Zu viel Rousseau, zu wenig Fraenkel Zur Debatte über direkte Demokratie in Deutschland Eike-Christian Hornig

Zusammenfassung

Die intensive Debatte in Deutschland über die Möglichkeiten von mehr direkter Demokratie leidet unter einer starken Verzerrung. Den Instrumenten der direkten Demokratie wird zugeschrieben, sachlicher, gemeinwohlorientierter sowie demokratischer zu sein als repräsentative Politik. Gegen diese Rousseausche Interpretation von direkter Demokratie wird in Anlehnung an Ernst Fraenkel der demokratietheoretische Wert einer pluralistischen Gesellschaft betont und der starke pluralistische Charakter der direktdemokratischen Praxis empirisch herausgestellt.

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Einleitung

Über die Einführung bzw. Ausweitung von direkter Demokratie auf Bundes- und auf Länderebene in Deutschland wird seit Jahren intensiv in der Öffentlichkeit diskutiert (siehe Beitrag von Glaab in diesem Band). Beteiligt an dieser Debatte sind neben den Bürgerinnen und Bürgern insbesondere Vertreter der Verwaltungen, der Politik, der Verbände und Parteien und auch der Wissenschaft. Dabei unternehmen einige Bundesländer wie Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg Einiges in der weiteren Erforschung der Möglichkeiten der direkten Demokratie bei ihnen, wie im vorliegenden Band deutlich wird. Aus der Sicht der Politikwissenschaft ist allerdings festzustellen, dass die allgemeine Debatte um direkte Demokratie in Deutschland von einer bedeutenden Schieflage geprägt ist, die mit den Worten von Fraenkel so zu beschreiben ist: © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 M. Glaab (Hrsg.), Politik mit Bürgern - Politik für Bürger, Bürgergesellschaft und Demokratie, DOI 10.1007/978-3-658-12984-2_16

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„Meine These lautet, daß die Vorstellung vom Volk und der Volksherrschaft als der Herrschaft einer homogenen Einheit in unserem Denken nach wie vor eine maßgebliche Rolle spielt, obgleich sie mit den sozialen Realitäten im Widerspruch steht; und daß dieses Spannungsverhältnis zwischen dem Erbe Rousseaus und der Realität der Gegenwart maßgeblich für die Irrungen und Wirrungen verantwortlich ist, die in unserem demokratischen Denken und die in der Kritik an unserer demokratisch organisierten staatlichen und gesellschaftlichen Einheit zum Ausdruck gelangen. […] Diese auf der Idee der homogenen Gesellschaft beruhende Demokratievorstellung vertritt den Gedankengang, daß echte, wahre Demokratie nur existiert, wenn das Volk als solches unmittelbar die politischen Entscheidungen bestimmt. Die plebiszitäre Demokratie ist die Form der Demokratie, die der unterstellten oder gewünschten homogenen Gesellschaft entspricht“ (Fraenkel 1991, S. 282-283).

Auch wenn es sich im Kontext der deutschen Debatte längst nicht mehr um eine Reinform einer plebiszitären Demokratie, sondern um ergänzende direktdemokratische Elemente im repräsentativen System handelt, legt Fraenkel das zentrale Problem der deutschen Debatte über direkte Demokratie frei. Die Annahme, dass in der zeitgenössischen repräsentativen Politik das Gemeinwohl durch zahlreiche Partikularinteressen an den Rand gedrängt werde, ist verbreitet bei Diskussionen, Tagungen oder auch in persönlichen Gesprächen anzutreffen. Direkte Demokratie böte dagegen die Möglichkeit, diese Partikularinteressen zurückzudrängen und den unverfälschten Willen des Volkes zum Ausdruck zu bringen und damit dem Gemeinwohl zu dienen. Argumentiert wird unter dem Schlagwort der Sachlichkeit, die als das Gegenteil von Partikularinteressen verstanden wird. Diese Sachlichkeit werde wiederum nur über Verfahren der sogenannten Volksgesetzgebung erreicht, da das Volk nur hierbei selbst der Akteur sei. Auf diesem Wege getroffene Entscheidungen wären schließlich unantastbar, weil direkte Demokratie durch die weitgehend unverfälschte Verkörperung der Volkssouveränität einem demokratischen Superlativ gleichkommt. Das sind Positionen, wie sie vom Philosophen Jean-Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert in die Ideengeschichte eingeführt worden sind. In diesem Sinne gibt es also eine sehr starke Rousseausche Prägung der Argumente in der Diskussion um die direkte Demokratie in Deutschland, die auf eine Überhöhung der tatsächlichen Möglichkeiten und Eigenschaften direkter Demokratie hinausläuft. Diese schrittweise Überhöhung führt zu einem verzerrten Bild der direkten Demokratie, die entsprechende Erwartungen in der Praxis nicht erfüllen kann. Eine mögliche Konsequenz davon kann eine Verschärfung einer Politikverdrossenheit statt ihre Reduzierung durch mehr direkte Beteiligung sein. Das Ziel dieses Beitrages ist es daher, ein realistischeres Bild der Möglichkeit der direkten politischen Beteiligung bei Volksabstimmungen zu zeichnen. Dazu wird im nächsten Abschnitt diese Roussau’sche Prägung der Debatte ausführlicher dargestellt und anschließend im dritten Abschnitt mit einigen Ergebnissen aus der

