Wortprotokoll Niederschrift über das

Forum Bioethik Medizinische Forschung an einwilligungsunfähigen Menschen: Heilversuch oder Humanexperiment? Zwischen individuellem Nutzen und Gemeinwohl 23. Februar 2005 in Berlin

Nationaler Ethikrat

Einladung

Mittwoch · 23. Februar 2005 · 18:00 Uhr s.t. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Leibniz-Saal Markgrafenstraße 38 10117 Berlin-Mitte

Nationaler Ethikrat · Jägerstraße 22 /23 · D-10117 Berlin Telefon: +49/30/203 70-242 · Telefax: +49/30/203 70-252 · [email protected] · www.ethikrat.org

Forum Bioethik

Medizinische Forschung an einwilligungsunfähigen Menschen: Heilversuch oder Humanexperiment? Zwischen individuellem Nutzen und Gemeinwohl Vorträge und anschließende Diskussion Vorträge Prof. Dr. phil. Dr. med. Rolf D. Hirsch · Leiter der Abteilung für Gerontopsychiatrie/Gerontopsychiatrisches Zentrum an den Rheinischen Kliniken, Bonn Dr. med. Michael Kölch · Universitäts- und Poliklinik für Kinder- und Jugenspychiatrie/Psychotherapie, Ulm Dr. jur. Michael Pap · Rechtsanwalt für Medizinrecht, Karlsruhe

Moderation Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach · Mitglied des Nationalen Ethikrates

Medizinische Forschung am Menschen ist notwendig, um Erkenntnisse über Krankheitsursachen und -zusammenhänge zu gewinnen und therapeutische und diagnostische Verfahren zu entwickeln. Sie ist legitim, wenn sie hochrangige Forschungsziele verfolgt, die Probanden frei und informiert eingewilligt haben und ein Nutzen für sie zu erwarten ist. Kontrovers diskutiert wird medizinische Forschung an sog. einwilligungsunfähigen Menschen – Menschen, die Wesen, Bedeutung und Tragweite des Eingriffs sowie Risiken und Belastungen der Teilnahme an einem Forschungsprojekt nicht oder nur begrenzt erfassen, abwägen und beurteilen können (sog. Einsichtsunfähigkeit) und die nicht in der Lage sind, einen eigenen Willen dazu zu bilden und zu äußern – wie z. B. Menschen mit schwerer geistiger Behinderung, mit Demenzerkrankung und jüngere Kinder. Kontrovers ist die Diskussion

insbesondere dann, wenn keine Aussicht besteht, dass die Forschung diesen Probanden selbst zugute kommen wird. >> Welche medizinische Erforderlichkeit besteht, unbedingt an einwilligungsunfähigen Menschen zu forschen? >> Welche Forschungsinteressen gibt es, und in welchem Verhältnis stehen sie zur Heilaussicht für die Probanden? >> Ist sog. gruppennützige Forschung vertretbar, die keinen potenziellen Nutzen für die einwilligungsunfähigen Probanden selbst erwarten lässt? >> Welche Erfahrungen liegen vor, diese Menschen aufzuklären und zu informieren vor und während des Forschungsprozesses, um ihren Bedürfnissen und Empfindungen gerecht zu werden? >> Was muss getan werden, um die Persönlichkeitsrechte einwilligungsunfähiger Probanden zu schützen und ihr Wohl zu garantieren?

(Beginn: 18.01 Uhr) Prof. Dr. Regine Kollek (stellvertretende Vorsitzende des Nationalen Ethikrates): Guten Abend, meine Damen und Herren! Liebe Gäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf Sie zu unserem heutigen Forum Bioethik ganz herzlich begrüßen. Ich tue das natürlich auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen aus dem Nationalen Ethikrat, vor allem im Namen unseres Vorsitzenden, Herrn Simitis, der heute leider nicht dabei sein kann, was er sehr bedauert hat. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass wir auch heute wieder ein sehr interessantes Thema aufgegriffen haben. Darauf weist nicht nur die große Besucherzahl hin, sondern ich denke, das Thema „Forschung an einwilligungsunfähigen Personen“ ist latent eigentlich immer ein wichtiges Thema in der medizinethischen Diskussion gewesen. Das ist es jetzt in besonderer Weise geworden, nachdem das Arzneimittelgesetz novelliert worden ist und insbesondere § 41 die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personen in bestimmten Fällen gestattet. Aber ich will der Diskussion nicht vorgreifen. Ich möchte Sie, wie gesagt, nur ganz herzlich begrüßen, vor allem auch unsere Gäste: Herrn Professor Hirsch, Herrn Dr. Pap und Herrn Dr. Kölch, die die Reise nach Berlin gemacht haben, um uns ihre Perspektiven darzustellen und mit uns zu diskutieren. Ich gebe für die weitere Leitung und Moderation der Vorträge und der Diskussion heute Abend gerne an meine Kollegin Frau Professor Therese Neuer-Miebach weiter, die dann auch die Referenten vorstellen und die weitere Diskussion leiten wird. Ich begrüße Sie noch einmal ganz herzlich und wünsche uns allen einen produktiven Abend. Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Meine Damen und Herren, auch ich darf Sie zu unserem heutigen Forum Bioethik „Medizinische Forschung an einwilligungsunfähigen Menschen: Heilversuch oder Humanexperiment? - Zwischen individuellem Nutzen und Gemeinwohl“ alle ganz herzlich begrüßen. Mit diesem Titel ist der Bogen gespannt, den die heutige Veranstaltung schlagen will: Autonomie, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und zugleich medizinischer Fortschritt zum Wohl der Menschheit. Es geht dabei um individuelle Freiheit, um Zugehörigkeit und um gesellschaftliche Verantwortung. 1990 sagte der französische Philosoph Jean Bernard, das Humanexperiment sei doppeldeutig: einerseits moralisch notwendig und zugleich notwendigerweise unmoralisch. Wir haben mit dem Thema Fragestellungen zu erörtern wie: der Nachweis der Forschungsnotwendigkeit, die Legitimation durch Verfahren bzw. Forschungsmethoden, die Zumutbarkeit von Eingriffen zu Forschungszwecken 2

an Menschen, die Wesen, Bedeutung und Tragweite des Eingriffs nicht erkennen können, also so genannte einwilligungs- oder auch entscheidungsunfähige Menschen. Wir möchten uns heute Abend auf Eingriffe an erwachsenen Menschen konzentrieren, die dauerhaft oder über längere Zeit einwilligungsunfähig sind - etwa Menschen mit schwerer geistiger Behinderung, psychisch Kranke und demenzerkrankte Menschen, Menschen im Wachkoma und bewusstlose Menschen in der Notfallmedizin -, auf Eingriffe, die ihnen selbst nur potenziell oder gar nicht nützen, also so genannte gruppennützige und fremdnützige Forschung. Bei der Forschung kann es sich zum einen um klinische Forschung handeln, um die Entwicklung, Prüfung, Erprobung von Arzneimitteln, neuen Behandlungsformen oder Operationsmethoden, zum anderen um biomedizinische Grundlagenforschung, um das Erkennen von Verursachungs- und Entstehungszusammenhängen, um Trägerschaft von Erbkrankheiten, um Korrelationen von Risikofaktoren, wie Alzheimer und Downsyndrom, mit der Option, Diagnose und Therapie häufiger, aber auch seltener Erkrankungen vorzubringen. Zu betonen sind darüber hinaus pharmakogenetische Erkenntnisinteressen. Dabei entstehen ethische Probleme für einwilligungsunfähige Menschen, die ich nur anreißen kann. Es geht einmal um Teilhabe, Teilhabe dieser Menschen auch am therapeutisch-wissenschaftlichen Fortschritt. Es geht um Solidarität, Solidarität mit ähnlich Erkrankten, mit der Gesellschaft, die die personellen und finanziellen Ressourcen zur Erkennung und Behandlung von Krankheiten und langfristig Erkrankten zur Verfügung stellt, und - im Sinne eines Generationenvertrages; auch das wird diskutiert - mit den heute Pflegenden und sich für die Kranken Aufopfernden. Es geht aber auch um den Schutz dieser Menschen, die nicht oder nicht allein über ihr Leben entscheiden können, die nicht in Eingriffe einwilligen können. Beispielsweise ist es möglich, dass sie im Laufe einer Behandlung Angst bekommen, dass sie sich durch Gestik, Mimik äußern, die diejenigen, die sie behandeln oder die forschen wollen, nicht erkennen können, oder sich dagegen wehren. Gut zehn Jahre ist es her, dass der Entwurf der Biomedizinkonvention des Europarates heftige öffentliche Kontroversen ausgelöst hat, gerade auch wegen der Zulassung von Eingriffen an einwilligungsunfähigen Menschen. Die öffentliche Aufmerksamkeit hat beträchtlich nachgelassen. Das lautlose Passieren des 12. Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes Ende Juli 2004 ist ein Beleg dafür. Gruppen- bzw. fremdnützige Forschung an einwilligungsunfähigen Menschen ist kein Rand- und auch kein Randgruppenthema. Es handelt sich vielmehr um eine - wie ich meine - zentrale Facette des Spannungsverhältnisses zwischen individueller Selbstbestimmung und Forschungsfreiheit, Selbstbestimmung von einwilligungsunfähigen Menschen, Schutz dieser Menschen vor ÜberNationaler Ethikrat Forum Bioethik 23.02.2005

