„Zukunft wollen, Zukunft gestalten“ Gespräch mit Konrad Paul Liessmann, Philosoph Universität Wien, 14.11.2012

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Konrad Paul Liessmann: Hierzu gibt es verschiedene Antwortmöglichkeiten. Zunächst glaube ich nicht, dass man das alles nur auf den Egoismus zurückführen kann. Erstens ist „Egoismus“ selbst ein etwas vager Begriff und zweitens bedeutet Egoismus ja nichts anderes als das Bestreben des Einzelnen, sich am Leben zu erhalten und seine Lebensbedingungen zu verbessern; dagegen kann man im Prinzip wenig sagen. Darüber hinaus wissen wir aus zahlreichen Untersuchungen von Verhaltensforschern, Anthropologen und Soziologen, dass der Mensch durchaus auch altruistische Tendenzen hat. Niemand lebt für sich allein: Wir kooperieren mit anderen Individuen in verschiedenen Zusammenhängen zu verschiedenen Zeiten. Sehr viele Menschen sind auch bereit, auf eigene Vorteile zumindest mittelfristig zu verzichten, wenn dafür die Gemeinschaft – das Gesamte – bessere Perspektiven hat. Das macht im Grunde genommen jeder, der Steuern zahlt: Er verzichtet auf bis zu fünfzig Prozent seines Einkommens dafür, dass auch andere mit der Straßenbahn fahren, zum Arzt gehen oder im Altersheim betreut werden können. Wären wir alle wirklich so radikale Egoisten, dann würde es jeden Tag Demonstrationen gegen das Zahlen von Steuern geben. Tatsächlich aber gibt man mitunter die Hälfte des Einkommens sanft gezwungen ab – man versucht natürlich, leicht

zu tricksen, um weniger hergeben zu müssen –, aber die prinzipielle Zustimmung oder die Einsicht, dass man zugunsten des Gesamten auf eigene Vorteile zum Teil verzichten muss, ist doch bei sehr vielen Menschen gegeben. Sie sprechen die Schwierigkeit an, die Konsequenzen unseres Handelns in der Zukunft abzuschätzen. Der individuelle Ressourcenverbrauch ist nur in seinen ersten Auswirkungen unmittelbar spürbar: Ich sehe, was es für meine inanzielle Situation bedeutet, wenn ich heute fünfzig Liter tanke. Was ich in diesem Moment aber nicht sehe, sind die Auswirkungen auf die globale Klimasituation in zweihundert Jahren. Dieser Zusammenhang ist über viele Schritte vermittelt, kaum nachzuvollziehen, existiert aber dennoch! Und dies nicht so sehr, weil ich als Einzelner tanke, sondern weil mit mir weltweit auch noch Millionen andere Menschen im selben Moment tanken, wodurch eine verhängnisvolle Kette von Schadstoffproduktion in Gang gesetzt wird. Das Problem besteht also darin, dass wir langfristige Konsequenzen sehr häu ig nicht bedenken können. Wir haben ein Paradoxon vor uns: Wir müssen uns klar machen, dass etwas, das gut ist, wenn ich es mache, für die Welt eine Katastrophe ist, wenn es alle machen. Der Automobilverkehr ist für mich das anschaulichste Beispiel: Solange nur Europäer und Nordamerikaner lächendeckend mit Autos versorgt waren, war das ein vergleichsweise verträgliches Problem. In dem Moment aber, wo weltweit immer mehr Menschen zu dieser Art von Mobilitätstechnologie greifen, summiert sich der Schaden, der dadurch erzeugt wird, und die Vorteile des Einzelnen werden durch den Schaden für alle übertroffen. Nun stellen sich die Fragen: „Wo stecken wir zurück, wer kann verzichten, wer will verzichten?“ bzw. „Wie kann man durch innovative Technologien die negativen Auswirkungen einer massenhaften Nutzung der alten Technologie reduzieren?“ Hier ist auf der einen Seite die Fantasie jeder und jedes Einzelnen gefragt: Jede und jeder sollte bei sich überlegen, wo der Ressourcenverbrauch eingeschränkt werden kann!

Konrad Paul Liessmann

HLFS Ursprung: Sehr geehrter Herr Professor Liessmann, wir haben die große Ehre, durch ein Gespräch mit Ihnen unsere Interviewreihe zu den Themen der Konferenz „Rio+20“ abrunden zu dürfen. In unseren bisherigen Gesprächen haben wir unter anderem erfahren, dass vom Egoismus des Menschen eine große Gefahr für unsere Planeten und damit auch für ihn selbst ausgeht: Homo sapiens scheint es nicht zu schaffen, künftige Entwicklungen einzuschätzen und sein Verhalten in der Gegenwart entsprechend anzupassen, beispielsweise in Hinblick auf seinen Lebensstil und Ressourcenverbrauch. Worauf ist das zurückzuführen?

