Zweiter Teil 75. Zweiter Teil

Zweiter Teil Zweiter Teil Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen »Dies ist mein« und der Leute fand, die ei...
Author: Emilia Kaufman
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Zweiter Teil

Zweiter Teil Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen »Dies ist mein« und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre, Begründer der zivilen! Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viele Leiden und Schrecken hätte nicht derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: »Hütet euch davor, auf diesen Betrüger zu hören. Ihr seid verloren? wenn ihr vergeßt, daß die Früchte all~n gehören und daß. dI~ Erd.e niemandem gehört! «2 Aber mIt großer WahrschemlIchkeit waren damals die Dinge schon so weit gediehen, daß sie nicht mehr so bleiben konnten, wie sie waren. Da nämlich dieser Begriff des Eigentums von vielen vorangehenden Begriffen abhängt, die nur nache~nan~er entst~hen kon~ten, hat er sich im menschlichen GeIst nIcht auf emmal gebIldet. Man mußte viele Fortschritte machen, viele Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben und sie von Generation zu Generation weitergeben und vermehren, bevor man bis zu dieseI? letzten Stadium des Naturzustandes gelangte. Fangen WIr also noch einmal von vorn an und versuchen wir, diese langsame Abfolge von Ereignissen und Erkenntnissen nach ihrer natürlichen Ordnung unter einem einzigem Gesichtspunkt zusammenzustellen. .. Das erste Gefühl des Menschen war das semer EXIstenz; seine erste Sorge war die um seine Erhaltung. Die Erzeugnisse der Erde lieferten ihm alle notwendigen Hilfsmittel; der Instinkt trieb ihn dazu an, von ihnen Gebrauch zu machen. Der Hunger und andere Begierden ließen ihn abwe~h­ selnd verschiedene Lebensweisen erproben, während eme dieser Begierden ihn dazu anregte, seine Gattung fortzu-' pflanzen; und dieser blinde Trieb, bar jeder Empfindung des Herzens, brachte nur einen rein animalischen Akt hervor. War das Bedürfnis befriedigt, so kannten sich die bei-

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den Geschlechter nicht mehr, und sogar das Kind bedeutete seiner Mutter nichts mehr, sobald es sie entbehren konnte. Solcher Art war die Situation des Menschen bei seiner Entstehung; so war das Leben eines Lebewesens das zunächst auf bloße Empfindungen beschränkt war, das kaum ~utzen aus den Gaben zog, die die Natur ihm anbot, und m~ht entfernt darauf bedacht war, ihr irgend etwas zu entreIßen. Doch bald stellten sich Schwierigkeiten ein, und es war nötig, sie überwinden zu lernen. Die Höhe der Bäume die ihn hinderte, ihre Früchte zu erreichen; die Konkurren~ der Tiere, die darauf aus waren, sich davon zu ernähren· die Wildheit derjenigen Tiere, die ihm nach dem Leben tra;hteter:: ~lles zwang ihn, sich der Übungen des Körpers zu be~leIßlgen; es war nötig, flink, schnell im Laufen und kräftig I.J? Kampf zu werden. Die natürlichen Waffen, welche die Aste der Bäume und die Steine bilden, waren ihm bald verfügbar. Er lernte, die Hindernisse der Natur zu überwinde.n, nötigenfalls mit den a.nderen Tieren zu kämpfen, sogar mIt den Menschen um semen Lebensunterhalt zu streiten oder sich für das zu entschädigen, was er einem Stärkeren überlassen mußte. I~ dem Maße, in dem sich das Menschengeschlecht ausbreItete, vermehrten sich mit den Menschen die Beschwerlichkeiten. Die Unterschiede der Böden des Klimas der Jahreszeiten konnten sie zwingen, Unters'chiede in ihr; Lebe?sweisen zu bringen. Unfruchtbare Jahre, lange und harte Wmter, ~lühendheiße Sommer, die alles verzehren, verlangten von Ihnen neue Fähigkeiten. Am Ufer des Meeres und der Flüss~ erfanden si~ die Angel und den Angelhaken und ~rden .Flscher und FIschesser. In den Wäldern fertigten sie SIch PfeIl und Bogen an und wurden Jäger und Krieger. In den kalten Ländern bedeckten sie sich mit den Fellen der Tiere, die sie erlegt hatten. Der Blitz, ein Vulkan oder irgendein glücklicher Zufall machte sie mit dem Feuer bekannt, einem neuen Hilfsmittel gegen die Härte des Winters. Sie lernten, dieses Element zu bewahren, dann, es

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wieder hervorzubringen, und schließlich, das Fleisch damit zuzubereiten, das sie zuvor roh verschlungen hatten. Diese Aufmerksamkeit, die er wiederholt auf Wesen richtete, die von ihm selbst und auch voneinander verschieden waren, mußte natürlicherweise im Geist des Menschen die Wahrnehmung bestimmter Beziehungen ausbilden. Diese Verhältnisse, die wir durch die Wörter »groß«, »klein«, »stark«, »schwach«, »schnell«, »langsam«, »ängstlich«, »kühnGesetzgeberin< und einem ihr zu Ehren begangenen Fest den Namen >Thesmophorien< gaben, haben sie damit zu verstehen gegeben, daß die Aufteilung des Bodens eine neue Art von Recht hervorgebracht hat: nämlich das Eigentumsrecht, welches sich von dem Recht, das sich aus dem natürlichen Gesetz ergibt, unterscheidet.«4 Die Dinge hätten in diesem Zustand sich gleichbleiben können, wenn die Talente aller gleich gewesen wären und sich beispielsweise die Verwendung des Eisens und der Verbrauch an Lebensmitteln immer genau die Waage gehalten hätten. Aber dieses Gleichgewicht, das durch nichts aufrechterhalten wurde, war bald zerstört: der Stärkere leistete mehr Arbeit, der Geschicktere zog größeren Nutzen aus der seinigen, der Erfindungsreichere erfand Mittel zur Abkürzung der Arbeit, der Bauer benötigte me~r Eis~n o~er der Schmied mehr Getreide; und obwohl beide gleIch VIel arbeiteten, verdiente der eine viel, während der andere kaum genug hatte, um davon zu leben. Auf di~se W~ise e~t­ faltet sich die natürliche Ungleichheit unmerkhch mIt derJenigen, die daraus resultiert, daß die Menschen in Verbindung untereinander stehen, und die Unterschiede zwischen den Menschen, die sich durch die Verschiedenheit der Un:stände entwickelt haben, werden spürbarer, dauerhafter m ihren Auswirkungen, und beginnen im selben Maße das Schicksal der einzelnen zu beeinflussen. Sind die Dinge einmal an diesen Punkt gelangt, ~ann ~ällt es leicht, sich das übrige vorzustellen. Ich werde ITI1ch mcht damit aufhalten, die allmähliche Erfindung der anderen Künste, den Fortschritt der Sprachen, die Erprobung und Verwendung der Talente, die Ungleichheit der Vermögen,

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den Gebrauch oder Mißbrauch der Reichtümer noch alle die Einzelheiten zu beschreiben, die hieraus folgen und die jeder leicht ergänzen kann. Ich werde mich nur darauf beschränken, einen Blick auf das Menschengeschlecht zu werfen, das in diese neue Ordnung der Dinge versetzt ist. Nun also sind alle unsere Fähigkeiten entwickelt, das Gedächtnis und die Einbildungskraft sind im Spiel, die Eigenliebe ist geweckt, die Vernunft ist aktiviert und der Geist hat fast vollständig die Vollkommenheit erreicht, zu der er fähig ist. Alle natürlichen Eigenschaften sind nun in Aktivität versetzt, der Rang und das Schicksal eines jeden Menschen sind festgelegt, nicht nur in bezug auf die Menge der Güter und die Macht, zu nützen oder zu schaden, sondern auch in bezug auf den Geist, die Schönheit, die Kraft oder die Geschicklichkeit, in bezug auf das Verdienst oder die Talente; und da diese Eigenschaften die einzigen waren, die jemandem Achtung eintragen konnten, so wurde es bald notwendig, sie zu besitzen oder sie vorzutäuschen; man mllßte sich nun um seines Vorteils willen anders zeigen, als man wirklich war. Sein und Scheinen wurden zu zwei völlig verschiedenen Dingen, und aus dieser Unterscheidung erwuchsen der überwältigende Prunk, die täuschende List und alle Laster, die deren Gefolge bilden. Auf der anderen Seite ist der Mensch, der zuvor frei und unabhängig war, nun durch eine Vielheit neuer Bedürfnisse sozusagen der gesamten Natur untertan, und besonders seinen Mitmenschen, deren Sklave er in gewissem Sinne wird, selbst wenn er zu ihrem Herrn wird: ist er reich, so benötigt er ihre Dienste, ist er arm, so benötigt er ihre Unterstützung, und auch mittelmäßiger Besitz setzt ihn durchaus nicht in den Stand, ohne sie auszukommen. Er muß also unaufhörlich versuchen, sie für sein Schicksal zu interessieren und sie ihren Gewinn wirklich oder scheinbar darin finden zu lassen, daß sie für den seinigen arbeiten. Dies macht ihn betrügerisch und hinterlistig gegenüber den einen, herrisch und hart gegenüber den anderen, und es versetzt ihn in die Notwendigkeit, alle, die er