griffen und Sicherstellung ihrer Teilhabe am medizinwissenschaftlichen Fortschritt. Ziel der heutigen Veranstaltung ist es, Fragen zu formulieren und Argumente zu sammeln für die weitere ethische und rechtspolitische Debatte. Daher freue ich mich, unsere drei Referenten des heutigen Abends begrüßen zu können. Ich begrüße Sie in der Reihenfolge, in der Sie ihre Vorträge halten werden. Ich begrüße zunächst Herrn Professor Dr. phil. Dr. med. Rolf Hirsch. Er wird sich mit der Fragestellung befassen: Tatsächliche Forschungsnotwendigkeiten? Herr Professor Hirsch ist von seiner Ausbildung her Mediziner, Psychiater, hat Psychologie studiert. Seine Schwerpunkte sind derzeit gerontopsychiatrische Versorgungsforschung, Alterspsychotherapie. Herr Hirsch ist Chefarzt der Gerontopsychiatrie in den Rheinischen Landeskliniken, Bonn. Er befasst sich auch mit ethischen Fragestellungen in der Gerontopsychiatrie und - das will ich Ihnen nicht verheimlichen - auch mit Heiterkeit und Humor im Alter. Ich begrüße als zweiten Referenten des heutigen Abends Herrn Dr. Michael Kölch. Herr Kölch ist Humanmediziner und gleichzeitig Kinder- und Jugendpsychiater. Er arbeitet in der Universitätsklinik in Ulm und hat sich mit Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie befasst. Er ist von 1997 bis 2000 Mitglied der Ethikkommission des Universitätsklinikums Benjamin Franklin in Berlin gewesen. Seit 2001 ist er Mitglied in der Initiative „Kinder in klinischen Prüfungen“ und seit 2004 Kooperationsmitglied im PaedNet der Koordinierungszentren für Klinische Studien. Unter anderem ist er - zusammen mit Professor Fegert - auch an einem Forschungsprojekt beteiligt, das abgekürzt BASICCS heißt; das ist ein System von Information und Aufklärung von Kindern, Jugendlichen und Eltern im Rahmen von klinischen Studien. Er wird sich mit der Fragestellung befassen: Wie kann Einwilligungsfähigkeit/Einwilligungsunfähigkeit festgestellt werden? Wie läuft die Aufklärung einwilligungsunfähiger Probanden in der Praxis? Wie erfolgt die Verständigung mit ihnen? Als dritten Referenten darf ich Herrn Dr. Michael Pap begrüßen. Herr Pap ist Jurist. Er ist Partner in einer überörtlichen Sozietät in Karlsruhe. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit als Rechtsanwalt ist Medizinrecht. Er ist Mitglied des Vorstands der Intellectual Property Group von Eurojuris und in mehreren medizinrechtlichen Expertenkommissionen tätig. Seine Fragestellung ist die Rechtslage, die Rechtsentwicklung und die rechtspolitische Debatte, insbesondere auch vor dem Hintergrund des 12. Änderungsgesetzes zum Arzneimittelgesetz und der Auflegung des Zusatzprotokolls „Biomedizinische Forschung“ zur Konvention des Europarates. Zum Ablauf des heutigen Abends - diejenigen von Ihnen, die schon öfter an unseren Foren teilgenommen haben, kennen es -: Ich würde gerne, auch weil die Themen aufeinander aufbauen, zunächst die drei Referenten um ihre Vorträge bitten und dann in die Diskussion, in das Gespräch mit Ihnen einsteigen. Wir hoffen, dass wir die Nationaler Ethikrat Forum Bioethik 23.02.2005

vereinbarten Zeiten einigermaßen einhalten können; dann haben wir nachher die Möglichkeit, die Dinge, die Sie und uns gemeinsam bewegen, zusammen zu diskutieren. Ich bitte jetzt Herrn Hirsch, mit seinem Beitrag zu beginnen. Prof. Dr. Dr. Rolf D. Hirsch (Leiter der Abteilung für Gerontopsychiatrie/Gerontopsychiatrisches Zentrum an den Rheinischen Kliniken, Bonn): Sehr geehrte Frau Vorsitzende! Meine Damen und Herren! Liebe noch Einwilligungsfähige! Jede Behandlung eines Menschen geschieht im Rahmen einer Beziehung, die auf Vertrauen in einer geschützten Umgebung basiert. Nun gibt es derzeit viele Medikamente und nichtmedikamentöse Verfahren zur Linderung, Besserung oder Heilung einer Krankheit, nicht nur einer Krankheit, sondern eines kranken Menschen. Welche Behandlungsform, welche Dosierung wie lange und in welcher Kombination infrage kommt, ist allerdings individuell verschieden. Nicht umsonst heißt es: Der Patient steht im Mittelpunkt. Grundsätzlich muss ein Patient einer Behandlung zustimmen und über deren Art aufgeklärt werden. Natürlich kann ein Patient eine Behandlung auch ablehnen. Mag es auch viele Leitlinien und Therapiestandards für Krankheiten geben, so können diese patientenorientierte Überlegungen nicht ersetzen. Ob zum Beispiel ein Medikament einem Patienten wirklich hilft und ob dessen Nebenwirkungen nicht gravierender sind als die angestrebte Wirkung, kann letztendlich erst bei der Behandlung selbst festgestellt werden. Jeder Heilversuch hat daher zumindest auch Aspekte von einem Experiment. Das gilt besonders für psychisch kranke Menschen. Da die Individualität eines Menschen mit dem Lebensalter zunimmt, muss die Behandlung eines alten Menschen von besonderer therapeutischer Sensibilität geprägt sein. Kann ein Patient in seine Heilbehandlung nicht mehr einwilligen, bedarf es - außer im akuten Notfall - nicht nur eines diesbezüglichen rechtlichen Vertreters. Grundlegend für ärztliches Handeln sind die bekannten Voraussetzungen: einmal das Wohlergehen des Patienten, das Fürsorgegebot des Arztes, das Nichtschadensgebot, das Gebot der informierten Einwilligung und das Selbstbestimmungsprinzip. Dieses ärztliche Handeln darf durch die zunehmende Kaskadenverantwortlichkeit nicht untergraben werden. Verantwortlich ist jeder Arzt für sein Handeln. Vorschriften und Anordnungen von Vorgesetzten - manche Gesetze auch - ersetzen kein Gewissen. Es wäre absurd, etwa um ärztliches Forschen individuenunabhängig dem Zeittrend entsprechend zu ermöglichen, diesbezügliche Gesetze zu schaffen, da Forschung doch schließlich jedem zugute kommen würde. Dazu kurz ein Beispiel. Ein mittelschwer an Alzheimer erkrankter Patient bedarf nach Ansicht eines Arztes eines Antidementivums. Da er in diesem Stadium oft als nicht einwilligungsfähig einzustufen ist, wird zu seinem Schutz, wenn keine Vor3