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Konrad Paul Liessmann: Das ist eine witzige Frage! Auf der einen Seite sieht es nämlich tatsächlich so aus! Dieses olympische Motto – schneller, höher, stärker – scheint unsere ganze Gesellschaft mittlerweile sehr stark zu beein lussen; und indem wir unsere Gesellschaft als Wettbewerbsgesellschaft verstehen, kann es gar nicht anders sein. Wettbewerb bedeutet schließlich, dass es am Ende Sieger und Verlierer gibt. Und natürlich sind für uns Sieger HLFS Ursprung: Inwiefern leben wir heute außerdem in einer „Siegesgesellschaft“, in einer „Gesellschaft des Sieges“, in der immer nur das Stärkste, das Größte und das Schnellste zählen? Fehlt hier nicht manchmal eine gewisse Balance?

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interessanter und sympathischer und wir wollen zu diesen Siegern gehören, egal auf welchem Gebiet. Unsere Gesellschaft ist jedoch vielfältig und die Situation ist keinesfalls so einseitig. Es gibt nämlich eine ganze Reihe von Bereichen, in denen der Wettbewerb keine oder nur eine geringe Rolle spielt und sich die Frage nach dem Superlativ eigentlich nicht stellt. Denken Sie beispielsweise an eine Familie: Fühlen Sie sich als Familie mit Ihren Geschwistern, mit Ihren Eltern – wie immer Ihre Familien zusammengesetzt sind – wirklich im ständigen Wettbewerb mit den Nachbarfamilien? Gibt es hier nicht auch so etwas wie gute Nachbarschaft, gibt es hier nicht auch so etwas wie Freundschaft? Oder betrachten wir das Innere einer Familie: Ist der Vater wirklich der gro-

ße Konkurrent, dem Sie irgendwann einmal die Firma, die Praxis, den Posten abjagen werden, um dann über ihn zu triumphieren? Konkurrieren Sie mit Ihrer Mutter um die jungen schönen Männer auf dieser Erde? Ich glaube nicht. Hier spielen noch ganz andere Beziehungen, ganz andere Emotionen, ganz andere Bindungen und ganz andere Kommunikationen eine wesentliche Rolle. Oder denken Sie an den Bereich von Bildung und Wissenschaft! Ich halte es beispielsweise für ein großes Problem, dass wir in diesem Bereich den Wettbewerbsgedanken künstlich – durch Tests und Rankings – so stark forcieren. Wenn man zurückblickt in die Geschichte, auch in die Geschichte der Naturwissenschaften, wenn man an große Forscher und

Entdecker wie Galilei, Kepler, Newton oder Einstein denkt, so stellt man fest, dass diese doch nicht siegen oder triumphieren wollten; sie haben sich auch nicht in einem Wettkampf gesehen, sondern sie standen vor einem wissenschaftlichen Problem, das sie lösen wollten. Und sie waren für jede Anregung zur Problemlösung dankbar. Wenn Sie die Korrespondenzen der großen Wissenschaftler des siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts betrachten, so ist von Konkurrenz oder Wettbewerb kaum die Rede; vielmehr waren die Forscher fasziniert von einer Frage, die sich auftat, von einer Entdeckung und den Konsequenzen, die sich daraus ergaben. Das bedeutet, man muss aufpassen, nicht durch unsere Medien, bei denen natürlich immer die Siegesmeldungen im Vordergrund stehen, verführt zu werden und zu glauben, dass die ganze Gesellschaft so ausgerichtet sei. Und dazu kommt natürlich, dass man Verlierer nicht unterschätzen sollte! Verlierer können ganz schön gefährlich werden! Verlierer können manchmal das Gefühl haben, zu Unrecht verloren zu haben, ungerecht behandelt worden zu sein und aus diesem Grund können sie sich mitunter auch au lehnen und in weiterer Folge zu Gewinnern werden. Sehr oft sind diejenigen, die wir für die Gewinner halten, auch gar nicht die wirklichen Gewinner, sondern sie sind es nur kurzfristig; über längere Zeiträume betrachtet können diejenigen, die wir im jeweiligen Moment vielleicht zu den Verlierern zählen, die eigentlichen Gewinner sein. Es ist zum Beispiel noch nicht ausgemacht, wer die Gewinner der Klimakatastrophe sein werden: Es wird Gewinner geben, daran besteht kein Zweifel, aber es werden zum Beispiel nicht die Ölkonzerne sein, die momentan die großen Nutznießer der aktuellen Ressourcenverschwendung sind. Es werden wohl auch nicht die Nordamerikaner oder die Europäer sein. Vielleicht kommt nun jemand anderer zum Zug. Also Vorsicht bei der Feststellung, wer Gewinner und wer Verlierer ist! Das kann sich in der Politik und in der Menschheitsgeschichte sehr schnell ändern. Und wenn Verlierer sich zusammentun, dann schauen die Gewinner mitunter schnell sehr alt aus: Das nennt man dann Revolution!