nötig hat, zu täuschen, wenn er ihnen keine Furcht vor sich einflößen kann und er auch nicht seinen Vorteil dabei findet, ihnen mit Nutzen zu dienen. Schließlich gibt der verzehrende Ehrgeiz, der Eifer, sein Vermögen im Vergleich zu anderen zu mehren - weniger aus einem wirklichen Bedürfnis, als um sich über die anderen zu stellen -, allen Menschen eine finstere Neigung ein, sich gegenseitig zu schaden: eine heimliche Eifersucht, die um so gefährlicher ist, als sie oft, um mit größerer Sicherheit ans Ziel zu gelangen, die Maske des Wohlwollens aufsetzt; mit einem Wort: Konkurrenz und Rivalität auf der einen Seite, Gegensatz der Interessen auf der anderen und immerzu die versteckte Begierde, seinen Gewinn auf Kosten anderer zu realisieren. Alle diese Übel sind die erste Wirkung des Eigentums und das unabtrennbare Gefolge der entstehenden Ungleichheit. Bevor man die den Reichtum repräsentieren~en Zeichens erfunden hatte, konnte dieser kaum in anderem als in Feldern und Vieh bestehen, den einzigen wirklichen Besitztümern, welche die Menschen ihr eigen nennen können. Als nun aber die Erbgüter an Zahl und Ausdehnung so weit angewachsen waren, daß sie den gesamten Boden einnahmen und alle aneinander grenzten, konnten sich die e.~nen nur noch auf Kosten der anderen vergrößern; und die Uberzähligen, welche die Schwäche oder die Trägheit daran gehindert hatte, ihrerseits etwas davon zu erwerben, waren arm geworden, ohne etwas verloren zu haben - weil, als um sie herum sich alles veränderte, sie allein sich nicht verändert hatten -:-; so waren sie gezwungen, ihren Lebensunterhalt von den Reichen zu empfangen oder zu rauben; und hieraus begannen - je nach den unterschiedlichen Charakteren der einen und der anderen _. die Herrschaft und die Knechtschaft oder die Gewalt und der Raub zu entstehen. Die Reichen ihrerseits hatten kaum das Vergnügen zu herrschen kennengelernt, als sie sogleich jedes andere Vergnügen verschmähten; und indem sie sich ihrer alten Sklaven bedienten, um neue zu unterwerfen, dachten sie nur daran, ihre

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Nachbarn zu unterjochen und zu versklaven - gleich jenen ausgehungerten Wölfen, die, wenn sie einmal Menschenfleisch geschmeckt haben, jede andere Nahrung verweigern und nur noch Menschen verschlingen wollen. Da solchermaßen die Mächtigsten oder die Elendesten sich aus ihrer Stärke oder aus' ihrer Bedürftigkeit eine Art Recht auf das Gut anderer machten, welches ihnen zufolge mit dem Eigentumsrecht gleichwertig war, folgte auf die Zerstörung der Gleichheit die fürchterlichste Unordnung. So ließen die Usurpationen der Reichen, die Raubtaten der Armen, die zügellosen Leidenschaften aller, indem sie das natürliche Mitleid und die noch schwache Stimme der Gerechtigkeit erstickten, die Menschen geizig, ehrsüchtig und böse werden. Es erhob sich zwischen dem Recht des Stärkeren und dem Recht des Erstbesitzers ein dauernder Konflikt, der nur durch Kämpfe und Morde ein Ende fand (q). Die im Entstehen begriffene Gesellschaft machte dem schrecklichsten Kriegszustand Platz: 6 Erniedrigt und ohne Trost, weder imstande, auf seinem Weg umzukehren, noch fähig, auf die unglückseligen Errungenschaften, die es gemacht hatte, zu verzichten, und durch den Mißbrauch von Fähigkeiten, die es ehren, nur an seiner eigenen Schande arbeitend, brachte das Menschengeschlecht sich selbst an den Rand des Ruins.

daß diese nur auf ein unsicheres und mißbräuchliches Recht gebaut waren und - da sie nur mit Gewalt erworben worden waren - die Gewalt sie ihnen auch nehmen konnte, ohne daß sie Grund hätten, sich darüber zu beklagen. Selbst diejenigen, die allein ihre handwerkliche Tüchtigkeit reich gemacht hatte, konnten ihr Eigentum kaum auf bessere Rechtsansprüche gründen. Sie mochten zwar sagen: »Ich bin es, der diese Mauer gebaut hat; ich habe dieses Stück Land durch meine Arbeit erworben.« - »Wer hat euch dafür die Abmessungen gegeben?« konnte man ihnen erwidern, »und aus welchem Grund beansprucht ihr, auf unsere Kosten für eine Arbeit bezahlt zu werden, die wir euch gar nicht aufgetragen haben? Wißt ihr nicht, daß viele von euren Brüdern zugrunde gehen oder Mangel an dem leiden, wovon ihr zuviel habt, und daß ihr eine ausdrückliche und einhellige Zustimmung des Menschengeschlechts brauchtet, um euch von den gemeinsamen Mitteln des Lebensunterhalts etwas anzueignen, was über die euren hinausgeht?« Nunmehr gültiger Gründe zu seiner Rechtfertigung beraubt, desgleichen ausreichender Kräfte zu seiner Verteidigung; imstande zwar, einen einzelnen mit Leichtigkeit zu vernichten, doch selbst ständig davon bedroht, von Räuberbanden vernichtet zu werden; allein gegen alle stehend und aufgrund der gegenseitigen Mißgunst unfähig, sich mit seinesgleichen gegen Feinde zu verbünden, die durch gemeinsame Hoffnung auf Plünderung vereint waren, ersann schließlich der Reiche in seiner Not den durchdachtesten Plan, der jemals in den menschlichen Geist gekommen ist: Dieser bestand darin, gerade die Kräfte derjenigen, die ihn angriffen, zu seinen eigenen Gunsten zu gebrauchen, aus seinen Gegnern seine Verteidiger zu machen, ihnen andere Grundsätze einzuflößen und ihnen andere Einrichtungen zu geben, die für ihn ebenso vorteilhaft werden sollten, wie ihm das N aturrecht entgegenstand. In dieser Absicht erfand er - nachdem er seinen Nachbarn den Schrecken einer Situation dargestellt hatte, die sie

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Attonitus novitate mali, divesque, miserque, Effugere optat opes, et quae modo voverat, odit. 7 Es ist wohl nicht möglich, daß die Menschen über eine so jämmerliche Lage und über das Unheil, das sie niederdrückte, sich nicht schließlich Gedanken gemacht hätten. Die Reichen vor allem müssen bald bemerkt haben, wie unvorteilhaft für sie ein beständiger Krieg war, bei dem sie allein sämtliche Kosten trugen und in dem die Gefahr für das Leben allen gemeinsam war, während die für Hab und Gut allein die ihre war. Überdies: welchen. Anstrich sie ihren Usurpationen auch geben mochten, sie spürten sehr wohl,

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alle gegeneinander zu den Waffen greifen ließ, die ihnen ihre Besitztümer ebenso beschwerlich machte wie ihre Bedürfnisse und in der keiner, weder in der Armut noch im Reichtum, seine Sicherheit fand - leicht Scheingründe, um sie zu seinem Ziel zu führen. »Vereinigen wir uns«, sagte er zu ihnen, »um die Schwachen vor Unterdrückung zu schützen, die Ehrgeizigen im Zaum zu halten und jedem den Besitz dessen zu sichern, was ihm gehört: Laßt uns Vorschriften über Gerechtigkeit und Frieden einführen, nach denen alle verpflichtet sind sich zu richten, die ohne Ansehen der Person gelten und die gewissermaßen die Launen des Glücks wiedergutmachen, indem sie in gleicher Weise den Mächtigen wie den Schwachen gegenseitigen Pflichten unterwerfen. Mit einem Wort, statt unsere Kräfte gegen uns selbst zu kehren, laßt sie uns zu einer höchsten Gewalt vereinen, die uns nach weisen Gesetzen regiert, die alle Mitglieder der Gesellschaft schützt und verteidigt, die gemeinsame Feinde abwehrt und uns in einer ewigen Eintracht erhält.«8 Es wäre viel weniger als eine derartige Rede nötig gewesen, um derbe, leicht verführbare Menschen für sich einzunehmen, die überdies zu viele Angelegenheiten untereinander zu bereinigen hatten, als daß sie ohne Schiedsrichter hätten auskommen können, und zu viel Geiz und Ehrsucht besaßen, als daß sie lange Zeit auf Herren hätten verzichten können. Alle rannten auf ihre Ketten los und glaubten, sie würden ihre Freiheit sichern; denn obgleich sie genügend VerH\.lllft besaßen, um die Vorteile einer politischen Ordnung [etablissement politique] zu bemerken, besaßen sie doch nicht genügend Erfahrung, um deren Gefahren vorherzusehen. Diejenigen aber, die am deutlichsten den Mißbrauch vorausahnen konnten, waren es gerade, die daraus Vorteil zu ziehen gedachten; sogar die Weisen sahen, daß sie sich dazu entschließen mußten, einen Teil ihrer Freiheit zur Erhaltung des anderen zu opfern, so wie ein Verwundeter sich den Arm abnehmen läßt, um den übrigen Körper zu retten.