sorgevollmacht vorliegt, eine rechtliche Betreuung eingerichtet, um diese Behandlung, von der man sich Erfolg verspricht, durchzuführen. Hält der Betreuer diese auch für notwendig, wehrt sich aber ein Patient gegen die Einnahme eines Medikaments, so kann ihm dieses nicht einfach per Zwang gegeben werden. Wo bleibt seine Autonomie? Ist es wirklich von unabdingbarem Nutzen? Da mein Arbeitsfeld die Gerontopsychiatrie ist, möchte ich mich pars pro toto zumindest bei den Beispielen auf diesen Bereich beschränken und einige Aspekte - ohne zu große Vertiefung in die rechtliche Problematik - aufgreifen. Der alte Mensch ist gekennzeichnet durch Besonderheiten, die es bei jeder Intervention zu berücksichtigen gilt, zum Beispiel Neigung zur Multimorbidität, veränderte Pharmakokinetik und -dynamik, Zunahme der Vulnerabilitätsfaktoren bei Abnahme von Unterstützungsfaktoren. Von entscheidender Bedeutung ist auch, dass Altern ein mehrdimensionaler dynamischer Prozess ist und die somatischen, psychischen und sozialen Kompetenzen alter Menschen intra- und interindividuell sehr unterschiedlich sind. Schwierig ist häufig auch eine Abgrenzung des normalen Alterungsprozesses von Krankheitsprozessen. Kognitive Veränderungen können langsam und schleichend sein und damit zum Beispiel auch die Beurteilung der Geschäftsfähigkeit oder Einwilligungsfähigkeit erschweren. Allerdings ist ein 80-jähriger Mensch nicht per se als einwilligungsunfähig anzusehen. Neben depressiven Erkrankungen sind Demenzerkrankungen, insbesondere die Alzheimer-Krankheit, mit Abstand die häufigsten psychischen Störungen im Alter. Sie sind eine der häufigsten und folgenreichsten psychiatrischen Erkrankungen im höheren Lebensalter, die neben den außergewöhnlichen Belastungen für Betroffene und Pflegende mit hohen gesellschaftlichen Kosten verbunden sind. Wird Altern oft schon als Krankheit empfunden, so besteht auch das Vorurteil, dass Altern mit Demenz einhergeht. Folge davon ist ein häufig anzutreffender diagnostischer und therapeutischer Nihilismus. So ist trotz derzeitigem Wissensstand davon auszugehen, dass sowohl eine adäquate Diagnostik wie auch Behandlung eines Menschen mit einer Demenz in Deutschland eher Seltenheitswert haben. Die Zahl der Heimunterbringungen dagegen steigt erheblich. Das heißt, das, was derzeit medizinisch notwendig und auch noch Kosten sparend ist, kommt noch nicht einmal einwilligungsfähigen Menschen in Deutschland zugute. Weder in der Grundlagenforschung noch in der interventionsgeleiteten Forschung werden derzeit in Deutschland Untersuchungen - auch nicht in dem vom Bundesforschungsministerium unterstützten Forschungsprojekt „Demenznetzwerk“ - durchgeführt, die nichtorganische Faktoren berücksichtigen oder einen ganzheitlich orientierten Ansatz einbeziehen. Es stellt sich die Frage nach dem Nutzen. Vielfältige Überlegungen zum Problem der Aufklärung und Einwilligung zur biologischen Forschung liegen der4

zeit vor. Hinzuweisen ist darauf, dass eine Aufklärung und Einwilligung zu diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen auch heute noch eher formal und weniger inhaltlich durchgeführt werden. Zu wenig wird oft berücksichtigt, dass das Aufnahme- und Beurteilungsvermögen eines Patienten schon wegen der Beziehungsasymmetrie Arzt-Patient beeinträchtigt ist. Ein Patient leidet, ist krank und soll in diesem Zustand erfassen, welche diagnostischen Maßnahmen und welche Behandlungsmöglichkeiten mit welchen Vor- und Nachteilen behaftet, für ihn sinnvoll und unbedingt notwendig sind. Wer klärt üblicherweise in Kliniken auf? Meist sind es Assistenzärzte, die selbst noch nicht sehr erfahren sind. Bekannt ist auch, dass ein Arzt hierfür wenig oder nur beschränkt Zeit hat, hierfür kaum geschult ist und dennoch am besten weiß, was für einen Patienten notwendig ist. Wer traut sich, einem Chefarzt gegenüber zu sagen, dass er mit der Behandlung nicht einverstanden ist? Liegen auch mehr oder weniger objektive Kriterien zur Einwilligungsfähigkeit vor, so können diese nur zur besseren Urteilsbildung helfen, nicht aber Missbrauch verhindern. Schriftliche Einverständniserklärungen können hilfreich sein, werden aber von vielen Patienten nicht verstanden. Ähnliches gilt auch für die rechtlichen Betreuer. Schwierig ist die Aufklärung über Forschungsmethoden, Eingriffe oder Verabreichung von Pharmaka, die erprobt werden sollen. Dies so zu besprechen, dass der Betroffene mit Sicherheit deren Auswirkungen verstanden hat, bedarf einer hohen Sensibilität, einer eigentlich nur durch den therapeutischen Prozess zu erreichenden vertrauensvollen Beziehung und eines hohen medizinischen Ethos der an der Forschung beteiligten Wissenschaftler. Utopisch wäre, von einer wertfreien Forschung sprechen zu können. Aus einer Klinik ist zu hören: „Bei mir gibt es keine Verweigerer.“ Ist eine Demenzerkrankung weiter fortgeschritten und daher ein Patient nicht mehr einwilligungsfähig, so werden bisher unter Einhaltung diesbezüglicher Gesetze und Vorgaben - Einwilligung des rechtlichen Betreuers auch therapeutische Interventionen durchgeführt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass auch Forschungsinterventionen, deren Ergebnisse für die Gesundheit des Betroffenen von unmittelbarem Nutzen sind oder sein können - Heilungsversuch -, vertretbar sind. Minimale Risiken und Belastungen von Forschungseingriffen bei Demenzkranken sind kritisch zu betrachten. Jede Fremdeinwirkung kann zu einer akuten Eskalation mit weitreichenden Folgen führen. Zudem bestimmen Dritte, was hierunter, beeinflusst durch den Aspekt, objektive Forschungsvariabeln zu erhalten, zu verstehen ist. Welche diagnostischen Maßnahmen müssen unbedingt durchgeführt werden? Welche müssen unter Umständen erzwungen werden? Ist eine Liquoruntersuchung wirklich notwendig? Wer macht sich schon klar, dass selbst eine ComputertomogrammUntersuchung mit Panik verbunden sein kann? Wer trägt da die Verantwortung? Der Forschungsleiter? Er sieht den Probanden zum Teil überhaupt nicht. Nationaler Ethikrat Forum Bioethik 23.02.2005

So soll zum Beispiel bei einem Demenzkranken eine Blutprobe entnommen werden. Er wird in ein Untersuchungszimmer geführt, zum Setzen und zum Freimachen eines Arms aufgefordert. Verkennt der Kranke die Situation, geschieht dies unter Zeitdruck, durch eine fremde Person oder ist er anderweitig irritiert, kann sich die Situation so zuspitzen, dass Gewalttätigkeiten auftreten können. Wird die Situation milieugerecht vorbereitet, auch mit der Möglichkeit der Wiederholung nach einiger Zeit, dann könnte sie erfolgreich sein. Ist zum Beispiel ein Sedierungsmittel vor dem Eingriff ärztlich gerechtfertigt? Wie hoch ist der Nutzen oder der Erkenntniswert dieses Eingriffs oder anderer Eingriffe wirklich? Als minimales Risiko der Belastung werden zum Beispiel Blut-, Speichel- oder Urinproben, Röntgenuntersuchungen, Elektroenzephalogramm, Liquorentnahme und Ähnliches sowie psychologische Testverfahren angesehen. Zu berücksichtigen ist, dass es auch bei einzelnen Aktivitäten, wie Waschen, Anziehen, Rasieren oder Ähnliches, großer Geduld und eines sehr differenzierten Einfühlungsvermögens der Person bedarf, verbunden mit möglichen Zeitverschiebungen, um eine Intervention risikoarm durchführen zu können. Diskutabel ist zum Beispiel, ob Fremdbeurteilungen durchgeführt werden können. Auch die Frage nach der Obduktion sollte nicht grundsätzlich verneint werden. Diese werden in Deutschland insgesamt noch viel zu selten durchgeführt. Todesursachen sind eigentlich viel zu wenig bekannt. Da die Interessen des Patienten stets über denen der Wissenschaft und der Gesellschaft zu stehen haben, dürfte eine fremdnützige Forschung bei einwilligungsunfähigen Patienten kaum zu vertreten sein. Diese Betroffenen so zu verklausulieren, als ob es eine Art Heilversuch wäre, zumindest Erkenntnisse für Dritte gewonnen werden könnten, kann nicht toleriert werden. Die in der Forschung eher opportunistische Haltung müsste einer sachund fachgerechten im Sinne der Wahrheitsfindung weichen. Andererseits ist es in Fachkreisen doch sehr strittig, dass nur so neue Erkenntnisse gewonnen werden könnten. Der bisherige Erkenntnisgewinn über die Demenz ist derzeit sicherlich nicht gering. Dieser dürfte bisher wohl kaum nur über fremdnützige Forschung gewonnen worden sein. Gibt es auch derzeit Kontrollmechanismen - medizinischer Dienst der Krankenversicherung, im Heimbereich Heimaufsicht, manche Gerichte, aber auch die Ethikkommissionen -, so ist deren Durchsetzungskraft, zum Teil auch -wille, kaum ausreichend, um einem alten, nicht mehr einwilligungsfähigen Menschen die im Grundgesetz verbürgten Rechte auch zu gewähren. Zudem sind Ethikkommissionen, deren Wert nicht unumstritten ist, meist nur mit Wissenschaftlern besetzt. Manche Interessenkollision wird kaum vermeidbar sein. Ohne das Hinzuziehen von Praktikern und Betroffenen-

