieder sei, schließlich hatte die Polizei uns erst eine halbe Stunde zuvor angehalten. Bald kam die Antwort in Form einer ganzen Bananenstaude durch die Tür getreten und sorgte für laute Jubelschreie. Einer der Verantwortlichen aus dem anderen Bus hatte jedem Bus eine solche Staude, die am Straßenrand etwa 2-3 Reais, also umgerechnet weniger als einen Euro gekostet hatte, spendiert. Die Rückfahrt verlief soweit ohne großartige Zwischenfälle. Doch dann brach innerhalb von nur einer Nacht fünfmal irgendeine der Achsen und wir standen eigentlich nur noch an irgendwelchen Werkstätten herum. Nach einer solchen Nacht war man dann doch froh wieder im guten, alten Salvador anzukommen. Airí, Djailton und ich wurden nahezu königlich von Aluísio willkommen geheißen. Nicht nur, dass die casa vor Sauberkeit nur so funkelte – er hatte uns sogar ganz fürsorglich etwas zu Essen bereitet, so dass wir gar nicht wussten, wie uns geschah. Heimkehren kann eben auch ganz schön sein…

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5. Bericht Februar 2003

Anne Wenk

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Die erste Februarhälfte gestaltete sich eher chaotisch. Zunächst schwebten mir noch tagelang die Eindrücke und Erlebnisse, die ich auf der unglaublichen Reise zum „World Social Forum“ in Porto Alegre gesammelt hatte, im Kopf herum. Jeder, ganz besonders Aluísio, wollte natürlich wissen, was wir dort erlebt hatten und so kamen Airí, Djailton und ich aus dem Erzählen fast nicht mehr heraus. Da die Schulferien immer noch andauerten und es bis auf die alltäglichen kleinen Aufgaben nicht viel zu erledigen gab, fand ich endlich die Zeit mich auf meinen dritten Bericht zu konzentrieren. Außerdem fehlten mir immer noch einige wichtige Unterlagen, um mein Voluntarier-Visum beantragen zu können, und so hatte ich die einmalige Gelegenheit, so manchen Nachmittag mit Aluísio über einem großen Haufen portugiesischer Unterlagen gebeugt in der ISPAC zu hocken, oder ich stand mir auf irgendeinem Amt die Beine in den Bauch, um jene Unterlagen beglaubigen zu lassen. Dabei warf ich abwechselnd Blicke auf die Leuchttafel mit der Nummer des nächsten Kunden und den bereits drei Mal zerknitterten und wieder auseinander gefalteten Zettel in meiner Hand, mit einer hohen Nummer, deren Quersumme mir viel lieber gewesen wäre. Von diesen notwendigen Angelegenheiten einmal abgesehen, konnte ich auch noch viele andere aufregende, schöne, aber auch erschreckende Erfahrungen in meiner unmittelbaren Umgebung machen. So bin ich zum Beispiel am 02. Februar mit Airí und ihrer Studienfreundin Simone in den Stadtteil Rio Vermelho (Roter Fluss) gefahren, um dort an den legendären Feierlichkeiten zu Ehren der Meeresgöttin Iemanjá teilzunehmen. Der Candomblé- Kult ist hier in Salvador so stark im Glauben und in den Herzen der Menschen verankert, dass nahezu jedes Kind aufsagen kann, welcher Orixá (Gottheit) für welche Elemente, Charaktereigenschaften und Farben steht sowie welcher Tag der Woche wem gewidmet ist. So war es auch nicht weiter verwunderlich, dass die ganze Stadt auf den Beinen zu sein schien, um Iemanjá an ihrem Festtag Geschenke zu bringen und sie um ihr Wohlwollen für das kommende Jahr zu bitten. Auch wir drei kauften bei einem der vielen Straßenhändler Rosen, wobei ich erklärt bekam, dass weiße Blüten für Frieden und Harmonie, gelbe für einen Geldsegen oder zumindest eine Verbesserung der finanziellen Situation und rote Blüten natürlich für die Liebe standen. Dementsprechend sah man manche Menschen mit regelrechten Blumensträußen in Richtung Bucht strömen, während Airí, Simone und ich uns jeweils mit zwei Rosen zufrieden gaben. Die in Form einer Meerjungfrau dargestellte Göttin erhielt aber nicht nur Massen von Blumen, sondern auch kleine Parfümfläschchen, Taschenspiegelchen oder Lippenstifte. All dies wird feierlich vom Steinufer aus ins Meer geworfen oder mit Hilfe von buntgeschmückten Fischerbooten den Wellen übergeben. Der gesamte Strand und die angrenzenden Straßenzüge waren bevölkert von einer fröhlichen, zum Teil auch singenden oder betenden Menschenmasse. Alle waren sie herbeigeströmt, um Iemanjá zu ehren, oder sich einfach nur das große Spektakel aus nächster Nähe anzuschauen. Schon lange, bevor man den Eingang zur Casa Iemanjá´s in der Ferne überhaupt ausmachen konnte, stieß man auf eine endlos lange Schlange von Candomblé-Anhängern, die geduldig darauf warteten ihre Geschenke am mit vielerlei exotischen Blumen geschmückten Altar niederlegen und ihre Bitten an die Göttin stellen zu können. Ringsherum erblickte ich Baianas in ihren ausladenden und blütenweißen Gewändern. Manche von ihnen tanzten in einer halboffenen, mit Palmzeigen bedeckten Hütte zu jenen Trommelrhythmen, die typisch für Candomblé-Rituale sind und diejenigen, die sich darauf einlassen in einen Trance-Zustand versetzen können. 53

Aber auch am Strand bildeten sie „rodas“, also große Kreise, um ihre Gesänge zu verkünden. Inmitten dieses bunten und fröhlichen Spektakels kletterten Simone, Airí und ich auf der hügeligen Steinküste herum, um zum Wasser zu gelangen. Der Wind blies uns um die Ohren und man musste bei jedem Schritt Acht geben nicht auszurutschen und in Wasserlachen zu fallen, oder sich an dem scharfkantigen und mit Muscheln besetzten Gestein zu verletzen. Langsam brach die Sonne durch den bewölkten Himmel und als wir endlich das Ufer erreichten, warfen wir in einem geradezu andächtigen Moment unsere Blumen in die aufgebrachten Wogen. Vielleicht hilft es ja, schließlich kann man von allen Seiten Unterstützung gebrauchen. Als ich am nächsten Morgen die Zeitung aufschlug, wurden die schönen Eindrücke dieses Nachmittages allerdings mit dem dunklen Schleier der brasilianischen Realität überzogen. In der vergangenen Nacht waren nämlich sämtliche Geschenke an Iemanjá aus dem Meer gefischt und gestohlen worden. In manchen Fällen ist der Hunger eben stärker als die Angst vor dem Zorn der Götter, schließlich lässt sich so ein Parfümfläschchen oder Lippenstift noch prima verwenden oder vielleicht sogar verkaufen... Doch nicht nur diesem Zeitungsartikel schenkte ich an jenem Morgen besondere Aufmerksamkeit. Vielmehr suchte ich nach einem Bericht über das Geschehen, das ganz Mangueira am Vorabend in helle Aufregung und Bestürzung versetzt hatte – und fand ihn auch. Was dort geschrieben stand, war nichts Neues mehr für mich, da wir alles bereits in der Nacht berichtet bekommen hatten, als wir uns nach dem Kursabschlussfest der Cooperativa auf dem Heimweg befanden und die Casa eines Mitarbeiters und Freundes passierten. Nahezu die gesamte Familie saß in Tränen aufgelöst oder apathisch ins Leere starrend vor der Tür und sofort verspürten wir, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Als wir näher kamen sprang die älteste Tochter, die ebenfalls in unserem Projekt arbeitet, auf und stürzte auf Aluísio zu. Vor lauter Schluchzen und aufgeregtem Erzählen verstanden wir zunächst kein Wort, doch nach wenigen Minuten erfuhren wir, was sich zugetragen hatte und welch tragische Folgen sich daraus ergaben: Ihr Vater, welcher sich bereits vor zehn Jahren von seiner Frau und den zehn gemeinsamen Kindern getrennt hatte und nun mit einer anderen Frau eine achtjährige Tochter hatte, war vollkommen durchgedreht. In einem Anfall rasender Eifersucht hatte er zum Messer gegriffen und seine Lebensgefährtin vor den Augen der gemeinsamen Tochter brutal erstochen. Danach sei er völlig verstört auf die Strasse gelaufen. In einem Ausbruch von Selbstjustiz hatten die Männer, die ihn mit blutverschmierten Kleidern aus der Tür stürzen sahen, sich zu einem Pöbel formiert und den vermeintlichen Mörder zusammengeschlagen. Daraufhin kam auch endlich die Polizei und nahm ihn im Streifenwagen mit. Die Mutter der ermordeten Frau setzte ihre völlig verstörte Enkelin mit der Begründung, sie sei die Tochter des Mannes, der ihre eigene Tochter umgebracht hatte (der Verdacht bestätigte sich im Laufe der Ermittlungen), kurzerhand auf die Strasse. Währenddessen telefonierte unser Freund fieberhaft durch die Gegend, um zu erfahren, wo sich sein Vater nun befand, denn keiner wusste, ob er ins Gefängnis oder ins Krankenhaus gebracht worden oder bereits seinen schweren Verletzungen erlegen war. Weil er übers Telefon allerdings nichts in Erfahrung bringen konnte und immer nur von einer Behörde zur nächsten verwiesen wurde, schmissen wir alle unser Kleingeld zusammen und wenige Minuten später düste er 54

mit Djailton und Aluísio in einem Taxi los, um sämtliche Polizeiwachen und Krankenhäuser der Stadt auf der Suche nach dem Täter, der immerhin sein Vater ist, zu durchforsten. Wir blieben noch eine Weile bei der Familie, die sich in ihrem unvorstellbaren Leiden wie selbstverständlich des kleinen Mädchens, von dem keiner wusste, ob es bereits Vollwaise war, angenommen hatte. Als es nach Mitternacht immer noch keine Neuigkeiten gab, kehrten wir zu unserer Casa zurück, um dort auf Aluísio und Djailton zu warten. Keinem von uns gelang es zu schlafen, so dass wir noch lange zusammensaßen, bis die Suchenden schließlich um vier Uhr morgens zurückkehrten und berichteten, dass sie den Vater in einem der Krankenhäuser gefunden haben, wo er sich im Koma und mit einer schweren Kopfverletzung auf der Intensivstation befand. Von dort aus wurde er ein paar Tage später direkt ins Gefängnis überwiesen und seine Tochter lebt nun als elftes Kind zusammen mit der Familie seiner Ex-Frau. Derartige Tragödien spielen sich jedoch nicht nur in Brasilien oder speziell in Mangueira ab, und wie anderenorts legt auch hier das Leben keine Pause ein, obwohl das Geschehene noch tagelang Bestürzung auslöste und für Gesprächsstoff sorgte. Unterdessen waren Aluísio, Djailton und ich nun damit beschäftigt mit dem Nachbarn der Schule über den Kauf des angrenzenden Grundstücks zu verhandeln. Dort sollte mit Unterstützung aus Deutschland ein kleiner Spielplatz entstehen, wo sich die Kinder in den Pausen und Spielstunden austoben können. Trotz endloser Gespräche und Verhandlungen konnten wir uns vorerst nicht auf einen Preis einigen und so müssen wir wohl abwarten, bis der Besitzer wieder zu Verstand kommt oder uns nach anderen Alternativen umschauen. Als ich am 13. Februar in unsere Casa zurückkehrte, wartete auf mich bereits eine große Überraschung: zwei leicht verspätete Weihnachtspakete hatten nach dreimonatiger Odyssee doch noch ihren Weg zu mir gefunden und wir hatten den ganzen Abend einen Heidenspaß, die Geschenke auszupacken und uns mit Lebkuchen und Gummibärchen, die in meinem Freundeskreis einen immer höheren Beliebtheitsgrad gewinnen, vollzustopfen. An einem anderen Abend saß ich mit Aluísio wieder einmal in der Bar um die Ecke und wir führten mit ein paar Gästen eine angeregte Diskussion über die neue Regierung unter Lula und Politik im allgemeinen, als einer der Beteiligten mich fragte, wie viele Jahre ich denn schon in Brasilien lebe. Er wollte mir partout nicht glauben, dass es erst fünf Monate sind. Nach so langer Zeit absoluter Verzweiflung, mühevollen Rumstotterns und nach Worten Ringens war ich nun endlich soweit, mich nicht nur verständlich auszudrücken, sondern auch an Diskussionen teilzunehmen, ohne nach ein paar Sätzen den Faden zu verlieren. Dies machte mich stolz und glücklich und tröstete mich ein wenig über die neueste Hiobsbotschaft in Sachen Visum hinweg. Zu diesem Zeitpunkt sah es nämlich so aus, dass ich Mitte März nach Deutschland zurückkehren und dort mindestens drei bis vier Monate auf ein neues Visum warten musste. Nicht gerade rosige Aussichten, die mich mit jedem Tag, der verstrich und mich dem Abschied von Brasilien näher brachte, nachdenklicher stimmten. Daran, dass ich möglicherweise gar kein neues Visum bekommen könnte, durfte ich gar nicht erst denken – es wurde mir von meinen Freunden, die fest davon überzeugt waren, dass ich schneller zurückkehre als ich mich umschauen kann, schlicht und einfach verboten. Doch noch war ich ja da und ich wollte die mir verbleibende Zeit so gut wie möglich nutzen. An den Wochenenden traf ich mich nun regelmäßig mit Ismael. Ihn und seine Freunde hatte ich auf der Reise nach Porto Alegre kennen gelernt und sie hatten es sich zum Ziel gesetzt, mir all die schönen Seiten, die ich von Salvador noch nicht kannte, zu zeigen. Mit ihnen streifte ich durch die ganze Stadt, besuchte Theaterstücke und Konzerte, ging endlich wieder auf Partys, die ich in der ersten Zeit so sehr vermisst hatte und war einfach nur glücklich.