Konrad Paul Liessmann: Ich denke, man kann hier nicht allgemein sagen: „der Mensch“. Den gibt es so nicht. Tatsächlich würden sehr viele Menschen die Atomtechnologie, auf die Sie anspielen, ablehnen, oder sie haben sie tatsächlich abgelehnt, wie in Österreich geschehen: Man hat die Bevölkerung im Jahr 1978 gefragt: „Wollt ihr Atomkraftwerke, ja oder nein?“, und die Antwort war: „Nein!“ Österreich war damals eines der wenigen Länder, in denen es über Atomkraft eine Abstimmung gab! In den meisten Staaten wurden den Menschen die Kraftwerke einfach vorgesetzt, mit dem Versprechen, nun sauberen Strom auf ewige Zeiten zu haben. Wie wir wissen, haben die Menschen das ohnehin nicht geglaubt und außerdem stimmte es schlicht nicht. Es gibt also diese Hybris, es gibt diesen Größenwahn, aber es ist nicht der Größenwahn „des Menschen“. Es gibt mitunter Größenwahn, der von kurzfristigen ökonomischen Interessen diktiert ist, und es gibt eine Form von Größenwahn, der sich bei Wissenschaftlern und Technikern indet. Jeder Techniker glaubt, die Probleme, die er bearbeitet, zu beherrschen: Kein Computertechniker wird sagen: „Ich kapituliere vor dem Computer!“ Ein Atomtechniker wird so lange wie nur irgend möglich sagen: „Wir beherrschen es!“. Erst wenn alles explodiert und nichts mehr zu beherrschen ist, wird er zugeben: „Wir haben uns ein bisschen geirrt…“ Das hat auch mit Stolz und Berufsehre zu tun und auch mit dem Glauben an die Beherrschbarkeit und die Machbarkeit durch Wissenschaft und Technik. Deshalb wird auch, solange es geht, beschönigt und gelogen, das war nach Tschernobyl in der ehemaligen Sowjetunion nicht anders als Fukushima. Ich verstehe schon, dass es schwierig ist, sich selbst Grenzen zu setzen und zu sagen: „Wir beherrschen es nicht, wir gehen Risiken ein, die nicht vertretbar sind!“, wenn HLFS Ursprung: Hat der Mensch nicht auch einen bestimmten Hang zum Größenwahn? – So verwendet er beispielsweise Technologien, die voraussetzen, dass man auf hunderttausend Jahre kalkuliert…

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Wo kann man weniger verschwenderisch leben, muss man wirklich zum Supermarkt um die Ecke mit dem Auto fahren, tut es nicht das Fahrrad? Auf der anderen Seite brauchen wir neue technische Möglichkeiten, denn wir wissen, dass zum Beispiel China bald vollmotorisiert sein wird. Wenn aber nun eine Milliarde Chinesen das Auto so wie wir nutzen, dann entspricht das einer Vervielfachung des Schadstoffausstoßes. Ich mache immer folgenden Vorschlag: Die letzten hundert Jahre sind wir Auto gefahren und die Chinesen nicht; die nächsten hundert Jahre fahren die Chinesen Auto und wir nicht! Das wäre doch nur gerecht und vernünftig! Interessanterweise will von diesem Vorschlag niemand etwas hören und daran sehen wir, dass wir tatsächlich egoistisch sind. China hatte bis zu den 1980er Jahren keine Massenautomobilität, wir schon. Bei uns gibt es sie spätestens seit 1945 und trotzdem sagen viele, sie wollen nicht verzichten, nach dem Motto: „Pech für die anderen, dass sie das bisher nicht hatten, aber jetzt ist es zu spät, jetzt sie dürfen sie nicht, weil wir es schon haben“. Hier liegt ein großes Problem. Dabei könnte sich doch jede und jeder selbst fragen: „Worauf wäre ich bereit zu verzichten, um anderen ähnliche Möglichkeiten zu geben, wie wir sie vor zwanzig bis dreißig Jahren hatten?“

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Konrad Paul Liessmann: Es ist richtig, dass es wahrscheinlich noch keine Gesellschaft gab, die so reich und vielfältig war und so viele Optionen zuließ wie die unsrige heute; man muss sich der Chancen bewusst sein! Wie viel Freiheit und Gestaltungsoptionen ein junger Mensch heute hat! Es ist nicht vorgegeben, welchen Beruf er ergreift, welche Form der Partnerschaft er wählt oder in welchem Land er sich niederlässt; all das steht heute frei zur Disposition! Im Gegensatz dazu hatte ein junger Mensch, der im neunzehnten Jahrhundert auf die Welt kam, Einschränkungen etwa nach Maßgabe des Geschlechts und des Standes, in den er hineingeboren wurde. Es gab extrem eingeschränkte Lebensperspektiven, die für uns heute geöffnet sind; man kann sich nicht genug vor Augen führen, was dieser Zuwachs an Freiheit bedeutet! Diese Freiheit ist außerdem verbunden mit einem materiellen Wohlstand, den es in dieser Form noch nie gegeben hat: Die moderne Gesellschaft ist die erste

HLFS Ursprung: Bei allen Überlegungen zu Egoismus und Sieg: Leben wir nicht eigentlich in einer Zeit, die einer breiten Masse der Bevölkerung so viele Möglichkeiten eröffnet wie nie zuvor? Aber ist der Mensch dadurch zufriedener als früher? Es wird ja häuϔig beklagt, früher wäre alles besser gewesen…

