Zur Epidemiologie von Muskel- und Skeletterkrankungen - Ergebnisse aus arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen -

Zur Epidemiologie von Muskel- und Skeletterkrankungen - Ergebnisse aus arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen Heuchert, G.; Stark, H.; Bräunlich,...
Author: Agnes Meyer
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Zur Epidemiologie von Muskel- und Skeletterkrankungen - Ergebnisse aus arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen Heuchert, G.; Stark, H.; Bräunlich, A. unter Mitarbeit von K. Vogelreuter; P. Wulke und P. Hurrelmann

Gesundheit und Leistungsfähigkeit der deutschen Erwerbstätigen sind nach den statistischen Angaben zum Krankenstand, zur Frühberentung und zur Schwerbehinderung in einem hohen Maß durch Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems beeinträchtigt. Für gezielte Präventionsmaßnahmen ist es daher erforderlich, beeinflußbare Risikofaktoren aufzuklären und in ihrer Wirkung zu quantifizieren. Repräsentative Befragungen zu körperlichen Belastungsfaktoren bei der Arbeit haben ergeben, daß die Anzahl von Beschäftigten, die durch mechanische Schwingungen, das Heben und Tragen von Lasten oder schmerzhafte und ermüdende Körperhaltungen belastet sind, unverändert hoch ist (Abbildung 1; BIBB/IAB-Erhebung 1998/99). Der Wandel der Arbeit in den letzten Jahren hat diese Belastungsarten nicht reduzieren können. Arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen zur Bekämpfung von arbeitsassoziierten Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems z.B. für Beschäftigte, die gegen mechanische Teil- und Ganzkörperschwingungen exponiert sind bzw. schwere Lasten heben und tragen müssen, werden heute nicht systematisch vorgenommen. Derartige Vorsorgeuntersuchungen mit standardisierter Methodik gab es aber bis 1990 im Gebiet der neuen Bundesländer. Dazu liegt ein umfangreicher Datenbestand vor, aus dem epidemiologische Basisinformationen abgeleitet werden können. Material und Methodik Der Datenbestand für die vorliegende Analyse stützt sich auf die jeweils letzte Nachuntersuchung von 831.163 Facharbeitern (n = 650.550) und Facharbeiterinnen (n = 180.613). Es werden nur Facharbeiter betrachtet, um die Einflüsse von sozialer Schichtung auf das Krankheitsgeschehen zu reduzieren. Hinsichtlich der Exposition wird differenziert nach - unbelastet:

keine Belastung durch körperliche Schwerarbeit (SA), Ganzkörper- oder Teilschwingungen (GKV, TKV)

- körperliche Schwerarbeit: keine GKV oder TKV - Ganzkörperschwingungen: kein SA oder TKV - Schwerarbeit und Ganzkörperschwingungen: als kombinierte Belastung Aus diesen vier Gruppen wurden alle Beschäftigten ausgeschlossen, die eine Exposition gegen Hitze, Kälte, Druckluft oder Fluor auswiesen.

Der Körpermasseindex (Body-Mass-Index: Körpermasse [kg]/Quadrat der Körperhöhe [m2]) wird nach den Empfehlungen des RKI* für die Auswertung des BundesGesundheitssurveys 1998 skaliert. Die Bildung von Diagnosegruppen erfolgte nach der IKK (9. Revision) in folgender Weise: 9. ICD

Bezeichnung

710-739

Krankheiten des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes

720-724

Rückenleiden (i.w.S.)