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Die Benachrichtigung zu einem Zwischenseminar für alle deutschen Freiwilligen Amerikas kam bereits Anfang Oktober 2002, nachdem ich mich erst zwei Wochen in Brasilien aufhielt, mit der Post ins Haus geflattert und war der erste Brief, den ich in meiner neuen Heimat erhalten hatte. Darin wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, sich möglichst schnell anzumelden, um auch ja noch einen Platz beim heißbegehrten Treffen mit den anderen Freiwilligen, die ich teilweise schon vom 9-tägigen Vorbereitungsseminar bei der AGEH (Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe) in Köln kannte, zu ergattern. Für mich stand von Anfang an fest, dass ich, wenn nur irgendwie möglich, an dem früheren der beiden Termine in Santa Cruz, Bolivien, teilnehmen wollte. Das andere Seminar sollte zwei Wochen später in Salvador, Brasilien, sozusagen bei mir zu Hause, stattfinden und hätte mir wahrscheinlich nicht genug Abstand gegeben, um über die vergangenen fünf Monate in meinem Projekt frei reflektieren zu können. Mein deutscher Chef und Ansprechpartner Bruno Bürger tat auf meine Bitte hin alles in seiner Macht stehende und schaffte es tatsächlich, mich für das Bolivienseminar (22.02.-01.03.2003) anzumelden. Nun lag es nur noch an mir auch dorthin zu gelangen. Dies fiel mir auch gut zwei Wochen vorher wieder ein, als in den Abendnachrichten von den Unruhen und Straßenschlachten in der bolivianischen Hauptstadt La Paz (wörtlich übersetzt: der Frieden) berichtet wurde. Obwohl mich Djailton ständig damit aufzog, dass ich mir sehr gut überlegen sollte, was ich einpacke, da ich schließlich in den Krieg ziehen würde, verdanke ich es seiner unermüdlichen Suche im Internet und den Telefonaten mit der Fluggesellschaft, dass ich fünf Tage vor Abflug ein bezahltes Ticket in den Händen halten konnte. Obwohl ich mich mittlerweile daran gewöhnt habe auf Portugiesisch zu telefonieren, überließ ich es doch lieber Djailton die Zahlencodes für die Reservierung zu verstehen und zu wiederholen, denn ich verwechsle immer noch gerne dezoito (18) mit oitenta (80), und quiëntos (500) hieß bei mir wochenlang „cincocentos“. Nun war ich mir fast sicher, dass nichts mehr schief gehen könne - aber wie das eben so ist, begann just in dem Moment, als ich mich von Airí, Djailton und Aluísio verabschiedete, ein sintflutartiger Platzregen auf Salvador niederzuprasseln, der mich stark an meine Ankunft vor fünf Monaten erinnerte. So wie damals standen auch an diesem Nachmittag die Strassen teilweise kniehoch unter Wasser, und da mein Fahrer Fernando uns zudem nur sehr vorsichtig den Weg durch die Fluten bahnen konnte, hätte ich beinahe meinen Flug verpasst. Doch auch diesmal war das Glück auf meiner Seite, so dass ich wie geplant um Punkt 18 Uhr meine Nase gegen die dicke Fensterscheibe drückte und auf die kleinen Lichter der Landebahn, die bereits von Dunkelheit umhüllt war, schaute. Dieses Mal freute ich mich schon richtig auf den Flug sowie das Bauchkribbeln bei Start und Landung und hoffte, dass wir zumindest durch ein paar Wolkenfelder fliegen würden, da man dann so lustig durchgeschüttelt wird und ich mir wieder zu Bewusstsein bringe, dass ich FLIEGE! Irgendwann hoben wir dann auch endlich ab, und als wir schon hoch in den Lüften schwebten, zeigte die Welt uns ein neues Wunder: Während Salvador in tiefe Dunkelheit getaucht unter uns lag, und nur durch die tausend winzigen Lichter der Straßenlaternen und Autos überhaupt noch erkennbar war, trafen wir hier oben wieder auf die Sonne, die den schier unendlichen Horizont in weichen Orange-, Rot-, und Violetttönen leuchten ließ. Wir folgten dem Sonnenuntergang noch gut eine halbe Stunde Richtung Süden, bevor uns die Nacht einholte und ich mich vom Fenster abwenden und ein wenig die Augen schließen konnte. Der Landeanflug auf Rio de Janeiro war ebenfalls atemberaubend. Schon von weitem konnte ich Rio als einen leuchtenden Punkt ausmachen. Je näher wir jedoch heranflogen, desto deutlicher waren die Straßen und Siedlungen zu erkennen, welche sich wie ein dichtes Netz auf die unzähligen Hügel gelegt hatten. Hinter jeder Hügelkuppe tauchte ein neues Lichtermeer auf, welche von den dicht aufeinander gedrängten Baracken der Favelas mit ihren Millionen Bewohnern erzeugt wurden. Diese Stadt scheint immer in Bewegung zu sein und ist von so gigantischen Ausmaßen, dass wir gut 15 Minuten lang darüber hinwegflogen, bevor wir zu der Halbinsel gelangten, auf der 56

sich der Flughafen befindet. Nun war ich also im sagenumwobenen Rio und hatte dank meiner frühzeitigen Reiseplanung mehr als zehn Stunden Aufenthalt, da mein Anschlussflug nach São Paulo erst am nächsten Morgen um 8:30 Uhr gehen sollte. Natürlich spielte ich mit dem Gedanken das berühmte Nachtleben aus nächster Nähe kennen zu lernen, entschied mich letztendlich aber dagegen, da man nach 22:00 Uhr als blondes, europäisches Mädchen in einer unbekannten brasilianischen Großstadt (noch dazu Rio) alleine nicht besonders gut aufgehoben ist und ich bereits vor der Zollkontrolle das erste unmoralische Angebot freundlich abweisen durfte. Viel lieber habe ich mein Gepäck in einem der vielen – leider nicht kostenlosen – Schließfächer verstaut und bin ungefähr zwei Stunden lang durch den riesigen Flughafen geschlendert, um wenigstens den genauestens kennen zu lernen. Dies wurde mit der Zeit allerdings langweilig, da im Grunde genommen doch alle Flughäfen über die gleiche Auswahl an Duty-free-Shops, Souvenirläden und Fast-Food-Ketten verfügen. Nur im Buchladen verbrachte ich zwei weitere Stunden und nachdem ich alle anderen Zeitungen halb gelesen hatte, überwand ich mich dazu ganze 7 Euro für ein fast aktuelles Exemplar des Spiegels auszugeben, um meine enormen Informationslücken in Sachen Weltpolitik ein wenig zu stopfen. Schließlich würde ich in wenigen Stunden wieder auf Deutsche treffen und musste mich noch ein wenig darauf vorbereiten. Zwischendurch ging ich natürlich auch mal vor die Tür, um wenigstens Rio-Luft geschnuppert zu haben und wurde von den nächtlichen 35°C fast umgehauen. Was ich dort sah, konnte man nicht wirklich als Nacht bezeichnen. Der Himmel war mit einer Wolkendecke überzogen, die von den Lichtern der Stadt in einem grellen Orange angestrahlt wurde und der ganzen Atmosphäre einen bizarren Beigeschmack verlieh. Der Flughafen leerte sich immer weiter, so dass ich von ein paar schlafenden Japanern und den Sicherheitsbeamten einmal abgesehen plötzlich ziemlich allein da stand. Auch ich suchte mir nun eine freie Zweiersitzgruppe, legte den Gurt meines Handgepäck-Rucksacks um die Mittellehne (außerdem habe ich Glöckchen an den Reißverschlüssen angebracht, so dass es sich jeder Langfinger zweimal überlegen sollte meine Sachen anzupacken), stellte den Wecker und legte mich so bequem wie möglich auf die beiden Sitze, wobei ich mir unter einer der blöden Armlehnen beinahe den Fuß gebrochen hätte. Als Schlaf konnte man die Wach- und Traumphasen, die ich in den nächsten paar Stunden durchlebte ganz bestimmt nicht bezeichnen, aber so habe ich wenigstens meinen Anschlussflug nicht verpasst. Durch einen glücklichen Zufall hatte ich von Rio nach São Paulo drei nebeneinander liegende Sitze ganz für mich alleine, wo ich mich auch sofort ausstreckte und noch vor dem Abflug in einen tiefen Schlaf verfiel. Entweder hatten die Stewardessen Erbarmen mit mir , oder sie haben mich einfach nicht wach bekommen – auf jeden Fall verschonten sie mich mit den ewig gleichen Sicherheitsübungen und Frühstücksfragen, so dass ich erst, als wir uns schon auf dem Landeanflug auf São Paulo befanden, von ihnen geweckt wurde. In São Paulo musste ich nur kurz die Maschine wechseln und schon ging es weiter Richtung Bolivien. Allerdings wurde ich beim Check-In meine Nagelschere quitt, die man auf internationalen Flügen nicht unbedingt im Handgepäck aufbewahren sollte. Man lernt eben nie aus. Ich wollte mich eigentlich schon wieder schlafen legen, doch zwei kleine bolivianische Mädchen, die die beiden Sitzplätze vor mir belegt hatten und anscheinend ohne Begleitung unterwegs waren, beäugten mich die ganze Zeit neugierig durch den Spalt zwischen ihren Sitzlehnen. Obwohl sie Spanisch sprachen, dauerte es nicht lange, bis ich erfuhr, dass sie fünf und sieben Jahre alt und ihre Lieblingsfarben Rosa, Lila, manchmal aber auch Gelb, waren. Ungefähr zwei Stunden unterhielten wir uns auf einer Mischung aus Portugiesisch und Spanisch – bei Kindern stellt die Sprache eben noch keine Barriere dar. Dann bekamen wir die obligatorischen Einreisezettelchen für Personalien und Zollangaben, ich packte meine Dokumente aus, um auch alles wahrheitsgemäß auszufüllen und plötzlich saß Matthias neben mir und fragte mich auf Deutsch, ob ich auch zum Freiwilligenseminar nach Santa Cruz fliege, da ich einen deutschen Pass habe und wie eine typische 57

Freiwillige aussehe (Wie sehen Freiwillige bitte aus?). Ich war schon ein wenig überrascht, aber auch erleichtert. So musste ich die für Überfälle auf Touristen bekannte Strecke zwischen dem Flughafen und dem Kolping-Haus im Stadtzentrum wenigstens nicht alleine zurücklegen. Beim Landeanflug haben wir schon ein bisschen verdutzt geschaut, denn statt der zweitgrößten Stadt Boliviens konnten wir unter uns nur Felder und Grasflächen ausmachen, in deren Mitte der kleine Flughafen von Santa Cruz de la Sierra ganz schön verloren wirkte. Mit dem Shuttlebus brauchten wir noch gut 20 Minuten, um zum dritten „anillo“ (Ring) zu gelangen, von wo aus wir dann ein Taxi bis zum Kolping-Haus, in dem das Seminar stattfinden sollte, nahmen. Natürlich waren wir ein bisschen zu spät dran und als wir in den großen Versammlungsraum traten, saßen dort bereits über 30 Leute und begannen mit den ersten Vorstellungsspielchen. Doch bevor ich mich zu dieser noch ein wenig schüchternen Runde gesellte, freute ich mich erstmal auf eine erfrischende Dusche, bei der man zu meiner großen Überraschung sogar die Wassertemperatur regulieren konnte. Für südamerikanische Verhältnisse und verglichen mit dem einfachen Lebensstil, an den ich mich bereits gewöhnt hatte, war das Kolping-Haus die reinste Luxus-Oase. Die Zimmer hatten im Durchschnitt drei oder vier Betten, waren gut möbliert und äußerst sauber (ich habe noch nicht einmal die Spur von einer Kakerlake ausmachen können). Komplettiert wurde das Ganze mit einem Ventilator und einem Fernseher mit einer Vielzahl von Kanälen (in Salvador empfangen wir anderthalb), wie z.B. auch die aus Jülich gesendete „Deutsche Welle“. Allerdings hatten wir kaum Gelegenheit dazu, diesen Luxus auch auszukosten. Pünktlich zum Mittagessen traf ich wieder auf den Rest der Gruppe, die im Laufe der nächsten beiden Tage noch auf stolze 50 Teilnehmer wachsen sollte. Wir waren jedoch nur sehr selten vollständig, da viele aufgrund der Karnevalstage schon früher abreisten. Die Wiedersehensfreude war jedenfalls groß, ich blickte aber auch in viele neue Gesichter, die eine interessante Woche versprachen. Ich freute mich ebenfalls Sybille Heller und Hermann-Josef Platzbecker, die bereits beim Vorbereitungsseminar unsere Begleiter gewesen waren, wiederzutreffen. Den Großteil des Nachmittags verbrachten wir mit weiteren Kennenlernspielchen und von Stunde zu Stunde tauten wir weiter auf, so dass wir uns am Abend bereits als gesellige Gruppe aufmachten, um das Stadtzentrum und natürlich die Bars von Santa Cruz zu erkunden. Mit einer kleinen Gruppe von Bolivianern und Brasilianern (so weit war unsere Identifizierung mit den Ländern, in denen wir arbeiteten also schon gegangen), von denen ich nur wenige schon vorher kannte, setzte ich mich in einen gemütlichen Irish Pub, wo es allerdings kein Guinness oder Kilkenny gab, obwohl es um uns herum von Werbeplakaten dieser irischen Biere nur so wimmelte. Vom ersten Stock aus konnten wir einen Blick auf die Strasse erhaschen, wo gerade der erste Karnevalseinstimmungszug mit einer Sambakapelle und ein paar kleinen geschmückten Wagen vorbeizogen.