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politikwissenschaftlichen Forschung konfrontiert. In Anlehnung an Ernst Fraenkel wird die Empirie vor allen Dingen dazu angeführt, um die pluralistische Natur der direktdemokratischen Praxis zu unterstreichen und einen entsprechenden Gegenpunkt zur Rousseauschen Position zu setzen. Die grundsätzlich positiven Effekte von direkter Demokratie in repräsentativen Systemen sollen dabei nicht in Abrede gestellt werden. Denn aus der Sicht einer Demokratieforschung gilt bei der Frage der Bürgerbeteiligung grundsätzlich der Satz von John Dryzek: Wenn Demokratie eine gute Sache ist, dann ist mehr Demokratie eine noch bessere Sache (vgl. Dryzek 1996). Es mag gut sein, dass Wählen heutzutage allein nicht mehr für die Ansprüche an die Produktion von demokratischer Legitimation reicht (vgl. Heußner 2011). Aber bei aller Euphorie muss auch mit Bedacht an das Thema herangegangen werden. Im Sinne eines funktionierenden Constitutional Engineering sollten die realen Potenziale und Grenzen von direkter Demokratie vergegenwärtigt werden, bevor an den Stellschrauben des politischen Systems gedreht wird. Dazu braucht es in der deutschen Debatte aber weniger von den Positionen von Rousseau und mehr jener von Fraenkel.

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Rousseau und die Spirale der Überhöhung direkter Demokratie in Deutschland

In seinem Gesellschaftsvertrag hat Jean-Jacques Rousseau (2003) 1762 aus der Verabsolutierung der Volkssouveränität die radikaldemokratische Vorstellung entwickelt, dass die Verfolgung des Gemeinwohls und die Existenz von Gruppenwillen sich einander ausschließen. Aus dieser Sicht kann nur in einer homogenen Gemeinschaft tatsächlich auch aus dem gemeinsamen politischen Handeln aller Bürger das Gemeinwohl entstehen, während alle Formen der intermediären Strukturen diesem logisch entgegenstehen. Intermediäre Strukturen und Repräsentationsorgane wären sowieso unnötig, da eine Übertragung der Volkssouveränität gar nicht möglich sei. Aus dieser Sicht gibt es bei den direkten Abstimmungen der Bürger, die bei Rousseau Ausdruck der Volkssouveränität sind, einen untrüglichen Indikator für die Gemeinwohlorientierung einer Vorlage: „Je mehr Übereinstimmung bei den Versammlungen herrscht, d. h. je näher die Meinungen der Einstimmigkeit kommen, um so mehr herrscht auch der Gemeinwille vor; lange Debatten jedoch, Meinungsverschiedenheiten, Unruhe zeigen das Emporkommen von Sonderinteressen und den Niedergang des Staates an“ (Rousseau 2003 [1762], S. 114).

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Bei Rousseau findet also die Unvereinbarkeit von Gemeinwohl und Partikularinteressen ihre ideengeschichtliche Begründung und Verkörperung in dem Postulat der homogenen Gesellschaft. Mehr als 250 Jahre später ist dieser Gegensatz zwischen Gemeinwohl und Partikularinteressen nach wie vor politisch relevant, auch wenn sich inzwischen die repräsentative Demokratie als Regierungsform durchgesetzt hat. Aus den Ergebnissen der politikwissenschaftlichen Einstellungsforschung lässt sich eine abgeschwächte Variante dieses Antagonismus erkennen. Schon Fraenkel kam im Jahr 1966 zu dem Schluss, dass die Verbindung von Gemeinwohl und homogener Gesellschaft immer noch „in unserem unreflektierten politischen Unterbewußtsein spukt“ (Fraenkel, 1991, S. 264). Diese abgeschwächte Variante besteht darin, dass der politische Konflikt als Mechanismus demokratischer Politik von vielen Bürgerinnen und Bürgern beständig als negativ bewertet wird, während überparteiliche Gesinnung und Funktion deutlich mehr Anerkennung finden. Dies wird an den Zustimmungswerten zu den verschiedenen demokratischen Institutionen deutlich. Solche, die in die tagespolitische Auseinandersetzung involviert sind, erfahren weniger Unterstützung und Wertschätzung als solche, die als überparteilich wahrgenommen werden (vgl. Gabriel und Neller 2010). Dies ist gerade für parteienstaatliche Institutionen ein Problem. Nicht umsonst wird seit Jahren über eine Krise der politischen Parteien gesprochen (vgl. Niedermayer et al. 2013). Dazu passt, dass zugleich die Demokratie als Regierungsform in vielen westlichen Ländern eine hohe Wertschätzung erfährt, während die Zufriedenheit mit ihrem Funktionieren und den politischen Akteuren sehr gering ist (vgl. Norris 1999). Auf Deutschland bezogen kann festgehalten werden, dass sich formal zwar an der institutionell privilegierten Stellung der Parteien im politischen System der Bundesrepublik kaum was geändert hat. Dennoch ist ihre Position durch die zunehmende Abwendung der Öffentlichkeit von ihnen unter erheblichen Druck geraten. Eine stärkere Ähnlichkeit mit der Rousseauschen Position zeigt sich in der Debatte um die Einführung bzw. Erweiterung von direktdemokratischen Verfahren in Deutschland. Die Forderung nach mehr direkter Demokratie wird immer wieder mit der Unvereinbarkeit von Gemeinwohl und Partikularinteressen begründet und in weiteren Überlegungen über die Konstruktionsweise von direktdemokratischen Verfahren und ihr Verhältnis zu den repräsentativen Politikinstitutionen fortgeführt. Der Gegensatz von Partikularinteressen und Gemeinwohl wird dabei mit der Rolle der politischen Parteien begründet. Parteien sind demnach nicht nur unbeliebt, weil sie streiten, sondern sie werden mit Sonder- oder Partikularinteressen, Klientelismus und Eigennutz in Verbindung gebracht (vgl. Arnim 1997, S. 376). Diese behauptete Verkommenheit der Politiker, ihre Selbstbedienungsmentalität und ihre Vertretung von Sonderinteressen, fungiert als Sprungbrett für die Forderung

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nach mehr direktdemokratischer Beteiligung als Gegenmittel. Hierzu ein beliebig gewähltes Beispiel aus dem Internet1: „Demokratie soll die Herrschaft des Volkes sein, so stark und so weitreichend wie möglich; Die repräsentative Demokratie ist zu einem Demokratiefeudalismus degeneriert; Die repräsentative Demokratie hat eine neue Herrschaftsgruppe hervorgebracht: Die Demokratiefeudalherren und –frauen; […] Direkte Demokratie ist, wenn das Volk bestimmt!; Direkte Demokratie ist das notwendige Korrektiv gegen die Verselbständigung und die Selbstsucht der Eliten“ (eurodemostuttgart 2012).