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vertretern sollte daher heute keine Ethikkommission überhaupt mehr arbeiten können. Derzeitige Forschungsmethoden sind zum Teil noch nicht genügend ausgeschöpft. Wenn jemand fremdnützige Forschung an Demenzkranken befürwortet, so müsste er erst nachweisen, dass hierdurch neue, wichtige Erkenntnisse erworben werden können und dass diese auch nur auf diese Weise zu bekommen sind. Da ein rechtlicher Betreuer im Interesse des Betreuten handeln soll und seine Aufgabenbereiche relativ eng umrissen sind, kann er befugt sein, in eine Forschungsmaßnahme, die einen Heilversuch intendiert, einzuwilligen. Bestrebungen, das Betreuungsrecht so zu verändern, dass ein rechtlicher Betreuer auch in eine fremdnützige Forschung einwilligen kann, würde dem Sinn des Betreuungsrechts völlig widersprechen. Dieses wurde für den zu Betreuenden geschaffen und nicht für Dritte, die Nutzen aus einem Krankenzustand ziehen möchten. Dem Missbrauch wäre hier Tür und Tor geöffnet. Durch intensive Aufklärungsmaßnahmen der Gesellschaft könnte ein Klima erzeugt werden, dass erheblich mehr ältere Menschen daran interessiert wären, freiwillig einen Beitrag zur weiteren Erforschung der Demenzkranken zu leisten. Angesprochen wird hierbei auch, dass bereits in Zeiten der Einwilligungsfähigkeit antizipatorische Willenserklärungen - das heißt, Vorabeinwilligungen - abgegeben werden können. Wird derzeit auch betont, dass so genannte Vorsorgevollmachten nicht nur einmalig, sondern im Laufe der Jahre wiederholt abgegeben werden sollen, so ist dies für eine Einwilligung in Forschungsvorhaben, insbesondere fremdnützige, nicht unproblematisch. Die einzelnen Verfahren, Forschungsinteressen und -inhalte verändern sich immer wieder, sodass Willenserklärungen nur nach dem Istzustand möglich sind. Hierfür müsste es dementsprechende Vorgaben geben, um demjenigen, der eine diesbezügliche Vorsorgevollmacht abgegeben hat, auch einen größtmöglichen Schutz geben zu können. Unabhängig davon müsste es realisierbar sein, dass ein Forschungsvorhaben, wenn sich der Proband gegen dieses wehrt oder wenn es unerwünschte Wirkungen hat, jederzeit abzubrechen. Ist dies auch vorgesehen, so ist die Überprüfbarkeit schwierig und ein Missbrauch möglich. Es ist deshalb anzuregen, dass eine Ethikkommission jederzeit - auch während des Verlaufs eines Forschungsvorhabens ad hoc - eine Kontrollfunktion ausüben und Einsicht in alle Unterlagen bekommen sollte, so dass sie zum Beispiel durchaus mit einzelnen Probanden sprechen können sollte. Ich komme zum Schluss. In einer Zeit der immer weiteren Verrechtlichung, Bürokratisierung und zunehmenden Aufteilung von Verantwortlichkeiten im Gesundheitswesen und in der Forschung ist es umso wichtiger, ethische Fragen an den Anfang wissenschaftlichen Denkens zu stellen. Sie fördern gute Forschung. Keine noch so differenzierte Forschung kann den kranken Menschen in seiner Ganzheit erfassen. Umso wichtiger ist es, die zu

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erkennenden Teilaspekte zu akzeptieren und auf derzeit angeblich unbedingt notwendige Schritte auch verzichten zu können. Die Geschichte lehrt uns, dass manche zunächst unabdingbar notwendig erscheinende Forschungsvorhaben sich als unnötig herausstellen. Letztendlich wird Forschung nicht um der Forschung willen, sondern zur Verbesserung der Lebensqualität eines Menschen und damit letztlich von uns allen, der Gesellschaft, durchgeführt. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall) Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Danke schön, Herr Hirsch. - Ich bitte nun Herrn Kölch ans Mikrofon. Dr. Michael Kölch (Universitäts- und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Ulm): Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst danke ich dem Ethikrat herzlich für die Einladung zu diesem - wie ich finde - wichtigen Thema. Wir wären alle sehr froh, wenn wir mit nicht einwilligungsfähigen Patienten nicht forschen müssten. Es schiene auch - zumindest vordergründig - ethisch zu sein, wenn man mit diesen Menschen nicht forschen würde. Ich denke aber - darauf will ich zu Beginn kurz eingehen -, es ist nur scheinbar so, dass das ethisch wäre. Warum? Die Medizin ist keine Naturwissenschaft und keine Technik, auch wenn manche Menschen es so betreiben mögen, sondern es ist eine Wissenschaft oder Disziplin, die sich mit dem Menschen beschäftigt, der eben sehr individuell ist. So sind Forschungsergebnisse, die an einwilligungsfähigen Probanden gewonnen worden sind, nicht unbedingt auf nicht einwilligungsfähige Probanden übertragbar. Ich bin Kinder- und Jugendpsychiater. Ich möchte Ihnen am Anfang einige Beispiele aus meinem Bereich darlegen, weil ich davon am meisten verstehe. Der Stoffwechsel von Kindern zum Beispiel ist ein eklatant anderer als der von Erwachsenen. Wir brauchen bei Kindern teilweise vierfach höhere Dosierungen, als sie bei Erwachsenen benötigt werden, zum Beispiel bei herzinsuffizienten Neugeborenen. Das sind Dosierungen, die beim Erwachsenen schon im toxischen Bereich wären. Wir wissen über den Stoffwechsel von Kindern oder darüber, wie die einzelnen Medikamente wirklich verstoffwechselt werden, relativ wenig. Da kann man das, was man von erwachsenen Patienten weiß, nicht übertragen. Zweites Beispiel. Die Nebenwirkungen von Medikamentensind zum Teil sehr verschieden. Es gibt MagenDarm-Mittel, die man bei Magen-Darm-Grippen einnehmen kann. Das ist bei Erwachsenen völlig unproblematisch. Wenn man diese Mittel Kindern, die unter sieben oder acht Jahre alt sind, gibt, kommt es zu massiven 6