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Gesellschaft, die eine Über lussgesellschaft ist, die mehr Güter produziert, als sie verbrauchen kann, während alle anderen Gesellschaften bisher Mangelgesellschaften waren. Das Grundproblem eines durchschnittlichen Menschen bis zum neunzehnten Jahrhundert war: „Werde ich morgen genug zu essen haben, werde ich im Winter etwas zu heizen und ausreichend Kleidung haben?“ – Das sind im Wesentlichen für uns heute keine Grundprobleme mehr; stattdessen lautet – überspitzt gesprochen – unsere Grundfrage: „Es kommt schon wieder ein neues iPhone heraus, soll ich es mir heute kaufen oder übermorgen?“ Die Fragen, ob ich ohne zu verhungern den Winter überstehe oder ob ich Weihnachten ohne neues iPhone überstehe, sind nun doch kategorial andere Fragen! Gleichzeitig beobachten die Zufriedenheits- und Glücksforscher, dass mit diesem materiellen Wohlstand und den Zugewinnen an Freiheit und Gestaltungsoptionen die Zufriedenheit und das individuelle Glücksgefühl nicht gleichermaßen zunehmen. Ab einem gewissen Wohlstandsniveau ist das Glücksgefühl durch mehr materiellen Wohlstand nicht mehr zu erhöhen. Es gibt immer wieder Untersuchungen, um das Zufriedenheitsgefühl von Bevölkerungen zu eruieren: Österreich schneidet nicht besonders schlecht ab, gehört in Europa zum Spitzenfeld; am zufriedensten aber sind immer noch relativ arme Populationen in der Karibik, der Südsee und Mittelamerika, glücklich sind auch die Menschen in Bhutan, wo der Staat seine Politik nicht am Bruttoinlandsprodukt, sondern am Bruttonationalglück orientiert. Das heißt also, dass individuelles Glück und Zufriedenheit nicht unbedingt an materiellen Wohlstand und Wahlmöglichkeiten, wie wir sie heute haben, gekoppelt sind. Wir müssen wohl noch intensiver darüber nachdenken, ob wir möglicherweise zu einseitig nur auf die Steigerung des materiellen Wohlstandes und auf wirtschaftliches Wachstum gesetzt haben. Es gibt in keinen Gesellschaften so viele an Depression Erkrankte und so viele Selbstmörder wie in den sogenannten reichen Gesellschaften. Es

muss uns eigentlich zu denken geben, dass wir keine unmittelbare Übereinstimmung zwischen materiellem Wohlstand und individuellem Glückgefühl feststellen können! HLFS Ursprung: Könnte man also stark vereinfacht sagen: „Geld macht nicht glücklich…“? HLFS Ursprung: Wir beobachten in unserer heutigen Gesellschaft ein weiteres Phänomen: Wir googeln sehr schnell Dinge, wir zappen von Kanal zu Kanal, möchten immer auf dem neuesten Stand der Technik sein, alles scheint sehr schnell und ϔlüchtig zu sein. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach diese Kurzlebigkeit für unseren Umgang mit der Umwelt?

Konrad Paul Liessmann: „… aber es schadet nicht, wenn man es hat“, würde ich doch hinzufügen wollen.

Konrad Paul Liessmann: Ich habe vorhin bereits angedeutet, dass für die Umwelt ganz andere Zeitdimensionen gelten, sie agiert auf Flüchtigkeit und Kurzlebigkeit mit einer Katastrophe. Ich bin zwar kein Erdwissenschaftler, aber, soweit ich weiß, geht man davon aus, dass die Erde einige Millionen Jahre bräuchte, um aus Ablagerungen das Erdöl zu „erzeugen“, das wir heute verbrauchen. Wenn man annimmt, dass die Erdölvorräte in sehr absehbarer Zeit zur Neige gehen, vielleicht in rund fünfzig Jahren, dann haben wenige Generationen innerhalb von kürzester Zeit die Energie verbraucht, die die Erde über Millionen Jahre angesammelt hat. Die Dimensionen sind tatsächlich erschreckend: Einem Zeitraum von rund 150 Jahren – man kann auch in Hinblick auf die Menschheitsgeschichte von einem Augenblick sprechen – stehen Millionen von Jahren gegenüber! Man kann deshalb prognostizieren, dass die Menschen, so es sie weiterhin gibt, in den nächsten Jahrhunderten nicht auf Erdölvorräte zurückgreifen und keine erdölverbrauchenden Technologien werden nützen können. Wir werden etwas anderes entwickeln müssen.

