1 Als Zwangsarbeiter in Offenbach. Integrierte Gesamtschule

1 Als Zwangsarbeiter in Offenbach Integrierte Gesamtschule Goethestr. 109-111 63067 Offenbach am Main Tel: (069) 8065-2245 Fax: (069) 8065-3426 www....
Author: Annegret Waltz
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1 Als Zwangsarbeiter in Offenbach

Integrierte Gesamtschule

Goethestr. 109-111 63067 Offenbach am Main Tel: (069) 8065-2245 Fax: (069) 8065-3426 www.schillerschule-of.de e-Mail: [email protected]

Als Zwangsarbeiter in Offenbach Grigorij Nikolajewitsch Komissarenko erzählt in 4 Briefen an die Schülerzeitung „Maulwurf“ der Offenbacher Schillerschule über seine Zeit als Zwangsarbeiter in Offenbach 2001/2003

2 Als Zwangsarbeiter in Offenbach

„Sehr geehrter Pan Bürgermeister“ So fing der handgeschriebene Brief aus der Ukraine an, der im Frühjahr 2000 über viele Umwege vom Rathaus ins Stadtarchiv gelangte und von dort zur Schillerschule, weil man wusste, dass an der Schillerschule Russisch unterrichtet wird. Natürlich haben sich einige RussischSchüler bereit erklärt, den Brief zu übersetzen. Ein ehemaliger Zwangsarbeiter bat die Stadtverwaltung darum, ihm zu bestätigen, dass er vor über 50 Jahren in Offenbach gearbeitet hat, weil er dann einen Anspruch auf eine kleine Zahlung aus dem gerade von der Bundesregierung und deutschen Unternehmen geschaffenen Fonds zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter habe. Es stellt sich heraus, dass der Schreiber des Briefes ein ehemaliger Lehrer ist und da wir uns alle nicht so richtig vorstellen konnten, was es mit diesen Zwangsarbeitern auf sich hatte, kam die Idee auf, Herrn Komissarenko, so hieß er, in einem Brief zu bitten, uns etwas darüber zu erzählen. Er hat uns sehr schnell geantwortet und was wir in diesem Brief gelesen haben, hat uns doch sehr nachdenklich gemacht. Vor allem auch, weil wir mittlerweile noch einige weitere Anfragen in russischer Sprache erhalten haben und erfahren haben, dass im Stadtarchiv die Unterlagen von vielen Hunderten von Zwangsarbeitern aller Nationen liegen. Wir sind deshalb am überlegen, ob wir dieser Sache im Rahmen eines Projekts ausführlicher nachgehen wollen. Hier jedoch ist die Übersetzung des Briefes von Herrn Komissarenko.

Grigorij Nikolajewitsch Komissarenko

1.Brief Liebe jungen Freunde an der Schillerschule, sehr geehrter Herr Grünleitner, ich bedanke mich für Ihren freundlichen Brief und ich danke Ihrem Bürgermeister, dass er meinem Anliegen Aufmerksamkeit geschenkt hat. Mein Name ist Grigorij N. Komissarenko und ich lebe in der Ukraine. Ich bin 77 Jahre alt. Auch ich war einmal jung und genauso neugierig auf die Welt wie ihr. Aber kennt ihr überhaupt die Ukraine, wo sie ist und was das für ein Land ist? Die Ukraine ist von seinem Territorium größer als Frankreich. Frankreich hat 551 000 km2, die Ukraine 603,7 km2. Von Westen nach Osten erstreckt sich die Ukraine über 1316 km und von Norden nach Süden über 893 km.

