Stellungnahme der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen zum Vorschlagspapier der Arbeits- und Sozialministerkonferenz zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen Allgemeines: Die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen sowie die Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung, der Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte, der Sozialverband VdK Deutschland und die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland haben bereits am 19. Dezember 2008 ein gemeinsames Positionspapier zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen verabschiedet. Darin wird festgestellt, dass das Neunte Buch Sozialgesetzbuch, das Behindertengleichstellungsgesetz und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz die Stellung des behinderten Menschen in der Gesellschaft verändert und die Begriffe gesellschaftliche Teilhabe, Selbstbestimmung, Benachteiligungsverbot und Barrierefreiheit in den Fokus gerückt haben. Im Bereich der Eingliederungshilfe wurde der Paradigmenwechsel allerdings bisher nicht oder nur im Ansatz vollzogen. Daher begrüße ich den Beschluss der Konferenz der Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder (ASMK), Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, besonders in den Bereichen Erziehung, Bildung, Ausbildung, Arbeit und Wohnen, zu ermöglichen und dazu die gesetzlichen Grundlagen zu verbessern.

Der Beschluss der ASMK bleibt allerdings hinter den Erwartungen der behinderten Menschen und der sie vertretenden Verbände und Selbsthilfegruppen zurück. Richtschnur der modernen Behindertenpolitik sind Selbstbestimmung und Teilhabe. Aus diesem Grund wurden die Verbände und Organisationen der behinderten Menschen bisher frühzeitig, in einem konsensualen Dialog, in das Gesetzgebungsverfahren einbezogen. Wie ein derartiger Dialog gestaltet werden könnte, haben uns die Vereinten Nationen bei der Erarbeitung der UNKonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen eindrucksvoll vermittelt.

Die wichtigen Fragen zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe müssen in einer breit angelegten Diskussion erörtert und geklärt werden. Daher fordere ich seit einiger Zeit ein entsprechend hochkarätig und interdisziplinär besetztes Expertengremium (Teilhabebeirat). Im Teilhabebeirat könnte die Bund-Länder-Arbeitsgruppe "Weiterentwicklung der Eingliede-

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rungshilfe" aufgehen, ergänzt durch die Verbände behinderter Menschen, Leistungserbringer, kommunalen Spitzenverbände, Sozialleistungsträger und Wissenschaftler. Dieser sollte sich nicht nur mit der Reform der Eingliederungshilfe, sondern mit allen Dimensionen der Teilhabe und Inklusion beschäftigen.

Darüber hinaus sehe ich weiteren Änderungs- oder Beratungsbedarf: •

Einige der in den Eckpunkten enthaltenden Vorschläge, beispielsweise zur Koordinierung, Zuständigkeitsklärung oder zur Leistungs-, Qualitäts- oder Wirksamkeitskontrolle sind bereits im Neunten Buch Sozialgesetzbuch verankert. Nur werden die Vorgaben des SGB IX nicht hinreichend genutzt. So ist bisher beispielsweise noch kein Träger der Sozialhilfe einer der 11 gemeinsamen Empfehlungen nach § 13 SGB IX beigetreten, obwohl gerade diese Vereinbarungen sehr wichtig sind für die Koordinierung der Leistungen für den behinderten Menschen. Es sollte also geprüft werden, inwieweit die Sozialhilfeträger stärker in das Gesamtkonstrukt SGB IX eingebunden werden können.



Die Behindertenbeauftragte verfolgt das mittel- und langfristige Ziel einer Neuausrichtung der Behindertenhilfe, das sich an den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention messen lassen muss. Deshalb sollten bereits jetzt erste Überlegungen zur Einführung eines eigenen Leistungsgesetzes für behinderte Menschen angestellt werden, das von der Nachrangigkeit der Sozialhilfe befreit wird und sich auf das Grundprinzip des Nachteilsausgleichs stützt.