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Die Stadt Santa Cruz an sich hat mich sehr überrascht. Vor meiner Ankunft wusste ich nur, dass sie mit über einer Million Einwohnern nach La Paz die zweitgrößte Stadt Boliviens ist und stellte mich auf ein ähnlich buntes und ruheloses Treiben wie in Salvador ein. Davon war vor Ort allerdings nicht viel zu spüren. Auf mich wirkte Santa Cruz eher wie eine gemütliche Kleinstadt, die den Übergang von der Vergangenheit in die Gegenwart noch nicht ganz abgeschlossen hatte. Mit ihren weiten Strassen und größtenteils einstöckigen Häusern im „Saloon-Stil“ strahlte sie ein unverkennbares „Wild-West-Flair“ aus. Die Stadt war geradezu übersät von deutsch-kanadischen Mennoniten, die aufgrund von Konflikten mit den Regierungen von Mexiko und Belize in Strömen nach Bolivien geflohen waren und nun an nahezu jeder Straßenecke anzutreffen waren oder ab und zu mit ihren Pferdekutschen an uns vorbeiklapperten. Man konnte sie leicht erkennen, da sie geradewegs einem Geschichtsbuch des 19. Jahrhunderts entsprungen zu sein schienen. Die Männer trugen Latzhosen, Farmerhemden, teilweise einen Cowboyhut und lange Bärte, während die Frauen in ihren hochgeschlossenen Kleidern und den streng zusammengebundenen Haaren kaum Luft zu bekommen schienen und eine finstere oder eingeschüchterte Miene aufgesetzt hatten. Hier schienen wirklich zwei Welten aufeinanderzuprallen: auf der einen Seite die seit Jahrhunderten an ihren konservativen Werten festhaltenden Mennoniten und dem gegenüber eine Gruppe von teilweise ausgeflippten, tatoo- und piercingversehenen deutschen Jugendlichen, die man trotz ihres sozialen Engagements sicherlich zu der in den USA und Europa weit verbreiteten FUNGesellschaft zählen konnte. Von den wenigen Geschäftsleuten abgesehen war das Straßenbild ansonsten beherrscht von den teilweise mit Trachten und Wollpullovern (selbst bei sommerlichen Temperaturen) bekleideten Bolivianos, denen man ihre Armut ansehen konnte. Ihre wunderschönen indianischen Gesichtszüge mochten über das soziale Elend hinwegtäuschen, doch sah man in die Augen der am Straßenrand kauernden Frauen und Kinder, die uns ihre kleinen Hände flehend entgegenstreckten, lag ein Ausdruck von Resignation und Traurigkeit darin, bei dessen Anblick man einen dicken Kloß im Hals verspürte. Mir wurde schmerzhaft bewusst, dass Brasilien trotz den katastrophalen Verhältnissen in den Favelas und seiner Vielzahl an Straßenkindern und Hunger leidenden Bevölkerungsschichten noch zu den am weitesten entwickelten südamerikanischen Staaten zählte, was wohl auf die kleine, jedoch schwerreiche Oberschicht zurückzuführen ist. Doch genau wie in Brasilien wird auch in Bolivien die materielle Armut durch einen unglaublichen kulturellen Reichtum und das beeindruckende Festhalten an Familie und Tradition mehr als wettgemacht. Nicht selten stelle ich mir die Frage, welche Lebensart wohl lebenswerter ist: materieller Reichtum, Sicherheit, Karriere und allzu oft innere Leere im grauen Alltag; oder ein einfaches Leben, wo man nie weiß, was der nächste Tag bringt oder woran er es wieder fehlen lässt, doch wo man noch eine ganz natürliche Nächstenliebe verspürt und sich über kleine Dinge und Gesten erfreuen kann. Dies muss wohl jeder Mensch selbst erfahren und für sich entscheiden. Am zweiten Seminartag benötigten wir den gesamten Vormittag, um die Themen und das Programm für die kommenden Tage festzulegen, was sich bei 50 Teilnehmern als ermüdendes und umfangreiches Unternehmen herausstellte, und nach dessen Abschluss die gesamte Gruppe, einschließlich unserer Begleiter aufzuatmen bzw. aufzuwachen schien. Danach war das Schlimmste aber geschafft. Die folgenden Tage begannen zunächst immer mit einem kleinen Warming-Up, um auch die schlimmsten Morgenmuffel aus ihren Träumen zu reißen. Es gab jeden Tag ein neues lustiges Spiel und so konnte 59

man viel entspannter in die Arbeitsgruppen, die liebevoll „Kleeblätter“ oder „Werkstätten“ genannt wurden, gehen. Wir arbeiteten fast nie alle zusammen, da dies die Größe der Gruppe einfach nicht zuließ. Außerdem konnte man sich so mit den Personen, die ähnliche Probleme hatten viel intensiver austauschen. Besonders interessant fand ich die „Werkstätten“ zu den Themen „Interkulturelle Probleme“ und „Rückkehrerschock“. Dort fand ich mich wieder und traf auf Christopher und Johannes aus Ecuador, die ähnlich wie ich in Kürze nach Deutschland zurückkehren mussten, um sich ein neues Visum zu beschaffen. Des Weiteren empfand ich es als sehr positiv, dass wir nicht nur in Gruppen saßen und quatschten, sondern uns auch anders ausdrücken konnten. Dazu gab es zum Beispiel die Gruppe mit den „Lebensflüssen“. Hier ging es darum das in den letzten Monaten Erlebte in Bilder umzusetzen, zu Papier zu bringen und später der Kleingruppe vorzustellen, was für mich die optimale Form der Reflektion darstellte. An den Vormittagen bestand für uns die Möglichkeit bei der hauseigenen Krankenstation einen Gesundheits-Check-Up durchführen oder bereits verschleppte Leiden kurieren zu lassen. Dies war in vielen Fällen auch dringend notwendig. Manche Teilnehmer brauchten zum Beispiel noch dringend die gesetzlich vorgeschriebene Gelbfieberimpfung, um aus Bolivien überhaupt wieder ausreisen zu können. Aber auch bei vielen anderen Fragen und Problemen standen uns Hermann-Josef und Sybille gerne zur Verfügung und oftmals gab es eine/n Freiwillige/n, die bereits die gleiche Situation durchgemacht hatte und nun mit Rat und Tat zur Seite stehen konnte. Für Mittwoch hatten wir einen „Bunten Abend“ angesetzt, wo wir unsere jeweiligen Einsatzländer den anderen vorstellen sollten, schließlich war es verdammt interessant von den Traditionen und Bräuchen in den anderen Ländern zu hören. Dabei fiel uns auf, dass sich fast alle Freiwilligen schon sehr stark mit ihrem jeweiligen Einsatzland identifizierten. Wir Brasilianer waren zu fünft, neben mir als einzigem Mädchen waren das Matthias, Sebastian und Christian aus Rio, und der Matthias, den ich schon auf dem Hinflug kennen gelernt hatte, welcher im Süden, nahe der argentinischen Grenze, eingesetzt war. Zuvor hat die Gruppe beschlossen, den Abend nicht nur als reine Informationsveranstaltung ablaufen zu lassen, sondern auch typische kulinarische Köstlichkeiten zu präsentieren. Wir Brasilianer brauchten nicht lange zu rätseln, was wir den anderen vorsetzen, da der einstimmige Ruf nach CAIPIRINHA zu vernehmen war. Um die Küche nicht noch mehr zu blockieren, als sie durch andere, kochfreudigere Gruppen sowieso schon war, besorgten wir noch einen Berg an Früchten, die allerdings vor unserer Vorstellung schon von gierigen Langfingern vernichtet werden sollten. Der Abend war ein voller Erfolg. So viel hatte ich schon lange nicht mehr gelacht. 60

Nahezu jede Gruppe hatte eine andere Art und Weise gewählt, um ihr Land interessant zu präsentieren. Es wurden Sketche gezeigt, landestypische Songs gesungen, Bolivien konnte sogar mit einer Quizshow, bei der es Bonbons als Preise gab, trumpfen. Es wurden traditionelle Tänze aufgeführt, Legenden nacherzählt und, und, und … Am schwierigsten hatte es wohl Lea, die als einzige Teilnehmerin nicht in Südamerika, sondern bei den Ami´s stationiert war. Sie versuchte erst gar nicht Bush und seinen Krieg gegen den Irak oder dessen imperialistische Südamerikapolitik zu verteidigen. In dieser Hinsicht waren sich endlich mal alle einig. Doch sie erzählte uns von den unzähligen Protesten und Aktionen nordamerikanischer Schüler und Studenten, die ebenfalls keinen großen Gefallen daran fanden, was Bush da im Namen ihres Landes veranstaltete. Und außerdem hatte sie Fotos von Schnee, den wir größtenteils sonnenverwöhnten Südamerikaner doch ein wenig vermisst hatten. Bei unserer Wochenplanung haben wir natürlich auch daran gedacht uns mal einen Tag frei zu nehmen, und lieber drei Themen auf einen Termin gequetscht, als uns diesen speziellen Tag nehmen zu lassen. Aus einer Reihe von Vorschlägen wählten wir den Besuch bei einer Tempelruine in der Nähe von Samaipata, die um etwa 1500 v. C., also auch noch vor den Inkatempeln, errichtet wurde. Der zweite Programmpunkt waren die Wasserfälle von La Pajcha und wir versprachen uns von dieser Zusammenstellung einen interessanten, aber auch entspannten Tag. Die beiden Ausflugsziele lagen relativ weit von Santa Cruz entfernt und um unser Pensum überhaupt zu schaffen, mussten wir früh aufbrechen. Die beiden Kleinbusse, die uns den ganzen Tag zur Verfügung stehen sollten, waren für 6 Uhr bestellt worden und dies war der erste und einzige Morgen, an dem es alle schafften halbwegs pünktlich aus den Federn zu kommen. Natürlich hatten die Busse Verspätung und das Organisationsteam stand kurz davor gelyncht zu werden, doch als dann schließlich alle einen Sitzplatz hatten, war dies ganz schnell wieder vergessen, da die Meisten die Zeit lieber noch nutzen und ein kleines Nickerchen halten wollten. Aus diesem wurden wir nach etwa einer Stunde Fahrt allerdings ziemlich unsanft gerissen, da unser Busfahrer den Geländewagen vor ihm so ungeschickt rammte, dass dessen hintere Scheibe zu Bruch ging. Nach diesem kleinen Schock nahmen wir damit Vorlieb die Augen offen zu halten, falls die des Busfahrers wieder zufallen sollten. So hatten wir auch die Gelegenheit die teilweise noch unberührte Landschaft, die in Form von sattgrünen Hügeln an uns vorbeizog zu bestaunen. Wir hörten südamerikanische Punklieder, sangen laut mit und erinnerten uns daran, dass vor über 35 Jahren der legendäre Revolutionär und Guerillakämpfer Ernesto „Ché“ Guevara in genau dieser Gegend seine letzte Schlacht 61

geführt hatte, bevor er 1967 im nicht weit entfernten La Higuera vom bolivianischen Militär hingerichtet wurde. Nach etwa dreistündiger Fahrt kamen wir endlich in Samaipata an, von wo aus es nur noch 7km bis zur Ruine El Fuerte - auf Deutsch: das Fort – waren. Dorthin führte ein ziemlich steiler und unbefestigter Weg, der von einigen Besuchern auf dem Rücken von gemieteten Pferden oder Maultieren zurückgelegt wurde. Die Busfahrer hielten hier an und wünschten uns einen schönen Aufenthalt, während sie hier auf uns warten wollten. Da wir aber jede Menge Kohle bezahlt, nicht unbedingt den ganzen Tag Zeit hatten und die Kleinbusse durchaus geländetauglich waren, zeigten wir ihnen, was es heißt, wenn 40 Freiwillige kurz vor einer Revolte stehen und erinnerten speziell unseren Auf-Fahrer, das wir bei ihm noch was gut haben. Letztendlich lenkten die Beiden ein und bahnten sich ihren Weg an Felsblöcken vorbei und durch einen kleinen Fluss, der sich von dem schmalen Weg nicht stören ließ und ihn einfach überflutete. Es dauerte nicht lange, bis wir am PARKPLATZ von El Fuerte ankamen und die nächste große Diskussion, diesmal aufgrund der unverschämt hohen Eintrittspreise, die nicht alle von uns bezahlen wollten, ausbrach. Nach einer halben Stunde hatten wir den Kassierer soweit, dass er uns einen akzeptablen Gruppenpreis machte und schon wenige Minuten später zogen wir mit unserem spanischsprachigen Führer los. Portugiesisch und Spanisch sind sich so ähnlich, dass ich auch ohne die Übersetzung von einem unserer Bolivianer verstand, worum es ging. Schließlich hatte ich auch mit allen „richtigen“ Bolivianern, die mir bis zu diesem Zeitpunkt begegnet waren, einfach portugiesisch gesprochen und sie wussten immer sofort, was gemeint war. Um zur Ruine zu gelangen, mussten wir zunächst noch etwa 30 Minuten zu Fuß laufen und dabei auch einige Höhenmeter zurücklegen. Zuvor hatte ich eine handvoll aus der Coca-Tüte genommen, kaute nun genussvoll auf den bitteren Blättern herum, deren Saft meinen Mund langsam aber sicher betäubte (so wie beim Zahnarzt) und hatte keine Probleme mit der immer dünner werdenden Luft.