3 Als Zwangsarbeiter in Offenbach Die Ukraine wird von zwei Meeren umspült: wir jungen Leute praktisch unbewaffnet gegen die deutschen Panzer und Geschütze in dem Schwarzen und dem Asowschen Meer. den Kampf geschickt. Das geschah am 18. Durch die Ukraine fließt der Dnjepr. Er ist August abends direkt neben dem Fluss 2201 km lang und 981 km davon sind in der Dnjepr. Ukraine. In der Ukraine lebten früher 52 Millionen Menschen, jetzt sind es nur noch Die Deutschen haben unseren Angriff 48,5 Millionen. schnell abgewehrt: Sie eröffneten das Feuer mit Maschinengewehren und Granatwerfern. Ich lebe in Saparoschje, auf dem rechten Ich fühlte mich plötzlich, als würde mich Dnjepr-Ufer. jemand in die Luft heben und irgendwo hin Die Ukraine gehörte bis vor kurzem noch werfen. Ich verlor das Bewusstsein und als zur Sowjetunion. Die Regierung war damals ich wieder zu mir kam, war es schon nachts. kommunistisch und es war eine schlechte Mein Kopf tat weh, als hätte jemand mit Regierung. Für ein Wort im falschen Modem Hammer darauf geschlagen, mein Gement konnte man schon in den letzten Winsicht klebte vor Blut, die Seite tat mir weh kel des Landes tausende von Kilometern und mir war schrecklich schlecht. Ich lag in nach Sibirien verbannt werden. einem Gebüsch und weiß nicht, wie ich dort Am 22. Juni 1941 begann der Krieg zwiheraus kam. schen Deutschland und der Sowjetunion, zu Meine Freunde, die bereits Ich werde nicht der damals auch noch die Ukraine gehörte. im einzelnen beschreiben, wie ich schließDie Sowjetunion war damals nicht auf den lich in das Dorf Preobraschenka gelangte, Krieg vorbereitet und so konnte die gut auswo meine ältere Schwester lebte, wie ich gerüstete und hervorragend ausgebildete zwei Nächte zu Fuß ging (die Entfernung deutsche Armee schnell tief in das Land einbetrug ca. 20 km), wie ich mich tagsüber in dringen. den Feldern versteckte und nachts, weil ich Mitte August 1941 haben die deutschen vor Durst fast umkam, in die Gurkenfelder Truppen das Baltikum, Weißrussland und schlich, um einige Gurken zu essen, weil einen beträchtlichen Teil Russlands und der mein Mund so trocken war. Als ich zu meiUkraine besetzt. ner Schwester kam, hatte ich heftige BauchIch war damals gerade 18 Jahre alt geworden schmerzen und bald stellt sich heraus, dass und im Herbst 1941 hätte ich eigentlich in ich eine Blutvergiftung hatte. die sowjetische Armee eingezogen werden Ich werde nicht schreiben, wie mich die almüssen. Aber weil Krieg war, wurden zuten Frauen im Dorf pflegten und mit Kräunächst nur die Reservisten zu den Waffen tern behandelten, ich sage nur, dass ich mich gerufen, also diejenigen, die schon in der fast zwei Monate zwischen Leben und Tod Armee gedient hatten. Vor der Ankunft der befand, aber dann gewann die Jugend wieder Deutschen fingen sie aber an, auch solche die Oberhand. Aber noch sehr lange danach wie mich einzuziehen zur Ausbildung einzutaten mir der Kopf und die Hüfte weh. ziehen. Man gab uns ein Übungsgewehr für Zu der Zeit war es sehr schwer geworden in jede Abteilung, Gasmasken und Spaten. der Stadt zu leben. Deshalb zogen auch noch Als dann die deutsche Vorhut immer näher mein Vater und meine Mutter zu meiner kam, erklärte man uns, dass die Deutschen Schwester aufs Dorf. So lebten wir bis zum hinter uns Truppen abgesetzt hätten und wir diese zu bekämpfen hätten. Und so wurden

4 Als Zwangsarbeiter in Offenbach Herbst 1943, arbeiteten in der Kolchose und Dann wurden wir weiter nach Bad Orb geich arbeitete ein wenig als Buchhalter. bracht, wo wir einen Monat in einem Quarantäne-Lager lebten, von dort ging es nach Seit 1942 fingen die deutschen Besatzer an, Frankfurt am Main und schließlich nach Ofdie Jugend zur Zwangsarbeit nach Deutschfenbach, wo ich mit meinem Freund Ivan land zu schicken. Zweimal versuchten sie Grebenjuk (der nach unserer Rückkehr in die schon auch mich zu schicken, doch jedes Heimat bald starb) in ein Lager des Werks Mal wenn sie mich holen wollten, habe ich "Engelhard Kollet gesteckt wurde. Gearbeimich in einem anderen Dorf versteckt, wo tet haben wir jedoch bei einem Mann, der meine andere Schwester wohnte. eine kleine Altstoffsammlung (Metall, Holz, Im Oktober 1943, die Deutschen waren bePapier usw.) betrieb. reits wieder auf dem Rückzug, kam die deutMit freundlichen Grüßen Grigorij Nikolajesche Feld-Gendarmerie in das Dorf, in dem witsch Komissarenko ich lebte, ergriffen alle Männer, also auch mich und meinen Vater und jagten uns nach Kriwoj Rog. Diese Stadt befand sich mehr als 100 km von unserem Dorf entfernt. Während des Weges dorthin stießen immer neue Gruppen von Männern aus anderen Dörfern zu uns. Auf diese Weise entstand eine sehr lange Kolonne. Und nun stellt Euch vor: Es ist Herbst, es regnet, nachts kein Dach über dem Kopf, viele hatte nur schlechte Kleider und schlechte Schuhe. Dazu hatten die Deutschen die Bewachung des Konvois an die Kalmücken übergeben, die sich uns gegenüber sehr grausam verhielten, weil sie die, die nicht mehr konnten, auspeitschten, mit Hunden jagten, und dabei auf ihren Pferden ritten. (Die Kalmücken waren ein mongolischer Volksstamm, der seit dem 16. Jh. am Gebiet der unteren Wolga lebte und während des 2. Weltkriegs mit den deutschen Besatzern zusammenarbeitete. Nach dem Krieg wurden fast alle Angehörigen dieses Volkes von Stalin nach Sibirien deportiert) Mein Vater war damals 55 Jahre alt. Er erkrankte während des Fußmarsches und starb in einem Wagon, in den sie uns in Kriwoj Rog verfrachteten. Wir haben ihn in Przemysl in Polen begraben, wo der Zug einen kurzen Halt machte.