Nebenwirkungen. Es kommt zu Dystonien, Dyskinesien, also Bewegungsstörungen, die wir bei Erwachsenen so nicht beobachten. Das, was ich jetzt von Kindern berichtet habe, kann man auf andere Bereiche, etwa auf Patienten mit Hirnschädigungen, auf ältere Patienten - da weiß Herr Professor Hirsch mehr als ich - übertragen. Wenn wir an nicht einwilligungsfähigen Patienten nicht forschen, dann entsteht das ethische Dilemma, dass sie medizinisch schlechter versorgt werden als die Patienten, die einwilligungsfähig sind. Das ist der Punkt, der immer wieder zu den bekannten Diskussionen um die konkurrierenden Rechte, auch was Fürsorge und Schutz angeht, geführt hat. Ich will im Rahmen meines Vortrags die Entwicklung des Informed-consent-Konzeptes und die Einwilligungsfähigkeit bzw. Nichteinwilligungsfähigkeit kurz skizzieren, auf die Inhalte dieses Konzeptes eingehen, und dann Gruppen benennen, die - gemeinhin zumindest - als nicht einwilligungsfähig gelten. Dazu stelle ich Ergebnisse von Forschungen vor, die sich mit der Einwilligungsfähigkeit, auch mit den Bedürfnissen von Patienten beschäftigt haben, und zum Schluss noch einige Kritikpunkte sowie die Grenzen des Informed-consent-Paradigmas aufzeigen. Die Entwicklung zum Schutz von Patienten hat eigentlich immer dann begonnen, wenn es Verstöße gegeben hat. Das war sehr früh so. Das war 1931 so, als es die ersten Reichsrichtlinien vom Reichsinnenministerium gegeben hat. Vorausgegangen war der Lübecker Impfskandal, im Rahmen dessen man Minderjährige, Fürsorgezöglinge, Arbeiterkinder, geimpft hat und es dann in der Folge zu Todesfällen gekommen ist. Da hatte man nicht darüber informiert und auch den Eltern nicht Bescheid darüber gegeben, was man da eigentlich macht. Es ist also heimlich geschehen. Wirklich akzentuiert wurde das Problem natürlich durch die Verbrechen des Nationalsozialismus, die dann im Gefolge der Nürnberger Ärzteprozesse zum so genannten Nürnberger Kodex von 1947 geführt haben, der vorgeschrieben hat, dass man Menschen nicht gegen ihren Willen in Forschungsprojekte involvieren darf. Es folgte dann der Ärztebund mit seiner Deklaration von Helsinki, die inzwischen vielfach revidiert ist, erstmalig 1964, in der Kriterien aufgestellt worden sind einerseits zu der Unterscheidung, die auch heute Titel ist - Humanexperiment/Heilversuch -, andererseits aber auch dazu, unter welchen Kautelen Patienten zu „Forschungsobjekten“ - ich sage das einmal so böse - gemacht werden dürfen. Es gibt eine ganze Reihe von rechtlichen Regelungen. Die USA waren hier mit ihren Gesetzesinitiativen und Regulationen teilweise sehr führend. Die bekannteste, was die Einwilligungsfähigkeit und die Kriterien zum Einschluss in Forschungsprojekte angeht, ist sicherlich der so genannte Belmont-Report aus den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts, der vier Kriterien benennt, der Nationaler Ethikrat Forum Bioethik 23.02.2005

Forschung genügen muss, um ethisch gerechtfertigt zu sein: respect for persons, beneficence, justice and information. Letztlich beziehen sich alle Gesetzesregulative immer auf diese vier Kernpunkte. Auch die nun mit am präsentesten, die EU-Direktive aus dem Jahr 2001 und die darauf fußende 12. AMG-Novelle, beinhalten letztlich diese vier Punkte. Ich will auf die AMG-Novelle nur insofern eingehen, als ich darauf hinweisen möchte, dass sie noch einmal ganz klar den Aspekt benennt, dass Patienten aufgeklärt werden müssen. Sie hat ferner die Neuerung gebracht, dass auch an nicht einwilligungsfähigen Patienten geforscht werden darf. Hervorzuheben ist vor allem, dass für Minderjährige zum ersten Mal der so genannte Gruppennutzen in dem Sinne eingeführt worden ist, dass die Forschung nicht unmittelbar dem kranken Kind nutzen muss, sondern der Gruppe, der es angehört, nutzen sollte. Wenn man sich die gesetzlichen Regelungen anschaut, könnte man denken, dass, was Aufklärung und Einwilligung angeht, eigentlich alles relativ klar ist. Es wird definiert, ein Patient soll einwilligungsfähig sein. Wenn man aber einmal etwas dahinter schaut, dann stellt man fest, dass eigentlich relativ wenig klar ist. Denn was ist Einwilligungsfähigkeit? Was ist Nichteinwilligungsfähigkeit? International durchgesetzt hat sich das so genannte Informed-consent-Paradigma, das aus mehreren Elementen besteht: Einmal soll ein Patient einwilligungsfähig sein. Er soll Informationen vermittelt bekommen, und er soll diese Informationen verstehen. Er soll eine freie Entscheidung treffen können, und er soll in eine konkrete medizinische Maßnahme einwilligen. Wenn man das betrachtet, dann sieht man, es ist nicht etwas, was der Patient allein tun muss, sondern es werden auch Anforderungen an den Arzt gestellt. Er muss Informationen vermitteln. Ohne Informationsvermittlung kann der Patient keine Information verstehen und er kann folglich auch keine Entscheidung treffen, geschweige denn eine freie. Wenn man sich diese Informed-consent-Elemente anschaut, dann wird auch klar, dass sie relativ schwierig zu operationalisieren sind. Was ist denn unter Einwilligungsfähigkeit genau zu verstehen? Was genau ist eine freie Entscheidung? Grisso und Appelbaum haben versucht, es etwas zu operationalisieren. Sie haben die Einwilligungsfähigkeit an den Kriterien festgemacht, ob man die Fähigkeit besitzt, eine Wahl für oder gegen eine Behandlung zu treffen, ob man relevante Informationen versteht, ob man die Fähigkeit besitzt, mit diesen Informationen rational umzugehen und diese auch rational zu verarbeiten, und ob man die Grundzüge der Einwilligungssituation erkennt, also erkennt, dass man sich in einer Situation befindet, in der man einwilligt, in der man auch Konsequenzen ab-

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schätzen kann und diese Konsequenzen dann eben auch trägt. Wenn man sich fragt, wie das überprüft werden soll, so muss man feststellen: Es gibt keinen Test, das zu überprüfen, der das wirklich leicht, einfach und fasslich leisten würde. - Was muss man also tun? Man muss anhand der genannten Kriterien dem Patienten erst einmal eine Information strukturiert vermitteln. Man muss dann überprüfen, ob der Patient diese Information verstanden hat. Das zeigt sich meistens an dem so genannten Recall, also daran, ob er diese Information wieder benennen kann. Dann muss man überprüfen, ob er für sich Schlussfolgerungen aus dieser Information zieht, ob er also zum Beispiel zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten, die sich ihm bieten, abwägen kann, ob er über direkte Konsequenzen abwägen kann, die die Entscheidung, die er dann treffen würde, für ihn - oder, ganz pragmatisch - für das alltägliche Leben hat. Was heißt es für ihn, wenn er an einer Studie teilnehmen möchte? Weiß er, dass er zehn Wochen lang einmal in der Woche in die Klinik fahren muss? Weiß er, dass er deswegen zum Beispiel bestimmte soziale Kontakte nicht mehr pflegen kann, weil er einen halben Tag in der Klinik verbringen muss? Das sind alles Punkte, die man letztlich überprüfen muss. Man muss auch überprüfen, ob der Patient versteht, dass es sich um ein Forschungsprojekt handelt, dass es die primäre Intention dieses Forschungsprojektes ist, Forschungsergebnisse zu generieren und nicht unbedingt, die beste individuelle Versorgung zu leisten. Alles das muss man im Einzelnen überprüfen. Es gibt dazu Entwicklungen, wie das MacArthur-CompetenceAssessment-Tool. Das ist ein semistrukturiertes, also ein halbstrukturiertes Interview, im Rahmen dessen alle diese Kriterien abgeprüft werden. Aber es gibt eben nicht wirklich irgendeinen Test, bei dem ein Cutt-Off-Wert herauskommen würde, aufgrund dessen man sagen könnte: Jawohl, einwilligungsfähig oder nicht einwilligungsfähig. Wenn wir uns die Gruppen noch einmal ansehen: Wer gilt denn als nicht einwilligungsfähig? - Nun kann man das natürlich negativ aus dem Vorherigen ableiten, also alle Menschen, die keine Fähigkeiten haben, die Wahl für oder gegen eine Behandlung zu treffen, die relevante Informationen nicht verstehen, die nicht die Fähigkeit besitzen, mit diesen Informationen rational umzugehen, und die die Grundzüge der Einwilligungssituation nicht erkennen. Ich möchte da drei Gruppen bilden. Die erste Gruppe, die ich benennen möchte, zeichnet sich dadurch aus, dass sie permanent eines oder mehrere Kriterien der Einwilligungsfähigkeit nicht erfüllt. Da wären zum Beispiel geistig behinderte Menschen zu nennen, die so stark geistig behindert sind, dass sie Informationen nicht verstehen können, und bei denen das ein dauerhafter Zustand ist. Die zweite Gruppe besteht aus solchen Menschen, die die Fähigkeit zum informed consent situativ nicht