Vorgeworfen wird den politischen Parteien, dass sie das Gemeinwohl ignorieren, weil sie von Lobbyisten und sonstigen mächtigen Interessengruppen manipuliert werden. Direkte Demokratie wird als die Lösung hierfür betrachtet. Auf der Internetseite des bekannten Vereins „Mehr Demokratie e. V.“ ist Folgendes zu lesen: „Direkte Demokratie kann helfen, den Einfluss von Lobbys zurückzudrängen. Denn ein ganzes Stimmvolk so zu beeinflussen, dass es die gewünschte Entscheidung trifft, ist weitaus schwieriger, als dies bei einzelnen Politikern zu erreichen. Bundesweite Volksabstimmungen würden die Zukunft unseres Landes wieder stärker in unsere Hände legen und uns so vor zunehmend mächtigen Einzelinteressen schützen. […]. Klientelpolitik ist schädlich für die Demokratie“ (Mehr Demokratie e. V. 2012)

Es wird hier angenommen, dass Parteien Interessenpolitik vertreten und nicht den Willen des Volks repräsentieren. Bei direkter Demokratie ginge es dagegen um Argumente. Zudem setzt sich das bessere Argument in den Abstimmungen durch, so wie es sich Rousseau auch schon gedacht hatte. Der zentrale Begriff mit dem in der Debatte um direkte Demokratie als eine Art Hebel zur Spaltung von Partikularinteressen und Gemeinwohl gearbeitet wird, ist die Sachlichkeit. Die schon erwähnte Sachlichkeit der Politik wird verbreitet als das Gegenteil von interessengeleiteter Parteilichkeit dargestellt. Die Übersteigerung einer vermeintlichen Sachlichkeit im Kontrast zur Klientelpolitik ist der Grund, warum politische Verfahren oder Institutionen immer attraktiver oder beliebter werden, die dem Einfluss von Parteien entzogen sind, zu sein scheinen oder den Parteien zumindest etwas entgegen setzen können. Dies vermögen augenscheinlich ein unpolitisches oder unparteiliches Bundesverfassungsgericht, der Bundespräsident oder eben die direkte Demokratie. Auf der Internetseite von „Mehr Demokratie e. V.“ ist dazu zu lesen:

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Verzeichnet ist die Internetseite dabei unter „eurodemostuttgart“, d. h. die Verbindung mit den Stuttgarter Ereignissen wollten sich die Betreiber nicht entgehen lassen, auch wenn auf der Seite inzwischen fast ausschließlich gegen den Euro gewettert wird.

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„Volksabstimmungen können deshalb bei der Versachlichung von Politik helfen. Vor Abstimmungen wird in der Öffentlichkeit zwar teilweise heftig gestritten, es geht dabei aber immer um die Frage, die zur Abstimmung steht, beispielsweise ob Religion in Berlin wieder als Wahlpflichtfach eingeführt werden soll oder ob die Schulreform in Hamburg rückgängig gemacht wird“ (Mehr Demokratie e. V. 2012).

Angenommen wird, dass direkte Demokratie etwas (oder auf jeden Fall mehr als das bei Parlamenten der Fall ist) mit Sachlichkeit und damit auch mit Gemeinwohl zu tun hat, da Parteien nicht am politischen Prozess beteiligt sind. Dieser Sachlichkeit muss demnach gegenüber der Parteipolitik (wieder) der Vorzug gegeben werden. Der erste Schritt in der Überhöhung direkter Demokratie liegt also in der Reservierung des Gemeinwohls allein für die direkte Demokratie, während Gemeinwohl und Partikularinteressen nur schwer vereinbar sind. Somit prägt eine deutliche Kritik an einem pluralistischen Gesellschaftsbild die Debatte um direkte Demokratie in Deutschland. Das Postulat der Unvereinbarkeit von Gemeinwohl und Partikularinteressen wird in einem nächsten Schritt häufig auf die Frage nach der Konstruktionsweise eines möglichen direktdemokratischen Verfahrens übertragen. Es geht nicht einfach nur um direkte Demokratie als ein prinzipielles Gegengewicht zur repräsentativen Politik sondern um eine ganz spezielle Form. Charakteristisch für die deutsche Debatte ist seit je her eine Fixierung auf die Verfahren der sogenannten Volksgesetzgebung (Hsu 2014). Der Grad der Kontaminierung durch Parteien, Politiker und Lobbyisten gilt bei der Volksgesetzgebung als am geringsten. Sie scheint schon terminologisch vollkommen unverdächtig zu sein und wird von ihren Befürwortern als der reine Typ der direkten Demokratie dargestellt. Da die Demokratie als Herrschaftsform auf dem Willen des Volkes beruht, kann es sich bei der Volksgesetzgebung nur um die normativ wünschenswerte Konstruktionsweise direkter Demokratie handeln. Von der Volksgesetzgebung versprechen sich viele einen noch freien Einflusskanal auf das politische Geschehen vorzufinden, der (endlich) Raum zur Artikulation der vermeintlich vorhandenen Divergenzen zwischen Bürgerinnen und Bürgern und den Politikern lässt bzw. eröffnet. Dass sich des Volkes Stimme, sobald sie einmal ungefiltert zum Zuge kommen kann, dann gegen die herrschenden Eliten richtet und diese im Umkehrschluss auch deswegen gegen mehr direkte Demokratie seien, wird einfach unterstellt (vgl. Leif 2009, S. 381 ). Und selbst von Seiten der etablierten Parteien wird teilweise in dieses Horn gestoßen. Wie zum Beweis hat sich die SPD auf ihrem Bundesparteitag im Dezember 2011 für mehr direkte Demokratie auf Bundesebene ausgesprochen und konkret eine Form der Volksinitiative vorgeschlagen (vgl. SPD 2011). Zwar wird in dem Beschluss deutlich gemacht, dass direkte Demokratie nicht demokratischer ist als die parlamentarische Demokratie und sich Bevölkerung und Parlament nicht ausei-