2.Brief Liebe jungen Freunde in Deutschland. Ich habe die Ausgabe Eurer letzten Schülerzeitung mit den Fotografien und der Übersetzung meines Briefes erhalten. Ich war angenehm überrascht und möchte Euch dafür herzlich danken. Ich schicke Euch diesmal die Fortsetzung meiner Erzählung. Doch auch das ist noch nicht die ganze Geschichte, wenn sie Euch interessiert, werde ich sie zu Ende erzählen. Diesmal berichte ich Euch, wie wir damals in Offenbach lebten. Nachdem wir längere Zeit durch verschiedene Lager geschickt wurden, (aus unserer Heimat hatte man uns Ende Oktober 1943 deportiert) landeten wir schließlich in Offenbach. Es war Dienstag, den 15 Februar 1944. (Dass es ein Dienstag war, habe ich später durch einen Jahreskalender herausgefunden.) In Offenbach war gutes Wetter, obwohl es Februar war. Soweit ich mich erinnern kann, liefen wir in Jacken herum. In der Ukraine war der Februar immer ein kalter und eisiger Monat, obwohl es der letzte Wintermonat war. Manchmal wurde es in der Ukraine bis zu -30°C. Die Zahl der Angekommenen betrug 30 Leute. Wir wurden auf verschiedene Stellen verteilt, eine Gruppe wurde von einem Bauern mitgenommen, die andere

5 Als Zwangsarbeiter in Offenbach Gruppe, die aus mehreren Menschen beHerzen doch nur zwei von Strapazen des stand, musste zu einer Autofabrik. Lebens gezeichnete alte Männer waren. Ich und mein Leidensgenosse Ivan GrebenMeine Schüler! Meine russischen, und deutjuk wurden einem Altstoffsammelbetrieb schen Freunde! Meine Generation lebte dazugewiesen, der sich überwiegend mit Memals in einer schrecklichen Zeit, in einer tall und Metallteilen beschäftigte. An diesem Zeit der entfesselten schwarzen Drachen. Tag wurden wir für die Akten fotografiert, Wie viele Tote Verletzte, Verhungerte gab dann bekamen wir rote Bänder, auf denen es damals? Lasst uns alles dafür tun, das so mit großen weißen Buchstaben, die man von etwas nicht mehr geschehen kann. weitem sehen konnte, “OST” stand. (Das Ich fahre mit meiner Erzählung fort. Man hat bedeutete “Ostarbeiter”) Ohne dieser Bänder uns also im Lager in einer speziellen Barawar uns nicht erlaubt in die Stadt zu gehen. cke untergebracht, wo wir auf Holzpritschen, Danach wurden wir in das Lager der Fabrik die uns zugleich als Matratze und Kopfkis“Kollet&Engelhard” gebracht. Man hat uns sen dienen musste. Am nächsten Tag, dem zuerst etwas zum Essen gegeben. Es gab es 16.Februar nach dem Frühstück, kam unser eine Art Gemüsesuppe, die überwiegend aus Chef und nahm uns mit zur Arbeit. Er war Steckrüben bestand. Wir wissen, dass der ungefähr 60, klein mit einem schwarzen berühmte Dichter Goethe, der ja auch in Schnurrbart und war sehr beweglich. Er Frankfurt am Main geboren war, Steckrüben brachte uns zum Main, dort stand unweit des sehr mochte. Auch in England waren SteckMains ein kleines zweistöckiges Haus, in rüben mit Fleisch ein Nationalgericht, aber dem er mit seiner Frau lebte. Es gab noch dort war es mit Fleisch, und das ist es doch andere kleine Gebäude, die während der etwas anderes als mit viel viel Wasser. Dann Bombardierungen durch die Alliierten zergab es so etwas wie Brei, ich weiß nicht stört worden waren, kaputte Schuppen und mehr genau welchen, aber der Koch versieinige Stellen, an denen die Überreste von cherte uns, dass er angeblich mit FleischbrüFlugabwehrgeschützen zu erkennen waren. he gemacht wurde. Außerdem haben wir Bis zu den zerstörten Schuppen waren Geleiungefähr 200g Brot und "Kaffee" aus Gerste. se geführt, zu beiden Seiten davon lagerten Den sogar soviel wir wollten. Berge von Metallschrott und durch die Das größte Ostarbeiter-Kontingent im Lager, Bombardierungen verbogene und zerstörte in das ich und Ivan eingewiesen wurden, Geleise und Schwellen. waren weissrussische Männer und Frauen. Das war also unsere Arbeitsstelle. Unsere Es handelte sich um meist ruhige, einfache Aufgabe bestand darin, das Metall zu und ziemlich anspruchslose Leute vom schneiden, zu sortieren und wegzuräumen. Land, alle in der Firma Kollet & Engelhardt" Die Schienen und Schwellen mußten zerteilt arbeiteten. Zwei von denen waren krank, sie und dann auf die Plattformen gestapelt werhatten Tuberkulose. den. Am schwersten war die Arbeit mit den Die Lagerwache bestand aus drei Polizisten, Metallteilen. Zuerst arbeiteten nur 6 Leute: ihr Anführer war ein großer dünner Mann, zwei Deutsche, zwei Franzosen und wir beiein Deutscher von ungefähr 35 Jahren. Wir de, ich und Ivan. Der älteste war der Deutalle nannten ihn den “Goldenen”, eine Ansche Karl. Er gab uns Anweisungen, wer spielung auf seine goldblonden Haare, vielwas zutun hatte. Er selber hat mit einem Apleicht auch darauf, dass er wirklich kein unparat, Metall geschnitten. Der Deutsche Rirechter Mensch war. Die beiden anderen chard war der Traktorfahrer. Am Anfang lief waren weit über 60. Sie wollten vor uns sehr alles wie immer: Morgens Frühstück, um 8 streng und grausam dastehen, was ihnen Uhr mussten wir zur Arbeit. Zum Mittagesnicht besonders gut gelang, da sie in ihrem sen bekamen wir immer die gleiche Suppe und zum Abendessen die Reste vom Frühs-

