-innenbildung unter dem Fokus der Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen kann? 1

Keplinger, „Muss nur noch kurz die Welt retten …“ 677 Franz Keplinger „Muss nur noch kurz die Welt retten …“ Pädagogen/-innenbildung unter dem Fok...
Author: Lorenz Koch
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Keplinger, „Muss nur noch kurz die Welt retten …“

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Franz Keplinger

„Muss nur noch kurz die Welt retten …“

Pädagogen/-innenbildung unter dem Fokus der Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen kann? 1

Summary

Das aktuelle Reformprojekt der Pädagogen/-innenbildung in Österreich wird nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn sich die daran beteiligten Akteure und Akteurinnen vom „Jargon der Eigentlichkeit“ verabschieden, die Begrenztheit menschlicher Selbst- und Fremdoptimierung akzeptierend das rechte Maß suchen und Pädagogen/-innenbildung in vielfältigen Dimensionen von Bildung denken. Im Sinne von Peter Bieri würden diese Dimensionen von Bildung Weltorientierung, Aufklärung, Selbsterkenntnis, historisches Bewusstsein, Selbstbestimmung, moralische Sensibilität, Ästhetik und Leidenschaft umfassen.

Einleitung

Zu Recht kommt der Bildung/Ausbildung der Lehrer/-innen und Pädagogen/-innen höchste Aufmerksamkeit zu. Pädagogen/-innen, hier stimme ich dem Philosophen Clemens Sedmak zu, führen eine der würdigsten menschlichen Tätigkeiten aus: Sie begleiten Menschen ins Leben hinein, bereiten Menschen auf ein anspruchsvolles Leben vor, sie bearbeiten den größten Schatz, den ein Land hat: die Fähigkeiten, Begabungen und Talente seiner Bewohner (vgl. Sedmak 2012, S. 8). Daher werden auch hohe Anforderungen und Erwartungen an Pädagogen/-innen gestellt. Hier gilt es daran zu erinnern, was Heinz J. Heydorn, noch unter dem Eindruck der Schrecken und des Grauens des NS-Regimes, für Lehrer/-innen forderte: Lehrer/-innen sollten gebildete Persönlichkeiten sein, die in Freiheit und nach den Maßstäben der Vernunft kritisch und selbstbestimmt der Wirklichkeit begegnen und aus dieser Haltung heraus Lern- und Bildungsprozesse gestalten (vgl. Heydorn zit. in Lämmermann 2005, S. 124). Und unter bewusster Miteinbeziehung der religiös/spirituellen Dimensionen des Lehrer/-innenseins hat zuletzt, und dieser Aspekt ist mir gerade auch als Religionspädagoge bedeutsam, Bert Roebben trefflich ausgeführt: Der Lehrer/die Lehrerin hat ein Lebensziel, er/sie weiß, wie es sich anfühlt, als moralische oder religiöse Person durch das Leben zu gehen. Er/Sie wagt das Ringen mit der Komplexität einer modernen Welt, lässt sich durch neue Entwicklungen in seiner eigenen Sinnorientierung anfragen, er schöpft aus einer spirituellen Quelle, er ist beseelt (Roebben 2011, S. 10). In Anlehnung an Bieri könnte eine Lehrer/-innenausbildung mit dem Ziel durchlaufen werden, etwas zu können, Lehrer/-innenbildung setzte den Akzent anders: Wenn Lehramtsstudierende sich bilden, arbeiten sie daran, etwas zu werden, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein (vgl. Bieri 2005, S. 1). Zwischen Bildung und Ausbildung würde ich ein „UND“ setzen, in aktuellen bildungspolitischen Diskussionen, auch um die Pädagogen/-innenbildung, steht oft ein „ODER“. Und ein letzter einleitender Gedanke: Im auch historisch begründeten Wissen darum, dass nicht nur gilt, „ekklesia semper reformanda“ sondern auch „educatio

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semper reformanda“, müssen wir nicht im Sinne einer „Last exit-Weltrettungsaktion“ 2 die Pädagogen/-innenbildung reformieren. Die Erkenntnis, dass Menschen und daher auch Pädagogen/-innen sich v.a. selber bilden, Bildung letztendlich nicht machbar und herstellbar ist, nicht ins Unendliche optimierbar und im besten Falle ein Leben lang geschieht, mahnt uns zur Demut und Gelassenheit. Wir brauchen, so hat es der Neurowissenschaftler Gerald Hütther in einem Vortrag einmal auf den Punkt gebracht, nicht die Welt retten, aber wir sollten täglich in kleinen Schritten daran arbeiten.