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nanderdividieren lassen sollten, doch sieht auch die SPD das Ziel der Gesetzgebung unmittelbar durch das Volk offenkundig nur durch Formen von Volksbegehren und Volksentscheid zu erreichen. Auch die SPD preist die Gemeinwohlorientierung direkter Demokratie im Gegensatz zu den sonst vorherrschenden Einzelinteressen. SPD und Grüne hatten im Jahr 2002 einen gemeinsamen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, mit dem die Volksgesetzgebung auch auf Bundesebene eingeführt werden sollte (vgl. Deutscher Bundestag 2002), während die Union sich nicht mal Referenden auf der Bundesebene vorstellen kann. Die strikte ablehnende Haltung der Union ist vor allen Dingen prinzipiell begründet. Gebangt wird um die Stärke und Autonomie des Parlamentes, so die offizielle Argumentation. Eine Umfrage unter Bundestagsabgeordneten im Jahr 2007 hat ergeben, dass keine Fraktion gegenüber direkter Demokratie so verschlossen ist wie die Unionsfraktion (vgl. Christmann 2009, S. 5-41). Der ausschlaggebende Punkt ist, dass auch CDU und CSU in ihrer skeptischen Haltung automatisch von einer Volksgesetzgebung als einziger realistischer Verkörperung von direkter Demokratie auf Bundesebene ausgehen. So gehen beide Seiten von der Volksgesetzgebung und bestimmten damit verbundenen Erwartungen aus. Der zweite Schritt in der Überhöhung direkter Demokratie liegt in der weiteren Reservierung des Gemeinwohls allein für die Verfahren der Volksgesetzgebung, da nur diese durch ihre Unverfälschtheit durch Partikularinteressen am ehesten dem Prinzip der Volkssouveränität entsprächen. Wie auf einer Art Spirale schraubt sich die Überhöhung der direkten Demokratie weiter hinauf zu der Annahme der demokratischen Höherwertigkeit und Unantastbarkeit direktdemokratischer Entscheidungen. Zunächst muss festgehalten werden, dass direktdemokratische Entscheidungen, egal ob Volksgesetzgebung oder nicht, in der Tat über ein besonderes Maß an demokratischer Legitimation verfügen, allein schon weil sie aus Sicht vieler Bürgerinnen und Bürger einem demokratischen Ideal besonders nah kommen. Nicht umsonst werden in vielen demokratischen Ländern besonders wichtige Fragen, die in der Regel die Verfassung betreffen, den Bürgerinnen und Bürgern zur Entscheidung überlassen (vgl. Hornig 2011a). In zeitgenössischen Demokratien ist dieser Entscheidungsmechanismus aber eingebettet in ein weitgefächertes Institutionensystem, in dem verschiedene Funktionen ineinander greifen. Grundlegend ist überall die klassische Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative. Schon hier kommt es, auch ohne direkte Demokratie, immer wieder zu Spannungen zwischen den verschiedenen demokratischen Institutionen. Als Beispiel sei hier nur der deutsche Föderalismus mit seinen regelmäßigen Reibereien zwischen Bund und Ländern genannt (vgl. Detterbeck et al. 2009). In der deutschen Debatte um die direkte Demokratie wird das Spannungsfeld zwischen den Institutionen der Demokratie aber oftmals überdeutlich zugunsten der

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direkten Demokratie relativiert. Im komplexen bundesrepublikanischen Institutionengeflecht liegt es nahe, der direkten Demokratie als Entscheidungsmechanismus eine Superiorität zuzuweisen, weil sie vermeintlich dem demokratischen Ideal am nächsten kommt. Bis zu einem gewissen Punkt ist dies auch demokratietheoretisch und funktional vertretbar, wenn es innerhalb des Spannungsfeldes der Institutionen nicht zu wesentlichen Schieflagen bzw. Einseitigkeiten kommt. Allerdings ist der Tenor in der Debatte über direkte Demokratie häufig, dass sich andere Institutionen dem Volksvotum unterordnen müssen, vor allen Dingen Parlamente und die politische Parteien, zumal diese ja angeblich nur Partikularinteressen vertreten. Das gelte zudem auch für Gerichte, die eventuell direktdemokratisch getroffene Entscheidungen kassieren bzw. Vorlagen gar nicht erst zur Abstimmung zulassen. Und wenn es tatsächlich zu einer Einschränkung der direkten Demokratie durch die repräsentativen Institutionen kommt, dann ist der Protest bei den Anhängern von möglichst viel und weitreichender direkter Demokratie groß. Der dritte Schritt in der Überhöhung direkter Demokratie liegt also in der Immunisierung der Entscheidungen. Der Gedanke, dass in einer Demokratie nichts demokratischer sein kann als der direkt geäußerte Volkwille, gleicht allerdings einer Verabsolutierung der Volkssouveränität als das Maß aller Dinge, wie Rousseau sie einst im Sinn hatte.