6 Als Zwangsarbeiter in Offenbach tück und Mittag, nur noch mit Brot dazu. Gearbeitet haben wir von 8 bis17 Uhr. Auf der Arbeit waren die Umstände normal. Karl der fast 60 Jahre alt war und, wie ich schon gesagt habe, das Sagen hatte, meinte zu uns, das wir ihn "Karl" nennen sollen. In der Ukraine hätte man ihn mit "Karl Karlowitsch", also mit Vor und Vatersnamen angesprochen. Es war uns ziemlich unangenehm, einen Mann, der unser Vater hätte sein können, so anzusprechen. Richard ging nicht zu uns her, als wir zum ersten Mal dort auftauchten. Karl deutete nur seine Richtung und meinte: "Der da, das ist Richard. Die Franzosen dagegen kamen gleich zu uns. Sie waren ziemlich verschieden. Der eine dünn und groß, der andere klein und dick und hatte ein bisschen OAm Offenbacher Marktplatz nach eiBeine und redete ganz schnell Französisch. nem amerikanischen Bombenangriffe Der erste Franzose hatte seinen Namen nicht während sein Vater überlebte. In dieser gesagt, dafür kam der kleine zu uns, schütNacht sind Ivan Kranjuk, sein Vater und die telte unsere Hände und wiederholte “Ich bin anderen Ostarbeiter in einen Bunker gefloJosif Stalin” und lachte. hen. Zwei Bomben sind knapp neben dem Die ersten Tage nach unserer Ankunft wurBunker explodiert. Die Decke stürzte ein. Es den wir von den französischen und engliüberlebten nur Ivan und einige andere Leute. schen Flugzeugen noch nicht angegriffen. Alle anderen sind umgekommen. Ich und Offenbach wurde im Vergleich zu Frankfurt Ivan K. sind durch ein Loch in der Decke wenig bombardiert. Am 18 März 1944 hörentkommen. ten wir zum erstenmal die Bomben über OfSein Vater wurde später in Offenbach begrafenbach. Es kamen deutsche Wachen und ben. befahlen uns, das Lager zu verlassen und Schutz zu suchen. Ich, Ivan und die anderen Jungs liefen in die Schule, wohin auch unse3.Brief re Wachen kamen. Nach dem überlebten Bombenangriff der Nun, nach ein paar Augenblicken fing etwas amerikanischen Luftwaffe auf Offenbach Entsetzliches an! Ich werde es nicht genau haben die Leute im Lager irgendwie den beschreiben, sondern sage nur, dass es in Mut verloren, sie hatten bei Luftalarm viel dieser Nacht sehr viele Tote und Verletzte mehr Angst und dabei wurde immer häufiger gab! Es starb der große Franzose, Josif wurde eingeklemmt, zum Glück überlebte er. Alarm gegeben. In dieser Nacht passierte noch etwas Abends haben wir uns vor dem SchlafengeSchreckliches: Hier in Offenbach in der Auhen oft noch verschiedene Geschichten ertofabrik arbeitete mein Landsmann Ivan zählt oder die Ereignisse des vergangenen Krasnjak zusammen mit seinem Vater. Er Tages besprochen. Es war nämlich im Lager wurde so wie ich nach Deutschland mit seiso geregelt, dass man uns nach dem Appell nem Vater verschleppt. Nur mein Vater starb gestattete, 15 oder 20 Minuten miteinander in einem von Menschen überfüllten Waggon,