(Pädagogen/-innen-) Bildung und der „Jargon der Eigentlichkeit“

„Wer nicht von 3000 Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleibt im Dunkel, unerfahren, mag von Tag zu Tage leben“, dies wusste schon Goethe. Es mag antiquiert erscheinen, in einem Beitrag, bei dem es um Zukunftsvisionen und Perspektiven für eine „neue“ Pädagogen/-innenbildung geht, auf die Vergangenheit zu rekurrieren. Ich bin skeptisch gegenüber der These des Erziehungswissenschaftlers Heinz-E. Tenorth, die er in die Debatte um die Schulleistungsvergleichsstudien PISA und TIMMS einbrachte: Das Konzept der „Grundbildung“ durch „Basiskompetenzen“ könne, so Tenorth, die bildungstheoretischen Argumentationsmuster der alten Pädagogik ad acta legen, denn eine neue Bildungstheorie entstehe gleichsam aus einem theoriegeleiteten Prozess der (empirischen) Bildungsforschung selbst (vgl. Tenorth zit. in Benner 2008, S. 217). Worin gründet nun meine Skepsis? Der Kompetenzdiskurs hat mittlerweile ja nicht nur die Schule erfasst, sondern längst auch die Institutionen der Pädagogen/innenbildung. Im aktuellen Diskurs um die Pädagogen/-innenbildung kommt ein Aspekt m. E. nach meist zu kurz – der bildungsphilosophische/geschichtliche Aspekt. Zwar wird in der Diskussion um die zukünftige Gestaltung der Ausbildung der Pädagogen/-innen der Terminus „Bildung“ in unterschiedlichsten Zusammenhängen genannt, die inhaltliche Substanz dieses Begriffes bleibt aber weitgehend unklar und diffus. Die Absicht meines gewählten Zugangs zum Thema in diesem Beitrag lässt sich nun damit begründen, dass der Bildungsbegriff Dimensionen umfasst, die auch bei der geplanten Neugestaltung und Profilierung der Pädagogen/innenbildung immer wieder in Erinnerung gerufen werden müssen und nicht, wie dies Tenorth vorschlägt, ad acta gelegt werden sollten. Wollte man vorneweg die gegenwärtige inflationäre Hochkonjunktur des Bildungsbegriffs provozierend auf den Punkt bringen, so klingt dies in der Formulierung von Drieschner und Gaus in folgender Weise: „Die ‚Bildungsrepublik’ diskutiert das ‚Bildungsklima’ im ‚Bildungssystem’, die ‚Bildungspolitik’ beauftragt die ‚Bildungsforschung’, über ‚Bildungspanels’ und ‚Bildungsstudien’ ‚Bildungsmonitoring’ zu betreiben, um ‚Bildungspläne’ entwickeln zu können, die ‚Bildungsschichten’ zueinander aufschließen lassen, wozu auch die Lehrer/-innenbildung reformiert werden muss, damit die Kompetenzbildung bis hin zur Persönlichkeitsbildung unter dem regulierenden Wirken von Bildungsstandards möglich werde, usw.“ (Drieschner/Gaus 2010, S. 10).

Dimensionen des Bildungsbegriffs

An dieser Stelle erinnere ich in aller Kürze daran, welche Dimensionen aus historischer Perspektive der klassisch-humanistische Bildungsbegriff umfasste:

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Der Mensch ist seinem Wesen nach kein fertiges Wesen, er ist auf Erziehung und Bildung angewiesen, diese Erkenntnis „gehört zu den frühesten Einsichten der griechischen Mythologie, Literatur und Philosophie“ (Benner/Brüggen 2008, S. 209). Die Traditionslinie des Bildungsbegriffs bewegt sich dabei entlang der Begriffe von Bildsamkeit, Humanität, Emanzipation, Freiheit, Mündigkeit, Individualität, Anpassung, Widerstand und Wahrheitssuche (vgl. Ruhloff 2004). Es geht also um die grundlegenden Fragen nach „dem Ziel und Zweck menschlicher Selbst- und Fremdformung“ (Benner/Brüggen 2004, S. 174) und um die grundlegenden Kriterien und Prozesse, „in denen Menschen ihre Menschwerdung gestalten“ (Frost 2008, S. 297). Und in diesem Zusammenhang erinnert die Erziehungswissenschaftlerin Ursula Frost v.a. auch daran, dass Bildung als anthropologische Grundkategorie immer auch verortet war in der Spannung von Anpassung und Widerstand. Der Widerstand der Bildung richtete sich „gegen die Herrschaft des ungeprüften Meinens (Platon, Sokrates), gegen Fremdbestimmung durch äußere Autoritäten und Mächte (Kant), gegen die Maschinerie von Systemen, die den Menschen funktionalisieren (Humboldt), und gegen die gesellschaftliche Vermassung des Menschen, die Bildung gleichschaltet und entwertet, indem sie Individualität untergräbt (Nietzsche)“ (Frost 2008, S. 308). In den Basler Vorträgen über die Zukunft der Bildungsanstalten macht Friedrich Nietzsche (1844–1900) kein Hehl daraus, dass die institutionalisierte Bildung des höheren Schulwesens seiner Zeit, die gekennzeichnet war von einer zunehmenden Stofffülle, einem selektiven Prüfungs- und Leistungsprinzip und einer zunehmenden Nationalisierung im Sinne gesellschaftspolitischer Notwendigkeiten, gerade das Gegenteil von Bildungsanstalten in seinem Sinne darstellte: „Es sind Institutionen zur Überwindung der Lebensnot, (…). Es fehlt uns eine Spezies der Erziehungsanstalten vollständig: die Spezies der Bildungsanstalten! (…) Ich für meinen Teil kenne nur einen wahren Gegensatz, Anstalten der Bildung und Anstalten der Lebensnot: zu der zweiten Gattung gehören alle vorhandenen, von der ersten aber rede ich.“ (Nietzsche 1983, S. 527–529). Nietzsche rekurriert in seinen Einleitungsgedanken und insgesamt in seinen Basler Bildungsvorträgen auf die Bildungsideen des Neuhumanismus. In einer auch schon bei Humboldt scharf angeprangerten Verzweckung und einer auf Nützlichkeitserwägungen folgenden Engführung von Bildung im Dienste von Staat und Ökonomie (im Sinne einer „Humankapitalisierung“ des Menschen), sieht er nicht nur den Bildungswert von Philosophie und Kultur gefährdet sondern insgesamt eine Bedrohung der Allgemeinbildung. Die Kritik Nietzsches am Bildungsdenken seiner Zeit stellt in vielfacher Hinsicht eine markante Zäsur dar, in ihrer bestechenden Diagnostik darf sie durchaus auch Aktualität beanspruchen für jene (problematischen) Entwicklungen und Fragestellungen, die im Bildungsdiskurs des 20. und des 21. Jahrhunderts verhandelt wurden und werden.3

Zur Dialektik des gegenwärtigen Diskurses um die Pädagogen/-innenbildung

Welche Erkenntnisse ergeben sich daraus für das Thema der Pädagogen/-innenbildung – lassen sich daraus Visionen und Perspektiven gewinnen? Die Aktualität der Ausführungen Nietzsches greift etwa der Philosoph Konrad P. Liessmann in seinem Essay „Theorie der Unbildung“ auf. Die Diagnose Nietzsches über den Zustand der Bildung und die Bildungsstätten seiner Zeit hätte, so Liessmann, höchste Aktualität für den gegenwärtigen Bildungsdiskurs: Unter dem Diktat