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Fraenkels normativer und empirischer Pluralismus als Gegenargumentation

Zum Werk von Rousseau ist über die Zeit sehr viel normative und empirische Kritik geäußert worden, die eine Reihe von unterschiedlichen Punkten betrifft (s. Schmidt 2006, S. 91-97). Besonders vehement hat Ernst Fraenkel dem Rousseauschen Nexus von homogener Gesellschaft und Allgemeinwohl widersprochen. Er sah, wie viele andere auch, darin Überlegungen, die in den Totalitarismus führen. Als Vertreter der pluralistischen Demokratietheorie sah Fraenkel vielmehr einen prinzipiellen demokratietheoretischen Nutzen in intermediären Strukturen: „Mitarbeit des Bürgers in der parlamentarischen Demokratie gewährt dem einzelnen das unmittelbare politische Wahlrecht; Mitarbeit des Bürgers in der pluralistischen Demokratie gewährt dem einzelnen ein mittelbares durch die Parteien und Verbände geltend zu machendes Mitgestaltungsrecht auf die öffentliche Meinung, die Fraktionen und damit auch auf Regierung und Parlament“ (Fraenkel 1991, S. 275).

Diese Mitgestaltung über intermediäre Strukturen kann dabei nicht einem Gemeinwohl zuwiderlaufen, da es Fraenkel zufolge kein grundsätzliches bzw. vor

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dem politischen Prozess (a priori) feststehendes Gemeinwohl gibt. Dieses Gemeinwohl entsteht vielmehr gerade durch den politischen Prozess im Einvernehmen unterschiedlicher politischer Gruppen (a posteriori) (Fraenkel 1991, S. 261-296). Die Interaktion von Interessengruppen ist unerlässlich für die Entstehung eines Gemeinwohls in einer pluralen Gesellschaft. Somit stehen sich Fraenkels plurale und Rousseaus homogene Gesellschaft diametral gegenüber. Angesichts der deutlichen Rousseauschen Prägung der Debatte um die direkte Demokratie wird im Folgenden in Anlehnung an Fraenkel der pluralistische Charakter direktdemokratischer Politik empirisch herausgearbeitet, während die allgemeine (für direkte Demokratie unspezifische) normative Dimension mit dem Hinweis auf die Ausführungen von Fraenkel dazu (1991) hier nicht weiter verfolgt wird. Als erstes ist festzuhalten, dass auch direktdemokratische Abstimmungen Konflikte von verschiedenen politischen Interessengruppen sind und die ihr unterstellte Sachlichkeit als Gegenteil von Partikularinteressen nicht vorliegt. Wenn die Kraft des Argumentes in einer direktdemokratischen Auseinandersetzung überwiegt, somit Einsicht entscheidet, müssten alle Akteure dieselbe, argumentativ richtige Position erkennen und Abstimmungsergebnisse klare Mehrheiten bringen. In der direktdemokratischen Praxis der deutschen Bundesländer lassen sich aber nur wenige Fälle finden, in denen die Verteilung der Stimmen sehr eindeutig zugunsten von Pro oder Contra ausgefallen ist (vgl. Hornig 2013). Das bedeutet, dass politische Konflikte den Abstimmungen zugrunde lagen, bei denen unterschiedliche Interessen aufeinander trafen. Ein klares Gemeinwohl scheint hier nur sehr schwer zu identifizieren gewesen zu sein. Auch eine Analyse von 31 Abstimmungen aus dem Kontext der europäischen Integration bestätigt diesen Befund (vgl. Hornig 2011b). Direktdemokratische Abstimmungsprozesse sind eine politische Konfliktarena, in der verschiedene Interessen aufeinander treffen. Dies wird weiter dadurch untermauert, dass die Abstimmungsergebnisse oftmals sogar die Positionen der Parteien widerspiegeln. Eine Untersuchung von insgesamt 228 Abstimmungen und mehreren hundert Parteivorgaben zeigt dies (vgl. Hornig 2011a). Durchschnittlich 85 Prozent der Wahlberechtigten verhalten sich bei Volksabstimmungen europaweit so, wie es nach den repräsentativen Kräfteverhältnissen zu erwarten wäre. Nur 15 Prozent der Wahlberechtigten haben im Durchschnitt bei den untersuchten Volksabstimmungen anders gestimmt als es nach den Parteipositionen zu erwarten gewesen war. Das gilt auch für das vermeintliche direktdemokratische Wunderland Schweiz, wo die direktdemokratischen Ergebnisse den Positionen der Parteien entsprechen (vgl. Hornig 2011a, S. 272-276). Dies bedeutet allerdings nicht, dass es nicht immer wieder einzelne Niederlagen der repräsentativen Mehrheiten geben kann. Dies ist vor allen Dingen bei Abstimmungen im Kontext der europäischen Integration der Fall gewesen. Ein verbreitetes Motiv ist hierbei die Abstrafung der amtierenden