Auf der anderen Seite beinhalten diese Schnelligkeit und Flüchtigkeit im menschlichen Verhalten weitere Aspekte: So können wir der unglaublichen Fülle an Informationen, der wir tagtäglich ausgesetzt sind, gar nicht anders als lüchtig begegnen: Eine Person, die alles konzentriert liest, was sie im Laufe eines Tages lesen könnte – Aufschriften, Werbetexte, Videoscreens, E-Mails, SMS, Facebook-Einträge, Internet-Blogs, Twitter-Meldungen, elektronische oder gedruckte Zeitungen – wäre innerhalb von zwei Tagen wahnsinnig – und da ist noch gar nicht berücksichtigt, was diese Person zusätzlich noch sehen könnte – im Internet, im Fernsehen, am Handy. Wir müssen ausblenden und lüchtig denken! Aber es bleibt natürlich das Problem bestehen, dass manche Dinge wichtig und notwendig sind und sich nicht innerhalb weniger Sekunden wegklicken lassen. Wir müssen also die Kunst entwickeln, zu erkennen, wo das Wesentliche liegt und wo es sich lohnt, dran zu bleiben. Wir sollten also jenseits aller Ups and Downs den Durchblick bewahren bzw. überhaupt einen Blick dafür bekommen, was in den nächsten Jahren und Jahrzehnten als zentral zu be inden ist. Und weil Sie gerade Google angesprochen haben: Ein großes Problem sehe ich in dem Umstand, dass wir im Begriffe sind, unser ganzes kulturelles Gedächtnis einer Technologie anzuvertrauen, die selbst lüchtig ist. Man stelle sich vor, dass wir heute noch im Stande sind, ägyptische Papyrus-Rollen und assyrische Keilschrifttexte zu lesen, die vor einigen tausend Jahren entstanden sind, während wir auf der anderen Seite demogra ische Daten, die vor wenigen Jahrzehnten erhoben wurden, nicht mehr entziffern können, weil es die Computer bzw. die Software dazu nicht mehr gibt oder die Verschlüsselungstechnologie nicht mehr gebräuchlich ist. Wir wissen also von unserer unmittelbaren Vergangenheit – polemisch zugespitzt – weniger als vom Alten Ägypten! Stein ist noch da, aber Lesegeräte für Magnetbänder der 1960er Jahre existieren schon lange nicht mehr. Man muss deshalb sehr gut überlegen, ob es richtig ist, unser gesamtes

Wissen, all unsere Texte und wissenschaftlichen Erkenntnisse nur mehr auf digitalen Speichermedien zu sichern. Diese unterliegen einem derart rasanten technologischen Wandel, sind in einem Maße lüchtig, dass niemand sagen kann, inwiefern man in einigen Jahren bis Jahrzehnten noch etwas damit wird anfangen können. Gerade im Bereich der Digitalisierung muss man also über die Phänomene Flüchtigkeit und Schnelllebigkeit noch einmal nachdenken!

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dahinter das große Geld lockt und man individuell nicht betroffen ist. Es ist immer so einfach, die Risiken zu verteilen, die andere betreffen werden! Hätte man alle Reaktorbefürworter beim Reaktorunglück in Fukushima vor Ort angekettet, dann würden sie etwas von ihrer Hybris eingebüßt haben und in der Risikoabschätzung heute anders vorgehen. Aber solange man sich bequem absetzen kann, ist es so einfach, Risiken zu verteilen! Die Hybris gibt es also, aber nicht die Hybris „des Menschen“, sondern die Hybris bestimmter privilegierter Gruppen, die es sich erlauben können, auf fremde Kosten größenwahnsinnig zu sein. Auf eigene Kosten ist selten jemand größenwahnsinnig.

Konrad Paul Liessmann: Ich würde meinen, ein Computeranschluss und ein Zugang zu Google und zu weltweiten Datenbanken sind eine wunderbare Voraussetzung für Bildung. Ich bin ja selbst auch ein großer Nutznießer dieser Technologie. Ich genieße es durchaus, dass man jetzt Informationen, Bücher, Texte und Forschungsergebnisse blitzschnell weltweit von überall und an jedem Ort der Erde auf welches Gerät auch immer laden und lesen kann. Aber die Tatsache, dass ich das kann, besagt gar nichts! Es war ja theoretisch auch vor der Erindung dieser Technologien möglich, zum Beispiel nach Wien zu fahren, in die Nationalbibliothek zu gehen und dort alles zu lesen, was man lesen wollte. Einige haben es getan, viele aber nicht. Jetzt könnte man sagen, das wurde deshalb nicht gemacht, weil es mühsam war: Man musste in Salzburg in den Zug steigen, nach Wien fahren, in die Nationalbibliothek gehen, dort eine Karte lösen, sich die Bücher ausleihen, zwei Stunden im Foyer warten. Dann bekam man das Buch und man konnte lesen. Tatsächlich ist es so, dass jemand, dem es wirklich um Wissen und Bildung geht, immer die jeweils verfügbaren Technologien und Zugangsformen nützt. Wenn es Bibliotheken gibt, wird die betreffende Person dorthin gehen, wenn es Handschriften gibt, wird sie versuchen, diese zu bekommen. Wenn es nur mündliche HLFS Ursprung: Der Zugang zu Informationen verbessert sich gegenwärtig durch die genannten Technologien weltweit rasant. Welche Auswirkungen können wir uns davon erwarten?