So war, oder so muß der Ursprung der Gesellschaft und der Gesetze gewesen sein, die dem Schwachen neue Fesseln , anlegten und dem Reichen neue Kräfte gaben (r), die unwiederbringlich die natürliche Freiheit zerstörten, das Gesetz des Eigentums und der Ungleichheit für immer festlegten, aus einer geschickten Usurpation ein unwiderrufliches Recht machten und für den Gewinn einiger Ehrgeiziger fortan das gesamte Menschengeschlecht der Arbeit, der Knechtschaft und dem Elend unterwarfen. Man kann leicht sehen, daß die Gründung einer einzigen Gesellschaft die aller anderen unerläßlich machte und daß man, um vereinten Kräften die Stirn zu bieten, sich seinerseits vereinigen mußte. Indem die Gesellschaften sich rasch vermehrten oder ausdehnten, bedeckten sie bald die gesamte Erdoberfläche, und es war nicht mehr möglich, auf der Welt einen einzigen Winkel zu finden, wo man sich von dem Joch hätte befreien und seinen Kopf dem oft schlecht geführten Schwert hätte entziehen können, das jeder Mensch ständig über seinem Haupt schweben sah. Da so das bürgerliche Recht zur allgemeinen Regel der Bürger geworden war, bestand das Gesetz der Natur nur noch zwischen den verschiedenen Gesellschaften, wo es unter dem Namen des Völkerrechts durch stillschweigende Übereinkünfte gemäßigt wurde, um den Verkehr zu ermöglichen und einen Ersatz für das natürliche Mitleid zu schaffen, das - insofern es zwischen Gesellschaft und Gesellschaft fast alle Kraft verliert, die es zwischen Mensch und Mensch hatte - nur noch in einigen großen kosmopolitischen Seelen wohnt, die über die eingebildeten Schranken, welche die Völker trennen, hinwegsteigen und nach dem Beispiel des höchsten Wesens, das sie geschaffen hat, das gesamte Menschengeschlecht in ihr Wohlwollen einschließen. Da solchermaßen die politischen Körper untereinander im Naturzustand blieben, verspürten sie bald jene Mißstände, welche die einzelnen gezwungen hatten, den N aturzustand zu verlassen; und dieser Zustand wurde zwischen

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den großen Körpern noch unheilvoller, als er es zuvor unter den Individuen gewesen war, aus denen sie sich zusammensetzten. Daraus gingen die Kriege zwischen den Nationen, die Schlachten, die Mordtaten, die Vergeltungs maßnahmen hervor, welche die Natur schaudern machen und die Vernunft empören, und alle jene schrecklichen Vorurteile, welche die Ehre, menschliches Blut zu vergießen, in den Rang der Tugenden erheben. Die rechtschaffensten Leute lernten, es zu ihren Pflichten zu rechnen, ihre Mitmenschen hinzumorden; schließlich sah man, wie sich die Menschen zu Tausenden niedermetzelten, ohne zu wissen warum; und es wurden an einem einzigen Kampftag mehr Morde begangen und"bei der Einnahme einer einzigen Stadt mehr Greueltaten, als im Naturzustand während ganzer Jahrhunderte auf der gesamten Erdoberfläche verübt worden waren. Dies sind die ersten Wirkungen, die man bei flüchtiger Betrachtung von der Teilung des Menschengeschlechts in verschiedene Gesellschaften ausgehen sieht. Doch kehren wir zu deren Gründung zurück. Ich weiß, daß etliche den politischen Gesellschaften andere Ursprünge zugeschrieben haben, wie etwa die Eroberungen des Mächtigsten9 oder die Vereinigung der Schwachen;lO und die Wahl zwischen diesen Ursachen ist gleichgültig für das, was ich aufzeigen will. Indessen erscheint mir jene Ursache, die ich gerade dargelegt habe, aus den folgenden Gründen am natürlichsten: 1. Im ersten Fall hat das Recht der Eroberung, insofern es gar kein Recht ist, kein anderes begründen können, weil der Eroberer und die eroberten Völker immerfort miteinander im Kriegszustand bleiben, es sei denn, die Nation wäre in volle Freiheit zurückversetzt und wählte freiwillig ihren Bezwinger zu ihrem Oberhaupt. Welche Zugeständnisse man bis dahin aber gemacht haben mag: da sie bloß auf Gewalt gegründet und durch diese Tatsache folglich selbst null und nichtig sind, kann es nach dieser Hypothese weder eine wirkliche Gesellschaft noch einen politischen Körper noch ein anderes Ge-

setz als das des Stärkeren geben. 2. Die Wörter »stark« und »schwach« sind im zweiten Fall doppeldeutig; denn in der Zeitspanne, die zwischen der Einführung des Eigentumsrechts oder des Rechts des Erstbesitzers und der Einführung der politischen Regierungen liegt, wird der Sinn dieser Begriffe besser durch die Wörter »arm« und »reich« wiedergegeben, weil in der Tat der Mensch, bevor es Gesetze gab, gar kein anderes Mittel hatte, seine Mit,menschen zu unterwerfen,. als ihr Hab und Gut anzugreifen oder ihnen einen Teil von dem seinigen zu geben. 3. Da die Armen nichts zu verlieren hatten als ihre Freiheit, wäre es eine große Torheit von ihnen gewesen, sich freiwillig von dem einzigen Gut, das ihnen blieb, zu trennen, um nichts im Austausch dafür zu gewinnen; im Gegensatz dazu waren die Reichen sozusagen in allen Teilen ihrer Güter verletzlich, und daher war es sehr viel leichter, ihnen Schaden zuzufügen; sie hatten folglich mehr Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, um sich davor zu schützen; und schließlich ist es vernünftig an zu nehmen, daß eine Sache eher von denjenigen erfunden worden ist, denen sie nützt, als von denjenigen, denen sie schadet. Die entstehende Regierung hatte keine beständige und regelmäßige Form. Der Mangel an Philosophie und an Erfahrung ließ nur die gegenwärtigen Mißstände bemerken, und man dachte nur in dem Maße daran, die anderen zu beheben, in dem sie sich zeigten. Trotz aller Mühe der weisesten Gesetzgeber blieb der politische Zustand immer unvollkommen, weil er beinahe das Werk des Zufalls war und - insofern er schlecht angefangen hatte - die Zeit, indem sie die Mängel aufdeckte und Mittel zu deren Behebung anregte, niemals die Grundfehler dieser Einrichtung [constitution] wiedergutmachen konnte. Man besserte unaufhörlich aus, wohingegen es nötig gewesen wäre, den Platz freizuräumen und alles alte Baumaterial zu beseitigen, wie es Lykurg 11 in Sparta tat, um hernach ein gutes Gebäude zu errichten. Die Gesellschaft bestand zunächst nur in einigen

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allgemeinen Vereinbarungen, die einzuhalten sich alle einzelnen verpflichteten und zu deren Beschützer sich die Gemeinschaft gegen jeden von ihnen machte. Die Erfahrung mußte zeigen, wie schwach eine solche Verfass~ng war und wie leicht es den Gesetzesbrechern fiel, der Uberführung und der Bestrafung für Verstöße zu entgehen, deren Zeuge und Richter allein die Öffentlichkeit sein sollte; das Gesetz mußte auf tausend Arten umgangen werden; die Mißstände und die Wirren mußten sich andauernd vermehren, bis man schließlich daran dachte, die gefährliche Wahrung der öffentlichen Autorität einzelnen Leuten anzuvertrauen, und man Magistratspersonen die Sorge dafür übertrug, daß die Beschlüsse des Volkes eingehalten wurden. Denn zu behaupten, daß die Oberhäupter gewählt worden seien, bevor die Vereinigung [confederation] geschaffen worden war, und daß die Diener der Gesetze vor den Gesetzen selbst existiert hätten, dies ist eine Annahme die es nicht verdient, ernsthaft bekämpft zu werden. Es wäre nicht vernünftiger zu glauben, daß die Völker sich zunächst bedingungslos und unwiderruflich einem absoluten Herrscher in die Arme geworfen hätten und daß das erste Mittel, für die allgemeine Sicherheit zu sorgen, das stolze und unbezähmbare Menschen ersannen, darin bestanden hätte, sich in die Sklaverei zu stürzen. Warum nämlich haben sie sich Höherstehende gegeben, wenn nicht dafür, daß diese sie gegen Unterdrückung verteidigen und ihr Hab und Gut, ihre Freiheit und ihr Leben schützen, welche sozusagen die konstitutiven Elemente ihres Daseins sind? Nun ist in den Beziehungen von Mensch zu Mensch das Schlimmste, was dem einen widerfahren kann, sich der \Villkür des anderen ausgeliefert zu sehen; wäre es dann nicht wider den gesunden Menschenverstand gewesen, wenn sie sich zunächst in den Händen eines Oberhauptes der einzigen Dinge entledigt hätten, für deren Erhaltung sie seiner Hilfe bedurften? Welchen Gegenwert hätte jener ihnen für die Überlassung eines so schönen Rechtes anbieten