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Regierung über eine Niederlage bei der Sachfrage des Referendums (vgl. Glencross und Trechsel 2011). Insgesamt fungieren die politischen Parteien aber häufig für die Wählerinnen und Wähler als Orientierungsgeber in den Abstimmungsdebatten, da zum Beispiel eine hohe Komplexität von Vorlagen oder die inhaltliche Überschneidung einer Abstimmungsvorlage mit schon bestehenden parteipolitischen Linien dies begünstigen (vgl. Le Duc 2002). In der direktdemokratischen Arena treffen nicht nur Interessen aufeinander und es spiegeln sich in der direkten Demokratie auch die etablierten Konfliktlinien der repräsentativen Arena wider. Insofern unterscheidet sich die direktdemokratische nicht wesentlich von der repräsentativen Arena. Gesellschaftliche Gruppen organisieren sich, um sich Gehör zu verschaffen und ihre Interessen durchzusetzen und werden damit automatisch zu Partikularinteressen. Direkte Demokratie ist ein Mittel der Interessendurchsetzung von Partikularinteressen neben anderen. Das wird auch an der sogenannten Volksgesetzgebung deutlich. Klar ist, dass das Volk als Einheit kein Akteur ist, sondern immer konkrete Organisationen oder Gruppen direktdemokratische Vorlagen betreiben. Vereinfacht kann unterschieden werden zwischen solchen Akteuren, die gut im repräsentativen System verankert sind („Inside“-Gruppen) und jenen, die nur über sehr wenig Einfluss und Kontakte verfügen („Outside“-Gruppen) (Hager 2005, S. 7, 76-83) sowie den politischen Parteien als drittes. Die herangezogenen Beispiele für die Untersuchung der Akteursstruktur bei Volksinitiativen sind die Verfassungsinitiative in der Schweiz und das abrogative Referendum in Italien. Diese sind die beiden am intensivsten genutzten Formen der Initiative in Westeuropa. Die Analyse zeigt, dass beim italienischen Verfahren zwischen 1971 und 2005 immerhin knapp 20 Prozent der Vorlagen von „Inside“-Gruppen (ebd.) stammt und weitere 25 Prozent von politischen Parteien. Das bedeutet, dass nahezu die Hälfte aller Betreiber von Vorlagen nicht nur Interessengruppen sondern auch noch eng vernetzt mit dem repräsentativen System waren. Nur etwas mehr als die Hälfte der Vorlagen stammt wirklich von außerhalb des repräsentativen Systems, wobei ein Großteil auf die Radikalen zurückgeht, die wiederum eine Sonderstellung einnehmen (vgl. Hornig 2012, S. 181). Und auch beim großen Schweizer Vorbild vieler deutscher Verfechter von mehr direkter Demokratie bilden die Nicht-Eliten gar nur ein Drittel der Betreiber der untersuchten Vorlagen. Ansonsten ist das Instrument fest in der Hand der etablierten Politik in ihren verschiedenen Facetten. Die Bezeichnung als Volksgesetzgebung ist nur an der Oberfläche einleuchtend, bei näherer Betrachtung aber irreführend. Nur weil es den Vorgang einer Unterschriftensammlung gibt, ist es falsch anzunehmen, dass das Volk als Ganzes sich hier politisch ausdrückt. Vielmehr findet sich eine breite Streuung unterschiedlichster Interessen, die sowohl Wirtschaft, Kultur, Sport und Gewerkschaften abbilden.

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Wirtschaftsverbände sind in der Schweiz genauso aktiv in der Lancierung von Verfassungsinitiativen wie auch Firmen. Es braucht immer den konkreten politischen Akteur mit konkreten Zielen und Interessen, um eine Gesetzesinitiative zu starten. Dass hier das Volk Politik macht, ist eine Floskel. Stattdessen widerspricht gerade die Initiative mit ihrer pluralen Logik der vereinheitlichenden Rhetorik vom Volk. Die Volkssouveränität steht außer Frage, aber sie äußert sich in der Gesetzesinitiative nicht dadurch, dass das Volk die Themen einbringt, sondern dadurch, dass es als Ganzes darüber abstimmt. Die Volkssouveränität kommt also am Ende des direktdemokratischen Verfahrens zum Tragen, nicht am Anfang. Die Gesetzesinitiative ist aber nicht anderen direktdemokratischen Verfahren vorzuziehen, weil hier das Volk zum Schluss des Verfahrens als Pouvoir constituent tätig wird. Dies ist bei den anderen Instrumenten nicht anders. Stattdessen generiert sich der tatsächliche Mehrwert aus der Bereitstellung eines Zugangs zum Gesetzgebungsprozess für alle politisch aktiven Gruppen, was wiederum in Verbindung mit dem gesellschaftlichen Pluralismus steht. Diese Relativierung des Volksbegriffs lässt auch die vermeintliche Unantastbarkeit direktdemokratischer Entscheidungen als drittes Element in der Überhöhung der direkten Demokratie in sich zusammenfallen. Demokratie ist viel mehr als die gemeinsame Willensäußerung zur Sachentscheidung der Bevölkerung. Ohne Zweifel ist die Anerkennung von politischer Herrschaft und ihrer Institutionen durch die Beherrschten, also ihre Legitimität ein Teil des Fundamentes, auf dem alles aufbaut. Doch dies macht moderne Demokratien alleine noch nicht aus. Komplexe Demokratietheorien berücksichtigen eine Mehrzahl von konstitutiven Elementen, die sowohl independent als auch interdependent sein können (vgl. Merkel et al. 2003), und in der Summe einem wichtigen Ziel dienen: Der Begrenzung von Machtausübung. Denn Demokratie ist nicht nur die Souveränität des Volkes, sondern besteht auch aus zwei weiteren unverzichtbaren Strängen: Gewaltenteilung und Repräsentation. Direkte Demokratie gehört primär zum ersten Strang, dessen ideengeschichtlicher Hintergrund nach der Legitimität von politischer Herrschaft, also ihrer Begründung und vor allem ihrer Rechtfertigung fragt. Im deutschen Grundgesetz heißt es dementsprechend: „Alle Macht geht vom Volke aus“ (Art. 20 Abs. 2 GG). Die Steuerung des Gemeinwesens bezieht sich auf die Gesamtheit der in ihr lebenden Menschen, die dabei gleichberechtigt sind. Jeder, der den Gesetzen eines Gemeinwesens unterworfen ist, soll auch an der Entstehung der Gesetze mit beteiligt sein, wodurch diese eben ihre Legitimation erfahren. Traditionell ist dies noch an die Staatsbürgerschaft bzw. an die Unionsbürgerschaft gekoppelt. Würde man es bei der Betrachtung der Demokratie mit diesem Strang belassen, dann könnte in der Tat die direktdemokratische Entscheidung über alles andere gestellt werden.