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sondern vielmehr aktiv ist! Bildung hat – auch wenn das vielleicht ein bisschen salopp klingen mag – viel mehr mit Bodybuilding als mit Schnitzelessen zu tun! Ich muss selbst was tun, ich muss selbst aktiv werden und ich muss mich auch quälen. Jeder Hochleistungssportler weiß, er muss sich quälen. Wenn man seinen Körper wirklich in Form bringen möchte, ist das mit Anstrengung verbunden; und beim Geist verhält es sich nicht anders! Man muss auf ein paar andere Dinge verzichten und es geht auch nicht von heute auf morgen. Eine Sprache zu erwerben, in eine Wissenschaft einzudringen, sich Kenntnisse über Natur oder Kunst zu erwerben, geht nicht mit ein paar Mausklicks! Vielmehr benötigt man Zeit.

Und ich glaube, das ist vielen noch nicht ganz klar. Nur weil jetzt Information über mediale Technologien einfach zugänglich ist, muss der Bildungsprozess selbst nicht ebenso einfach verlaufen; und er tut es auch nicht!

aber trotzdem kein Astronom geworden, anderes hat mich letztlich mehr interessiert. Der mediale Event kann also grundsätzlich ein Anstoß sein, aber dann muss sich herausstellen, ob jemand tatsächlich dabei bleiben kann.

Konrad Paul Liessmann: Ich denke nicht, dass Bildung Eventcharakter braucht, aber ich bin froh über jede Anregung. Wir wissen ja bis heute nicht, warum Menschen beginnen, sich für bestimmte Dinge zu interessieren. Wenn man die Bildungsbiographien von bedeutenden oder auch unbedeutenden Personen betrachtet, so erkennt man, dass es die unterschiedlichsten Gründe gibt, warum jemand beginnt, sich für Physik, Chemie, Literatur oder Medizin zu interessieren. Manchmal ist es sehr konventionell: Jemand interessiert sich für Medizin, weil der Vater Arzt ist und es eine Praxis zu übernehmen gilt. Ein anderer hat ein essenzielles Erlebnis in der Kindheit und ein dritter spielt ein Computerspiel mit historischer Hintergrundgeschichte und entwickelt auf dieser Basis eine Form von Interesse. Es gibt jedenfalls unzählige Anregungen für Bildungsprozesse. Für den einen oder anderen mag dieser Stratosphärensprung tatsächlich eine Art Anstoß gegeben haben; für die meisten aber, so glaube ich, bleibt es beim Event und damit folgenlos: Es waren zwei spannende Fernsehabende und man hatte das Gefühl, ein bisschen mehr über die Atmosphäre oder den freien Fall Bescheid zu wissen, aber die Begeisterung verschwindet wieder. Wir haben im Lauf der letzten fünfzig Jahre immer wieder solche großen wissenschaftlichen Events verfolgt, wie etwa die Mondlandung, die ich selbst als Jugendlicher erlebt habe. Ich habe damals begonnen, mich für den Mond zu interessieren, bin

Konrad Paul Liessmann: Ich würde vorschlagen, man nehme dieses Motto wirklich ernst: „Welche Zukunft wollen wir eigentlich?“ Wir haben im Allgemeinen eher vage Vorstellungen und denken gleichzeitig, es wäre ohnehin klar, welche Zukunft wir wollen; ich glaube aber, das stimmt nicht. Ich denke, dass unterschiedliche Menschen unterschiedlicher Kulturen völlig unterschiedliche Vorstellungen von Zukunft und von der Welt, in der sie leben wollen, haben. Ich hätte die Vertreter der verschiedenen Länder bei der Konferenz in Rio gerne gebeten, mir Auskunft über ihre Vorstellungen zu diesem Motto zu geben. Wie sehen China, Amerika, Brasilien, die afrikanischen Staaten oder der Islam die Zukunft? Und wenn alle ehrlich geantwortet hätten, hätte man festgestellt, dass wir uns auf nichts so schwer einigen können, wie auf das, wie eine gemeinsame Zukunft auf dieser Erde aussehen soll. Was mich außerdem an diesem Motto interessiert, ist „das Wollen“. Gerade das soll man ernst nehmen! Die Zukunft, die wir wollen, können wir nur deshalb wollen, weil wir sie auch gestalten können! Es hat keinen Sinn, sich eine Zukunft zu wünschen, die nicht kommt. Es hat aber auch keinen Sinn, so zu tun, als ob eine Zukunft käme, die man nicht beein lussen kann. Es gibt natürlich bestimmte Entwicklungen und Dynamiken, die sich des Zugriffs des Einzelnen entziehen. Aber als Kollektiv, als Gesellschaft darf nicht gefragt werden: „Was wird die Zukunft bringen?“, sondern vielmehr „Welche Welt mit welchen Lebensbedingungen wollen wir für uns

HLFS Ursprung: Wenn man den Stratosphären-Sprung vor einiger Zeit verfolgt hat, konnte man erleben, wie sich Menschen plötzlich für physikalische oder chemische Zusammenhänge interessieren. Man könnte wohl die Frage stellen: „Wie viel Eventcharakter braucht Bildung?“