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von Ökonomie, Wettbewerb und Konkurrenz verkomme Bildung in unseren Bildungsstätten zur Unbildung! (vgl. Liessmann 2006). Auch wenn ich der in Anlehnung an Nietzsche scharfzüngig formulierten Kritik Liessmanns nicht in allen Belangen zustimmen kann, so bedarf doch der oft in Bildungsdebatten aufgegriffene „Jargon der Eigentlichkeit“ (vgl. Adorno 1964) immer wieder kritischer Rückfragen. Dieser Jargon schafft Fronten, Wichtiges wird gegen Unwichtiges ausgespielt, Wertvolles gegen Wertloses, Wesentliches gegen Unwesentliches. An einem Beispiel sei dies verdeutlicht. Schulen und auch tertiäre Bildungsinstitutionen, dies sei vorausgeschickt, sind heute zunehmend in Spannungsfelder involviert, die geprägt sind von sehr komplexen und teils auch widersprüchlichen Erwartungen. Erich Ribolits verfasste für das „Schulheft 144“ einen sehr kritischen Beitrag über „Das Ende der Schule – so, wie wir sie kennen“. In der von Foucault und Deleuze propagierten Kontrollgesellschaft würde, so Ribolits, unter den Begriffen der „Selbstständigkeit, Eigenverantwortung, Selbstführung oder Autonomie“, die Schule zu einem Zulieferbetrieb der Wirtschaft für brauchbares Humankapital (vgl. Ribolits 2011, S. 20). Die aus den widersprüchlichen Erwartungen resultierende Spannung, so kann mit Verweis auf Dietrich Benner (vgl. Benner 2008, S. 216-228) festgehalten werden, ergibt sich einerseits aus dem Insistieren auf der Forderung nach schulischer Allgemeinbildung – ersichtlich durch die Setzung von Bildungsstandards und der Beschreibung von Kompetenzen – auf der anderen Seite durch die Forderung nach einer allgemeinen Menschenbildung, wie ich sie vorher schon kurz skizziert habe. In der aktuellen Diskussion um die Bildungsreformen in den verschiedenen Bereichen – vom Kindergarten beginnend bis hin zu den Institutionen der Pädagogen/innenbildung – scheinen sich oftmals die geschilderten Positionen unversöhnlich gegenüber zu stehen. Wenn nun schon die Erwartungen und Ansprüche an die Schulen so vielfältig und auch divergierend sind, welche Auswirkungen und Konsequenzen hat dies für die Pädagogen/-innenbildung? Was müssen angehende Pädagogen/-innen können, welche Kompetenzen brauchen sie und wie muss eine Ausbildung konzipiert sein, die den teils widersprüchlichen Erwartungen gerecht wird? Vor ca. 150 Jahren entwirft Adolph Diesterweg in seinem Wegweiser für angehende Lehrer/-innen folgendes Idealbild: „Die Gesundheit und Kraft eines Germanen, den Scharfsinn eines Lessing, das Gemüt eines Hebel, die Begeisterung eines Pestalozzi, die Klarheit eines Tillich, die Beredsamkeit eines Salzmann, die Kenntnisse eines Leibniz, die Weisheit eines Sokrates und die Liebe Jesu Christi“ – an diesem Ideal, so Diesterweg, sollten sich Lehrer/-innen orientieren (Diesterweg 1958 zit. in Christof 2011, S. 64 – 65). Unter dem gegenwärtig aktuellen Paradigma einer kompetenz- und standardorientierten Lehrer/-innenbildung liest sich das „Idealbild“ (Standardmodell: National board for professional teaching standards) etwa so: Lehrer/-innen sind der optimalen Förderung des Lernprozesses jedes individuellen Schülers verpflichtet. Lehrer/-innen verfügen über ausgeprägte Fachkompetenz und fachdidaktische Kompetenz. Lehrer/-innen verfügen über ausgeprägte Methodenkompetenz und differenzierte Fähigkeiten der Leistungsbeurteilung und -förderung. Lehrer/-innen sind reflektierende Praxisexperten/-innen, die aus Erfahrung und Forschung regelmäßig ihre Expertise selbst lernend erweitern.