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Unentbehrlich ist auch der konstitutionelle Strang. In seinem Kern liegt die Begrenzung von Willkür in der Herrschaft durch Regeln in Form von Gesetzen und Verfassungen. Die Idee von Herrschaftsschranken ist ideengeschichtlich aus vielen verschiedenen Richtungen gekommen. Während schon in der Antike das römische Recht für eine gewisse Regelung der Herrschaftspraxis sorgte, sind es besonders die Philosophen der Frühen Neuzeit gewesen, die mit ihren Werken das theoretische Fundament für die institutionelle Machtteilung gelegt haben. Besonders dem Baron de Montesquieu wird die Idee der Gewaltenteilung in verschiedene herrschaftliche Organe zugeschrieben. Zuvor hatten schon englische Philosophen wie Thomas Hobbes oder John Locke im Rahmen der Vertragstheorie Modelle von Herrschaft entworfen, die dazu dienten, das Individuum zu schützen. Der Einzelne willigt(e) demnach in eine bestimmte (meist absolutistische) Herrschaft ein, da diese effektiven Schutz bot. Kann der Herrscher die Schutzfunktion nicht erfüllen oder verletzt er diese gar (wie bei Locke), dann fällt auch die Berechtigung für die Herrschaft weg. Was die Verabsolutierung eines direktdemokratischen Votums bedeuten kann, lässt sich am Beispiel des Französischen Adeligen und Philosophen Alexis de Tocqueville deutlich machen, der einen sehr passenden Begriff hierfür formulierte. Tocqueville warnte im 19. Jahrhundert vor der Tyrannei der Mehrheit, vor der es zu schütze gelte. Tocqueville machte diese Aussage zwar vor dem Hintergrund der jungen Demokratie in den USA und der dort aufkommenden Massendemokratie. Doch identifizierte er mit der Tyrannei der Mehrheit die große Gefahr bei Mehrheitsentscheidungen. Die Quintessenz müsse sein, dass der Mehrheitswille in einer Demokratie zwar der bestimmende Mechanismus der Entscheidungsfindung ist, die Reichweite der Entscheidungen aber seine Grenzen finden müsse. Hierzu gehören die individuellen Rechte eines jeden Einzelnen, die in speziellen Grundrechten geschützt sind. Auf die Magna Charta von 1215 folgte 1679 das Habeas Corpus-Gesetz, die amerikanische Bill of Rights 1789 und schließlich ab dem späten 18. Jahrhundert verschiedene Verfassungsdokumente in Europa. Das Gewaltmonopol, wie es sich im Laufe der Frühen Neuzeit etabliert hat, soll zudem die willkürliche Gewalt untereinander begrenzen. Die Festschreibung von unveräußerlichen individuellen Schutzrechten und die institutionelle Eingrenzung von Herrschaft durch Gegenherrschaft haben sich zu einem zentralen Wesensmerkmal demokratischer Systeme entwickelt. Alle demokratischen Systeme verfügen heutzutage über horizontale Gewaltenteilung, Verfassungen bzw. Grundregeln mit besonderem Bestandsschutz und eine unabhängige Justiz. Dass es immer wieder zu Spannungen zwischen den Prinzipien der direkten Demokratie und des Minderheitenschutzes kommen kann, zeigt zum Beispiel der Fall des Minarettverbots in der Schweiz.

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Und auch der dritte Strang der parlamentarischen Repräsentation ist in der Demokratie grundlegend und schließt nahtlos an den vorherigen an. „Vor allem war die repräsentative Demokratie auch ein Instrument, um die Leidenschaften der Massen zu zähmen. Durch die Institution der Stellvertretung sollten die politischen Prozesse rationaler, nicht rein emotional und unter dem Druck der öffentlichen Meinung vonstattengehen. Mit der repräsentativen, gewaltenteiligen Demokratie glaubte etwa Madison ein Mittel gefunden zu haben, jenen Instabilitäten ‚reiner‘, direkter Demokratie zu begegnen, die auch schon in der Antike immer wieder Anlass zu Krisen gegeben und Platon und andere Philosophen zur Kritik an der Demokratie veranlasst hatten“ (Vorländer 2011).

Gerade der repräsentative Strang mit den politischen Parteien als den zentralen Akteuren unterliegt in der Debatte über direkte Demokratie grundlegenden Missverständnissen und Verzerrungen. So bedeutet Repräsentation nicht, dass die Repräsentanten genau das machen müssen, was eine vielleicht demoskopisch identifizierte Mehrheit der Leute will. Denn es wäre unsinnig, ständig Umfragen den Standpunkten von Regierung und Parlament entgegen zu stellen und zu verlangen, dass sich diese daran halten, weil es die Meinung des Volkes sei. Mit einer Stimmungsdemokratie würde konsistente Politik unmöglich. Zusammengenommen ergibt sich also ein komplexes Bild von Funktionen und Eigenschaften demokratischer Systeme, die sich eben nicht nur auf die Entscheidung des Volkes reduzieren lassen, sondern vielmehr weitere Institutionen und Regeln beinhalten. Verkannt wird in der Debatte über direkte Demokratie, dass in der gegenseitigen Begrenzung von institutionellen Kräften ein Wert an sich liegt, der seine Berechtigung hat.