In dem Papier zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe wird der Zugang behinderter Kinder und Jugendlicher zu einer inklusiven Bildung nach den Vorgaben der UNBehindertenrechtskonvention nicht problematisiert. Dort heißt es in Art. 24 allerdings ganz klar: Ein inklusives Bildungssystem ist ohne Alternative. Jeder Staat soll Gewähr dafür bieten, dass behinderte Menschen gleichberechtigt mit anderen Zugang zu einem integrativen, hochwertigen Unterricht haben. Bei vielen Schülern mit Behinderung reicht es nicht aus, sie in den gemeinsamen Unterricht zu geben und zusätzliche Sonderpädagogenstunden zu veranschlagen. Oft benötigen sie gleichzeitig pädagogische, pflegerische oder betreuerische Unterstützung, um am Unterricht in der allgemeinen Schule teilnehmen zu können. Die Integrationshilfe muss daher so ausgerichtet werden, dass grundsätzlich jedes behinderte Kind integrativ in einer allgemeinen Schule unterrichtet werden kann. Dies hätte dann auch eine positive

Wirkung auf den Übergang von der Schule in den Beruf, da inklusiv beschulte Kinder nur

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in Ausnahmefällen in eine Werkstatt für behinderte Menschen aufgenommen werden. •

Die Zuständigkeitsaufteilung zwischen der Kinder- und Jugendhilfe (für nicht behinderte und seelisch behinderte Kinder und Jugendliche) und der Sozialhilfe (für körperlich und geistig behinderte Kinder und Jugendliche) ist ein seit Jahren gärendes grundsätzliches Problem, das sich nicht im Papier wiederfindet. Dabei bedeutet diese Zuständigkeitsaufteilung eine strukturelle Barriere zur gemeinsamen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung. Dies ist auf das geltende Recht im SGB VIII und SGB XII zurückzuführen. Ich setze mich schon seit langem für ein „Große Lösung“ im SGB VIII ein. Der Kinder- und Jugendhilfe soll auch die Zuständigkeit für körperlich und geistig behinderte Kinder und Jugendliche übertragen werden. Damit werden alle Kinder und Jugendlichen (bis zum Eintritt der Volljährigkeit) dem SGB VIII zugeordnet. Dann müsste allerdings auch die Kostenheranziehung im SGB VIII an das Niveau im SGB XII herangeführt werden.

Zu den Grundsatzfragen: Teilen Sie den Ansatz des Vorschlagspapiers einer personenzentrierten Ausrichtung der Eingliederungshilfe mit der Folge, dass die Begrifflichkeiten „ambulant, teilstationär, stationär“ zur Charakterisierung von Maßnahmen der Eingliederungshilfe ausscheiden? Eine konsequente Anbindung der Leistungen der Eingliederungshilfe an den Bedarf des behinderten Menschen wird ausdrücklich begrüßt. Die Anbindung der Leistung an die Person hebt die Polarität von ambulant, teilstationär und stationär auf. Dadurch führt ein Wechsel der Leistungsform nicht zwangsläufig zu einem Wechsel des Lebensmittelpunktes. Das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Abgrenzung zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor aufgehoben wird. Die Möglichkeit, zeitweise oder längerfristig in einer Wohnstätte verbleiben zu können, eröffnet auch Menschen die Gelegenheit, die im stationären System leben, in ihrer gewohnten Umgebung zu verbleiben und dennoch andere Betreuungsformen in Anspruch zu nehmen. Das heißt, das Gesamtpaket des stationären Angebotes wird aufgeschnürt und unter Berücksichtigung individueller Bedürfnisse, eigener Ressourcen des behinderten Menschen und seines Umfeldes und ggf. auch externer Anbieter neu zusammengestellt.

Die Anbindung der Teilhabeleistungen an den individuellen Bedarf des behinderten Menschen setzt darüber hinaus ein einheitliches Begutachtungsverfahren nach der ICF im SGB

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IX voraus. Nach wie vor fehlt es an einem einheitlichen, rehabilitationswissenschaftlich abgesicherten und in der bundesweiten Verwaltungspraxis anerkannten Instrument zur Feststellung von wesentlichen Behinderungen und des individuellen Hilfebedarfs. Bundesweit ist die Existenz mindestens 60 verschiedener Verfahrensweisen bekannt. Dabei kommt es vor Ort auch zur Implementierung mehrerer paralleler Feststellungsverfahren. Zur Erfassung des Unterstützungsbedarfs kann ein ICF-bassiertes Instrumentarium entscheidende Hilfestellung leisten. Ein moderner Behinderungsbegriff muss die Beeinträchtigungen im Wechselverhältnis von Funktionseinschränkungen, Anforderungsstrukturen des gesellschaftlichen Umfeldes und benachteiligenden bzw. ausgrenzenden Bedingungen und Verhaltensweisen der Gesellschaft beschreiben.