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besitzen, wie es zum Beispiel bei Intensivpatienten der Fall ist, die akut durch die Erkrankung die Einwilligungsfähigkeit nicht besitzen, die aber durch die Besserung der Krankheit - nach ein paar Tagen zum Beispiel - wieder voll als einwilligungsfähig gelten würden. So ist es übrigens auch bei vielen psychiatrischen Patienten, die akut in einem schizophrenen Schub sind und die nach Besserung der Krankheit wieder die Kompetenzen zur Einwilligung erreichen. Es gibt als dritte Gruppe oder als Gruppen jene Patienten, die entweder sukzessive die Einwilligungsfähigkeit erreichen oder sie verlieren, deren Kompetenzen also entweder immer weiter anwachsen, die zunehmend mehr Fähigkeiten zur Einwilligung erreichen oder sie immer mehr verlieren, wie dies bei heranwachsenden minderjährigen Patienten der Fall ist, die sukzessive mehr Kompetenzen - kognitiv, emotional - erreichen, oder - im Verlustfall - bei Demenzkranken, die immer mehr die Fähigkeit zur Einwilligung verlieren. Wenn man sich die Gruppen der nicht einwilligungsfähigen Patienten ansieht, dann stellt man fest, dass man eine sehr inhomogene Gruppe vor sich hat, worunter die 17-jährige Patientin ebenso fällt wie der 80-jährige Demenzkranke oder der akut am Herzinfarkt Laborierende. Die Forschung, die gemacht worden ist, um zu untersuchen, was fraglich nicht einwilligungsfähige Patienten tatsächlich verstehen, welches die Punkte sind, die sie zu nicht einwilligungsfähigen Patienten machen und wie es sich dann situativ mit diesen verhält, zeigt, dass das Ganze sehr kompliziert ist. Grisso und Appelbaum haben in den 90er-Jahren in den USA Forschung mit vier Gruppen gemacht, nämlich mit depressiven Patienten, mit schizophrenen Patienten, mit an Angina Pectoris leidenden Patienten und mit einer gesunden Kontrollgruppe. Sie haben an diesen die Kriterien des informed consent examiniert, haben geprüft, wie weit die Gruppen diese erfüllen. Ergebnis war, dass immerhin 4 % der Gesunden bzw. jener Menschen, bei denen überhaupt nicht zur Diskussion stand, ob sie einwilligungsfähig sind oder nicht, die Kriterien nicht erfüllt haben. Bei den herzkranken Patienten waren es immerhin fast 15 %. Bei den Schizophrenen, bei denen man denken würde, dass der Prozentsatz viel höher ist, haben ungefähr 50 % die Einwilligungskriterien nicht erfüllt. Festgestellt worden ist aber auch Folgendes: Bei einer Wiederholung der Untersuchung einige Tage später hatte sich zum Beispiel bei schizophrenen Patienten mit Besserung der Erkrankung ein deutlicher Kompetenzzuwachs hinsichtlich der Einwilligungsfähigkeit ergeben. Auch wenn die Minderjährigen heute nicht das Hauptthema oder vielleicht nur ein Randthema sind, möchte ich - denn die Untersuchung habe ich selbst gemacht - ein bisschen darauf eingehen, wie es sich bei Minderjährigen verhält.

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Wir haben Jungen im Alter von 7 bis 12 Jahren und von 9 bis 15 Jahren untersucht, die unter dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom gelitten haben oder leiden und haben an diesen und an ihren Eltern die Informedconsent-Kriterien überprüft. Was haben wir festgestellt? Das Informationsverständnis, das Verständnis hinsichtlich der Fragen: „Was passiert in der Studie? Welche Auswirkungen hat das für meinen Alltag? Wie häufig muss ich kommen? Wie lange dauert das?“, war bei den minderjährigen Patienten sehr gut. Sie haben auch das Prinzip der Freiwilligkeit verstanden. Sie haben sehr wohl sagen können: „Wenn ich nicht mehr mag, dann muss ich auch nicht mehr kommen. Dann behandelst du mich trotzdem weiter.“ Nicht verstanden haben sie, dass es primär um Forschung und nicht unbedingt darum ging, sie individuell am besten zu behandeln, was natürlich bei Minderjährigen schwierig ist. Auch in dem alten Arzneimittelgesetz stand drin, dass der Minderjährige zumindest einen potenziellen Nutzen haben muss. Ich denke auch, dass eine saubere Trennung von Heilversuch und Humanexperiment nicht machbar ist; denn wenn wir ehrlich sind, ist jeder Heilversuch ein Humanexperiment. Ich möchte mich insoweit Herrn Hirsch anschließen. Sonst wäre es ja noch unethischer: Wenn wir wüssten, dass es heilt, müssten wir es gar nicht erst versuchen. Um noch einmal auf das Beispiel zurückzukommen: Mehr als zwei Drittel der Eltern haben den Unterschied, dass es nicht primär um die individuell beste Behandlung gegangen ist, auch nicht verstanden. Insofern denke ich, muss man insgesamt die Informed-consent-Kriterien bzw. das, was daraus gemacht wird, kritisch sehen. Ich möchte nun noch einige Punkte zur Erweiterung des Informed-consent-Paradigmas anbringen. Das Informed-consent-Paradigma ist, denke ich, hilfreich. Festzustellen ist aber, dass Einwilligungsfähigkeit kein statischer Zustand, keine statische Fähigkeit ist, die man besitzt, sondern dass es etwas Situatives ist und dass auch Nichteinwilligungsfähigkeit etwas Situatives ist und nicht etwas, was man dauerhaft hat und was für jede Situation gilt. Es kann durchaus sein, dass jemand für bestimmte Situationen oder für bestimmte Entscheidungen nicht entscheidungsfähig ist, für andere Situationen aber durchaus. Es gibt, was die Erweiterung dieses Konzepts angeht, einen relationalen Ansatz und anderes, was genau dieser Situation Rechnung trägt, nämlich dass es Entscheidungssituationen mit einem minimalen Risiko gibt, in denen auch jemand, der ansonsten vielleicht eher als nicht entscheidungsfähig gilt, eine Entscheidung treffen kann, während man zum Beispiel bei hoch risikobelasteten Eingriffen - sei es in der Behandlung, sei es in der Forschung - viel höhere Kriterien anlegen muss, damit jemand als einwilligungsfähig gilt. Ein weiterer Punkt ist: Einwilligung ist keine Sache, die unilateral vonstatten geht, sondern es ist ein Prozess, Nationaler Ethikrat Forum Bioethik 23.02.2005

und zwar ein Prozess, an dem viele beteiligt sind. Das ist natürlich einmal der Patient selbst. Aber es ist eben nicht nur der Patient, sondern auch der Arzt mit dabei. Es ist, gerade bei den Patienten, bei denen die Tendenz hin zur Nichteinwilligungsfähigkeit geht, das Umfeld, bei Kindern sind es die Sorgeberechtigten, bei Erwachsenen der Partner, die Familie, die Kinder. Das reine Informed-consent-Paradigma vernachlässigt diess meiner Ansicht nach, weil es eben von der freien Entscheidung eines Individuums ausgeht, diesen sehr autonomiebasierten bzw. autonomiezentrierten Ansatz hat. Tatsächlich ist es aber so, dass sehr viele andere Faktoren hineinspielen, Beziehungsaspekte etwa. Ob der Patient den Arzt, der ihn fragt, ob er an etwas teilnimmt, seit 20 Jahren kennt oder ob es irgendein Arzt in einem Großklinikum ist, den der Patient zum ersten Mal sieht, ist ein eklatanter Unterschied, der Einfluss darauf hat, ob der Patient in eine Untersuchung einwilligt oder nicht. Auch die Situation spielt eine Rolle. Wenn der Patient durch seine Erkrankung akut gefährdet ist, wenn er Angst hat, wird er sich ganz anders entscheiden, als wenn er das nüchtern betrachten kann und vielleicht wenig tangiert durch die Erkrankung entscheiden kann, ob er an einer Behandlung oder an einer klinischen Studie oder Untersuchung teilnimmt. Das alles berücksichtigt letztlich das Informedconsent-Paradigma nicht wirklich. Um diese Aspekte müsste man es eigentlich erweitern, vor allem auch unter dem Gesichtspunkt der Partizipation. Um noch einmal auf die Minderjährigen zurückzukommen: Minderjährige werden nie wirklich einwilligungsfähig sein. Das ist ganz klar; da gibt es gesetzliche Regelungen. Das ist auch gut so. Aber deswegen darf ihnen nicht das Recht abgesprochen werden, erst einmal an der Entscheidung zu partizipieren und aufgeklärt und informiert zu werden. Deswegen muss man auch Patienten, die nicht einwilligungsfähig sind, mindestens ebenso gut informieren und aufklären. Zum Schluss noch die Botschaft - auch insoweit schließe ich mich Herrn Hirsch an -: Man sollte sich davor hüten zu glauben, dass man das, was juristisch und auch in Gesetzestexten definiert wird - also Einwilligungsfähigkeit, Zustimmungsfähigkeit und solche Dinge -, einfach testen kann. Es wird nie einen Test geben, der die Einwilligungsfähigkeit einfach feststellt, sondern es wird immer in der Verantwortung des Arztes, der Angehörigen und des Patienten selbst bleiben, in diesem ‚triangulierten System’ letztlich herauszufinden, ob ein Patient einwilligungsfähig ist oder nicht. Danke. (Beifall) Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Danke schön, Herr Kölch. - Ich darf nun Herrn Pap bitten!