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Lehrer/-innen sind Mitglieder lernender Gemeinschaften und sind um die Entwicklung ihrer Schulen bemüht (vgl. Neumann 2010, S. 270). Unschwer zu erkennen ist, dass sich das Idealbild Diesterwegs etwa an der von Humboldt propagierten allseitig gebildeten Persönlichkeit orientiert, das Standardmodell alleine von der Sprache her sich einem eher pragmatischen und an den Maßstäben der Operationalisierbarkeit/an Professionalität orientiertem Bildungs/Ausbildungskonzept verpflichtet weiß. Und hier komme ich zum Jargon der Eigentlichkeit zurück. Gegenwärtige Diskurse um Schulreformen und Pädagogen/-innenbildung verfangen sich häufig in Gegensätzen, die die schon erwähnten Fronten schaffen: Bestimmte Begriffe werden mit einer Aura des Wesentlichen, Wertvollen, Unhinterfragbaren umgeben, manche Begriffe entstammen in den letzten Jahren zusehends ganz offensichtlich dem Vokabular des Ökonomischen und Betriebswirtschaftlichen. Auf der einen Seite stehen die Begriffe des „Eigentlichen“ wie Grundbildung, Wissen, Anpassung, Bildungsstandards, forschungsgeleitete Lehre, Fachwissenschaft, empirische Bildungsforschung, Wissensproduktion Outputsteuerung, Kompetenzorientierung, Qualitätssicherung, Bildungsmonitoring, Qualifizierung u.v.m. Auf der anderen Seite jene Begriffe, die immer mehr ins Hintertreffen gelangen und mit deren Plausibilität nicht von vornherein gerechnet werden darf: Allgemeine Menschenbildung, Persönlichkeitsbildung, Bildungsphilosophie, Geisteswissenschaft, auf Vertrauen und Selbstwirksamkeit basierende Lehr-/Lernprozesse, Bildung als dialogisches Geschehen, Selbstbestimmung, kritisches Denken, u.v.m. (vgl. Nussbaum 2010). Wenn wir die Grundfragen von Hartmut von Hentig in Bezug auf Bildung auch auf die Pädagogen/-innenbildung anwenden und die Dimensionen von Bildung, die Bieri (vgl. Bieri 2005) beschreibt, als mögliche Antworten auf diese Fragen verstehen, dann wird auch deutlich, warum der Jargon der Eigentlichkeit und das Denken in Gegensätzen letztendlich zu kurz greifen: Menschen bilden sich nicht im „Entweder/Oder“, sondern im „UND“ lebendiger Beziehungen: Unübertrefflich hat dies von Hentig in seiner „Kurzformel“ für Bildung zum Ausdruck gebracht: „Die Menschen stärken und die Sachen klären.“ (vgl. von Hentig 1985).

Visionen und Perspektiven

Angesichts vielfältiger Herausforderungen und wohl auch Krisen, denen sich unter postmodernen Bedingungen Bildungsinstitutionen und somit auch Pädagogen/-innen stellen müssen, braucht es umso mehr Orientierung gebende Visionen und Perspektiven, v.a. auch hinsichtlich einer Weiterentwicklung und Neuausrichtung der Pädagogen/-innenbildung. Die Grundfragen für Bildung – Was bildet den Menschen? Welche Bildungsvorstellungen haben wir/wollen wir haben? Wer ist der gebildete Mensch? Welches Menschenbild liegt deiner/meiner Menschenbildung zugrunde? Welche Eigenschaften und Fähigkeiten, Tugenden und Qualifikationen braucht der heutige Mensch/die heutige Welt? (vgl. von Hentig 2004, S. 13-34) – die von Hentig schon vor vielen Jahren formuliert hat, könnten hier in zweifacher Weise richtungsweisend sein: Einerseits spannen sie den weiten Bogen für die Grunddimensionen der Bildung des Menschen und andererseits wehren sie dadurch einer Engführung und Reduktion des Menschen und seiner Bildung auf Funktionalität und messbare Qualifikationen (vgl. Heitger 2004). Gute Ausbildung von Pädagogen/-innen gelingt nur dann, „wenn sie mit Menschenbildung verknüpft wird, wenn sie beiträgt zur Verwirklichung von Selbstbestimmung in einer gegebenen Welt von Aufgaben und Herausforderungen“ (Heitger 2004, S. 215).