können; und wenn er es - unter dem Vorwand, sie zu verteidigen - zu fordern gewagt hätte, würde er nicht sogleich die Antwort aus der Fabel erhalten haben: »Was könnte uns der Feind Schlimmeres antun?«12 Es ist somit unbestreitbar, und es ist die Grundregel des gesamten politischen Rechts, daß sich die Völker Oberhäupter gegeben haben, damit diese ihre Freiheit verteidigen, und nicht, damit sie die Völker versklaven. »Wenn wir einen Fürsten haben«, sagte Plinius zu Trajan, »dann dafür, daß er uns davor bewahrt, einen Herrn zu haben.« 13 Die Politiker bilden sich über die Freiheitsliebe die gleichen Fehlurteile, welche die Philosophen über den Naturzustand ersonnen haben; aufgrund der Dinge, die sie sehen, urteilen sie über ganz andere Dinge, die sie nicht gesehen haben; und sie schreiben den Menschen eine natürliche Neigung zur Knechtschaft 14 zu - der Geduld wegen, mit der diejenigen, die sie vor Augen haben, ihre Knechtschaft ertragen -, ohne zu bedenken, daß es mit der Freiheit ebenso bestellt ist wie mit der Unschuld und der Tugend, deren Wert man nur insoweit empfindet, als man sie selbst besitzt, und für die sich der Geschmack verliert, sobald man sie verloren hat. »Ich kenne die Köstlichkeiten deines Landes«, sagte Brasidas zu einem Satrapen, der das Leben von Sparta mit dem von Persepolis verglich, »aber du kannst nicht die Freuden des meinigen kennen.«15 Wie ein ungezähmtes Rennpferd, das beim bloßen Näherkommen des Zaumzeugs die Mähne sträubt, mit den Hufen auf die Erde stampft und heftig ausschlägt, während ein abgerichtetes Pferd geduldig die Gerte und die Sporen erträgt, so beugt der barbarische Mensch sein Haupt nicht unter das Joch, das der zivilisierte Mensch ohne Murren trägt, und er zieht die stürmischste Freiheit einer ruhigen Unterwerfung vor. Man darf daher die natürlichen Anlagen des Menschen für oder gegen die Knechtschaft nicht nach der Erniedrigung der versklavten Völker beurteilen, sondern nur nach den Wundern, die alle freien Völker voll-

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bracht haben, um sich vor der Unterdrückung zu bewahren. Ich weiß, daß die ersteren unaufhörlich nur den Frieden und die Ruhe preisen, die sie in ihren Ketten genießen, und daß miserrimam servitutem pacem appellant. 16 Wenn ich aber die anderen ihre Vergnügungen, die Ruhe, den Reichtum, die Macht und sogar das Leben für die Erhaltung dieses einzigen Gutes opfern sehe, das von denjenigen, die es verloren haben, so gering geachtet wird; wenn ich freigeborene und die Gefangenschaft verabscheuende Tiere sich den Kopf gegen die Gitterstäbe ihres Gefängnisses einrennen sehe; wenn ich sehe, daß Massen von völlig nackten Wilden die europäischen Schwelgereien verachten und dem Hunger, dem Feuer, dem Schwert und dem Tod trotzen, nur um ihre Unabhängigkeit zu behalten, dann meine ich, daß es Sklaven nicht zusteht, über die Freiheit zu urteilen. Was die väterliche Autorität angeht, von der etliche die absolute Regierung und die gesamte Gesellschaft abgeleitet haben,17 so genügt es - ohne auf die Gegenbeweise von Locke 18 und Sidney19 zurückzukommen - zu bemerken, daß nichts auf der Welt von dem blutdürstigen Geist des Despotismus weiter entfernt ist als die Milde dieser Autorität, die mehr auf den Vorteil desjenigen achtet, der gehorcht, als auf den Nutzen desjenigen, der befiehlt; daß nach dem Gesetz der Natur der Vater nur so lange Herr über sein Kind ist, wie dieses seine Hilfe benötigt; daß sie nach diesem Zeitpunkt Gleiche werden und daß dann der vom Vater völlig unabhängige Sohn ihm nur Achtung und nicht Gehorsam schuldet; denn die Dankbarkeit ist ganz gewiß eine Pflicht, die man erfüllen muß, aber nicht ein Recht, das man fordern kann. Anstatt zu sagen, daß die zivile Gesellschaft von der väterlichen Gewalt herstamme, müßte man im Gegenteil sagen, daß diese Gewalt gerade von der Gesellschaft ihre hauptsächliche Stärke bezieht: Ein Individuum wurde erst dann als Vater mehrerer anderer anerkannt, als diese um ihn versammelt blieben. Die Besitztümer des Vaters, über die er wirklich Herr ist, sind die Bande, die seine Kinder in Ab-

hängigkeit von ihm halten; und er kann sie nur in dem Maße an seinem Erbe beteiligen, in dem sie dies von i.bm durch andauernde Rücksichtnahme auf seinen Willen verdient haben. Doch weit davon entfernt, daß die Untertanen eine ähnliche Gunst von ihrem Despoten zu erwarten hätten - da sie ihm als sein persönliches Eigentum gehören, sie selbst und alles, was sie besitzen, oder da er dies wenigstens beansprucht -, sind sie darauf beschränkt, als eine Gunst zu empfangen, was er ihnen von ihrem eigenen Gut beläßt. Er übt Gerechtigkeit, wenn er sie beraubt; er läßt Gnade walten, wenn er sie leben läßt. Wenn man damit fortführe, solchermaßen die Tatsachen anhand des Rechts zu überprüfen, so fände man nicht mehr Triftigkeit als Wahrheit in der sogenannten freiwilligen Errichtung der Tyrannei, und es wäre schwierig, die Gültigkeit eines Vertrages nachzuweisen, der nur eine der Parteien verpflichtete, wobei man alles der einen Seite aufbürdete und nichts der anderen, und der nur dem zum Schaden ausschlüge, der sich verpflichtet. Dieses abscheuliche System ist selbst heute weit davon entfernt, das der weisen und guten Monarchen zu sein, und vor allem nicht das der Könige von Frankreich; wie man dies aus verschiedenen Stellen ihrer Edikte ersehen kann, und insbesondere aus dem folgenden Abschnitt einer berühmten Schrift, die im Jahre 1667 im Namen und im Auftrag Ludwigs XIV veröffentlicht wurde: »Man sage also nicht, der Souverän sei den Gesetzen seines Staates nicht unterworfen, denn die gegenteilige These ist eine Wahrheit des Völkerrechts, welche die Schmeichelei manchmal angegriffen hat, die aber die guten Fürsten immerzu wie eine schützende Gottheit ihrer Staaten verteidigt haben. Um wieviel rechtmäßiger ist es, mit dem weisen Platon zu sagen, die vollkommene Glückseligkeit eines Königreichs bestehe darin, daß einem Fürsten von seinen Untertanen gehorcht wird, daß der Fürst dem Gesetz gehorcht und daß das Gesetz gerecht und stets auf das Gemeinwohl gerichtet ist.«20 Ich werde mich nicht damit aufhalten zu un-