HLFS Ursprung: Das Leitthema der Konferenz „Rio+20“ war „The future we want“. Was kann die Bildung allgemein für eine wünschenswerte Zukunft leisten?

in naher oder ferner Zukunft?“; sodann muss darüber nachgedacht werden, ob die Ressourcen und Möglichkeiten ausreichen, um das, was gewollt wird, auch zu erreichen! Nur das Gute zu wollen, ist keine große Kunst! Um auf dieses eine Beispiel von vorhin zurückzukommen: Die Atomphysiker der 1950er Jahre wollten das Gute! Sie haben uns eine Zukunft versprochen, in der wir keine Energiesorgen haben werden. Wer würde hier widersprechen wollen? Kein Mensch will schließlich mit Energiesorgen leben. Und da kommt nun eine Wissenschaft, die sagt: „Wir können eine sichere Energieversorgung schaffen!“ Und nicht nur eine sichere Energieversorgung wurde versprochen, diese würde auch mit einer sauberen, ef izienten Technologie bewerkstelligt werden. Das ist doch eine herrliche Zukunftsaussicht, eine so herrliche Zukunft, dass sie strahlen wird über die Jahrtausende hinweg, wie wir heute wissen. Dass sie nicht nur strahlt, sondern auch verstrahlt, das wurde damals nicht dazu gesagt. Das Ziel war in Ordnung, aber die dafür eingesetzte Technologie hat sich als höchst verhängnisvoll erwiesen. Man muss also einen Wunsch in Verbindung mit den konkreten Möglichkeiten und Folgewirkungen sehen! Und jetzt kommt die Frage: „Was kann Bildung zu einer wünschenswerten Zukunft beitragen?“ Sie kann dazu beitragen, dass die Menschen im Stande sind, die Wünsche, die sie an die Zukunft haben, nicht nur zu artikulieren, sondern auch die Unterschiede, die sich auftun, zu thematisieren. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir – wenn wir im globalen Maßstab denken – es mit Gesellschaften zu tun haben, die sich auf ganz unterschiedlichen „Wünsche-Niveaus“ beinden. Denn den notleidenden europäischen Menschen des neunzehnten Jahrhunderts, von dem vorhin die Rede war, gibt es in Europa nicht mehr, sehr wohl aber in Afrika, Indien oder China. Die Wünsche dort sind heute sicherlich ganz anders beschaffen als unsere in Europa. Dieses Problem wurde bei der Konferenz in Rio spürbar: Die Schwellen- und Entwicklungsländer beanspruchen ganz andere Ent-

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Informationen gibt, wird der Neugierige dorthin gehen, wo irgendein Herold, Dichter oder Sänger etwas verkündet. Demjenigen, den das nicht interessiert, kann ich das gesamte Wissen der Welt frei Haus ans Bett liefern, er wird es wegschieben und sagen: „Wo ist mein Videogame?“ Da hilft dann alles nichts. Ich möchte damit sagen, dass der weltweite Zugang zu Information eine wunderbare Voraussetzung ist, aber was wir darüber hinaus machen müssen, ist, die jungen Menschen dafür zu interessieren, dass sie wirklich etwas damit anfangen können. Und sie auch darauf aufmerksam machen, dass der Umgang mit Informationen und der Erwerb von Bildung ein Prozess ist, der nichts mit Konsumieren zu tun hat,

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löst werden können: Einerseits weil man manchmal an die Grenzen seines Wissens geraten kann, hier kann man nur forschen. Forschen bedeutet nicht Bildung, sondern das Eingeständnis eines Problems, das man lösen möchte. In der Philosophie gibt es seit Sokrates die Einsicht, dass das größte Wissen

die Einsicht in das eigene Nichtwissen ist. Für die Wissenschaft ist das essenziell, nämlich zu wissen, wo die Lücken sind! Es gibt zweifellos Probleme, die technisch, ökonomisch oder politisch gelöst werden müssen und dabei spielt Bildung eine Rolle; es ist aber nicht die Bildung selbst, die diese Probleme