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Schlussfolgerungen

In Deutschland diskutieren viele Bürgerinnen und Bürger, Parteipolitiker, Wissenschaftler und zivilgesellschaftliche Aktivisten über die Möglichkeiten von mehr direkter Demokratie. Die Ereignisse um Stuttgart 21 und die Entwicklungen auf der europäischen Ebene mit Euro- und Griechenlandkrise beschleunigen und intensivieren diesen Diskussionsprozess. Viele Bürgerinnen und Bürger wünschen sich generell mehr direkte Mitsprache bei politischen Entscheidungen, vor allen Dingen bei jenen mit großer Reichweite. Direkte Demokratie gilt bei vielen Menschen als eine gute Möglichkeit, dieses zusätzliche Maß an Mitbestimmung zu erreichen. Und normativ wie empirisch spricht vieles für Formen der direktdemokratischen

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Beteiligung, auch auf Bundesebene, wenn allerdings die Besonderheiten des politischen Systems berücksichtigt werden (vgl. Hornig 2011c). Das Problem ist, dass diese Debatte um mehr direkte Demokratie unter einer starken Verzerrung leidet. In einer Spirale der Überhöhung wird den Instrumenten der direkten Demokratie zugeschrieben, sachlicher und damit gemeinwohlorientierter sowie demokratischer zu sein als repräsentative Politik. Das gilt insbesondere für die sogenannte Volksgesetzgebung, die aber eine rhetorische Mogelpackung ist. Die Überhöhung direkter Demokratie ist dabei untrennbar mit der Abwertung der repräsentativen Politik verbunden. Die Konfrontation richtet sich insbesondere gegen politische Parteien, aber auch gegen andere gesellschaftliche Eliten, die viel zu schemenhaft mit Eigennutz und Klientelismus abgestempelt werden. Die Verzerrung der deutschen Debatte hängt auch wesentlich mit der Verklärung des direktdemokratischen Vorbildes Schweiz zusammen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Nur so viel sei gesagt: Das Schweizer Beispiel scheint die Argumentation der Überhöhungsspirale insofern zu bestätigen, als mit der Volksgesetzgebung und der direkten Demokratie als Letztentscheidungsinstanz die zentralen Elemente der deutschen Debatte vorhanden sind. Oftmals ist in Diskussionen dann zu hören, dass doch auch in Deutschland funktionieren müsste, was in der Schweiz seit langem reibungslos funktioniert. Dass die Schweiz durch die direkte Demokratie eine komplette Veränderung ihres politischen Systems erfahren hat (vgl. Neidhart 1970), wird genauso ignoriert oder übersehen wie der Effekt des Vernehmlassungsverfahrens.2 Gegen die Rousseausche Einfärbung der deutschen Debatte wurde die Perspektive einer pluralistischen Demokratie in Anlehnung an Ernst Fraenkel entgegen gestellt. Neben der Betonung des demokratietheoretischen Wertes einer pluralistischen Gesellschaft wurde insbesondere auf den starken pluralistischen Charakter der direktdemokratischen Praxis abgestellt. Auch direkte Demokratie kann je nach Verfahrensausgestaltung ein direkter oder indirekter Einflusskanal für den Einfluss von Interessengruppen sein. Mit einer vermeintlichen Sachlichkeit hat das genauso wenig zu tun wie die gescholtene Parteipolitik. Auch bei den direktdemokratischen Sachentscheidungen prallen Interessen aufeinander. Und es 2

Direkte Demokratie kann auch zu einer Institutionalisierung des Lobbying führen, wie am Vernehmlassungsverfahren deutlich wird. Durch die Präsenz des fakultativen Referendums hat es sich etabliert, Partikularinteressen von Verbänden, NGOs und Lobbyisten in den Entstehungsprozess von Gesetzen zu integrieren. Das Vernehmlassungsverfahren soll verhindern, dass mächtige Interessengruppen zum fakultativen Referendum greifen und ein Gesetzesprojekt per Abstimmung zu Fall bringen. Daher werden diese vorher am Entscheidungsprozess beteiligt und deren Änderungswünsche gezielt gesammelt und aufgenommen.

Zu viel Rousseau, zu wenig Fraenkel

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geht um gesellschaftliche Konflikte und Interessen, die gelöst und verfolgt werden sollen wie im parlamentarischen Prozess und zwar mit harten Bandagen. Es ist nicht automatisch dem Gemeinwohl gedient, wenn Parteien außen vor gelassen werden. Daher muss die Debatte über direkte Demokratie nicht zwangsläufig auf ein Instrument der Volksgesetzgebung hinauslaufen. Die ausgeprägte Fixierung auf dieses Verfahren speist sich aus der Referenz auf das Volk. Die Volksgesetzgebung ist aus dieser Warte betrachtet aber eine terminologische Mogelpackung, da sie faktisch von Interessengruppen für ihre speziellen Vorhaben genutzt wird. Der besondere normative Wert der Volksgesetzgebung besteht nicht im Moment der Auslösung, sondern im Moment der Abstimmung am Ende. Der wesentliche demokratische Mehrwert von Gesetzesinitiativen liegt also eher in der Zuleitung von Anforderungen von gesellschaftlichen Interessengruppen. Der Rousseausche Nexus in der Debatte über direkte Demokratie von Gemeinwohl und homogener Gesellschaft und der damit verbundenen Implikationen ist also normativ und empirisch zurückzuweisen. Vielmehr besteht eine der zentralen und dauerhaften Herausforderungen zeitgenössischer Demokratien allgemein als auch im direktdemokratischen Kontext darin, „dem Gemeinwohl zu dienen, ohne die autonome Repräsentation der Interessen zu unterdrücken“ (Fraenkel 1991, S. 59).

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