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tersuchen, ob - insofern die Freiheit die edelste Fähigkeit des Menschen ist - es nicht bedeutet, seine Natur zu entwürdigen, sich auf das Niveau der dem Instinkt hörigen Tiere zu begeben, ja sogar den Urheber seines Daseins zu beleidigen, wenn man ohne Vorbehalt auf die kostbarste aller seiner Gaben verzichtet, wenn man sich bereit findet, alle Verbrechen zu begehen, die er uns verbietet, um einem grausamen oder wahnsinnigen Herrn zu gefallen; und ob dieser erhabene Schöpfer etwa mehr darüber erzürnt sein muß, wenn sein schönstes Werk zerstört statt entehrt wird. Es sei mir gestattet, auch die Autorität von Barbeyrac21 beiseite zu lassen, der im Anschluß an Locke22 deutlich erklärt, niemand könne seine Freiheit so weit verkaufen, daß er sich einer willkürlichen Macht unterwirft, die ihn nach Lust und Laune behandelt: »Denn«, fügt er hinzu, »das hieße sein eigenes Leben verkaufen, über das man nicht Herr ist.« Ich werde lediglich fragen, mit welchem Recht diejenigen, die sich nicht gescheut haben, sich selber bis zu diesem Punkt zu erniedrigen, ihre Nachkommen derselben Schande unterwerfen und an ihrer Statt auf Güter verzichten konnten, die diese gar nicht ihrer Freigebigkeit zu verdanken haben und ohne die das Leben selbst all denjenigen zur Last wird, die ihrer würdig sind. Pufendorf23 sagt, daß - ganz genauso wie man sein Gut durch Vereinbarungen und Verträge einem andern überträgt - man sich auch seiner Freiheit zugunsten eines anderen entäußern kann. Dies ist, wie mir scheint, eine sehr schlechte Schlußfolgerung; denn erstens wird für mich das Gut, das ich veräußere, zu einer völlig fremden Sache, deren Mißbrauch mir gleichgültig ist; doch ist es mir wichtig, daß man meine Freiheit nicht mißbraucht, und ich kann mich nicht - ohne mich des Bösen schuldig zu machen, das zu tun man mich vielleicht zwingt - der Gefahr aussetzen, zum Werkzeug des Verbrechens zu werden. Ferner: da das Eigentumsrecht nur auf Übereinkunft und menschlicher Einrichtung beruht, kann jeder Mensch nach seinem Belieben

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über das verfügen, was er besitzt; doch steht es nicht ebenso mit den grundlegenden Gaben der Natur, wie dem Leben und der Freiheit, die zu genießen jedem erlaubt ist und bei denen es mindestens zweifelhaft ist, ob man das Recht hat sich ih~er zu entäußern: Wenn man das eine aufgibt, so setz~ man sem Wesen herab, gibt man das andere auf, so vernichtet man es, soweit dies bei einem liegt; und da kein zeitliches . Gut für den Verlust des einen oder des anderen entschädigen kann, so würde man zugleich die Natur und die Vernunft beleidigen, wollte man auf sie verzichten zu welchem Preis es auch sei. Wenn man aber seine Freiheit ebenso wie seine Güter veräußern könnte, wäre der Unterschied für die Kin~.er sehr groß, v.:-elche die Güter. des Vaters nur aufgrund der Ubertragung semes Rechts gemeßen, während die Freiheit eine Gabe ist, die sie von der Natur in ihrer Eigenschaft als Menschen erhalten, und ihre Eltern daher keinerlei Recht hatten, sie ihnen zu nehmen; so daß - wie man der Natur Gewalt antun mußte, um die Sklaverei einzuführen - man die Natur verändern mußte, um dieses Recht fortbestehen zu lassen; und die Rechtsgelehrten, die feierlich verkündet haben, da.s Kind einer Sklavin werde als Sklave geboren, haben mIt anderen Worten entschieden daß ein ' Mensch nicht als Mensch geboren werde. 24 Es s~heint mi~ mithin nicht nur gewiß, daß die Regierungen kemeswegs m der Form willkürlicher Gewalt begonnen haben, welche ja nur ihren Verfall, ihre letzte Stufe darstellt und sie schließlich allein auf das Gesetz des Stärkeren zurückführt, dessen Gegenmittel sie ursprünglich waren; sondern auch - selbst wenn sie so begonnen hätten - daß diese G~walt,. da sie aufgrund ihrer Natur unrechtmäßig gewesen ware, mcht als Grundlage für die Rechte der Gesellschaft und f~lglic~ auch nicht als solche für die darin eingerichtete Ungieichhelt hätte dienen können. Ohne heute in die Untersuchungen einzutreten, die noch über die ~atur des Grundvertrages jeder Regierung vorzunehmen smd, beschränke ich mich darauf - indem ich der

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allgemeinen Meinung folge -, hier die EinrichtUng des politischen Körpers als einen wahren Vertrag zwischen dem Volk und den Oberhäuptern, die es sich wählt, zu betrachten: einen Vertrag, durch den sich beide Parteien zur Beachtung der Gesetze verpflichten, die darin festgelegt sind und die die Bande ihrer Vereinigung bilden. Indem das Volk, hinsichtlich der gesellschaftlichen Beziehungen, alle seine Willensstrebungen zu einem einzigen Willen vereinigt, werden alle Artikel, über die sich dieser Wille erklärt, lauter Grundgesetze, die alle Mitglieder des Staates ohne Ausnahme verpflichten, und eines dieser Grundgesetze regelt die Wahl und die Macht der Magistratspersonen, die damit beauftragt sind, die Ausführung der anderen Gesetze zu überwachen. 25 Diese Macht erstreckt sich auf alles, was die gesellschaftliche Verfassung aufrechterhalten kann, nicht aber so weit, sie zu verändern. Dem fügt man Ehren hinzu, welche die Gesetze und ihre Diener achtenswert machen, und für diese persönlich noch Vorrechte, die sie für die mühsamen Arbeiten, die eine gute Verwaltung erfordert, entschädigen. Der Magistrat seinerseits verpflichtet sich, die ihm anvertraute Macht nur gemäß der Absicht der Auftraggeber zu gebrauchen, jeden im friedlichen Genuß dessen, was ihm gehört, zu erhalten und bei jeder Gelegenheit den öffentlichen Nutzen seinem Eigeninteresse vorzuziehen. Bevor die Erfahrung den unvermeidlichen Mißbrauch einer solchen Verfassung gezeigt hat oder die Kenntnis des menschlichen Herzens diesen vorhersehen ließ, mußte sie um so besser scheinen, als diejenigen, die damit beauftragt waren, auf ihre Erhaltung zu achten, selbst am meisten daran interessiert waren. Da nämlich die Magistratsbehörde und ihre Rechte nur auf den Grundgesetzen errichtet waren, würden die Magistratspersonen, sobald diese Gesetze zerstört wären, aufhören, rechtmäßig zu sein; das Volk wäre nicht mehr gehalten, ihnen zu gehorchen; und da nicht der Magistrat, sondern das Gesetz das Wesen des Staates ausmacht, würde jeder zu Recht in seine natürliche Freiheit zurückkehren.

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. We.J?-n man hierüber nur aufmerksam nachdächte, würde sIch dIes durch neue Gründe bestätigen, und aus der Natur ~es Ve~trages würde man ersehen, daß er nicht unwiderrufh~h ~.em .könnte: Denn wenn es keine obere Gewalt gäbe, dIe. für dIe .!reue er Vertrags~~ließenden bürgen und diese zWIngen ~onnte! Ihre g~genselt~gen .verpflichtungen einzuhalte.n, waren dIe ParteIen allem RIchter in eigener Sache und Jede. hätte jederzeit da~ Recht, den Vertrag zu kündigen: sobald sI~~feststellt, daß dIe andere gegen seine Bedingungen v~rstoßt,. o~er sobal~ diese ihr nicht mehr zusagen. Auf dIeses PnnzIp, so scheInt es, läßt sich das Recht der Abdankung gründen. Betrachtet man nur das - wie wir es hier tun -, was m~nschliche Einrichtu~g ist, so ist zu sagen: enn der Ma~Istrat, der alle Macht m Händen hält und der sI.~h all~ VorteIle des Vertrages aneignet, dennoch das Recht hatte, SIch ~on der Autorität loszusagen, dann müßte das Volk, das fur alle Fehle~ der Oberhäupter bezahlt, um so mehr das R~cht haben, SIch von der Abhängigkeit loszusage-?-. Aber. dIe. schrecklichen Entzweiungen, die unendlichen W~r~en, dIe ?IeSe ge~ährliche Macht notwendig erweise herbeIführe? wurde, ~eIgen mehr als alles andere, wie sehr die menschlIchen RegIerungen einer festeren Grundlage bedurf~en als der bloßen Vernunft und wie nötig es für die öffenthc~e Ruhe war; ?aß ?er göttliche Wille eingriff, um der souveranen Autontat eInen heiligen und unverletzlichen ~harakter zu verleihe~, der. den Untertanen das verhängn~svolle R~cht nahm, uber SIe zu verfügen. Wenn die ReligI~n nur dIe~~s Gut~ für die Menschen geschaffen hätte, so rde es dafur au~re.Ichen, daß alle sie lieben und annehmen mussen, sogar mIt Ihren Mißbräuchen, weil die Religion noch me~r Blut erspart, als der Fanatismus vergießt. Aber folg~n WIr de~ Faden uns~rer Hypothese. DIe verschIed.enen. Reglerungsformen entspringen den mehr. oder wem ger großen Unterschieden, die zwischen den eInzelnen Menschen im Augenblick ihrer Einführung bestanden haben. Stach ein Mensch hervor an Macht, an Tu-