löst. Wenn aber gebildete Menschen in einem Entscheidungsprozess aktiv sind, bestehen möglicherweise größere Chancen auf eine sinnvolle Lösung. Ich denke, dass Bildung eine wichtige Voraussetzung für jede Bürgerin und jeden Bürger ist, die an Entscheidungsprozessen in Demokratien teilnehmen wollen. Es war immer die Grundidee der Demokratie, dass sie nur funktionieren kann, wenn die Bürger gebildet sind. Wenn sie es nicht sind, wird man zu der Meinung kommen, eine „sanfte Diktatur“ wäre besser: Ein paar kennen sich aus, die anderen werden sanft geleitet. Eine gewisse Form von Unbildung schafft Unsicherheit, Unsicherheit schafft wenig Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Unsicherheit führt dazu, die eigenen Probleme von anderen lösen lassen zu wollen. Hinter dem Ruf nach Experten, Eliten, Führungskräften und Entscheidungsträgern indet sich eine gewisse Hil losigkeit, die im Grunde genommen nicht notwendig wäre. Grundsätzlich trägt jeder die Verantwortung für seine Handlungen, soweit sie ihn selbst betreffen. Es stellt aber eine ganz andere Art von Verantwortung dar, Entscheidungen zu treffen, die andere betreffen werden. Es widerspricht unserem europäischen Denken zutiefst, wenn Entscheidungen getroffen werden, ohne dass die Personen, die davon betroffen sind, zu Wort kommen können. Gerade diese vielen Fragen, die Sie angeschnitten haben, wie ökologische Entwicklung, Klimaentwicklung und technologische Entwicklung, werden uns alle betreffen und ich denke daher, dass es sehr wichtig wäre, dass die Menschen die Möglichkeiten haben, sich so zu informieren und sich so zu bilden, dass sie wirklich in diese Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden können. In naher Zukunft kommen die Fragen auf uns zu, welche Technologien wir einsetzen, wie wir den Ressourcenverbrauch steuern und welche Modelle von Verzicht wir entwickeln; ich denke, dass man bei der Lösung all dieser Fragen umso chancenreicher sein wird, je mehr Menschen von Anfang an in die Diskussionsprozesse eingebunden sind. So kann gar nicht erst

die Situation entstehen, dass Menschen, die nichts wissen, von irgendjemandem geführt oder zu etwas gezwungen werden. Konrad Paul Liessmann: Natürlich betrifft eine ganze Reihe dieser Überlegungen meinen eigenen Alltag und ich überlege mir klarerweise, wie ich zum Beispiel meine Mobilität gestalte; ich überlege auch viel – auch weil das in meinen Beruf fällt – zur Frage der Digitalisierungsprozesse. Dadurch bin ich auch genötigt, jeden Tag bestimmte Entscheidungen zu treffen: Wenn ich also nun ein bestimmtes Buch lesen will, muss ich überlegen, ob ich es als normales Buch kaufe oder eine digitale Kopie herunterlade. Dabei wird mir bewusst, dass ich beginne, ganz anders über Bücher zu denken: Ein Buch, von dem ich weiß, ich werde es einmal lesen und dann nie wieder brauchen, kaufe ich in digitaler Version. Aber wenn ich der Meinung bin, ein bestimmtes Buch ist wichtig und sollte die Zeiten überdauern und mir auch in zwanzig Jahren noch zur Verfügung stehen, kaufe ich es nach wie vor in seiner herkömmlichen gedruckten und gebundenen Form. Meine Überlegungen zur Zukunft bestimmen also tatsächlich mein Leben bis in den ganz banalen Alltag hinein! HLFS Ursprung: Welche Auswirkungen haben diese Überlegungen auf Ihr persönliches Leben?

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wicklungsperspektiven als wir, weil sie schlichtweg in einer ganz anderen Situation sind. Es gibt noch einen weiteren Aspekt: Ich denke, dass alle Fragen, die wir in Zukunft lösen werden müssen, auf der einen Seite in hohem Maß eine naturwissenschaftlich-technische, aber auch eine humanistische Bildung erfordern. Denn es hat sich ja im Lauf der letzten Jahrzehnte gezeigt, dass Technologien ohne das Abschätzen der sozialen und kulturellen Konsequenzen keine Probleme lösen, sondern mit jedem „gelösten“ Problem nur neue schaffen. Wir müssen daher ständig re lektieren, was Technologien bedeuten. Hätte man beispielsweise ein bisschen konsequenter darüber nachgedacht, was lüchtige digitale Speichermedien in kultureller Hinsicht bedeuten, hätte man schon vor Jahrzehnten die Weichen anders gestellt und die technologischen Entwicklungen in eine andere Richtung gelenkt. Alle waren versessen auf immer neue, noch schnellere Technologien und niemand hat über die Konsequenzen für die Lebenswelt der Menschen, in die diese Technologien reingep lanzt wurden, nachgedacht. Wir brauchen also viel mehr Bildung auch in dem Sinn, dass wir uns der Bedeutung dessen, was wir tun, im Klaren sind, und wir brauchen auch viel mehr Bildung in dem Sinn, dass wir das, was wir jetzt tun, mit dem vergleichen, was in einer anderen Zeit getan wurde oder woanders getan wird. Hätte man sich im angesprochenen Beispiel prinzipiell bessere Gedanken gemacht, was bestimmte Speichermedien für Kulturen bedeuten, hätte man die ganzen Debatten noch im Kopf gehabt, die bei der Einführung der Schrift, des Buchdrucks oder des Fernsehens geführt wurden, dann hätte man wahrscheinlich wesentlich intelligenter arbeiten können; diese Bildung war aber nicht da bzw. sie war bei den maßgeblichen Entscheidungsträgern nicht da. Bildung kann in diesem Sinne also sehr viel beitragen. Ich glaube allerdings nicht, dass Bildung oder der Ruf nach Bildung die Lösung aller Probleme darstellt! Es gibt sicherlich Probleme, die durch Bildung nicht ge-

INTERVIEW Markus Fuchsreiter, Laura Grill, Fabian Prudky, Eva Schitter, Fabian Schweiger

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