Nationaler Ethikrat Forum Bioethik 23.02.2005

Dr. Michael Pap (Rechtsanwalt für Medizinrecht, Karlsruhe): Frau Vorsitzende! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unternimmt man den Versuch, die Rechtslage und die rechtspolitischen Spielräume unserer heutigen Thematik kurz zusammenzufassen, dann kommt man nicht umhin, sich etwas durch die verschiedenen Regelungsebenen auf nationaler und internationaler Basis zu bewegen und zu versuchen, die Fäden etwas zusammenzufassen. Beginnen möchte ich bei den überkommenen Grundsätzen des deutschen Arztrechts, so, wie wir sie vor der Novellierung des Arzneimittelgesetzes in 2004 gekannt haben. Die Beurteilung neuartiger bzw. experimenteller medizinischer Eingriffe bei Menschen ist im bisherigen deutschen Arztrecht stets von der grundlegenden Distinktion zwischen Heilversuch und klinischem Humanexperiment geprägt gewesen. Von dieser Unterscheidung - mein Vorredner hat es bereits erwähnt - gingen bereits die 1931 vom Reichsinnenministerium erlassenen „Richtlinien für neuartige Heilbehandlungen und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen“ aus. Sie kehrt wieder in der für die rechtliche Bewertung der Neulandmedizin grundlegenden „Thorotrast-Entscheidung“ des Bundesgerichtshofes, in der Urfassung der zwischenzeitlich revidierten Deklaration von Helsinki aus 1964 und in der bis 2004 geltenden Fassung der einschlägigen §§ 40 und 41 des Arzneimittelgesetzes, die zwar unmittelbar nur den Teilbereich der Arzneimittelerprobung erfassen, aber bislang als arztrechtlich verallgemeinerungsfähig angesehen worden sind. Der Heilversuch wird durch die konkrete therapeutische Absicht im Hinblick auf die kranke Versuchperson geprägt. Der Eingriff zielt zumindest auch auf eine Heilung oder Verbesserung der gesundheitlichen Situation des Probanden ab, mögen daneben auch neue Erkenntnisse von allgemeiner Bedeutung anfallen. Beim Humanexperiment hingegen steht das wissenschaftliche oder allgemein medizinische Interesse im Vordergrund des Bemühens. Beim klassischen klinischen Experiment am - typischerweise gesunden, aber auch am kranken - Probanden ist von vornherein ausgeschlossen, dass das Experiment auch im Falle seines Gelingens irgendetwas zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation gerade des konkreten Probanden beitragen kann. Dies ist nicht der Zweck des klinischen Experiments, dem - im Gegensatz zum Heilversuch - die therapeutische Absicht oder, anders gesagt, die Heiltendenz gerade im Hinblick auf die Versuchsperson fehlt. Ein wesentlicher Unterschied in den Zulässigkeitsvoraussetzungen des Heilversuches einerseits und des klinischen Experiments andererseits ist stets im Bereich der Einwilligung gesehen worden. Heilversuche dürfen grundsätzlich auch bei Personen, die nicht einwilligungsfähig sind, durchgeführt werden. Die Einwilligung der Versuchsperson kann nach allgemeinen Regeln durch gesetzliche Vertreter, Betreuer usw. ersetzt werden. Dies 9

rechtfertigt sich daraus, dass die Rechtsdogmatik des Heilversuches aus den allgemeinen Grundsätzen des Heileingriffes zu entwickeln ist. Insbesondere tritt hier als wesentliches Legitimationselement neben die Einwilligung die Indikation des Eingriffs. Die im Bereich des Heilversuchs notwendigerweise noch sehr ungesicherte Indikation bedarf freilich stets besonders sorgfältiger Abwägung. Ihr subjektives Element ist gerade die Heiltendenz, die therapeutische Absicht im Hinblick auf die Versuchsperson, die den Heilversuch vom klinischen Experiment scheidet. Dagegen ist beim fremdnützigen klinischen Experiment, sofern und soweit es mit einem Eingriff in die körperliche Integrität der Versuchsperson oder einer Gesundheitsgefährdung verbunden ist - wir haben gehört, wie fließend die Grenzen da sind -, stets die höchstpersönliche Einwilligung des Patienten zu fordern. Eine Ersetzung der persönlichen Einwilligung des einsichtsunfähigen Probanden durch Vertreter ist in diesem Bereich bislang als nicht zulässig angesehen worden. Dem klinischen Experiment fehlt im Gegensatz zum Heilversuch von vornherein die medizinische Indikation im Hinblick auf die Versuchsperson und erst recht die konkrete therapeutische Absicht. Damit fällt die beim Heilversuch vorhandene grundsätzliche zweite Säule der Legitimation jeden ärztlichen Handelns beim klinischen Experiment weg. Der medizinische Eingriff im Rahmen eines klinischen Experiments stellt sich strafrechtlich zunächst einmal als Körperverletzung dar, die ihre Rechtfertigung ausschließlich in der aufgeklärten Einwilligung des Probanden selbst finden kann. Die Fähigkeit zur wirksamen Erteilung einer solchen Einwilligung ist von der Geschäftsfähigkeit zu unterscheiden. Wesentlich ist, dass der Betroffene - mag er auch minderjährig oder nicht geschäftsfähig im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches sein - in der Lage ist, Wesen, Bedeutung und Tragweite des Eingriffes in seine körperliche Integrität zu erkennen und seinen Willen hiernach auszurichten - so auch die Definition in der Neufassung des § 40 Abs. 4 Nr. 3 des Arzneimittelgesetzes. Dass diese Voraussetzungen jeweils nicht leicht festgestellt werden können, hat mein Vorredner eindrucksvoll beschrieben. Bei Einwilligungsunfähigkeit ist diese Einwilligung nicht ohne weiteres durch die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters ersetzbar. Dies zeigt sich, legt man strafrechtliche Kriterien an, am Beispiel einer vorsätzlichen Körperverletzung, die an einem Einwilligungsunfähigen zu völlig anderen als medizinischen oder Forschungszwecken vorgenommen wird. Diese bleibt selbstverständlich auch dann rechtswidrig, wenn der gesetzliche Vertreter einer solchen Behandlung zugestimmt haben sollte. Die Disposition über die eigene körperliche Unversehrtheit hat mithin etwas Höchstpersönliches. Kann der Betroffene eine solche Disposition nicht vornehmen, so ist die Erklärung des gesetzlichen Vertreters zur Rechtfertigung nur zureichend, wenn zugleich die Voraussetzungen einer mutmaßlichen Einwilligung des Betroffenen 10