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gend, an Reichtum oder an Ansehen, dann wurde er a~lein zum Magistrat gewählt, und der Staat wur~e monarchisch. Wenn mehrere, untereinander ungefähr GleIche, allen anderen überlegen waren, wurden sie zusammen gewählt, und man erhielt eine Aristokratie. Diejenigen, bei denen Vermö., gen oder Begabung in einem weniger großen Mißverhältnis standen und die sich am wenigsten vom Naturzustand entfernt hatten, nahmen die oberste Verwaltung gemeinsam wahr und bildeten eine Demokratie. Die Zeit bewies, welche dieser Formen für die Menschen am vorteilhaftesten war. Die einen blieben allein den Gesetzen untertan; die anderen gehorchten bald Herren. Die freien Bürger [citoyens] wollten ihre Freiheit wahren; die Untertanen dachten nur daran sie ihren Nachbarn zu nehmen, da sie nicht dulden konn;en, daß andere ein Gut genießen sollten, das. sie sel~st nicht mehr genossen. Mit einem Wort: auf der emen Seite standen Reichtümer und Eroberungen, auf der anderen Glück und Tugend. In diesen verschiedenen Regierungen waren zunächst alle Magistratsstellen auf Wahlen gegründet, und wenn der Reichtum nicht den Ausschlag gab, wurde der Vorzug dem Verdienst gegeben, das eine natürliche Überlegenheit verleiht und dem Alter, das Erfahrung in den Geschäften und Bes;nnenheit bei den Beratungen gewährt. Die Alten bei den Hebräern die Geronten von Sparta, der Senat von Rom und sogar die 'Etymologie unseres Wortes seigneu-?6. zeigen, wie sehr das Alter einst geachtet wurde. Je öfter dIe Wahl aber auf Männer in fortgeschrittenem Alter fiel, dest? hä.u-figer wurden die Wahlen und desto D?-ehr m~chte? sIch I~re Mißlichkeiten fühlbar: Intrigen schlIchen sIch em, FaktlOnen bildeten sich, die Parteien wurden immer verbitterter, Bürgerkriege flammten auf, schließlich wurde das Blut der Bürger dem vorgeblichen Glück des Staates geopfert ~nd man war nahe daran, in die Anarchie der früheren Zelten zurückzufallen. Der Ehrgeiz der Hochstehenden nutzte diese Umstände aus, um ihre Ämter in ihren Familien zu

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behalten;. das Volk, das die Abhängigkeit, die Ruhe und die Bequemhchkeiten des Lebens schon gewohnt und schon außerstande war, seine Ketten zu sprengen, willigte ein, seine Knechtschaft noch größer werden zu lassen um seine Ruhe zu sichern. Auf dies~ Weise gewöhnten sich die Oberhäupter, deren Amt er~l~ch ge:worden war, daran, ihre Magistratsstelle als Famlhenbesltz zu betrachten sich selbst für die Eigentümer des Staates zu halten - de:sen Beamte sie zunächst nur waren -, ihre Mitbürger ihre Sklaven zu nenn~n, sie wie \:,ieh zu den Dingen zu rechnen, die ihnen geh~rten, und sIch selbst als Göttergleiche und Könige zu bezeIchnen. We~n wir die Ausbreitung der Ungleichheit durch diese versch:ed~nen Umwälzungen hindurch verfolgen, so werd~n WIr fmden, ~aß die Einführung des Gesetzes und des EigentuD?-srechts Ihre erste Stufe war; daß die Einrichtung des M~.gl~tratsamtes di.e z~eite und die Verwandlung der rechtmäßIgen Gewalt m eme willkürliche die dritte und letzte Stufe war. Auf diese Weise wurde der Status von reich UI~.d a~m durch die erste Epoche gerechtfertigt, jener von machtlg und schwach durch die zweite und durch die dritte der von Herr und Sklave, welcher der letzte Grad der Ungleichheit ist und der Endpunkt, auf den alle anderen hina~slaufen, b~s neue Umwälzungen die Regierung völlig auflosen oder SIe den rechtmäßigen Verhältnissen wieder annähern. Um die Not:wend~gkeit dieser Ausbreitung zu verstehen, mu~. man wellIger dIe Beweggründe für die Errichtung des p~htlschen. ~örpers berücksichtigen als die Form, die er bei semer Reahsierung annimmt, und die Mißstände die er herb.eiführt: Denn die Laster, welche die gesellschaf;lichen Einnchtungen nötig machen, sind die gleichen, die deren Mißbrauch unvermeidlich machen; und da - nur Sparta aus genom~en, wo das Gesetz vornehmlieh über die Erziehung ?er Kmder wachte und wo Lykurg Sitten einführte, die es Ihm nahezu ersparten, sie durch Gesetze zu ergänzen - die

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Gesetze, die im allgemeinen weniger stark als die Leide~­ schaften sind zwar die Menschen im Zaum halten, ohne SIe jedoch zu än'dern, wär~ es leicht z~ beweisen, daß jegli~he Regierung, die - ohne sIch korrumpIeren zu las~en ode:- SIch zu verschlechtern - immer genau dem Zweck Ihrer Emsetzung gemäß vorginge, unnötigerv:eise einl?ieführt worden wäre; und daß ein Land, in dem memand dIe Gesetze u~­ ginge oder das Magistratsamt mißbrauchte, weder Magl. stratspersonen noch Gesetze .nötig hätt~. Die politischen Unterscheldu~gen fuhren n?twendlge:-weise zu Unterscheidungen zWIschen den Burgern .. Die wachsende Ungleichheit zwischen dem yolk und semen Oberhäuptern macht sich bald unter den em~eln~n b~merk­ bar und wandelt sich dort auf tausenderleI Welse Je nach den Leidenschaften, den Talenten und den zufälligen Gegebenheiten ab. Der Magistrat vermag keine unrechtmäßige Macht zu usurpieren, ohne sich Kreaturen zu schaffen, denen er einen gewissen Teil davon zu üb~rtrageJ?- gezwun~en ist. Übrigens lassen sich die Bürger n~r m~ow~lt unterdrukken als sie von einem blinden EhrgeIZ mitgenssen werden; und da sie mehr unter sich als über sich sehen, wir~ ih~e? die Herrschaft lieber als die Unabhängigkeit, und SIe wIllIgen ein, Ketten zu tragen, ~m auch ihrerseits a.nd~ren welche anlegen zu können. Es 1St sehr schwer, denJemgen zum Gehorsam zu nötigen, der nicht zu bef~hlen t:-achtet; und dem geschicktesten Poli.tiker wü~de .es mcht gelIngen,. Menschen zu unterjochen, dIe nur freI sem wo~le? Aber dl~ yngleichheit läßt sich mühelos unter e~rg~lzlge? und Jelgen Seelen ausbreiten, die immerzu bereIt smd, Ihr Gluck zu wagen und - was ihnen beinahe gleic~gültig ist - .~u h:.rrschen oder zu dienen, je nachdem, ob Ihnen das G~uck gU!~­ stig oder widrig ist. So mußte eine Zeit kommen, m der dIe Augen des Volkes in solc~em Maße verzaubert waren, daß seine Führer nur dem genngsten unter allen Menschen zu sagen brauchten: »Sei groß, du und dei~ G~sc~lec~t«, un.d sogleich erschien er aller Welt groß, gleichWIe m semen el-

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gene~ Augen; und seine Nachkommen stiegen noch höher auf; m ~em Maße, in dem sie sich von ihm entfernten. Je weIter dIe Ursach.e zurücklag und je ungewisser sie war, de~to ~ehr na~~dle Wirkung zu; je mehr Müßiggänger man m emer FamIlIe zählen konnte, desto erlauchter wurde sie. Wenn hier der Ort wäre, um sich auf Einzelheiten einzulassen, würde ich leicht erklären können, wie - sogar ohne daß die Regierung eingreife7 - die Ungleichheit des Ansehens und der Autorität unter den einzelnen unvermeidlich wird (s), sob~ld si~ - in. d~rselben Gesellschaft vereinigt gezwung~n smd, SIch mltemander zu vergleichen und den UnterschIeden Rechnung zu tragen, die sie in dem andauernden Gebrauch finden, den sie voneinander machen müssen. Diese Unterschiede sind von mehrfacher Art· insofern im allgemeinen aber Reichtum, Adel oder Rang, Macht und p~rsönlic~es ~erdienst .die wesentlichen Unterscheidungen btlden, wurde Ich beweIsen, daß das Einvernehmen oder der Widerstreit zwischen diesen verschiedenen Kräften das sicherste Anzeichen für eine gute oder schlechte Staatsverfassung ist. Ich würde zeigen, daß unter diesen vier Arten von Ungleichheit - seien auch die persönlichen Eigenschaften der Ursprung aller anderen - doch der Reichtum die letzte ist, auf die sie sich schließlich zurückführen lassen. Weil er am unmittelbarsten dem Wohlbefinden nützt und am leichtes.ten übertra~ba:- ist, bedient m~n sich seiner mit Leichtig~elt, um alles ubnge zu kaufen: eme Beobachtung, die ziemh.ch ~enau das Ausmaß zu beurteilen ermöglicht, in dem SIch Jedes Volk von seinen ursprünglichen Verhältnissen entfernt hat, und die Strecke, die es auf dem Weg zum äußersten Zustand der Verderbnis zurückgelegt hat. Ich würde hervorheben, wie sehr diese allgemeine Gier nach ~nsehen, Ehre u~d Auszeichnungen, die uns alle verzehrt, die T~~ente "?nd dIe .Kr~fte s~ch üben und einander vergleic~e?-laßt; WIe. sehr Sl~ dIe LeIdenschaften erregt und verviel:.. falngt; und - mdem SIe alle Menschen zu Konkurrenten Rivalen, oder vielmehr zu Feinden macht - wie viele Schick-