721, 722, Dorsopathien (i.e.S.) 724 Degenerative Rücken-Krankheiten /Diskopathien 721, 722 unspezifische Rückenschmerzen 724 Syndrome der Zervikalregion 723 Arthropathien (Gelenkleiden) u.v. Affektionen 710-719 Degenerative Gelenkveränderungen (Arthrosen) 715, 717 Muskel-Skelett-Erkrankungen im Bereich des Nackens und der 723.0-723.9 oberen Gliedmaßen 726.0-726.4 354.0-(CTS) * Robert-Koch-Institut, Berlin Als aktuelle Raucher gelten Personen, die mindestens 5 Zigaretten pro Tag rauchen. Nichtraucher sind nach den Dokumentationsvorgaben Personen, die aktuelle Nichtraucher sind oder weniger als 5 Zigaretten pro Tag rauchen. Exraucher sind Personen, die früher regelmäßig rauchten und seit mindestens einem Jahr Nichtraucher sind. Die Bewertung der vorrangig chronisch-degenerativen Befunde des Muskel-SkelettSystems hat zu berücksichtigen, daß ein erheblicher Einfluß des sogenannten Healthy-Worker-Effekts nicht ausgeschlossen werden kann, weil nur arbeitsfähige Personen an den Vorsorgeuntersuchungen teilnahmen. Das bedeutet, daß die Einflüsse von Belastungsfaktoren auf die Befundraten eher unter- als überschätzt werden. Andererseits kann nicht übersehen werden, daß die exponierten Beschäftigten möglicherweise einer intensiveren Diagnostik unterzogen werden als die Vergleichsgruppe ohne besondere körperliche Belastung. Im Vergleich der drei exponierten Gruppen (SA, GKV, SA+GKV) untereinander kann ein solcher Einfluß jedoch ausgeschlossen werden.

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Ergebnisse In der Abbildung 2 wird die allgemeine Häufigkeit von Dorsopathien (IKK-9: 721, 722, 724) in Relation zu Alter und Geschlecht dargestellt. Sie nimmt mit dem Alter stark zu und erreicht in der Altersgruppe 50-59 Jahre annähernd 20 %. Danach fällt die Rate selektionsbedingt leicht ab. (Die unspezifischen Rückenschmerzen [IKK-9: 724], die im Krankenstand dominieren, spielen hier erwartungsgemäß nur eine geringe Rolle). Männer sind von Dorsopathien (insbesondere der Lendenregion) deutlich stärker betroffen als Frauen. Ganz in Gegensatz zu den Dorsopathien zeigt sich für die Syndrome der Zervikalregion (IKK-9: 723) unter den Frauen eine deutlich höhere Befundrate als unter Männern (Abbildung 3). Insgesamt sind die Häufigkeitsraten der Zervikalsyndrome (max. 3,5 %) deutlich geringer als bei Dorsopathien. Faßt man alle chronisch-degenerativen Befunde der Hals-Schulter-Arm-Region zusammen (IKK-9: 723, 726.0 - 726.4, 354.0), dann sind die Befundraten von Frauen etwa doppelt so hoch wie jene der Männer (Abbildung 4). Die sogenannten Enthesopathien und das Karpaltunnelsyndrom (CTS) erreichen ab dem 40. Lebensjahr ein Niveau von ca. 0,5 %. Abbildung 5 zeigt die Basishäufigkeit von degenerativen Gelenkbefunden (Arthrosen), die mit zunehmendem Alter bis auf 8 % ansteigt. Männer sind in den jüngeren Jahren deutlich häufiger betroffen als Frauen. In den folgenden Abbildungen werden die Einflüsse von Schwerarbeit, Ganzkörperschwingungen und der Kombination dieser Faktoren (SA + GKV) analysiert. Abbildung 6 zeigt diese Einflüsse unter Berücksichtigung von zwei Altersgruppen für normalgewichtige Facharbeiter, die Nichtraucher sind. Gegenüber der Vergleichsgruppe (unbelastet) zeigen die Faktoren Schwerarbeit und die Kombination SA + GKV annähernd verdoppelte Befundraten. Von besonderer Bedeutung ist aber, daß für die Faktoren Ganzkörperschwingungen sowie für die Kombinationsbelastung (SA + GKV) stärkere Einflüsse auf die Dorsopathien festzustellen sind als für die körperliche Schwe rarbeit. Der zusätzliche dispositionelle Faktor "starkes Übergewicht" spielt in dieser Beziehung keine Rolle (Abbildung 7). Der verstärkte Effekt der Kombinationsbelastung von Schwerarbeit und Ganzkörperschwingungen auf die Häufigkeit von Dorsopathien ist konsistent in allen Altersgruppen festzustellen (Abbildung 8). Im Gegensatz zum Körpergewicht gibt es offenbar einen geringen, aber dennoch deutlichen Einfluß der Körperhöhe auf die Dorsopathiehäufigkeit. Abbildung 9 zeigt beispielhaft diesen Effekt für "unbelastete" Facharbeiter; er ist aber ebenso für Beschäftigte mit körperlicher Schwerarbeit nachweisbar (HEUCHERT et al., 1996). Die Häufigkeit von degenerativen Gelenkerkrankungen ist von separaten Einflüssen des Alters, der Schwerarbeit und eines starken Übergewichts geprägt (Abbildung 10). Dabei zeigt sich ein deutlicher Kombinationseffekt von Schwerarbeit und starkem Übergewicht.