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Und hier kehre ich abschließend ein letztes Mal zu den Überlegungen von Bieri zurück. Was hieße es denn, so kann in Anlehnung an ihn formuliert werden, für Pädagogen/-innen, gebildet zu sein, wenn es denn bei Bildungsprozessen um Weltorientierung, um Aufklärung und Selbsterkenntnis, um Phantasie und Selbstbestimmung, um moralische Sensibilität und um Kunst und Glück geht? Zwei Dimensionen seien hier im Hinblick auf die Pädagogen/-innenbildung noch näher bestimmt: Aufklärung und Selbsterkenntnis/Selbstbestimmung. Aufklärung: Bekanntlich hat ja Immanuel Kant auf die Frage, was Aufklärung sei, folgende Antwort gegeben: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Kant 1968, S. 53). Dies gilt bis heute und kann in der Bildung von Pädagogen/-innen durch die Gestaltung einer dialogischen Lernkultur und einer Kultur des kritischen Fragens besonders gefördert werden. Dies schärft dann, so Bieri, „die Wahrnehmung gegenüber blinden Gewohnheiten des Denkens und Redens und gegen jede Form kritikloser Anpassung und allen Formen von Mitläufertum“ (Bieri 2005, S. 2) Hier kommt m. E. nach auch ein wesentliches Moment von Lehrer/-innenbildung in kirchlicher Trägerschaft zum Tragen: Sie bietet Orientierung in einer pluralen Welt; sie ermöglicht einen Reflexionshorizont für Visionen und alternative Lebensmodelle jenseits ökonomischer Effizienz; sie leistet Religionskritik und Gesellschaftskritik; sie öffnet und weitet den Bildungshorizont – Sachkompetenz muss immer auch verbunden sein mit dem Bemühen um Sinn- und Selbsterschließung (vgl. Englert 2008). Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung: Wer Kinder begleiten und einen förderlichen Einfluss auf ihre Entwicklung nehmen möchte, für den ist es hilfreich, die eigene Entwicklung zu reflektieren. Daher sollten, so in Anlehnung an die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum (2010), das Fundament für die Lehrer/-innenbildung die „Humanities“, in der Ausfaltung von drei Dimensionen, sein: i) Die Fähigkeit zum kritischen Denken, um ein geprüftes Leben führen zu können; ii) die Fähigkeit der Empathie und Solidarität mit allen Menschen, um sich als Teil der Menschheitsfamilie begreifen zu können; iii) die Fähigkeit der narrativen Imagination, um die Erzählungen und Mythen der großen Weisheitstraditionen und Religionen verstehen und sie als sinnstiftende Antworten für das eigene Leben fruchtbar machen zu können. Die Leidenschaftlichkeit, die Bieri vom Gebildeten gegen all das einfordert, was Bildung verhindert, hat einen triftigen Grund: es geht in Bildungsprozessen stets um „Alles“. Hannah Arendt fordert diese Leidenschaft v.a. auch von Lehrer/-innen und allen, die an Erziehung beteiligt sind, ein, weil es um die Zukunft einer gemeinsamen Welt geht: In der Erziehung, so Arendt, „entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen und ob wir unsere Kinder genug lieben, um sie weder aus unserer Welt auszustoßen und sich selbst zu überlassen, noch ihnen ihre Chance, etwas Neues, von uns nicht Erwartetes zu unternehmen, aus der Hand zu schlagen, sondern sie für ihre Aufgaben der Erneuerung einer gemeinsamen Welt vorzubereiten“ (Arendt 1958 zit. in Sattler 2009, 140).

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Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den der Autor bei einer Veranstaltung des CLV OÖ zum Thema „Trapezakt Lehrer/-innenbildung“ am 12. März 2012 im Bildungshaus St. Magdalena in Linz gehalten hat. Der Titel ist in Anspielung an das gleichnamige Lied von Tim Bensko und nach einer Aussage aus dem Buch von Peter Sloterdijk „Du musst dein Leben ändern“ formuliert. Das Schulheft 144 titelte in der Ausgabe 2011: „Last Exit: Lehrer/Innenbildung. Ansätze zur Rettung der Schule“. Die Kritik am Bildungswesen seiner Zeit findet sich bei Nietzsche v.a. in seinen Basler Vorträgen „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ und in der zweiten und dritten seiner vier „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ unter dem Titel „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ und „Schopenhauer als Erzieher“ (vgl. Hoyer 2002).