Was spricht für bzw. gegen die Konzentration der Eingliederungshilfe auf Fachmaßnahmen? Eine Konzentration der Eingliederungshilfe auf die Fachmaßnahmen wird dann befürwortet, wenn die Leistungen aus dem SGB XII in das SGB IX überführt werden. Daneben müssten allerdings weitere Überlegungen zur Einführung eines eigenen Leistungsgesetzes für behinderte Menschen angestellt werden, das von der Nachrangigkeit der Sozialhilfe befreit wird und sich auf das Grundprinzip des Nachteilsausgleichs stützt.

Befürworten Sie, dass die Sozialhilfeträger umfassende Steuerungsfunktionen bis hin zum Fallmanagement wahrnehmen sollen? Regelungen zur Koordinierung, Zuständigkeitsklärung oder zur Leistungs- Qualitäts- oder Wirksamkeitskontrolle sind bereits im Neunten Buch Sozialgesetzbuch verankert. Nur werden die Vorgaben des SGB IX nicht hinreichend genutzt. Es sollte also zuerst geprüft werden, inwieweit die Sozialhilfeträger stärker in das Gesamtkonstrukt SGB IX eingebunden werden können.

Wie bereits beschrieben, setzt die Anbindung der Teilhabeleistungen an den individuellen Bedarf des behinderten Menschen ein einheitliches Begutachtungsverfahren nach der ICF im SGB IX voraus. Nach wie vor fehlt es an einem einheitlichen, rehabilitationswissenschaftlich abgesicherten und in der bundesweiten Verwaltungspraxis anerkannten Instrument zur Feststellung von wesentlichen Behinderungen und des individuellen Hilfebedarfs. Zur Erfassung des Unterstützungsbedarfs kann ein ICF-bassiertes Instrumentarium entscheidende Hilfestellung leisten.

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Auch die Entwicklung eines durchlässigen und flexiblen Hilfesystems unterstütze ich ausdrücklich. Einzelne passgenaue, nachfrageorientierte Leistungsmodule anstelle einer angebotsbestimmten Komplettversorgung sind der richtige Weg in die Zukunft. Ein großes Defizit besteht in der derzeitigen Angebots- und Bedarfsplanung. Diese war und ist auf stationäre Angebote ausgerichtet. Das gleiche gilt auch für die Investitionsförderung. Ambulante Leistungen erhalten nicht annähernd vergleichbare Rahmenbedingungen wie der stationäre Bereich, obwohl sich gerade hier auch Kosten einsparen lassen. Außerordentlich wichtig ist eine Sozialplanung für den ambulanten Angebotsraum.

Wie bewerten Sie die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben, die das Ziel verfolgen, vermehrt Menschen mit Behinderungen die Chance auf eine Beschäftigung im allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen? Über das Ziel, mehr Menschen mit Behinderungen eine Chance auf eine Beschäftigung des allgemeinen Arbeitsmarktes zu eröffnen, besteht weitgehend Einigkeit. Die vorgeschlagenen Maßnahmen stellen hierfür eine gute Diskussionsgrundlage dar. Auch hier gilt insbesondere die Abkehr vom einrichtungsbezogenen hin zum personenzentrierten Ansatz. Eine der wichtigsten Fragen ist in diesem Zusammenhang die Frage der sozialversicherungsrechtlichen Einstufung der Erwerbsfähigkeit und der damit verbundenen sozialversicherungsrechtlichen Absicherung des behinderten Menschen. Die verschiedenen Maßnahmen der beruflichen Bildung und Teilhabe müssen ein durchlässiges, flexibles und modulares System bilden, in dem der behinderte Mensch entsprechend seinen Neigungen, Fähigkeiten und Wünschen die jeweils passende Maßnahme und die für ihn erforderlichen Unterstützungsleistungen ohne bürokratische Hürden 'aus einer Hand' zeitnah erhält. Ein bei der BA angesiedeltes Clearingverfahren stellt hierfür einen guten Ansatz dar.

Allerdings gehen die Vorschläge für den Übergang von der Schule in den Beruf nicht weit genug, da sie nur die Symptome bekämpfen und nicht die eigentliche Ursache. Hauptursache dafür, dass so viele behinderte Kinder und Jugendliche mit einer Sonderschulbildung im Anschluss daran in eine Werkstatt für behinderte Menschen kommen, ist die mangelhafte Integration behinderter Kinder. Die Aussonderung fängt für viele behinderte Kinder in der Sonderschule an und zieht sich dann bis zur Werkstatt für behinderte Menschen. Daher ist ein inklusives Bildungssystem ohne Alternative und Voraussetzung, um den Weg in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu ebnen.