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Die Einflüsse von körperlicher Schwerarbeit und von Ganzkörperschwingungen auf vorzeitige Verschleißkrankheiten spiegeln sich auch in einem erhöhten Erkrankungsrisiko einzelner Berufsgruppen wider, wie bereits in früheren Analysen des Datenbestandes gezeigt werden konnte (HEUCHERT et al., 1992). Der Einfluß des Rauchens war sowohl hinsichtlich der Dorsopathien als auch der degenerativen Gelenkerkrankungen unbedeutend, so daß in diesem Rahmen auf eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse verzichtet wird (vergleiche dazu HEUCHERT et al., 1996). Diskussion Die dargestellten Ergebnissen unterstreichen, daß biomechanische Belastungsfaktoren einen konsistenten Einfluß auf die Häufigkeit von Dorsopathien und degenerativen Gelenkerkrankungen aufweisen. Biomechanisch von großer Bedeutung sind die Effekte einer kombinierten Belastung durch Schwerarbeit + Ganzkörperschwingungen auf die Häufgkeit von Dorsopathien, die in einer so ausgeprägten Weise bisher noch nicht bekannt waren, aber auch die Effekte der kombinierten Belastung durch Schwerarbeit + starkes Übergewicht auf die Häufigkeit degenerativer Gelenkerkrankungen. Demgegenüber ist es nach den vorliegenden Daten unzulässig, bei der Beurteilung von Kausalbeziehungen zwischen Heben und Tragen schwerer Lasten oder Ganzkörpervibrationsexposition und bandscheibenbedingten Erkrankungen dem Einfluß von starkem Übergewicht eine besondere Bedeutung beizumessen. Der ermittelte Einfluß der Körperhöhe auf Dorsopathien ist mehr von wissenschaftlichem Interesse, weil er zusätzlich die Rolle biomechanischer Faktoren in der Verursachung von Abnutzungsschäden am Skelettsystem untermauert. Insgesamt ist ableitbar, daß für die Bekämpfung von chronisch-degenerativen Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems eine weitere Reduzierung von Fehlbelastungen am Arbeitsplatz im Vordergrund stehen muß. Sehr wichtig sind darüber hinaus gesundheitsförderliche Maßnahmen mit gezielten Pausenregimen zur Reduzierung monotoner Belastungen sowie eine vernünftige Ernährung, einhergehend mit einer Reduzierung von körperlicher Inaktivität zur Vermeidung von starkem Übergewicht. Eine frühzeitige arbeitsmedizinische Beratung hinsichtlich der Durchführung eines rechtzeitigen Arbeitsplatzwechsels sowie bei Rehabilitationsmaßnahmen kann ebenfalls einen großen Beitrag zur Reduzierung von Berufskrankheiten und Frühberentungen leisten. Literatur HEUCHERT, G.; ENDERLEIN, G.; STARK . H.: Ergebnisse mehrfaktorieller Analysen zur Belastungswirkung am Bewegungsapparat. In: Schriftenreihe Arbeitssicherheit und Arbeitsmedizin in der Bauwirtschaft. Nr. 9. Hrsg. Arbeitsgemeinschaft der BauBerufsgenossenschaften Frankfurt am Main, 1996, KS. 33-41 HEUCHERT, G.; ENDERLEIN, G.; STARK , H.: Beziehungen zwischen physischer Belastung, Alter, Körpergewicht und Prävalenz degenerativer Befunde am Bewegungsapparat. In: Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin e.V.; 32. Jahrestagung in Köln. Gentner Verlag: Stuttgart 1992, S. 141-145