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salsschläge, Erfolge und Katastrophen aller Art sie täglich dadurch verursacht, daß sie so viele Bewerber auf derselben Rennbahn laufen läßt. Ich würde zeigen, daß wir gerade diesem Eifer, von sich reden zu machen, dieser Gier, sich auszuzeichnen, die uns fast immerzu außer uns sein läßt, das verdanken, was es an Bestem und an Schlechtestem unter den Menschen gibt: unsere Tugenden und unsere Laster, unsere Wissenschaften und unsere Irrtümer, unsere Eroberer und unsere Philosophen, eine Menge schlechter Dinge also angesichts einer geringen Zahl von guten. Ich wür~e schließlich beweisen, daß, wenn man eine Handvoll Mächtiger und Reicher auf dem. Gipfel d~r Herrlichke.iten und des Glücks sieht, während dIe Menge m DunkelheIt und Elend dahinkriecht, dies bedeutet, daß die ersteren die Dinge, die sie genießen, nur insoweit schätzen, als die anderen sie entbehren, und daß sie - auch ohne ihren Stand zu wechseln aufhören würden glücklich zu sein, wenn das Volk aufhörte, elend zu sein. Aber diese Einzelheiten reichten allein für den Stoff eines beträchtlichen Werkes aus, in dem es darum ginge, die Vorteile und die Nachteile jeder Regierung in bezug auf die Rechte des Naturzustandes abzuwägen und alle die verschiedenen Gesichter zu entlarven, unter denen sich die Ungleichheit bis zum heutigen Tag gezeigt hat l~nd sich auch i.n den künftigen Jahrhunderten zeigen kann, Je nach der Eigenart dieser Regierungen und den Umwälzungen.' welche die Zeit notwendigerweise in ihnen herbeiführen wird. Man würde sehen, wie die große .Masse im Innern von eben den Vorsichtsmaßnahmen unterdrückt wird, die sie gegen das ergriffen hat, was sie von außen bedrohte. Man. würde sehen, wie sich die Unterdrückung andauernd steigert, ohne daß die Unterdrückten jemals wissen könnten, welches Ende sie nimmt und welche rechtmäßigen Mittel ihnen bleiben, um sie aufzuhalten. Man würde sehen, wie die Rechte der Bürger und die nationalen Freiheiten nach und nach verlöschen und wie die Beschwerden der Schwachen als auf-

wiegierisches Murren behandelt werden. Man würde sehen wie die Politik die Ehre, die gemeinsame Sache zu verteidi~ gen, ..auf eine aus ~em Volk rek:utierte Söldnerabteilung beschrankt. Man wurde sehen, WIe daraus die Notwendigkeit vo~ Steue~n ents.teht, wie der entmutigte Bauer sogar in Fnedenszeiten sem Feld verläßt, um sich das Schwert umZugürten .. Man würde sehen, wie die verhängnisvollen und absonderlIchen Regeln des Ehrbegriffs zustande kommen. Man würde sehen, wie die Verteidiger des Vaterlandes früher oder später dessen Fe~nde werden und unablässig den erhobenen Dolch gegen Ihre Mitbürger gerichtet halten; und es würde eine Zeit kommen, in der man sie zu dem U nterdrücker ihres Landes sagen hören könnte:

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Pectore si Jratris gladium Jugoloque parentis Con~er~ m: e J,!beas, gravidaeque in viscera partu Conjugzs, znvzta peragam tamen omnia dextra. 28 Aus der äußersten Ungleichheit des Standes und der Vermögen, aus der Vielfältigkeit der Leidenschaften und der Talente, aus den unnützen Künsten, den schädlichen Künsten und den leichtfertigen Wissenschaften würden Unmassen von Vorurteilen entspringen, die der Vernunft, dem Glück u~d d~r Tugend entgegengesetzt wären. Man würde sehen, WIe dIe Oberhäupter zu allem anstiften, was versammelte Menschen schwächen kann, indem es sie entzweit· zu allem was der Gesellschaft den äußeren Anschein von' Eintrach; verleihen und doch einen Keim tatsächlicher Zwietracht in sie pflanzen kann; zu allem, was den verschiedenen Ständen durch die Gegensätzlichkeit ihrer Rechte und ihrer Interess.en ~ißtrauen und gegenseitigen Haß einflößen und folghch dIe Macht stärken kann, die sie alle in Schranken hält. Aus dem Schoß dieser Unordnung und dieser Umwäl~ungen würde nach und nach der Despotismus sein scheußhches Haupt erheben und alles verschlingen, was er an Gutem und Gesundem in allen Teilen des Staates wahrgenommen hätte; schließlich würde es ihm gelingen, die Gesetze

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und das Volk mit Füßen zu treten und sich auf den Ruinen der Republik breitzumachen. Die Zeiten, die diesem letzten Wandel vorausgingen, wären Zeiten des Aufruhrs und des Unheils; doch am Ende würde von dem U ngeheuer all~s verschlungen, und die Völker. hätten keine ~berhäupter und keine Gesetze mehr. Von dIesem Augenbhck an wurde auch von Sitten und Tugend keine Rede mehr sein; denn überall, wo der Despotismus herrscht, cui ex honesto nu!la spes/9 duldet er keinen anderen Her~n. Sob~ld er red~t" gIbt es weder Rechtschaffenheit noch Pfhcht, bel denen sIch Rat holen ließe, und der blindeste Gehorsam ist die einzige Tu.. .. gend, die den Sklaven bleibt. Hier ist die letzte Stufe der UngleIchheIt und der außerste Punkt der den Kreis schließt und den Punkt berührt, von dem ;ir ausgegangen sind. Hier werden .alle einzelnen wi~­ der gleich, weil sie nichts sind; und da dIe Untertanen kem anderes Gesetz mehr haben als den Willen des Herrn und der Herr keine andere Regel hat als seine Leidenschaften, verschwinden die Begriffe des Guten und die Prinzipien der Gerechtigkeit von neuern. Hie~ läuft wieder al~es auf da~ al- . leinige Recht des Stärkeren hmaus u~d ~olghch. auf eme.n neuen Naturzustand, der sich von demJemgen, mIt dem WIr begonnen haben, darin unterscheidet, daß der ~ine der N aturzustand in seiner Reinheit war, während dIeser letztere die Frucht eines Unmaßes an Verderbnis ist. Es besteht übrigens ein so geringer Unterschied zwischen diesen beiden Zuständen, und der Regierungsvertrag ist durch den Despotismus so weit aufgelöst, daß der Despot nur so laJ?-ge Herr ist, wie er der Stärkste ist, und daß - sobald man Ihn vertreiben kann - er sich gegen die Gewalt auf nichts zu berufen vermag. Der Aufstand, der mit ~er ~rdrosselung od~r der Entthronung eines Sultans endet, 1St em ebenso rechth-: cher Akt wie diejenigen, durch die er noch am Tag ~uv?r über Leben und Gut seiner Untertanen verfügte. Allem dIe Gewalt hielt ihn empor, und die Gewalt allein stürzt ihn. Solchermaßen geschieht alles nach der natürlichen Ord-

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n~n~, und welches auch der Ausgang dieser kurzen und hauflgen Umwälzungen sein mag, keiner kann sich über die U?ger~chtigkeit der anderen beklagen, sondern nur über seme eIgene Unklugheit oder über sein Unglück. Jeder aufmerksame Leser - der solcherart die vergessenen und verlorenen Wege entdeckt und verfolgt, die den Men, schen vo~ Naturzustand zum Gesellschaftszustand geführt ?aben mussen; ?er Zusammen mit den Zwischenstadien, die Ich soe?en bezeIchnet habe, diejenigen rekonstruiert die ich aus ZeItmangel übergangen habe oder die mir die 'Einbildungskraft nicht vermittelt hat - kann über den unermeßlic~~n Zeitra~m nur überrascht sein, der diese beiden Zustande vonemander trennt. In dieser langsamen Aufeinanderfolge der Dinge wird er die Lösung für eine Unzahl von Pr~blemen de~ Moral und der Politik sehen, welche die Phllos?phen mcht zu lösen vermögen. Er wird bemerken, d~ß - msofern das Menschengeschlecht des einen Zeitalters mcht das Menschengeschlecht eines anderen Zeitalters ist _ der. Grund, weswegen Diogenes 30 keinen Menschen fand, dann besta:r:d, daß. er unter seinen Zeitgenossen nach dem ~enschen emer. Zelt ~uchte, die es nicht mehr gab. Cat03\ ymd .er sagen, gmg mIt Rom und der Freiheit Unter, weil er In semem Jahrhun~ert fehl am Platz war; und der größte d~r Menschen hat dIe Welt bloß noch in Erstaunen versetzt dIe er fünfhundert Jahre zuvor regiert hätte. Mit eine~ Wort: d.er Leser wird begreifen, wie die Seele und die mensc~hchen ~eidenschaften sozusagen ihre Natur wechseln, md em SIe unmerklich immer schlechter werden. warum. u.nsere Bedür~-?isse und unsere Vergnügungen mi~ der Z.~lt I~re Gegenstande wechseln; warum, während der ursprunghche Mensch nach und nach verschwindet die Gesell~~haft den Augen der Weisen nur noch ein Gem~nge von gekunstelten Menschen und künstlichen Leidenschaften darbietet, die das Werk all dieser neuen Verhältnisse sind und die keinerlei wahre Grundlage in der Natur haben. Was uns das Nachdenkenhierüber lehrt, bestätigt die Beobach-