7 Als Zwangsarbeiter in Offenbach zu reden oder irgendeiner Erzählung zuzuhöwar in dem einen Kohle, im anderen Brennren. holz. An einem dieser Abende habe ich den andeIch zog also diesen Wagen zum Haus des ren vorgeschlagen, das Werk von Mark alten Mannes, lud die Säcke ab und wollte Twain „Der Prinz und der Bettelknabe“ zu gehen. Doch der alte Mann hielt mich auf, hören. Diese Werk hat meinen Lagergenosging irgendwo hin, kam zurück und gab mir sen so gut gefallen, dass sie ganz aufmerkein gut eingewickeltes Päckchen. Ich besam zuhörten. Als schließlich der Lageraufdankte mich und fragte mich erstaunt, was in seher kam und die Stille bemerkte, fragte er diesem ca. 1 Pfund schweren kleinen Päckchen wohl drinnen war. den Dolmetscher (die Aufseher kamen immer mit Dolmetscher), was das bedeuten Als ich ins Lager zurückkam und den Inhalt solle, wovon denn diese Erzählung handele. auswickelte, stellte sich heraus, dass es sich Als er sich davon überzeugt hatte, dass sie um einen Block aus weißem, verzuckerten vollkommen unpolitisch war, beruhigte er Bienenhonig handelte. sich, sagte, dass es Zeit zum Schlafen sei Viele meiner Mitlagerinsassen besuchten an und ging wieder. den arbeitsfreien Tagen deutsche Familien. Nach diesem Vorfall kamen meine LagergeAuch ich wurde mit einer deutschen Familie nossen oft zu mir uns sagten: „Pobaj, Grigobekannt gemacht. Diese Familie bestand aus rij, pobaj!“ „Pobaj“ ist ein weißrussisches drei Personen: dem Hausherrn, der ca. 70 Wort und heißt soviel wie „erzähl“. Jahre alt war, seiner Frau und einer alten Die Ernährung im Lager wurde aufgrund der Oma von ca. 90 Jahren. Die Leute wohnten Luftangriffe erheblich schlechter. Kann sein, nicht weit von unserem Lager entfernt in das das der Grund war, warum uns die Laeinem kleinen, sauberen und gemütlichen gerleitung gestattete, an arbeitsfreien Tagen Häuschen. Neben dem Häuschen stand ein in die Stadt zu gehen. In der Stadt konnte kleiner Schuppen und dahinter war ein winman vielleicht irgendeine kleine Arbeit finziges Grundstück, auf dem Blumen wuchden und etwas verdienen. Man musste nur sen. Nicht weit von diesem kleinen Haus – einen roten Aufnäher tragen, auf dem in in der ganzen Straße gab es viele ebensolche, weißen Buchstaben „OST“ stand. Eines Tastanden viel größere Häuser, aber sie alle ges an einem Sonntag ging auch ich in die waren bei den englischen und amerikaniStadt. Meine Freunde, die bereits schen Bombenangriffen zerstört worden, während die kleiner Häuser nicht gelitten mehrfach dort hingegangen waren, rieten mir hatten. langsam zu gehen und dabei nicht stehen zu bleiben und zu hören, ob nicht vielleicht Zu dieser Familie ging ich also zu streng jemand ruft. Dann sollte man den Umstänfestgelegten Zeiten und nur dann, wenn ich den entsprechend handeln. arbeitsfrei hatte. Ich musste dort leichte Arbeiten verrichten, meistens gemeinsam mit Und so ging ich. Die Stadt war wie leergedem Hausherrn. Wir reinigten die Kanalisafegt, auf den Straßen waren wenig Leute. Ich tion, schnitten die Hecke und Sträucher und traf einen Polizisten, der sich zwar nach mir gossen die Blumen, daneben fegte ich die umsah aber nichts sagte. Plötzlich hörte ich, Straße vor dem Haus und räumte den wie jemand nach mir rief. Ich blickte mich Schuppen auf. Als Lohne für diese Arbeit um und sah einen alten Deutschen von vielbekam ich zu Essen, gaben mir Brot und leicht 80 Jahren, gebeugt und mit Krücken, einige andere Lebensmittel, die ich dann der einen schwer bepackten Leiterwagen mitnehmen konnte. hinter sich herzog. Auf dem Wagen waren zwei nicht allzu große Säcke, die aber sehr Den Hauptgrund, warum dieser ältere Deutschwer waren. Wie sich später herausstellte, sche mich zu sich einlud, sollte ich alsbald