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Der Konsum von Coca-Blättern ist in Bolivien weit verbreitet. Der Saft hinterlässt nicht nur das seltsam taube Gefühl im Mund, sondern putscht auch besser auf als Kaffee, hilft - wie schon beschrieben - bei der Adaption an Höhen und unterdrückt das Hungergefühl. Wahrscheinlich ist gerade der letztgenannte Aspekt dafür verantwortlich, dass man Großteile der einheimischen Bevölkerung ständig mit einer dicken Backen, voller Coca-Blätter herumlaufen sieht. Besonders bei Busfahrern und Arbeitern haben sich die Wangen bereits zu "Taschen" ausgebeult, die ohne Coca schlaff und leer herunterhängen. Manchmal werden die Blätter auch mit Asche gekaut, um sie für den Körper etwas verträglicher zu machen. Dieser reagiert nämlich nicht selten mit schwerwiegenden Magen- und Darmkrankheiten sowie zerstörten, ja regelrecht schwarzen Zähnen auf einen übermäßigen Genuss des überall (in Plastikbeuteln) erhältlichen Coca. In großen Mengen und mit Hilfe der richtigen Behandlung verwandeln sich die "harmlosen" Coca-Blätter in reinstes Kokain, eine gefährliche und in Südamerika leider weit verbreitete Droge. Deshalb ist es strikt verboten auch nur ein einziges CocaBlatt aus Bolivien auszuführen. (Ich wurde am Flughafen allerdings nicht sonderlich gut kontrolliert.) Anstatt mir aber über Coca den Kopf zu zerbrechen, genoss ich in diesem Augenblick lieber den herrlichen Blick auf die nahe liegenden Anden. Bald kamen wir zu den aus Holz gefertigten Aussichtspunkten, die erst vor kurzem errichtet worden waren, und einen optimalen Blick auf die Ruine boten, an. Die Ruine selber war ein großer, flacher Felsen, den uns der Führer nun zu erklären begann: die ersten Entdecker hielten El Fuerte für einen Verteidigungsposten und daher kommt auch der spanische Name für „das Fort“. Im Jahre 1832 besuchte der Franzose Alcides d`Orbigny den Ort und stellte die Theorie auf, dass die Becken und parallelen Rinnen auf der Oberfläche zum Goldwaschen benutzt worden waren. Der deutsche Anthropologe Leo Pucher, beschrieb El Fuerte im Jahre 1936 dagegen als einen Tempel zu Ehren der Schlange und dem Jaguar, denn diese beiden Tiere lassen sich bei genauem Hinschauen ebenfalls auf der Oberfläche in Form von Statuen und Halbreliefen, erkennen. Die neueste Theorie zur früheren Nutzung der Ruine stammt von Erich von Daniken, der bei seinem Besuch fest davon überzeugt war, dass El Fuerte als Abflug- und Landerampe von UFO´s genutzt wurde. Welche Theorie nun stimmt weiß keiner. Nachdem wir uns sattgesehen und genug Fotos geschossen hatten, wurden wir zu einem Erdloch, das El Hueco genannt wird und etwa dreihundert Meter von der Hauptruine entfernt liegt, geführt. Aber dieses Loch ist nicht einfach nur ein Loch, sonst hätten wir ja nicht so viel Eintritt bezahlen müssen. Auch hier existieren wieder drei Theorien, die die Bedeutung dieses ausgesprochen dunklen und tiefen Erdlochs erklären wollen. Die eine besagt, dass es als Wasserloch gedient hat, die zweite Theorie beschreibt das Loch als ausbruchssicheres Gefängnis und die dritte vermutet, dass es als unterirdisches Kommunikationssystem zwischen der Hauptruine und den umliegenden kleineren Felsansammlungen, die eine Siedlung gewesen sein sollen, genutzt wurde. Dies kann aber bis heute niemand genau sagen; die Erforschung des Lochs wurde abgebrochen, weil die Arbeiter unheimliche Stimmen (also wahrscheinlich doch das 63

Kommunikationssystem) aus den Wänden vernommen hatten und daraufhin schnell alle Seitentunnel zugeschüttet wurden. Nachdem wir diesen durchaus interessanten und beeindruckenden Programmpunkt abgehakt hatten, kletterten wir wieder in die Busse, um zum eher vergnüglichen Teil, den La Pajcha-Wasserfällen, zu düsen. Bei der Aussicht auf ein ausgiebiges Bad im kühlen Nass ließen wir die etwa anderthalbstündige Busfahrt in der bedrückenden Mittagshitze gerne über uns ergehen und bezahlten auch ohne Murren den geringen Eintrittspreis, der für die Instandhaltung des Geländes verlangt wurde. In La Pajcha befinden sich drei unterschiedlich große Wasserfälle mit schmalen Sandstränden und kühlem Gebirgsflusswasser. Es war einfach traumhaft. Ein kleiner Steinweg führte an liebevoll bepflanzten Hügeln, mit friedlich daliegenden kleinen Ferienhäusern vorbei, den Fluss entlang. Auf der Wiese an der anderen Uferseite grasten Kühe und Pferde gemütlich vor sich hin und mir gefiel dieser Ort schon, bevor ich den ersten Wasserfall überhaupt sah. Als dieser in Sichtweite kam, brachen die ersten von uns in einen Sprint aus, rissen sich so schnell wie nur möglich die Klamotten von den Leibern und sprangen ins Wasser. Wir verbrachten den gesamten Nachmittag damit zwischen den drei Wasserfällen hin und her zu laufen, denn jeder hatte seinen ganz besonderen Reiz. Die beiden großen Wasserfälle stürzten mit einer solchen Wucht herunter, dass es schon fast weh tat sich darunter zu stellen. Außerdem konnte man in den Becken, die die hinabstürzenden Wassermassen im Laufe der Zeit geformt hatten, wunderbar Wasserschlachten veranstalten. Den mittleren Wasserfall haben wir auch bestiegen und von unserem Aussichtspunkt aus den unten Planschenden zugewunken, wobei unsere Schatten auf den Strand fielen. Bald darauf erkannten wir aber auch den Reiz des kleinsten und unscheinbarsten der drei Wasserfälle. Das hier geformte Becken war tief genug, um gefahrlos von den Felsen hinunterzuspringen. Damit verbrachten wir dann auch den Grossteil der uns verbleibenden Zeit. Springen, Hochrennen oder –klettern, springen ... wir übten uns in Kunst- und Gruppenspringen und legten uns zwischendurch zum Trocknen auf die sonnigen Felsen, um die Kunststücke der anderen Springenden zu beobachten. Dieser Ort ist einfach perfekt und deshalb war es auch nicht weiter verwunderlich, dass wir den Heimweg mit fast einer Stunde Verspätung antraten. Die Tage in Santa Cruz verstrichen viel zu schnell und bald war unser letzter gemeinsamer Abend gekommen. Einige Teilnehmer hatten sich schon früher auf den Heimweg gemacht, da nun die Karnevalstage anbrachen und sie an den örtlichen Feierlichkeiten teilnehmen wollten oder sogar im Zug mitgingen. Für unseren letzten Abend hatten wir ein gemeinsames Festmahl geplant, dass diesmal nicht im Speisesaal, sondern im Innenhof stattfinden sollte. Wir bauten eine richtige Tafelrunde auf, Kerzen gaben dem Ganzen eine edle Atmosphäre und schon bald wurde unter einem sternenübersäten Sommerhimmel herzhaft geschmaust und geschnattert.

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Später wollten wir zum krönenden Abschluss des Seminars wenigstens einmal zusammen in die Disco gehen. Da aber keiner den genauen Weg kannte, irrten wir nach einer halben Stunde immer noch ein wenig verloren durch die immer gleich aussehenden Strassen von Santa Cruz. Schließlich baten wir einen Taxifahrer um Auskunft, der uns auch sogleich anbot uns dorthin zu fahren. Wir schauten uns an und konnten ein breites Grinsen nicht unterdrücken, immerhin waren wir elf Leute und weit und breit kein zweites Taxi in Sicht. Der Taxifahrer schien da kein Problem zu sehen und so stapelten wir uns auf die Rückbank und in den Kofferraum und konnten es fast selbst nicht glauben, aber es klappte. Wir waren zwar schwer überladen und verdammt langsam, aber das schien hier niemanden zu interessieren - am wenigsten die Polizei, die uns einfach überholte und weiterfuhr. Die Disco an sich war für meinen Geschmack nicht so der Hit, aber wir hatten trotzdem unseren Spaß. Spätestens hier konnte man auch erkennen, wer an seinem Einsatzort den Luxus einer Waschmaschine besaß, denn das Schwarzlicht brachte bei uns Handwäschern die nicht ganz rausgewaschenen Waschmittelkörner ans Licht. Um etwa drei Uhr fuhr ich mit den Ersten zurück zum Kolping-Haus, denn am nächsten Morgen war es Zeit nach Salvador zurückzukehren und diesmal wollte ich nicht die ganze Reise verschlafen. Allerdings hatte ich die Rechnung nicht mit den im Haus gebliebenen Freiwilligen gemacht, die uns darum baten sie bei der Vernichtung der letzten Weinflaschen ein wenig zu unterstützen… Die Heimreise verlief bis auf meinen zweistündigen Aufenthalt in São Paulo ganz entspannt. Dort wurden nämlich alle Reisenden direkt in eine lange Schlange geschoben und jeder bekam ein Zettelchen in die Hand gedrückt, auf dem ganz genau eingetragen werden musste, aus welchem Land man einreiste, wie viel Zeit man dort verbracht hatte, ob man SARS-Symptome wie Atemnot, starken Husten und hohes Fieber bei sich oder Kontaktpersonen beobachten konnte, und, und, und. Diese aufwendige Kontrolle dauerte natürlich Ewigkeiten und ich verbrachte nahezu meinen gesamten Aufenthalt in besagter Schlange und sorgte mich schon um meinen immer näher rückenden Anschlussflug. Langweilig war die Wartezeit jedoch nicht, da das Beobachten der anderen Fluggäste sich als äußerst interessanter Zeitvertreib herausstellte. So hatten zum Beispiel Menschen mit asiatischen Gesichtszügen eine erstaunliche Bewegungsfreiheit, während man sich sonst überall eng aufeinander drängte. Außerdem hatten sich einige besonders Vorsichtige Handtücher oder Pullover über die Atemwege gelegt, um sich nicht zufällig einen der bösen SARS-Erreger einzufangen (Ein Verkäufer von Atemmasken hätte hier wohl das Geschäft seines Lebens gemacht). Am Schlimmsten war das Warten sicherlich für all die leicht Erkälteten unter uns. Wenn sie nach minutenlangem, erfolgreichem Unterdrücken dann doch dem Hustenreiz nachgeben mussten, schoss sofort ein Ausdruck von nackter Panik in die Augen der Umstehenden und sie wurden mit Blicken gestraft, die besagten: "Willst du mich etwa umbringen?" So weit ich weiß, trug keiner der an diesem Tag mit mir Reisenden den SARS-Erreger in seinen Lungen und auch ich erfreue mich immer noch(!) bester Gesundheit.

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6. Bericht März - Mitte Mai 2003

Anne Wenk

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Als ich am ersten März vom Freiwilligenseminar in Bolivien zurückkehrte, und nachdem mich Fernando am Flughafen abgeholt und nach Hause gefahren hatte, stellte ich mit leichter Verwunderung fest, dass ich ganz allein zu Hause war. Bald kam ein Anruf von Djailton, der mir freudig mitteilte, dass sich meine Salvador-Familie über die Karnevalstage auf eine nahe gelegene Insel zurückgezogen habe und erst am folgenden Donnerstag zurückkehren wollte. Schnell rechnete ich mir aus: das heißt vier Tage sturmfrei! – wobei sowieso schon die ganze Stadt im Partytaumel schwebte... Ich konnte auf Airí, Djailton und Aluísio also gar nicht böse oder neidisch sein, sondern freute mich nach einer Woche mit 50 anderen Freiwilligen sogar richtig darüber, die Casa für ein paar Tage mal ganz für mich allein zu haben. Den Sonntag verbrachte ich hauptsächlich damit, ein wenig Ordnung in mein Reisechaos zu bringen und natürlich Márcia anzurufen, um mich mit ihr zu beraten, was wir denn nun mit so viel Freiheit anfangen sollten. Nach einer Antwort mussten wir nicht lange suchen, schließlich steckten wir ja mitten in der Karnevalswoche, die in diesen Tagen ihren Höhepunkt erreichen sollte; und so zogen wir am späten Nachmittag Richtung Stadtzentrum. Auf der Busfahrt, die ohnehin schon immer sehr abenteuerlich verläuft, waren wir umgeben von fröhlichen Menschen, die ausgelassen sangen, auf dem Inventar herumtrommelten, pfiffen, und wie auch in Deutschland zur Karnevalszeit üblich, in regelmäßigen Zeitabständen die Bierdose oder Cachaça-Flasche (Zuckerrohrschnaps) zum Mund führten. Damit hörte die Ähnlichkeit zum rheinischen Karneval aber auch fast schon auf; denn hier konnte ich keine verschieden kostümierten Jecken, Dreigestirne oder Karnevalsvereine im fröhlichen Treiben auf den Strassen ausmachen. Stattdessen trugen viele Leute knallbunte T-Shirts mit dem Namen und Logo “ihres” Trios. Die Trios sind altbekannte und neue Bands, die auf riesigen Lautsprecherwagen durch die Hauptstrassen rund um den Campo Grande (großer Platz) ziehen. Hinter diesen monströsen Gefährten formiert sich ein bloco (Block). “Im” bloco, der von einem festen Tau und einer Horde Sicherheitsmenschen eingefasst wird, befinden sich diejenigen, die die 10 – 30 Euro für eines dieser knallbunten T-Shirts ihrer Lieblingsband zusammenbekommen haben und tanzen wild zu den Samba-, Percussion- oder Pagoderhythmen, die auf den Wagen vor ihnen mit überdimensionaler Lautstärke produziert werden. Der “unbe-t-shirte” Rest, zu dem auch Márcia und ich zählten, geht außerhalb des Blocks hinter den dröhnenden Wagen her oder hält sich auf den von Menschenmassen und Bierverkäufern überquellenden Bürgersteigen auf. Aller paar hundert Meter ist ein kleiner Hochsitz mit einem Polizistentrupp (A-E) postiert, wo versucht wird, nach dem Rechten zu schauen. Dies ist gar nicht so einfach, da sich unter den unübersichtlichen Menschenmassen an den Straßenrändern auch ein regelrechtes Heer von Taschendieben und betrunkenen Unruhestiftern befindet. Aus diesem Grund bahnen sich auch von Zeit zu Zeit kleine “Ameisentrupps” von Polizisten ihren Weg durch die Menge. Man erkennt sie schnell an ihren braunen Uniformen, den schusssicheren Westen, den gut sichtbaren Handschusswaffen und Schlagstöcken, sowie den leuchtend weißen Helmen, auf denen große, schwarze Buchstaben von A bis E prangen. Márcia und ich haben uns immer einen Spaß daraus gemacht, wenn die Reihenfolge ein wenig durcheinander gekommen war: Ob D denn A etwas so Wichtiges mitzuteilen hatte? – Oder wollte E nicht mehr das Schlusslicht sein? Doch bei all dem Spaß konnte ich auch gut beobachten, dass die Menge sich beim Anmarsch eines solchen Ameisentrupps ganz plötzlich öffnete, da, wie Márcia mir erklärte, die Polizisten an den Karnevalstagen ganz besonders schnell und brutal mit ihren Schlagstöcken um sich hauen. Ich musste mir wegen Taschendieben oder Polizisten allerdings keine großartigen Gedanken machen, da Márcia mein Geld an sich genommen hatte und wir ansonsten auf jegliche Wertsachen oder Taschen verzichtet hatten. Von ein paar Typen, die der Meinung waren, an Karneval gelte das absolute Freiknutschrecht, einmal abgesehen, hatten Márcia und ich einen tollen 67