LITERATUR Adorno, Th. W.: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Suhrkamp, Berlin 1964. Benner, D.: Bildungstheorie und Bildungsforschung. Grundlagenreflexion und Anwendungsfelder. Schöningh, Paderborn 2008, S. 216-228. Benner, D./Brüggen, F.: Bildung – Theorie der Menschenbildung. In: Frost, U. u.a. (Hrsg.): Handbuch der Erziehungswissenschaft. Band 1. Schöningh, Paderborn 2008, S. 209-226. Bieri, P.: Wie wäre es, gebildet zu sein. In: http://www.hwr-berlin.de/fileadmin/ downloads_internet/publikationen/Birie_Gebildet_sein.pdf (10. Juli 2012). S. 1. Christof, E.: Verachteter Beruf LehrerIn –39999999 (k)ein Paradigmenwechsel in Sicht. In: Schulheft, 36. Jg. 2011, Studienverlag, Wien/Innsbruck/Bozen, S. 63-75. Drieschner, E./Gaus, D. (Hrsg.): `Bildung` jenseits pädagogischer Theoriebildung? Fragen zu Sinn, Zweck und Funktion der Allgemeinen Pädagogik. VS Verlag, Wiesbaden 2010, S. 9-31. Frost, U.: Bildung als pädagogischer Grundbegriff. In: Frost, U. u.a. (Hrsg.): Handbuch der Erziehungswissenschaft. Band 1. Schöningh, Paderborn 2008, S. 297-312. Heitger, M.: Bildung als Selbstbestimmung. Schöningh, Paderborn 2004. Hoyer, T.: Nietzsche und die Pädagogik. Werk, Biografie und Rezeption. Königshausen und Neumann, Würzburg 2002. Lämmermann, G.: Religionsdidaktik. Bildungstheologische Grundlegung und konstruktiv-kritische Elementarisierung. Kohlhammer, Stuttgart 2005. Liessmann, K. P.: Die Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Zsolnay, Wien 2006. Neumann, K.: Professionswissen als Zentrum der Diskurse über Lehrerbildung. In: Drieschner, E./Gaus, D. (Hrsg.): ‚Bildung’ jenseits pädagogischer Theoriebildung? Fragen zu Sinn, Zweck und Funktion der Allgemeinen Pädagogik. VS Verlag, Wiesbaden 2010, S. 269-282. Nietzsche, F.: Werke in vier Bänden. Hrsg. von G. Stenzel. Caesar, Salzburg 1983. Nussbaum, M.: Not for profit. Why democracy needs the humanities, Princeton 2010.

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Ribolits, E.: Das Ende der Schule – so, wie wir sie kennen. In: Schulheft, 36. Jg. 2011, Studienverlag, Wien/Innsbruck/Bozen, S. 7-21. Roebben, B.: Religionspädagogik der Hoffnung. Grundlinien religiöser Bildung in der Spätmoderne. LIT, Berlin 2011. Ruhloff, J.: Emanzipation. In: Benner, D./Oelkers, J. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Beltz, Weinheim 2004, S. 279-287. Sattler, E.: Die riskierte Souveränität. Erziehungswissenschaftliche Studien zur modernen Subjektivität, Bielefeld 2009. Sedmak, C.: Lehrer/-innen bilden (sich selbst). In: blick.punkt. (Unveröffentlichter) Hochschulbericht der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz. Linz 2012, S. 8-11. von Hentig, H.: Die Menschen stärken, die Sachen klären. Reclam, Stuttgart 2003. von Hentig, H.: Bildung. Ein Essay. Beltz, Weinheim 2004. ZUM AUTOR Mag. Franz KEPLINGER, Studium der Religionspädagogik und Sportwissenschaft. 20 Jahre Lehrer für Religion, Sport und Ethik an AHS und BMHS in OÖ. Seit 1991 in der Fort-Weiterbildung für Lehrer/-innen und Kindergartenpädagogen/-innen tätig. Gründungsvizerektor/Vizerektor der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz von 2006 – 2012. Seit 1. Oktober 2012 Rektor der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz.

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