8 Als Zwangsarbeiter in Offenbach erfahren. Mittlerweile gab es fast täglich erkennen konnte, ob es Engländer oder ALuftalarm. Während dieser Alarme gingen merikaner waren. Die Amerikaner warfen der Hausherr und seine Frau in einen nahealle ihre Bomben auf einmal ab und flogen gelegenen Luftschutzbunker, während sie dann wieder davon. Die Engländer hingegen die alte Oma zu Hause ließen. Sie aber nicht kreisten oft stundenlang über der Stadt, alleine in den Keller gehen konnte, da sie in suchten ihre Ziele genau aus und warfen einem Rollstuhl saß. So musste ich also die dann einzelne Bomben, was ganz grausam an den Nerven zerrte, besonders nachts. alte Frau in den Keller hintertragen und mit ihr zusammen unten bleiben, bis der Alarm Eines Tages, es war schon ziemlich kurz vor vorbei war. In diesem Keller hatte der HausKriegsende, ich kann mich an das genaue herr Werkzeuge bereitgelegt: einen Spaten, Datum nicht mehr erinnern, ich weiß nur eine Hacke und anderes; er zeigte mir an noch, dass es ein Werktag war, so um 11 einer Wand eine Stelle, durch die man im Uhr. Überall in der Stadt heulten die SireFalle dass wir verschüttet werden würden, nen: Luftalarm! Jeder rannte in die Bunker ein Loch hauen konnten und so in den Nachund suchte Schutz, wo er nur konnte. barkeller gelangen konnten. Gott sei Dank Dort, wo wir arbeiteten, befand sich offentrat dieser Fall aber nicht ein und das Haus sichtlich zu Beginn des Krieges eine Luftmeines Hausherrn blieb während des ganzen abwehrstellung und ein gut befestigter UnKrieges verschont. terstand. Irgendwann hatte man das GeDas Kriegsende rückte näher. Englische und schütz abgezogen und ich hatte während der amerikanische Flugzeuge flogen in SchwärLuftalarme des öfteren in diesem einsamen men an Offenbach vorbei, manchmal warfen und verlassenen Unterstand Schutz gesucht. sie Bomben, meistens aber bombardierten Iwan und der Franzose Josif flüchteten imsie andere Städte. Im Lager erzählte man mer an eine andere Stelle. Da tauchte am sich, dass man an der Art Bomben zu werfen Himmel eine Masse amerikanischer Flugzeuge auf. Sie flogen entlang dem Main und

Auch das Büsing-Palais wurde von englischen und amerikanischen Bomben getroffen.