Abend und tanzten bis in die frühen Morgenstunden durch Salvadors wie elektrisierte Straßen. Am nächsten Tag nahm ich mit Sybille Heller und Hermann-Josef Platzbecker, die mittlerweile auch ihren Weg von Santa Cruz nach Salvador gefunden hatten und in ein paar Tagen das nächste Freiwilligenseminar bestreiten wollten, Kontakt auf. Sie und bereits zwei der Freiwilligen waren im Seminarzentrum CTL am “praia do flamengo” (Flamingostrand) am anderen Ende der Stadt untergebracht. Dies befindet sich auch ganz in der Nähe vom Stadtteil Piatã, wo Ismael, den ich auf der Busfahrt zum Welt Sozial Forum in Porto Alegre, kennengelernt hatte, wohnt. Unter den bereits früher angereisten Freiwilligen war auch Esther, die ihren Dienst im kriegsgeschüttelten Kolumbien leistet und mit der ich mich bereits auf den Vorbereitungsseminaren in Aachen und Köln angefreundet hatte. Da sich keiner von ihnen in Salvador auskannte, verabredeten wir, dass wir uns am Abend im Seminarzentrum treffen und von dort aus gemeinsam zum Karnevalstreiben in die Innenstadt fahren sollten. Um Spaß- und Sicherheitsfaktor noch zu erhöhen, machte ich mit Márcia aus, dass wir uns später am “Elevador Lacerda”, dem Aufzug, der die Ober- mit der Unterstadt verbindet, treffen und fuhr wenig später schon los, da die Busfahrt dorthin schon an Nicht-Karnevalstagen gute zwei Stunden dauern kann. Nach einem abenteuerlichen Umsteig- und Durchfragemarathon kam ich schließlich am frühen Abend im Zentrum an und die Wiedersehens- und Kennenlernfreude war natürlich groß. Nach einer kurzen Lagebesprechung machten wir uns auch schon auf den Weg; im Taxi würden wir schon noch genug Zeit zum Quatschen finden...dem war denn auch so – kurze Zeit später steckten wir im ersten Stau, und so viele Abkürzungen sich der Fahrer auch aus den Fingern sog, es half alles nichts, da das ganze Stadtzentrum bereits mit feiernden oder gerade anreisenden Menschen vollgestopft war. Zum Glück hatten Márcia und ich in weiser Voraussicht einen relativ späten Zeitpunkt für unser Treffen ausgemacht. Nachdem wir also schon ein Ewigkeit mit fünf Leuten plus Fahrer in dem kleinen Taxi gehockt hatten, erreichten wir endlich den Aufzug, wünschten unserem netten Fahrer noch viel Spaß in den kommenden Staus und flitzten mit dem proppevollen Elevador, der während der Karnevalstage umsonst ist (normalerweise kostet eine Fahrt 5 Centavos, also etwa 2 Cent), dem bunten Treiben entgegen. Oben angekommen besorgten wir uns für die Wartezeit gerade noch ein paar kühle Bierchen, als Márcia auch schon herangeschlichen kam und uns freudig begrüßte. In ihrem Schlepptau befanden sich noch ihr Freund Pedro und zwei ihrer Cousinen aus dem Inland. Nun konnte es also endlich richtig losgehen. Zur Einstimmung steuerten wir zunächst auf das Pelourinho zu, welches in diesem Jahr unter dem Motto “Baianas” bunt und fröhlich geschmückt war. Das Pelourinho, auch liebevoll Pelô genannt, ist Salvadors barocke Altstadt. Da die kopfsteingepflasterten Gässchen hier teilweise sehr eng sind, ziehen durch dieses Viertel nur kleine Umzüge und Fußgruppen. Es gab vielerlei zu bestaunen: Trommler, Tänzer, Stelzenmenschen und Kostüme, wie ich sie prachtvoller noch nicht gesehen habe. Das tolle an diesen ganz speziellen Kostümen im Stil der weitausladenden Kleider der Baianas waren aber nicht edle Stoffe oder teurer Schnickschnack; es waren phantasievolle Kleider, zusammengeschneidert aus bunten Verpackungsresten! Das Schönste von allem aber war die ausgelassene und freundliche Stimmung, so dass man einfach nicht anders konnte, als mit einem breiten Grinsen und staunend aufgerissenen Augen durch die Gassen zu wandeln. Hier und dort führen kleine Passagen in 68

versteckte Innenhöfe, die mit gemütlichen Bars besiedelt sind und in deren Mitte sich meistens eine kleine Bühne befindet. In einen solchen “Musikhof” führten wir auch unsere Besucher. Normalerweise kann man sich dort an ein kleines Tischchen setzen und anhand einer sogar ins Englische übersetzten Karte kulinarische Köstlichkeiten auswählen, während eine Liveband entweder MPB (Música Popular Brasileira), Samba, Reggea und ab und zu sogar Rock spielt. Da zur Karnevalszeit aber nahezu Nichts “normal” ist, konnte man die Bars vor lauter tanzenden Körpern fast nicht erkennen und wir hatten sogar Mühe uns einen Stehplatz mit Blick auf die energiegeladene Sambaband zu erkämpfen. Bei so vielen tanzenden Menschen und feurigen Rhythmen konnten auch wir unsere Füße nicht still halten und tanzten ausgelassen, bis sich die Band nach etwa einer Stunde und unzähligen Zugaben verabschiedete. Auch wir verließen ausgepowert den Hof, aßen eine typisch baianische “acarajé” mit ganz viel “pimenta” (Scharf) und schlenderten noch ein wenig durch die pulsierenden Gassen des Pelourinhos. Wir kamen wieder am Elevador Lacerda vorbei, wollten aber noch nicht nach Hause zurückkehren, sondern beschlossen der “Avenida Sete de Setembro” (die bekannteste Straße Salvadors, die nach dem Unabhängigkeitstag Bahias, dem siebten September, benannt ist) noch ein Stückchen Richtung Campo Grande zu folgen, wo wir auf den großen Umzug mit seinen Lautsprecherwagen und Menschenmassen stoßen sollten. Bevor wir uns jedoch ins Partygetümmel stürzen wollten, nahm Pedro die Wertsachen an sich, und da man im Gedränge ohnehin nur im Gänsemarsch vorwärts kommt, ging Márcia an der Spitze, gefolgt von mir, Fabian, Esther, Sybille, HermannJosef, ihren beiden Cousinen und zu guter Letzt Pedro. So waren wir auffälligen “gringos” unter der “Leitung” von Márcia und unter Pedros wachsamen Blick zumindest ein bisschen geschützt. Natürlich fielen wir mit unserer weißen Haut und den europäischen Kleidern trotzdem auf, und es gab auch unzählige Grabschattacken auf Körper und Taschen, doch uns wurde glücklicherweise nichts gestohlen und wir sind auch den meisten Prügeleien und Handgreiflichkeiten gut ausgewichen. Ein paar Tage später erfuhren wir von einem anderen Freiwilligen, dass er am selben Abend beraubt worden ist, die Geldbörse aber wieder an sich reißen konnte und als enttäuschtes Dankeschön Eins auf die Nase bekommen hatte, so dass diese nun gebrochen war. Mit solchen Situationen wurden wir “graças à deus” nicht konfrontiert, hielten uns aber auch den Rest des Abends bzw. Morgens über in relativer Nähe von den “A-bis-E-Hörnchen”, wie wir die anonym auf ihrem Hochsitz hockenden Polizeitrupps später tauften, auf. Im Gegensatz zum Karneval in Deutschland kommt von den großen Wagen übrigens nur dröhnend laute Musik angeflogen – nix da mit Kamelle! Als ich von ein paar Brasilianern gefragt wurde, wie denn Karneval in Deutschland aussähe, und sie von den Tonnen an 69

Süßigkeiten hörten, die bei deutschen Karnevalsumzügen jedes Jahr unters Volk und auf die Straßen geworfen werden, dachten sie, ich erzähle ihnen das Märchen vom Schlaraffenland. Am nächsten Tag habe ich mich erstmal ein wenig ausgeruht und bin dann in Djailtons Auftrag zur Escola geflitzt, wo während der immer noch andauernden Schulferien die ersten Umbau- und Renovierungsarbeiten mit finanzieller Unterstützung der Eine-Welt-AG durchgeführt wurden. Ich sollte mal allgemein nach dem Rechten schauen und etwas Geld, welches für neue Baumaterialien benötigt wurde, vorbei bringen. Leider gab es irgendein Problem mit den Wasser- und Abwasserrohren, so dass diese neu verlegt werden mussten und es für den am 10. März geplanten Schulanfang düster aussah. Auch die anderen Programme lagen zu diesem Zeitpunkt aufgrund der Ferien und erneut ausbleibender Zahlungen von World Vision sozusagen auf Eis. Am späten Nachmittag habe ich mich wieder in den Bus Richtung Itapuã gesetzt und Ismael zu Hause besucht. Zusammen gings dann weiter zum Seminarzentrum CTL, wo wir uns mit Esther, Fabian und dem frisch eingetroffenen Johannes verabredet hatten. Wir beschlossen, die sich bietende Gelegenheit zu nutzen und in meiner Casa in Mangueira eine kleine Sturmfreiparty zu veranstalten. Das hieß weitere zwei Stunden Busfahrt, die wir uns aber mit ausgiebigem Gitarrenspiel versüßten. In salvadorianischen Bussen ist es schon fast eine Selbstverständlichkeit, dass irgendjemand – meistens aus den hinteren Reihen - wie wild auf den Sitzen rumtrommelt und laut dazu singt. Deshalb bekomme ich hier beim Busfahren auch immer gute Laune. Da die Busse keine Stoßdämpfer zu besitzen scheinen, hüpft man regelrecht über die mit Schlaglöchern und Geschwindigkeitsblockern (drempels) übersäten Straßen, während sich die Stadt auf der anderen Seite des halb geöffneten Fensters immer wieder in einem neuen Licht und voller Überraschungen zeigt. In der Casa wurden wir schon von Márcia erwartet und schon kurz darauf saßen wir lustig zusammen, spielten Gitarre und sangen alle Lieder, die uns einfallen wollten. Dabei zeigten sich die Brasilianer bei Esthers & Fabians Version des Schlumpf-Songs ausgesprochen begeistert. Am nächsten Morgen mussten wir alle früh raus, da der offizielle Seminarbeginn 11 Uhr sein sollte und wir ja noch ein ganzes Weilchen Fahrtzeit einberechnen mussten. Wir schafften es sogar mal pünktlich zu erscheinen; das Seminar konnte aber trotzdem noch nicht beginnen, da alle anderen Teilnehmer sich mit der Anreise gehörig Zeit ließen und erst im Laufe des Tages eintrudelten. Dies störte uns allerdings nicht weiter, da das CTL optimale Rahmenbedingungen für eine kreative Freizeitgestaltung bietet. Der “praia do flamengo” ist einer der schönsten, aber auch gefährlichsten Strände Salvadors und befindet sich sozusagen vor der Haustür. Gefährlich ist er, weil er besonders nachts als Schwulenstrich genutzt wird und von Taschendieben wimmelt. Einer der Freiwilligen hat den Fehler begangen, allein mit seiner Kamera unterm Arm auf Foto-Tour zu gehen und ist natürlich auch prompt überfallen worden. Er hatte mehr Glück als Verstand, als er dem Dieb die Kamera wieder aus der Hand riss und sich befreien konnte. Nur eine Woche später ist nämlich an genau derselben Stelle ein deutscher Tourist überfallen und erstochen worden. Diesen schönen Morgen begannen wir jedoch mit einem ausgiebigen Wellenbad. Am Nachmittag fuhr ich allein nach Haus, schließlich hatte ich schon ein Seminar hinter mir und hatte keine Lust darauf, dieselben Themen immer und immer wieder zu besprechen. In den nächsten Tagen ließ ich mich noch öfters für ein paar Stündchen oder einen ganzen Abend blicken; und manchmal kamen sogar Ismael oder Márcia mit. Ich freute mich sehr so viele bekannte Gesichter unter den Seminarteilnehmern zu entdecken und zu erfahren, wie es den anderen in ihren Projekten so erging. Diejenigen, die ich nicht in Bolivien getroffen hatte, waren nun hier in Salvador. Am Sonntag, dem neunten März, wollte die mittlerweile auf 17 Teilnehmer angewachsene Gruppe unser Projekt in Mangueira besuchen und näher kennenlernen. Auch Aluísio, der mittlerweile zusammen 70