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tung vollkommen: der wilde Mensc~ und der ~ivilisierte Mensch unterscheiden sich dermaßen 1m Grund Ihres Herzens und in ihren Neigungen, daß eben dasjenige, was das höchste Glück des einen ausmachte, den anderen zur Verzweiflung brächte. Der erste sehnt .~ic? nur. nach Ruhe und Freiheit· er will bloß leben und mußIg bleIben; und selbst die Ata;axie des Stoikers reicht an seine tiefe Gleichgültigkeit gegenüber jedem anderen Gegenstar:d nicht her~n. Der immerzu tätige Bürger hingegen schwItzt, hetzt SIch ab, quält sich ohne Unterlaß, nur u~ sic~ noch r;nühsamere .~e­ schäftigungen zu suchen; e! arbeItet bIS zu. semem Tod, lauft ihm sogar entgegen, um Imstande zu sem zu leben, oder entsagt dem Leben, um die Unsterbli~hkei~ zu erla.ngen. Er hofiert die Großen, die er haßt, und dIe ReIchen, dIe e.r verachtet; er spart an nichts, um di~ Ehre zu e~l~ngel1;' SIe. bedienen zu dürfen; er brüstet SIch hochmutlg mI~ semer Niedrigkeit und ihrer Protektion; und stolz auf s~m Skl~­ vendasein, spricht er mit Verac?~ng von ~enJemgen, d:e nicht die Ehre haben, dieses mIt Ihm zu teÜen. Welch em Schauspiel stellen doch für einen Kariben. die müh~v.ollen und vielbeneideten Arbeiten eines europäIschen Mmlsters dar! Wie viele grausame Tode würde dieser träge ~Wilde nicht der Schrecklichkeit eines solchen Lebens vorZIehen, das oft nicht einmal durch das Vergnügen versüßt wird, Gutes zu tun! Um aber den Zweck so vieler Sorgen ausmachen zu können, müßten die Wörter »Macht« und »Ansehen« in seinem Geist einen Sinn bekommen; er müßte lernen, daß es eine Art von Menschen gibt, denen die Beachtung durch den Rest der Welt etwas bedeutet, die es verstehen, eher aufgrund des Zeugnisses :von and~re?- als aufgrund ~hres ~i­ genen glücklich und zufneden mIt SIch ~elbst zu sem. "pIes nämlich ist die wirkliche Ursache all dIeser UnterschIede: Der Wilde lebt in sich selbst; der gesellschaftliche Mensch ist immer außerhalb seiner selbst und weiß nur in der Meinung der anderen zu leben; un~ er b.ezieht so~usagen allein aus ihrem Urteil das Gefühl semer eIgenen EXIstenz. Es ge-

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hört nicht zu meinem Thema zu zeigen, wie aus einer solchen Gem~.tsverfa~~ung so. viel Gleichgültigkeit gegenüber Gut und Bose erwachst, bel so schönen Reden über Moral' wie, wenn alles sich auf den äußeren Schein beschränkt alle; künstlich und gesp~elt. wird: Ehre, Freundschaft, Tu~end, und oftmals sogar bIS hm zu den Lastern deren man sich zu r~hmen sch~ießlich das Geheimnis finde~; mit einem Wort: ';Ie - da W:Ir immer die anderen danach fragen, was wir smd, und memals wagen, in uns selbst danach zu forschen - ~i~ doc~ inmitten von so viel Philosophie, Humanität, HofhchkeIt und erh~benen Prinzipien nur ein trügerisches und oberflächli~hes .Außeres haben: Ehre ohne Tugend, Vernunft ~hne ~eIsheit un? Vergnügen ohne Glückseligkeit. Es genugt mIr, nachgeWIesen zu haben daß dies nicht der u~sprüngli~he Zustand des Menschen is;, sondern daß es allem ?er GeIst der ~esellschaft ist und die Ungleichheit, wel~he Jene erzeugt, dIe unsere natürlichen Neigungen so ver. andern und verderben. Ich habe versucht, den Ursprung und das Fortschreiten der. ~ngleichheit, die Gründung und den Mißbrauch der pol~tlsc~en Gese~lschaften darzustellen, soweit diese Dipge all~~n mit dem LIcht ~er Vernunft und unabhängig von den ~eIhgen Dogmen - dIe der souveränen Autorität die BestätIgung durch das göttliche Recht geben - sich aus der Natur des ~enschen. ablei.ten ~as.sen. Aus dieser Darlegung folgt, ~aß. dIe Unglelchh~lt, dIe 1m Naturzustand fast gleich Null 1st, Ih~e .Kra~t und Ihr Wachstum aus der Entwicklung unserer. FahlgkeIten und den Fortschritten des menschlichen G.eIstes bezieht und schließlich durch die Einführung des Elg.entu?J-s und der Gesetze dauerhaft und rechtmäßig wird. W~lte~hm f?lgt daraus, daß. ~ie gesellschaftliche UngleichheIt, .dle allem durch das pOSItIVe Recht legitimiert ist, jedesmalI.m Gegensatz zum Naturrecht steht, wenn sie mit der p.hys~schen l!ngleichheit nicht im gleichen Verhältnis überemstlmmt: eme Unterscheidung, die hinreichend bestimmt was man diesbezüglich von jener Art Ungleichheit zu den~

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ken hat, die unter allen zivilisierten Völkern herr~cht; denn es ist offensichtlich gegen das Gesetz der N ~tur, ~n we~cher Weise man es auch definieren mag, daß. em KIJ?-d el~em Greis befiehlt, daß ein Geistesschwa~her eme~ Welsen führt und daß eine Handvoll Leute mit Uberflüsslgem mehr als gesättigt ist, während es der ausgehungerten Menge am Notwendigen fehlt.

Rousseaus Anmerkungen (a [5. 8]) Herodot 1 berichtet, daß nach dem Mord an dem falschen Smerdis, als sich die sieben Befreier Persiens versammelt hatten, um über die Regierungsform zu beratschlagen, die sie dem Staat geben sollten, Otanes nachdrücklich für eine Republik eintrat - eine in dem Mund eines Satrapen um so ungewöhnlichere Meinung, als außer dem Anspruch, den er selbst auf das Reich erheben konnte, die Großen im allgemeinen eine Regierungsform, die sie zwingt, die Menschen zu achten, mehr fürchten als den Tod. Otanes fand, wie sich leicht vermuten läßt, kein Gehör, und als er sah, daß man sich anschickte, zur Wahl eines Monarchen zu schreiten, überließ er, der weder gehorchen noch befehlen wollte, sein Recht auf die Krone freiwillig den anderen Mitbewerbern und verlangte als einzige Entschädigung, daß er und seine Nachkommenschaft frei und unabhängig bleiben sollten, was ihm auch gewährt wurde. Hätte uns Herodot nicht über die Einschränkung unterrichtet, mit der dieses Privileg begrenzt wurde/ so müßte man sie notwendigerweise doch voraussetzen; denn sonst wäre Otanes, da er keine Art von Gesetz anerkannt und niemandem Rechenschaft abzulegen gehabt hätte, im Staat allmächtig gewesen und mächtiger als der König selbst. Aber es war kaum wahrscheinlich, daß ein Mann, der sich in einem derartigen Fall mit einem solchen Privileg zu begnügen vermochte, imstande gewesen wäre, dieses zu mißbrauchen. In der Tat läßt sich auch nicht erkennen, daß dieses Recht jemals die geringste Unruhe in dem Königreich verursacht hätte, weder durch den weisen Otanes noch durch einen seiner Nachkommen. (b [5.21]) Von meinem ersten Schritt an stütze ich mich vertrauensvoll auf eine jener Autoritäten,3 die von den Philosophen geachtet werden, weil sie auf einer gefestigten und erhabenen Vernunft beruhen, die allein die Philosophen zu finden und wahrzunehmen wissen: »Welches Interesse wir auch haben mögen, uns selbst zu erkennen, so bin ich mir doch unsicher, ob wir nicht alles das bes-