9 Als Zwangsarbeiter in Offenbach wie es schien, direkt auf mich zu. Die Erde und Lichtungen, stießen auf einige kleine zitterte unter dem Brüllen der Motoren. Ich Siedlungen, in denen es nur zwei oder drei rannte so schnell ich konnte zu meinem UnHäuser gab. Wir hatten große Angst davor, terstand. Plötzlich lief auf mich der Franzose auf deutsche Soldaten zu stoßen. Schließlich zu, packte mich an der Hand, rief etwas, was kamen wir in ein größeres deutsches Dorf, ich nicht verstand und zog mich woanders das in einer Senke gelegen war. Umliegend hin. Ich sah in sein Gesicht: es war angstvergab es einige Erhebungen und auf einer diezerrt und er zitterte am ganzen Körper. So ser Erhebungen war ein Bombenunterstand lief ich schließlich hinter ihm her. Einige ausgehoben, neben dem sich eine kleine Meter von dem Unterstand entfernt, wo ich Gruppe „Ostarbeiter“ versammelt hatte, denen wir uns anschlossen. mich immer versteckte, befand sich ein anderer Unterstand. Er war kleiner und nur für Zu diesem Bombenunterstand kamen oft zwei Personen, aber viel tiefer und nach alauch Deutsche, wenn es unten im Dorf Flielen Regeln der Kriegskunst befestigt. Kaum geralarm gab. Sie brachten uns auch oft etwaren wir da hinein gesprungen, als die was zum Essen mit. Bomben um uns herum krachten und pfiffen. Am dritten Tag unserer Ankunft dort tauchte Unser Unterstand erzitterte so, als ob die auf dem Weg, der an dem Unterstand ganz Erde bersten wollte. Als die Flugzeuge nah vorbei und ins Dorf hinunterführte eine schließlich wieder abzogen und Entwarnung Gruppe deutscher Soldaten auf. Es waren gegeben wurde, krochen wir heraus und savielleicht 10 Leute und sie gingen Richtung hen, dass an der Stelle, wo ich Schutz suchen Dorf. Jemand flüsterte aufgeregt: „Deutsche! wollte, ein riesiger Bombenkrater war, in Deutsche!“. Alle aus unserer Gruppe rannten dem einen halben Meter hoch das Wasser auseinander um sich zu verstecken. Die Solstand. So blieb ich, dank Josif, am Leben. daten bemerkten uns und kehrten auf unsere Irgendwann in der zweiten Märzhälfte 1945 Seite zurück, aber ihr Kommandant rief etriefen sie auch Karl zur Armee. Später, als was im Befehlston, worauf sie augenblickschon die Amerikaner in Offenbach waren, lich umdrehten, keinen Blick mehr auf uns trafen wir in der Stadt die Frau von Karl, die warfen und ins Dorf gingen. wir kennen gelernt hatten, als sie Karl einIch war zu diesem Zeitpunkt dem Weg am mal das Essen brachte. Sie erzählte uns, dass nächsten gewesen und habe so ganz deutlich Karl noch lebte. Er war in amerikanische gesehen, dass diese deutschen Soldaten eiKriegsgefangenschaft geraten und sie erwargentlich Kinder zwischen 16 und 18 Jahren tete seine Rückkehr. Wir waren darüber sehr gewesen sind, manche von ihnen leicht verfroh, weil Karl wirklich ein guter Mensch wundet. war. Es vergingen noch einmal zwei oder drei Unmittelbar vor dem Einzug der Amerikaner Stunden. Aufregung erfasste uns alle. Wie musste wir uns aufstellen und wurden von würde es weitergehen? unseren alten Lagerwärtern über die Brücke Plötzlich erschien in der Ferne eine große über den Main getrieben. Während dieses Kolonne Soldaten. Doch es waren keine Marsches liefen die Gefangenen in alle RichDeutschen. Es waren ganz deutlich andere tungen davon und auseinander und es schien, Uniformen. Als die Soldaten näher kamen, als wollten unsere Aufseher das gar nicht rief einer unserer Leute: „Hurra, die Ameriernstlich verhindern. Einige der Leute kehrkaner!“ Als die Amerikaner nahe waren, ten gleich wieder nach Offenbach zurück, meinte jemand anderes: „Von wegen Ameriich und Iwan gingen jedoch weiter, ohne kaner, das sind Chinesen!“ selbst genau zu wissen, wohin wir eigentlich gingen. Wir durchquerten einige Wäldchen