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Körperliche Belastungen bei der Arbeit (BIBB/IAB-Erhebung 1998/99, Kategorie: praktisch immer/häufig) Frauen

Männer

Arbeit im Stehen Zwangshaltungen starke Stöße, Schwingungen Tragen v. Lasten > 10 kg (F) Tragen v. Lasten > 20 kg (M) 0

Abb. 1

10

20

30

40

50

60

70

%

Körperliche Belastungen bei der Arbeit

Facharbeiter (Männer / Frauen) (AMV, DDR 1983 - 1990)

Prävalenz % 25

20

Dorsopathien 9. ICD: 721, 722, 724

15

10

darunter: unspezifische Rückenschmerzen 9. ICD: 724

5

0 < 20

20 - 29 30 - 39 40 - 49 50 - 59 60 - 69

> 70

Alter (Jahre)

Männer: N = 650.561 Frauen: N = 180.609

Abb. 2 Häufigkeit von Dorsopathien in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht

5

Facharbeiter (Männer / Frauen) (AMV, DDR 1983 - 1990)

Prävalenz % 4

3

2

Syndrome der Zervikalregion 9. ICD: 723

1

0 < 20

20 - 29 30 - 39 40 - 49 50 - 59 60 - 69

> 70

Alter (Jahre)

Männer: N = 650.561 Frauen: N = 180.609

Abb. 3 Häufigkeit von Zervikalsyndromen in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht

Facharbeiter (Männer / Frauen) (AMV, DDR 1983 - 1990)

Prävalenz % 5

4

3

Muskel-Skelett-Erkrankungen im Bereich des Nackens und der oberen Gliedmaßen 9. ICD: 723, 726.0-726.4, 354.0

2

darunter: Enthesopathien der oberen Gliedmaßen und CTS 9. ICD: 726.0-726.4. 354.0

1

0 < 20

20 - 29 30 - 39 40 - 49 50 - 59 60 - 69

> 70

Alter (Jahre)

Männer: N = 650.561 Frauen: N = 180.609

Abb. 4 Häufigkeit von Nacken – Schulter – Arm -Syndromen in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht

6

Facharbeiter (Männer / Frauen) (AMV, DDR 1983 - 1990)

Prävalenz % 10

Degenerative Gelenkveränderungen (Arthrosen) 9. ICD: 715, 717

8

6

4

2

0 < 20

20 - 29 30 - 39 40 - 49 50 - 59 60 - 69

> 70

Alter (Jahre)

Männer: N = 650.561 Frauen: N = 180.609

Abb. 5 Häufigkeit von degenerativen Arthropathien in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht

Häufigkeit von Dorsopathien unter normalgewichtigen Facharbeitern (BMI 19- 30) in Abhängigkeit von Belastungsart und Alter (AMV, Nichtraucher)

30 % 25 20 15 10 5 0

u

nb

Alter 30-39 Jahre 50-59 Jahre

s ela

Ga

tet

Sc k nz

hw

örp

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V)

n

K (G

h

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e

it +

GK

V

Abb. 7 Häufigkeit von Dorsopathien (ICD 9: 721, 722, 724) unter stark übergewichtigen Facharbeitern (BMI > 30) in Abhängigkeit von Belastungsart und Alter

Häufigkeit chronisch-degenerativer Krankheiten des Muskel-SkelettSystems (ICD 9: 710-739) in Abhängigkeit von Belastungsart und Alter (Facharbeiter) unbelastet

Schwerarbeit (SA)

SA + Ganzkörpervibration

% 60 50 40 30 20 10 0


30)

Abb. 10 Häufigkeit degenerativer Gelenkerkrankungen (ICD 9: 715, 717) in Relation zu Körperlicher Belastung, Körpermasse und Alter

9

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