mit Airí & Djailton von der Insel zurückgekehrt war und nun schon wieder bis über beide Ohren in Arbeit steckte, gefiel die Idee einer kleinen “Projektführung” und er reservierte in seinem vollgestopften Terminkalender sogleich den gesamten Sonntagvormittag für uns. Wir vereinbarten, Aluísio um Neun zu Hause abzuholen und dann gemeinsam Mangueira und die verschiedenen Projektstationen zu besuchen. Ich übernachtete direkt im CTL, um am Morgen dem Fahrer des Kleinbusses im Straßenlabyrinth Ribeiras die Richtung weisen zu können. Die erste Station war die Schule (ECEL), welche noch immer mitten in den Umbauarbeiten steckte und nur schwer zu begehen war, da der schmale Gang zu großen Teilen aufgerissen worden war und nun mit neuen Rohren bestückt werden sollte. Danach musste dann noch alles wieder zugeschüttet werden. Aus diesem Grund konnte die Schule am nächsten Morgen auch nicht planmäßig mit dem Unterricht anfangen, und dies bescherte mir und allen anderen eine zusätzliche Woche Ferien. Aluísio hatte für 19 Uhr an diesem Abend zu einem Elternabend eingeladen, um die Mütter über den Unterrichtsaufschub in Kenntnis zu setzen. Väter finden übrigens nur selten den Weg zu Veranstaltungen der Associação – es gibt in Mangueira eben an jeder Straßenecke eine oder sogar mehrere Bars. Aluísio zeigte der Gruppe das Sekretariat und die vier Klassenräume, die unter dem ganzen Umbauschutt leider ziemlich mitgenommen aussahen. Er berichtete von der Entstehungsgeschichte der Schule, der angewandten Pädagogik nach Paulo Freire und den aktuellen Schülerzahlen. Als wir im obersten Stockwerk, welches den Versamlungsraum und die kleine Bibliothek beherbergt, ankamen, setzte ein für den Spätsommer typischer Platzregen ein und wir wurden mit feinen Wassertropfen besprenkelt - dort wird wohl auch noch etwas ausgebessert werden müssen... Von dort oben hat man einen Panorama-Blick auf die kleine, von Müll überschwemmte und großflächig mit Palafitas besiedelte Bucht. Palafitas sind Pfahlbauten, die über dem vom Müll und Exkrementen schwarz gefärbten Wasser von Menschen errichtet worden sind, die es sich nicht leisten können ein Grundstück oder Miete zu bezahlen. Hier leben auch sehr viele Kinder – und sie leben gefährlich. Schon viele Kleinkinder sind unbeobachtet aus der Hütte gelaufen, vom wackeligen Steg gefallen und ertrunken. Auch ein großer Teil unserer Schüler ist hier zu Hause. An Tagen, wenn die Sonne wieder so richtig erbarmungslos knallt, legt sich der penetrante Gestank, der einem sonst nur in unmittelbarer Nähe der Palafitas entgegenschlägt, über ganz Mangueira. Von der Schule aus ging es weiter zur SEDE, sozusagen dem Hauptgebäude der Associação, wo sich Raum für die PETI (Progamm zur Abschaffung von Kinderarbeit) und die „Grupos de Convivência“ (wörtlich: „Gruppen des Zusammenlebens“) bietet. Die Gruppen sind in verschiedene Altersstufen unterteilt und bei den wöchentlichen Treffen planen die Kinder Aktionen oder Ausflüge, die sie dann auch selbst in die Tat umsetzen und anschließend bewerten. Oftmals finden in diesem Rahmen auch Diskussionsrunden zu den Problemen Mangueiras im allgemeinen und den Schwierigkeiten der Kinder und Jugendlichen im speziellen statt. Des weiteren treffen sich hier die verschiedenen Tanz-, Capoeira- und Trommelgruppen. Auch über diese Programme sprach Aluísio ausführlich zu den Freiwilligen, welche ihm im Anschluss eine wahre Flut von Fragen stellten. Aluísio 71

liebt es übrigens mit interessierten Gruppen zusammen zu sitzen, Gedanken auszutauschen und Fragen zu beantworten. Bald darauf ging es weiter in Richtung Cooperativa (CEFP), wo Aluísio einen wahren Erklärmarathon zur Funktion der unterschiedlichen Kurse, die von Informatik über Kunstunterricht bis hin zu Kochkursen reichen, absolvierte. Zum Ende seiner Ausführungen hin versagte mir nach drei Stunden pausenlosem Übersetzen langsam die Stimme und ich war erleichtert, dass es zur Gesundheitsstation nur wenig zu sagen gab, da die Schlüsselhüterin gerade beim Frisör war. Trotzdem blieben wir noch ein wenig am Eingang stehen und eröffneten eine kleine Feedback-Runde, in der von vielen Seiten Begeisterung für Aluísios langjährigen Kampf und den Aufbau eines solchen Projektes geäußert wurde. Dann verabschiedeten wir uns herzlich von Aluísio, da es nun schon Mittag war und für ihn bereits die nächste Versammlung auf dem Plan stand. In diesem Moment kam Djailton vorbei und schlug vor, am Strand etwas essen zu gehen und anschließend zusammen die berühmte Kirche von Bonfim zu besichtigen. Dazu hatten wir in der nicht zu unterschätzenden Mittagshitze drei Kilometer Fußweg zurückzulegen, doch das in ganz Ribeira bekannte „pirão de aipim com carne do sol“ (Maniokpüree mit frittiertem „Sonnenfleisch“) und die beeindruckende und prachtvoll mit Gold verzierte Kirche aus der Kolonialzeit machten diese kleine Anstrengung auf alle Fälle wieder wett. Djailton begleitete uns später auch noch bis zur Bushaltestelle, wo wir am frühen Nachmittag einen Bus in Richtung Pelourinho bestiegen. Dort wollte sich die Gruppe die farbenfrohe Altstadt auch einmal bei Tageslicht und aus der Nähe betrachten, durch die vielen kleinen Gassen bummeln oder einfach nur gemütlich in einem der freundlichen Straßencafés sitzen und sich nach so vielen neuen Eindrücken entspannt zurücklehnen. Um 18 Uhr verabschiedete ich mich von der Gruppe, um den Rückweg nach Mangueira anzutreten, wo eine Stunde später der Elternabend beginnen sollte. Ich sprang noch mal in der Casa vorbei, um eine Dusche zu nehmen und wäre beinahe auf ein kleines, flauschiges Etwas getreten, das plötzlich mitten im Gang herumlag. „Das ist Marisa.“ – erklärte mir Airí freudestrahlend und bei näherem Betrachten konnte ich nun auch Füße und eine feuchte, schwarze Schnauze ausmachen, die sich mir auch sogleich interessiert schnüffelnd entgegenstreckte. Ein Hund! Damit wäre unsere seltsame WG nun also komplett. Airí und Djailton hatten die abgemagerte junge Hündin auf der Straße in einem Müllhaufen gefunden und ihren großen traurigen Augen nicht widerstehen können. Da wir unsere Schildkröte nach unserem Präsidenten LULA benannt hatten, war es eine Selbstverständlichkeit, dass unsere neue Hündin nun auf den Namen der First Lady, also Marisa, getauft wurde. Pronto. Leider konnte ich mir nicht die Zeit nehmen, unsere neue Mitbewohnerin (die mir direkt mal ein Häufchen unters Fenster gesetzt hatte) genauer unter die Lupe zu nehmen, da ich schon längst in der Schule hätte sein sollen. Ich brauchte mir aber keine Sorgen machen vielleicht etwas Wichtiges zu verpassen, da nach der üblichen halben Stunde Toleranzspanne immer noch Mütter eintrudelten und Aluísio erst mit einer Stunde Verspätung mit der Versammlung beginnen konnte. Er verkündete, dass der Schulanfang unter den gegebenen Umständen leider auf den 17. März verschoben werden müsste und bat die Mütter um Verständnis. Diese zeigten sich ganz und gar nicht begeistert, da dies bedeutete, dass ihr Nachwuchs nach drei langen Monaten nun noch eine weitere Woche hindurch die ganze Casa auf den Kopf stellen oder auf der Straße rumstreunen und sich neue Dummheiten ausdenken würde. Auch wir Lehrerinnen waren der Ferien langsam überdrüssig und freuten uns darauf, die Kinder nach so langer Zeit endlich wiederzusehen. 72

Doch bis die Bauarbeiten nicht abgeschlossen waren, schien es keine andere mögliche Lösung zu geben. In den folgenden Tagen pendelte ich immer zwischen Mangueira und dem Seminarzentrum hin und her, wobei ich ausreichend Gelegenheit hatte, mir die hohe Kunst des „im Bus- bzw. im Stehen-Schlafens“ anzueignen. Am 12. März endete das SalvadorSeminar und die Freiwilligen zerstreuten sich wieder in alle Himmelsrichtungen über den südamerikanischen Kontinent. Alle, bis auf mich und Seyran. Ohne es zu wissen waren wir sozusagen Schicksalsgefährten. Die gebürtige Kölnerin kam damals etwa zur selben Zeit wie ich nach Salvador, hatte mit ganz ähnlichen Sprach- und Eingewöhnungsproblemen zu kämpfen und würde nun ebenfalls aus visumtechnischen Gründen nach Deutschland zurückkehren müssen. Für sie stand - im Gegensatz zu mir – leider keine baldige Rückkehr in Aussicht und ihr fiel es deshalb noch schwerer als mir, sich von Salvador und Brasilien zu verabschieden. Unsere Projekte waren sogar gar nicht so weit voneinander entfernt gelegen und ich hätte sie gerne zu einem früheren Zeitpunkt kennengelernt. So wäre es für uns beide vielleicht ein wenig einfacher gewesen. Mir verblieben nun nur noch 14 Tage bis zu meinem Rückflug nach Deutschland und ich wollte die mir noch verbleibende Zeit so intensiv wie möglich nutzen. Dazu hatte ich am folgenden Wochenende auch sofort die Gelegenheit, da in ganz Salvador ein großes Straßenkünstlerfestival stattfinden sollte. Ismael und ich fuhren zusammen zu einem der Veranstaltungsorte in der Nähe – dem „aeroclube“, eine sich auf amerikanische Vorbilder stützende Shopping-City mit Wild-West-Flair. Ich kam mir vor wie im Phantasialand. An jeder Wegkreuzung wartete eine neue Attraktion auf uns und ich fühlte mich freudig an die Zeiten mit Herrn Bücken und seinem Traumtheater zurückerinnert. Es gab Einiges zu bestaunen: Seilakrobaten, Einradfahrer, verrückte Stelzenmenschen, Improvisationstheater, Marionettenshows, Street Dance und Trommelgruppen, alle Arten von fantasievollen Wunderwesen und sogar einen Geschichtenerzähler mit schwarzem Schlapphut, einem (Spenden-sammel-)Äffchen und (jetzt kommts:) einer alten Drehorgel, die dem Ganzen einen Hauch von Nostalgie verlieh. Einfach zauberhaft! Am Montag, dem 17. März, wurde zur großen Freude aller der Unterricht in der Escola wieder aufgenommen. Da es schon jetzt Lehrstoff aufzuholen gab und meine verbleibende Zeit ohnehin knapp bemessen war, gab ich in dieser Woche keinen Kunstunterricht mehr. Stattdessen half ich in der Schulküche, wo es immer etwas zu tun gibt, bei der Zubereitung und Verteilung der Mahlzeiten an die insgesamt 200 hungrigen Mäuler. Nach der Essensausgabe gab es dementsprechend immer Berge von dreckigem Plastikgeschirr zu bewältigen. Wenn ich nicht gerade in der Schule war, hielt ich mich in der Nähe von Aluísio auf. Zusammen kümmerten wir uns um alle noch fehlenden Visumunterlagen und anderen Papierkram. Am Donnerstag musste die Schule ihre Schützlinge schon wieder frühzeitig entlassen, da ganz Mangueira von einem Stromausfall lahmgelegt wurde und man in den fensterlosen Klassenzimmern unmöglich ohne Licht und Ventilatoren unterrichten konnte. Am Freitag gab es dafür dann eine ganz besondere Aktion. Die zunehmenden Spannungen zwischen den USA und dem Irak; und die nun einsetzenden Luftangriffe veranlassten die Lehrerinnen dazu einen Friedenstag mit den Kindern zu veranstalten. Dabei hatten die Kinder, die ja auch schon vieles aus dem Fernsehen aufgeschnappt hatten, die Gelegenheit über ihre Eindrücke und Ängste zu sprechen und sich darüber bewusst zu werden, was Krieg eigentlich ist. Zum krönenden Abschluss bastelten alle Klassen weiß-blaue Fähnchen mit der Aufschrift „PAZ“ (Frieden) auf der einen und einer 73