10 Als Zwangsarbeiter in Offenbach Die Mehrzahl der amerikanischen Soldaten 4.Brief hatten einen asiatischen Einschlag, weshalb Liebe Schülerinnen und Schüler der Schileinige von uns dachten, es seinen Chinesen. lerschule, sehr geehrter Herr Grünleitner Neben diesen gab es noch viele Schwarze, Ich möchte Ihnen und den Schülern meine Araber, Mestizen und Mulatten und natürlich große Dankbarkeit ausdrücken, dass Sie sich auch einige, die aussahen, wie Europäer. Die so dafür einsetzen, dass ich vielleicht doch Amerikaner gingen langsam und in gespannnoch eine Entschädigung für meinen Aufter Aufmerksamkeit, einige ohne Marschtritt. enthalt in Offenbach erhalte. Viele kauten etwas und die Mehrzahl trug eine Brille. Gegenüber uns verhielten sie Ich danke Ihnen allen ganz besonders für die sich freundlich. Medikamente, die Sie mir geschickt haben. Sie erleichtern mir das Leben sehr. Auch Nach dem Treffen mit den amerikanischen dass Sie die Beschreibung sogar in russiSoldaten kehrten Iwan und ich wieder nach scher Sprache besorgt haben, ist ganz wunOffenbach zurück. Beim Übersetzen über derbar. den Main tragen wir viele alte Deutsche, die, wie es mir schien, aus dem Krieg zurückkaLetzte Woche war ich wieder einmal bei der men. Wie für die Deutschen typisch, bespraVertretung des Fonds für „Erinnerung, Verchen sie ruhig und geschäftsmäßig die Lage, antwortung und Zukunft“ in Saporoschje. die sich nunmehr für Deutschland ergeben ... hatte. Noch immer wird von mir obligatorisch verIn Offenbach kamen wir in leeren Soldatenlangt, einen Nachweis zu erbringen, dass ich unterkünften unter. Überhaupt sammelten tatsächlich verschleppt worden bin. Es muss sich hier jetzt sehr viele „Ostarbeiter“, viele doch irgendwo eine Bestätigung geben, dass mit Familien mit Kindern im schulpflichtidas so ist. Ich werde noch einmal nach Mosgen Alter. Für solche Kinder habe ich sogar kau ins Zentralarchiv schreiben. ... ein wenig Unterricht organisiert. Sie haben mich noch einmal nach Offenbach Alle warteten auf das endgültige Ende des eingeladen. Ich habe es mir wirklich gut üKrieges, um in die Heimat zurückkehren zu berlegt, aber ich habe so viele Beschwerden, können. dass ich die lange Reise nicht mehr machen Auch ich wollte endlich nach Hause. Ankann. ... scheinend war in der Heimat die Sonne Ich bete zu Gott, dass Sie alle gesund bleiwärmer und die Sterne schienen heller und ben und Freude am Leben haben und Ihnen das Land duftete nach Getreide. das, was Sie für mich tun, von ihm vergolten Ich habe mich noch einmal davon überzeugt, wird. Ich bin sehr froh, dass ich die Medidass man die Heimat bewahren und lieben kamente von Ihnen bekommen habe. muss und dass es ohne Heimat für den MenHerzliche Grüße schen sehr schwer auf der Welt ist. Grigorij Nikolajewitsch Kommisarenko (Aus dem Russischen übersetzt von Inga Kaplanskaja 10c, Julija Novikova 10a, Maria Anisimowa 10e und Wolfgang Grünleitner, Russischlehrer)

11 Als Zwangsarbeiter in Offenbach ihre Heimat unterstützt hätten. Oder Nachwort 1 vielleicht ist es auch nur Neid auf die Natürlich finden wir es sehr schade, dass finanzielle Unterstützung, die für Herr Komissarenko nicht mehr nach Offendortige Verhältnisse viel Geld sind. bach kommen kann. Er hätte uns bestimmt Wir bleiben am Ball. noch viel erzählen können. Marija Anisimowa, Inga Kaplanskaja, Julia Besonders aufgeregt haben wir uns aber darNovikov, die Schülerinnen und Schüler des über, dass sein Antrag auf Entschädigung bis Russisch-Kurse 10, die Schülerinnen und jetzt nicht angenommen wurde, weil er neSchüler der Klasse 10c ben der Bestätigung aus Offenbach, dass er wirklich hier war, Zeugen oder Dokumente darüber beibringen soll, dass er tatsächlich verschleppt wurde und nicht etwa freiwillig nach Deutschland kam. Obwohl er an viele Archive geschrieben hat, konnte er das bisher nicht „nachweisen“. Wie auch? Die meisten Zeugen sind tot, und wenn es sie gäbe, wie sollte man sie heute noch finden? Herr Komissarenko berichtete davon, dass viele ehemalige Zwangsarbeiter in einer solchen Lage seien. Da uns das nicht ganz geheuer vorkam, haben wir deshalb an die Leitung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ in Berlin geschrieben und den Fall dargestellt. Von dort reagierte man sehr freundlich und sehr hilfsbereit: 1. Nach den Statuten der Stiftung hat Herr Komissarenko seine Nachweispflicht ausreichend erfüllt. Die Entschädigung steht ihm auf jeden Fall zu. 2. In Kürze wird eine Kontrollkommission in die Ukraine aufbrechen und die ukrainische Partnerorganisation, die für die Auszahlung der Entschädigungen zuständig ist überprüfen. Entweder ist der dortige Leiter im günstigsten Fall „übergenau“ oder irgendetwas ist tatsächlich faul. Eine weitere Möglichkeit ist, dass bei vielen staatlichen oder halbstaatlichen Stellen noch immer die Meinung existiert, Zwangsarbeiter seien Verräter, weil sie in Hitlerdeutschland gearbeitet und damit die Nazis gegen

Nachwort 2 Am 28.April teilte mir Herr Komissarenko mit, dass am 31.12.2002 seine Frau verstorben ist. Am 22.April 2003 erhielt er die Mitteilung, dass er aufgrund der Tatsache, dass er Kriegsgefangener gewesen sei, keinerlei Anspruch auf Entschädigung habe. Aus „Restmitteln“ bekomme er jedoch den Betrag von 306,78 ú als Ausgleich für das von ihm erlittene Unrecht. Das sind pro Tag Zwangsarbeit 77 Cent. Gerechtigkeit ist doch eine schöne Sache! W.Grünleitner