Friedenstaube auf der anderen Seite. Außerdem pinselten wir ihnen noch „PAZ“ mit leuchtend weißer Farbe auf die Wangen. Nach dem Unterricht marschierten alle Klassen fähnchenschwenkend durch das Schulgebäude und alle Kinder brüllten im Chor: „Nós queremos paz!“ – „Wir wollen Frieden!“. (Foto siehe Deckblatt) Am Samstag morgen machte ich mich wieder auf nach Piatã, da Ismael von einem Kinofestival, das an diesem Wochenende stattfinden sollte, gehört hatte. Nachdem wir uns durch den Veranstaltungsteil der Zeitung gekämpft hatten und letztendlich doch noch den dort angegebenen Ort gefunden hatten, mussten wir enttäuscht feststellen, dass die Filme mit freiem Eintritt alle schon liefen und nun nur noch die am Abend laufenden und zu bezahlenden Streifen zur Auswahl standen. Wir änderten kurzerhand unser Tagesprogramm und fuhren mit dem Bus zu Ismaels früherem Wohngebiet, wo wir uns mit alten Freunden von ihm trafen und einen feucht-fröhlichen Abend mit allerhand interessanter Geschichten und einer betagten, aber für solche Zwecke wie erschaffenen Gitarre verbrachten. Am nächsten Tag hatte ich zum ersten Mal die Gelegenheit, CNN zu sehen und Genaueres über das aktuelle Kriegsgeschehen in Erfahrung zu bringen; und ich hatte bald genug davon. Außerdem bildete sich in meinem Kopf langsam ein wirres Sprachknäuel, da ich die englischen Nachrichten ins Portugiesische zu übersetzen versuchte. Als ich mich später auf den Heimweg nach Mangueira machte, wussten wir beide nicht, dass es bereits ein Abschied auf längere Zeit sein würde. Und dies war erst der Anfang (vom Ende). Den Rest des Wochenendes verbrachte ich hauptsächlich damit, meine Klamotten und alles, was sich in sechs Monaten eben so ansammelt, auszusortieren und zusammenzupacken. Eine wahrlich nervenaufreibende und lästige Angelegenheit. Losgehen sollte es zwar erst am Mittwoch, doch die erste Abschiedswelle erreichte mich schon am Montag. Während ich zum vorerst letzten Mal mit meinen Eltern und Bruno im fernen Deutschland telefonierte, kam in der Casa ein seltsam geschäftiges Treiben auf. Und als ich den Hörer auflegte, waren sie plötzlich alle da. Alle, die mir im vergangenen halben Jahr zu Vertrauten und zu einer zweiten Familie geworden sind, hatten sich eingefunden, um mich mit eine gebührenden Abschiedsparty zu überraschen. Djailtons Mama hatte zu diesem Anlass in stundenlanger Arbeit riesige Kessel mit Massen von Reis und Xíxí (ich weiss, bis heute nicht, aus was diese undefinierbare Masse besteht, aber es schmeckt) gefüllt. José hatte die Gitarre mal nicht vergessen und Márcia hat es sogar irgendwie geschafft Seyrans Nummer rauszukriegen und sie ebenfalls einzuladen. Der Einzige, der es nicht schaffte zu kommen, war Ismael, da er in der Uni festsaß. Es war einfach der Wahnsinn! So viele liebe Freunde, die mir im Laufe des Abends ermutigende Abschiedsbriefe zusteckten und mich umarmten, dass es mir fast die Seele aus dem Leib riss. Wir saßen noch bis in die frühen Morgenstunden beisammen und sangen Lieder, die ich mittlerweile sogar verstand und mitsingen konnte. Und diejenigen, die mir am dringlichsten einschärften nicht in Tränen auszubrechen, waren die ersten, die sich selbst nicht daran hielten. Den Dienstagvormittag verbrachten Aluísio und ich im Notariat, wo wir die letzten, für das Visum meiner Nachfolgerin Ruth Meertens benötigten Dokumente erstellen und beglaubigen ließen. Von dort aus fuhren wir nach Mangueira; Airí und Djailton hatten ganz in der Nähe der Cooperativa eine Wohnung gesehen, die zu vermieten war. Unsere 74

Wohnung in Ribeira würde für die drei ohne meine Beteiligung einfach zu teuer werden und außerdem sehnte sich Aluísio nach mehr Nähe zu Mangueira und dem Projekt. Die Wohnung wirkte freundlich, doch irgendwie war es seltsam zu wissen, dass ich wahrscheinlich nie wieder in unsere Casa am Strand zurückkehren würde. Dann gab es immer noch ein paar Kleinigkeiten zu packen, ein ständiges Kommen und Gehen, weitere Abschiede und die Stunden vergingen wie im Flug. Plötzlich war es auch schon Mittwochmorgen, die letzte Nacht unterm Moskitonetz vorbei, und ich machte mich endgültig auf, um mich Stück für Stück von Allem, was ich hier liebgewonnen hatte, zu verabschieden. Ich begann in der Schule, wo die Kinder steinerweichende Abschiedslieder für mich sangen und mich mit ihren energischen Umarmungen fast von den Füßen rissen. In der Küche wurde ich von den Lehrerinnen und Köchinnen feste gedrückt und ich verabschiedete mich mit dem Versprechen „Eu vou voltar!“ – „Ich werde zurückkommen!“ Und sie antworteten mir auf ihre typisch brasilianische Art: „Se deus quizer!“ – „So Gott will!“. Nachdem ich mich von allen in Mangueira verabschiedet hatte, machte ich mich auf zum Meer, wo ich mich noch mit ein paar Kindern aus der Nachbarschaft unterhielt. Letztendlich setze ich mich allein auf den Bootsanlegesteg und ließ meinen Gedanken freien Lauf... Ich betrachtete die vertraute Bucht, lauschte dem Rauschen der sanft heranrollenden Wellen und erinnerte mich an die unzähligen Male, die ich mich hier habe treiben lassen. Und plötzlich verschlossen mir zwei kleine Hände die Augen und ließen mich rätseln, wer mich hier wohl gefunden hatte. Die Hände gehörten zu Danielle, und sie hatte mich wohl schon eine geraume Weile gesucht, bis sie auf die Idee kam, dass ich wahrscheinlich zum Strand gegangen bin .Auch sie wollte sich nun von mir verabschieden. Wir gingen noch eine Weile Muscheln sammelnd und in gemeinsamen Erinnerungen schwelgend am Strand spazieren, bevor es Zeit wurde, in die Casa zurückzukehren und sich in Richtung Flughafen zu bewegen. Airí, Djailton, Márcia und José brachten mich noch bis vor die Tür, wollten aber nicht mit ins Auto einsteigen, da Abschiede, wie Dja mir verriet, schnell gehen müssen und sonst viel zu emotional und schmerzhaft sind. Nachdem Aluísio eingestiegen war, fuhr Fernando auch sofort los und ich konnte nur noch kräftig winken und hoffen, dass ich alle gesund und munter wiedersehe. Bald ließen wir die dicht besiedelten Favelas der Cidade Baixa (Unterstadt) hinter uns und erreichten die dreispurige Umgehungsstraße Richtung Flughafen. Ich hatte einen dicken Kloß im Hals und selbst wenn ich gewollt hätte, wäre mir das Sprechen schwer gefallen. Auch die anderen beiden saßen stumm da und blickten aus dem Fenster. Dann erreichten wir auch schon die von riesigen Bambussträuchern überdachte Flughafeneinfahrt und ehe ich mich versah, stand ich in der Check-In Schlange und verabschiedete mich ein letztes Mal von Aluísio und Fernando. Sie winkten mir nochmals aufmunternd zu und schon waren sie hinter der nächsten Ecke verschwunden und ich stand wieder genauso allein und verwirrt wie genau sechs Monate zuvor da. Die ganze Abfertigungsprozedur lief wie ein schon altbekannter Film an mir vorbei, während ich mich mit dem Strom der anderen Reisenden treiben und die Ereignisse des vergangenen halben Jahres vor meinem inneren Auge Revue passieren ließ. Dann saß ich auch schon auf dem mir zugewiesenen Platz im Mittelgang, neben mir ein paar Trottel, die den Eindruck erweckten, als kämen sie frisch vom Ballermann, und ich bezweifelte, dass sie neben Bier und Strand viel von Brasilien mitbekommen hatten. Ich kümmerte mich aber nicht weiter darum, sondern verfiel bald in einen seltsam unwirklichen Zustand zwischen 75

Schlaf und Wachsein, mit meinen Gedanken irgendwo zwischen den Erinnerungen an Brasilien und der langsam wachsenden Vorfreude auf Deutschland. Um 13:40 Uhr deutscher Zeit erreichte ich Frankfurt, wo ich noch ca. zwei Stunden Aufenthalt hatte, bevor es zur Endstation Düsseldorf gehen sollte. Der Frankfurter Flughafen versetzte mir schon einen kleinen Schock. Alles wirkte auf mich so luxuriös, anonym und abweisend. Statt bunter Shorts und Flip-Flops trugen viele Menschen dunkle Anzüge und Kostüme und liefen zielstrebig in alle Richtungen, ohne den Blick von ihren Füßen oder der Armbanduhr zu heben. Ich fuhr mit ein paar Rolltreppen, schlenderte an den üblichen Souvenir- und Modelädchen vorbei und landete schließlich in einem Café, wo ich mir einen Milchkaffee zum Preis von zwei brasilianischen Mittagessen kaufte. Ich setzte mich an einen der kleinen Tische und beobachtete das Geschehen um mich herum. Manchmal wusste ich echt nicht, ob ich nun lachen oder weinen sollte; fühlte mich auf einmal so fremd in einer Welt, die jahrelang mein zu Hause war und war erleichtert, als es Zeit wurde den vorerst letzten Flug anzutreten. In Düsseldorf teilte ich mit ein paar anderen Fluggästen das große Vergnügen noch eine weitere halbe Stunde auf unser Gepäck zu warten, da dies erst mit der nächsten Maschine aus Frankfurt kam. Nach einem kleinen Plausch mit den Zollbeamten rollte ich meinen Gepäckwagen endlich durch die Schiebetür, schaute mich suchend um und erfasste nach ein paar Sekunden die erwartungsvollen Gesichter meiner Eltern. Ich habe mich, glaube ich, noch nie zuvor in meinem Leben so sehr darüber gefreut, die Beiden wiederzusehen und von ihnen fest umarmt zu werden. Nun war ich endlich wieder zu Hause. Natürlich überhäuften sie mich mit unzähligen Fragen und auf dem Weg zum Auto plapperten wir nahezu ununterbrochen. Als wir aus dem Flughafengebäude traten, konnte ich gar nicht schnell genug meine Jacke überstreifen. Ich hatte ganz vergessen wie kalt Kälte sein kann. Auf der Fahrt schaute ich wie gebannt aus dem Fenster auf die altbekannte Landschaft, die ich auf einmal mit ganz anderen Augen zu betrachten schien. Die Felder und Bäume zeigten schon die ersten Spuren von Frühlingserwachen, hatten den langen, kalten Winter aber noch immer nicht ganz abgeschüttelt. Das Licht war hier so anders als in Brasilien, als hätte jemand einen Dimmer in die Sonne eingebaut. Dann dieser Geruch von feuchter Erde....und die vielen Autos. Es war mir gar nicht mehr bewusst gewesen, wie viele neue und schnelle Autos Deutschlands Straßen bevölkern. Dafür vermisste ich etwas anderes: Menschen. Als wir, wie schon so viele hundert Male zuvor, in Golkrath einfuhren, kam mir mein kleiner Heimatort wie ausgestorben vor. Hier spielte sich das Leben eben in den Häusern und Autos und nicht wie in Brasilien auf den Bürgersteigen und Plätzen ab. Dies ist mit Sicherheit auch klimabedingt, mir aber früher nie aufgefallen. Als wir vor unserer Haustür Halt machten, begann mein Herz schneller zu schlagen. Ganz aufgeregt betrat ich die Wohnung und alles roch noch genauso wie immer; nur ein paar Kleinigkeiten hatten sich in meiner Abwesenheit verändert. Ich trat auf den Hof und meine Schritte lenkten mich automatisch in unseren Garten, den ich schon immer geliebt und in der Großstadt Salvador richtig vermisst hatte. Ich füllte meine Lungen mit der frischen Landluft und plötzlich brachen die Erinnerungen wie eine Flutwelle auf mich nieder. Es war, als würde jemand Daumenkino mit meinem Gedächtnis veranstalten. Die Tränen schossen mir in die Augen, während sich Bilder aus meiner Kindheit und Jugend mit den noch so zum Greifen nahen Impressionen aus Brasilien vermischten und wie ein Strudel um mich kreisten. Ich war gleichzeitig in der Casa und zu Hause, oder irgendwo dazwischen, und ich fühlte in nur einem Moment unendliches Glück und unstillbare Sehnsucht zugleich. Es war genauso schnell wieder vorbei, wie es gekommen war und ich ging zurück zum Haus, um mit meinen Eltern und meinem Bruder zusammen zu sein. Am nächsten Tag, dem 28. März, veranstaltete die Eine-Welt-AG zum dritten Mal das „CIRCLE ONE CONCERT“ und es war wieder unglaublich gut. An diesem einen Abend habe ich nahezu alle meine Freunde, die ich nun schon seit über sechs Monaten nicht mehr gesehen hatte, wiedergetroffen. Es war ein tolles Konzert und ich hatte verdammt 76

viel Spaß, aber irgendwie war es für mich auch ein bisschen zu viel von allem. In den folgenden zwei Wochen hatte ich alle Hände voll damit zu tun den Nachholbedarf zu decken und mich mit Freunden zu treffen und mit ihnen zu Konzerten und anderen Veranstaltungen zu fahren. Wie sehr ich mich danach gesehnt hatte. Es ist einfach unglaublich, wie viel und wie wenig sich in einem halben Jahr verändern kann. Es gab Neuigkeiten und Geschichten, die mich vom Hocker rissen und von denen ich nicht den Hauch einer Ahnung gehabt hatte. In solchen Momenten wurde mir auf einmal bewusst, wie weit weg ich wirklich gewesen bin. Andererseits war ich z.B. auch froh darüber, dass ich von der ganzen „Deutschland sucht den Superstar“-Aktion rein gar nichts mitbekommen habe. Genau eine Woche nach meiner Ankunft fuhr ich mit Papa zum brasilianischen Generalkonsulat in Frankfurt, um die mühsam zusammengetragenen Visumunterlagen, die nun hoffentlich vollständig waren, abzugeben. Von nun an konnte ich nur noch Warten. Kein Mensch weiß, wie lange so ein Visumantrag braucht, um in Brasília auf dem richtigen Schreibtisch zu landen. Die nette Konsulatsbeamtin erklärte mir, dass die Bearbeitungszeit gut und gerne drei bis vier Monate in Anspruch nehmen könnte. Tolle Nachrichten! Ich war glücklich wieder zu Hause zu sein, um „die Sehnsucht zu killen“ (para mata a saudade), wie man in Brasilien so schön passend sagt, doch die unklare Visum-Situation und das Gefühl, in der Schwebe zu hängen, setzten mir mehr und mehr zu. Ich ging nun fast jeden Tag auf den Feldern spazieren, um die konfusen Gedanken zu ordnen und einen klaren Kopf zu behalten. In Salvador hatte mir das Schwimmen im Meer immer so wunderbar dabei geholfen. Für mich stand fest, dass ich so schnell wie möglich nach Brasilien zurückkehren wollte. Gleichzeitig war mir aber auch bewusst, dass dies eine ganze Weile dauern könnte und ich wollte diese Zeit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Also machte ich mich auf Jobsuche. Mit der Zeit spürte ich, wie Brasilien von Tag zu Tag ferner rückte und ich mich wieder an das Leben in Deutschland zu gewöhnen begann. Wie würde das erst nach vier Monaten aussehen? Würde ich überhaupt noch nach Brasilien zurückkehren wollen; schließlich musste auch ich irgendwann einmal mit dem Studium anfangen. Um den Kontakt nicht abbrechen zu lassen, telefonierte ich jede Woche (zur gewohnten Zeit) mit meiner Familie in Brasilien. Allgemein schien es allen gut zu gehen, doch Aluísio hatte immer größere Schwierigkeiten, das Projekt in Gang zu halten. Dies lag unter anderem daran, dass sowohl der Staat als auch World Vision, der finanzielle Hauptträger des Projektes, versprochene Gelder zurückhielten und es für Aluísio so unmöglich wurde, die verschiedenen Programme zu finanzieren. Zu diesem Zeitpunkt war der einzige funktionierende Sektor der Associação die Gemeinschaftsschule; und dies war nur noch möglich, da die Lehrerinnen und Angestellten auch ohne Gehalt weiterarbeiteten. Auf lange Zeit gesehen stellte das natürlich keine Lösung dar, denn auch diese Menschen müssen ihre Familien mitversorgen und Rechnungen begleichen. Keiner wusste, wie es weitergehen sollte. Ostern rückte nun immer näher, und obwohl ich nach all dem Reisen meinen Eltern versprochen hatte, nicht einmal im Traum an die Möglichkeit zu denken, beschloss ich nach Taizé zu fahren. Taizé ist ein kleiner Ort in Frankreich, wo Bruder Roger um die Zeit des zweiten Weltkriegs ein ökumenisches Kloster gegründet hatte. Seit Jahrzehnten strömen jedes Jahr Tausende von Jugendlichen aus ganz Europa dorthin und leben in einer Art Zeltstadt friedlich zusammen. Neben den drei täglichen Messen gibt es verschiedene Gesprächs- und Arbeitsgruppen, und auch sonst allerlei Möglichkeiten zu Reflektion und Gedankenaustausch. Seit meinem 15. Lebensjahr bin ich jedes Jahr in der Woche nach Ostern mit Freunden nach Taizé gefahren und ich spürte, dass die Zeit wieder reif war. Wie sich herausstellte, war es das Beste, was ich machen konnte. Ich wurde mit jedem Tag ruhiger und ausgeglichener, zerbrach mir nicht mehr den Kopf über Dinge, auf die ich ohnehin keinen Einfluss hatte, und fühlte mich insgesamt einfach zuversichtlicher. Außerdem lernte ich einen Haufen netter Menschen kennen, darunter 77

auch Nelson aus Portugal, mit dem ich mich stundenlang auf Portugiesisch unterhalten konnte. Dabei stellten wir fest, dass brasilianisches Portugiesisch sich nicht nur in der Aussprache, sondern auch in den Bedeutungen einzelner Wörter teilweise stark von dem Portugiesisch, das in Portugal gesprochen wird, unterscheidet. Am Dienstag rief ich sogar noch in Deutschland und Brasilien an, um sowohl meinem Papa als auch Aluísio zum Geburtstag zu gratulieren. Als ich in der Nacht von Samstag auf Sonntag um zwei Uhr zu Hause eintraf, erwartete mich meine Mama schon mit einer dringenden Nachricht aus Brasilien. Es war eine E-Mail von Djailton, in der er mich darum bat, ihn schnellstmöglich in Salvador anzurufen. Ich schnappte mir sofort das Telefon – in Brasilien war es schließlich erst 21 Uhr – und hatte ihn auch sofort am Apparat. Er berichtete mir, dass in der vergangenen Woche jemand aus Brasília bei Aluísio angerufen hatte, um diesem mitzuteilen, dass für mein Visum noch zwei wichtige Unterlagen fehlten. Diese Nachricht war eher ernüchternd, aber zumindest bedeutete dies, dass erstens meine Unterlagen nach nur drei Wochen bereits in Brasilien angekommen waren, und zweitens, dass sich sogar schon jemand näher damit befasst hatte. Dies war schon viel mehr, als ich zu Träumen gewagt hatte. Danach sprach ich auch noch mit Aluísio, der schlechte Neuigkeiten für mich hatte: am Montag würde nun auch der Schulunterricht auf unbestimmte Zeit aussetzen müssen. In der vergangenen Woche hatte das Geld schon nicht mehr für die Mahlzeiten der Kinder gereicht. Und eine der Lehrerinnen hatte bereits gekündigt, um in ihre Heimatstadt zu ihrer Familie zurückzukehren, da sie sich ohne Aussicht auf Gehalt ein Leben in Salvador einfach nicht mehr leisten konnte. Das waren erschütternde Neuigkeiten. Am Sonntag saß ich den ganzen Tag auf heißen Kohlen, da ich rein gar nichts unternehmen konnte; am Montag kam dafür dann alles Schlag auf Schlag. Zunächst erhielt ich einen Anruf von einer Firma, bei der ich mich um einen Aushilfsjob beworben hatte. Man musste mir leider mitteilen, dass man bereits genug Arbeiter habe und bei der momentanen Auftragslage keine weiteren Kräfte mehr bräuchte. Pech gehabt. Nun wartete ich ungeduldig auf den Nachmittag, da das brasilianische Konsulat erst ab 14 Uhr telefonische Sprechstunden hatte. Ich schilderte der netten Beamtin, was ich am Samstag von Djailton erfahren hatte und sie kramte meine Akte hervor, um nachzuschauen, in wie weit diese Informationen mit den ihren übereinstimmen und welche Dokumente genau noch fehlen sollten. Nach ein paar Sekunden, die sich für mich wie Stunden hinzogen, teilte sie mir mit, dass mein Visumantrag bereits bewilligt sei, sofern ich den Nachweis über soziales Engagement und Erfahrung im Umgang mit Kindern, sowie die Bescheinigung über eine gültige Auslandskrankenversicherung noch nachreichte. Dies ließ mich erstmal stutzen. Genau diese Dokumente hatte ich drei Wochen zuvor zusammen mit allen anderen erforderlichen Unterlagen im Konsulat abgegeben. Ich konnte ihr anhand der Briefköpfe sogar noch genau beschreiben, wie diese Dokumente AUSSEHEN. Sie versprach mir, dies so schnell wie möglich zu überprüfen und sich später noch einmal bei mir zu melden. In den nächsten beiden Stunden konnte ich mich auf nichts konzentrieren, sondern starrte nur wie gebannt auf das Telefon und versuchte mir auszumalen, wie es weitergeht, wenn das Visum nun wirklich schon durchgekommen ist; ich hatte schließlich mit einer monatelangen Wartezeit gerechnet und geplant. Als das Telefon dann klingelte, war es leider nicht die Frau vom Konsulat, sondern die von der Firma, von der ich am Morgen eine Absage erhalten hatte. Sie sagte die Firma habe einen Haufen neuer Aufträge bekommen und suche nun händeringend nach Leuten, um diese auch zu bewältigen. Ob ich denn nicht Lust hätte morgen früh um sechs anzufangen. Ich sagte erstmal zu, denn wenn das Visum nun doch noch Probleme machte, brauchte ich den Job auf jeden Fall. Die nächsten paar Anrufe – wieder nicht das Konsulat, sondern Leute, die wissen wollten, ob ich schon was weiß, wimmelte ich schnell ab, um die Leitung nicht zu blockieren. Und dann kam er endlich, der ersehnte Anruf. Die Beamtin teilte mir mit, dass meine Unterlagen komplett sind und ich nun nur noch meinen Reisepass abgeben und 100 Euro 78

bezahlen müsste, dann würde mir der Pass mit eingetragenem Visum innerhalb von einer Woche zugeschickt werden. Ich konnte diese plötzliche Wandlung des Schicksals nicht fassen und tanzte laut jubelnd durch das ganze Haus. Mein Bruder wollte schon die freundlichen Männer mit den weißen Jacken rufen, als mir einfiel, dass ich die Glückssträhne ausnutzen und mich direkt um einen Flug kümmern sollte. Kurz vor Feierabend rief ich beim Reisebüro an und fragte nach dem schnellstmöglichen und zudem günstigsten Flug in Richtung Salvador. Und ich hatte tatsächlich Glück; es gab noch einen freien Platz für den 15. Mai. Das ist noch in der Nebensaison und außerdem würde auch der Jugendtarif noch für mich gelten. Alles in allem kostete der Spaß 750 Euro und ich müsste mich bis zum nächsten Morgen entschieden haben. Nach einer Beratung mit meinen Eltern und Bruno schnappte ich sofort zu und somit war die Zeit der Ungewissheit endlich um. Nun gab es plötzlich noch alles Mögliche zu regeln und zu erledigen. Am folgenden Mittwoch fuhr ich mit Mireille nach Frankfurt und gab meinen Reispass ab. Dies sollte hoffentlich mein vorerst letzter Besuch im Konsulat sein. Des weiteren musste ich noch zu den verschiedensten Ärzten zum Check-Up und meine Reiseapotheke wieder aufstocken, was man übrigens am Besten in den Niederlanden macht, da dort dieselben Medikamente meistens nur die Hälfte kosten. Außerdem klapperte ich noch alle Erkelenzer Banken ab, um nach Werbegeschenken wie Kulis, Bleistifte, Luftballons etc. zu fragen, welche ich für die Kinder der Schule mitbringen wollte. Die meisten Banken zeigten sich erstaunlich hilfsbereit und ließen mich erst mit prall gefüllten Taschen wieder abziehen. Bei einem Treffen der Eine-Welt-AG berichtete ich von den gravierenden Schwierigkeiten des Projektes und wir berieten, wie wir als Gruppe bzw. Schule aktiv werden könnten. Zunächst wurde beschlossen, dass ich den jährlichen Spendenbetrag sozusagen als Direkthilfe mitnehmen sollte und dann kam noch die Idee zu einem Sponsorenlauf, um das Projekt, und vor allem die Schule auch auf lange Sicht zu unterstützen. Natürlich nahm es wieder jede Menge Zeit in Anspruch, mich von allen meinen Freunden zu verabschieden. Zwei Tage vor meinem geplanten Abflug rief mich auch noch Sybille Heller von der AGEH (Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe) in Köln an. Die Vorbereitungskurse für das nächste Jahr hatten bereits begonnen und sie fragte, ob ich nicht Zeit hätte mal vorbeizukommen. Zeit hatte ich eigentlich nicht, dafür aber einen kompletten Satz Kopien meines Visumantrages, der sicherlich einigen anderen Freiwilligen, die ebenfalls ein soziales Jahr in Brasilien leisten wollten, nützlich sein könnte. Also düste ich auch noch schnell nach Köln. Und dann saß ich schon im Auto auf dem Weg zum Flughafen und überlegte, welche wichtige Kleinigkeit ich noch vergessen hatte. Zu Hause hatte ich bereits einen Berg unerledigter Aufgaben und Ideen (wie z.B. die noch ausstehenden Berichte) zurückgelassen, die sich nun zwangsläufig noch ein Weilchen gedulden mussten. Als die Maschine mit Kurs auf São Paulo abhob, lehnte ich mich nach der ganzen Rennerei der letzten Tage und Wochen endlich gemütlich zurück und machte meinen Kopf frei für das, was nun kommen sollte: Brasilien – 2.Teil!

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