selbst vorliegen. Es ist mithin die Frage zu stellen, wie sich der nicht Einwilligungsfähige mutmaßlich entscheiden würde, wenn er Wesen, Bedeutung und Tragweite des Eingriffs erkennen und seine Willensbildung danach ausrichten könnte. Auf dieser Grundlage erhält die mehr oder weniger gesicherte Indikation des Eingriffs im Hinblick auf den Betroffenen selbst ihre dogmatische Bedeutung. Mit Recht wird nämlich vermutet, dass der Einwilligungsunfähige, wenn man ihn fragen und er antworten könnte, durchaus einer Maßnahme zustimmen würde, die geeignet ist, sein eigenes Leiden zu mildern. Gibt es eine anerkannte Heilmaßnahme noch nicht, so wird man unter Abwägung von Chancen und Risiken - das ist immer unabdingbar - die mutmaßliche Einwilligung auch für neuartige und experimentelle Maßnahmen bejahen müssen, solange diese Maßnahmen von Heiltendenz in Bezug auf den Betroffenen getragen werden und für ihn selbst - jedenfalls potenziell, aber durchaus unmittelbar von Nutzen sein können. Dies führt zugleich zur arztrechtlichen als auch zur strafrechtlichen Legitimation des Heilversuchs am Einwilligungsunfähigen im weitesten Sinne. Ganz Entsprechendes gilt übrigens für die Legitimation des gesetzlichen Vertreters. Insbesondere die sorgerechtliche Entscheidungsbefugnis der Eltern kennt als einzigen Legitimationsmaßstab das Kindeswohl, das heißt, das Wohl des ganz konkreten Kindes, nicht das Wohl anderer Kinder oder der Gesellschaft als solcher. Ihre Grenze findet diese Legitimation mithin dort, wo es um Eingriffe in die körperliche Integrität geht, von denen von vornherein feststeht, dass sie für den Einwilligungsunfähigen selbst nicht von unmittelbarem gesundheitlichen Nutzen sein können. Für solche fremdnützigen Eingriffe spielt es zunächst einmal keine Rolle, ob sie gruppennützig in dem Sinne sein können, dass sie in Zukunft einer Patientengruppe helfen können, welcher der Einwilligungsunfähige selbst angehört. Aufschlussreich ist der Blick auf die Anforderungen an die mutmaßliche Einwilligung einer volljährigen und einwilligungsfähigen Person - also der Fall der temporären Einwilligungsunfähigkeit, etwa bei Notfallpatienten -, die für das Feld der Arzneimittelerprobung in § 41 Abs. 1 Satz 2 des neuen Arzneimittelgesetzes geregelt sind. Auch die Neufassung des Gesetzes lässt dort nur den unmittelbaren Nutzen für die betroffene Person gelten. Die Gruppennützigkeit genügt gerade nicht. Im Gegensatz zu den vorstehend behandelten Grundsätzen soll eine klinische Prüfung im Bereich der Arzneimittelerprobung nach der Neuregelung der §§ 40, 41 des Arzneimittelgesetzes nun auch außerhalb des Heilversuchs zulässig sein, wenn - neben weiteren eingrenzenden Voraussetzungen - die klinische Prüfung einer Patientengruppe, die an der gleichen Krankheit leidet wie die betroffene Person, nützlich ist. Dies regelt § 41 Abs. 2 Nr. 2 des neuen Arzneimittelgesetzes.

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In diesem entscheidenden Punkt - deshalb erwähne ich ihn, obwohl wir nicht schwerpunktmäßig über Minderjährige sprechen - steht die genannte Regelung allerdings im Gegensatz zu den Anforderungen an klinische Arzneimittelprüfungen beim nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen. Die einschlägige Neufassung des § 41 Abs. 3 Nr. 1 AMG lässt hier eine Gruppennützigkeit gerade nicht genügen, sondern fordert, dass die Anwendung des Prüfpräparates für die betroffene Person selbst von unmittelbarem Nutzen sein kann und es sich damit - gemessen an den eingangs vorgestellten Kriterien - um einen Heilversuch handelt. Eine Ausweitung der Gruppennützigkeit als Legitimationskriterium für klinische Prüfungen am nicht einwilligungsfähigen Minderjährigen auf nicht einwilligungsfähige Erwachsene verbietet sich - jedenfalls im Bereich des Arzneimittelrechtes - schon aus dem Wortlaut der novellierten Vorschriften des Arzneimittelgesetzes selbst. Die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001, letztlich die Mutter der AMGNovelle - auch das hat mein Vorredner erwähnt -, stellt nun auf europarechtlicher Ebene Mindestkriterien für die Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln - so heißt das, wunderbar - auf, denen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten genügen müssen. Aus Ziffer 4 der Richtlinienbegründung sowie aus Artikel 5 der Richtlinie selbst ergibt sich mit Deutlichkeit, dass klinische Arzneimittelprüfungen am einwilligungsunfähigen Erwachsenen - ganz abgesehen von den sonstigen einschränkenden Voraussetzungen - auch bei Zustimmung des gesetzlichen Vertreters nur zulässig sein können, wenn die Prüfung selbst einen direkten - zumindest potenziellen - Nutzen für den Patienten selbst hat und damit - wir erinnern uns - als Heilversuch einzustufen ist. Daraus folgt, dass mit der AMG-Novelle die weitergehenden Spielräume, die die Richtlinie in Bezug auf die klinische Prüfung bei Minderjährigen eröffnet hat, ausgeschöpft sind. Eine Übertragung dieser Spielräume, insbesondere im Bereich der Gruppennützigkeit, auf erwachsene nicht einwilligungsfähige Personen wäre im Lichte der Richtlinie unzulässig. Eine entsprechende Regelung des nationalen Gesetzgebers würde die Mindestschutzkriterien, die die Richtlinie europaweit aufstellt, verletzen und damit gegen europäisches Recht verstoßen. Eine erweiternde Auslegung der für den Minderjährigen erlassenen nationalen Vorschriften - selbst wenn diese auf der Grundlage des nationalen Rechts möglich wäre, was nicht der Fall ist - würde gegen das europarechtliche Gebot der richtlinienkonformen Auslegung verstoßen. Insgesamt eröffnen somit weder die AMG-Novelle noch die zugrunde liegende europarechtliche Richtlinie Raum für eine Übertragung der Gruppennützigkeit als

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Legitimationskriterium für klinische Forschung auf einwilligungsunfähige Erwachsene. Verfassungsrechtlich stellt sich schließlich die Frage, ob eine - auch im Rahmen von Artikel 2 Abs. 2 GG grundsätzlich legitimierbare - Beeinträchtigung der körperlichen Integrität von Einwilligungsunfähigen im hier behandelten Zusammenhang den Anforderungen der Menschenwürdegarantie genügt. Dabei geht es gerade nicht um die viel zitierte „kleine Münze“ des Verfassungsrechts. Heilversuch und klinische Forschung am Menschen sind Felder, die die unmittelbare körperliche Existenz und Unversehrtheit der Versuchsperson betreffen und die deshalb im Einzugsbereich der Menschenwürde liegen. So sieht dies übrigens auch Artikel 1 des Menschenrechtsübereinkommens zur Biomedizin des Europarates, wonach der Schutz der Würde des Menschen im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin oberste Zielsetzung der Konvention sein soll. Nach heutigem verfassungsrechtlichen Verständnis kommt selbstverständlich auch und gerade einwilligungsunfähigen Menschen der Schutz der Menschenwürdegarantie zu. Das Bundesverfassungsgericht hat dies wie folgt formuliert - das ist eine ganz berühmte Entscheidung -: Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potenziellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen. Menschenwürde muss daher insbesondere nicht durch Einsichts- oder Kommunikationsfähigkeit „verdient“ werden. Nach den bitteren historischen Erfahrungen, die der Schaffung des Grundgesetzes vorangegangen waren, bezweckt die Menschenwürdegarantie in besonderem Maße gerade den Schutz desjenigen, der sich nicht selbst schützen kann. Die Menschenwürde ist dann verletzt, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel oder zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird, so die berühmte „Objektformel“ Dürigs, die immer noch den Vorteil einer gewissen Griffigkeit hat. Die Entwürdigung liegt dabei gerade - ich glaube, das ist die einzige Möglichkeit, es zu sehen, ohne zu sehr ins Beliebige abzugleiten - in der Verzweckung des Menschen. Niemand darf als bloßes Mittel zur ausschließlichen Verfolgung außerhalb seiner selbst liegender Zwecke gebraucht werden, so die berühmte Kommentierung im Bonner Kommentar zum Grundgesetz. Der Mensch muss jederzeit Zweck an sich selbst bleiben, Zitat aus einer anderen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu dem Thema.

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Setzt man diese Forderung der Menschenwürdegarantie in Beziehung zu der bereits erörterten Dogmatik des Heilversuches und des klinischen Experiments, so ergibt sich Folgendes: Der Heilversuch ist dadurch gekennzeichnet, dass sein Zweck gerade nicht außerhalb der Versuchsperson liegt. Diese wird gerade nicht ausschließlich als Mittel zur Verfolgung außerhalb ihrer selbst liegender Zwecke benutzt; Zweck des Heilversuches ist es vielmehr, zumindest auch, die gesundheitliche Situation der Versuchsperson zu bessern. Werden allgemeine Grundsätze, wie die sorgfältige Abwägung von Nutzen und Risiko, beachtet, so kann in diesem Bereich ein Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie von vornherein nicht eintreten. Anders liegt es beim Humanexperiment. Hier liegt der Zweck definitionsgemäß gerade außerhalb der Person des Probanden. Willigt dieser in eine Beeinträchtigung seiner körperlichen Integrität oder seiner Gesundheit nicht selbst ein, so besteht die Situation, dass er ausschließlich als Mittel, als Objekt außerhalb seiner selbst liegender Zwecke benutzt wird. Erst seine höchstpersönliche Einwilligung macht ihn vom Objekt eines fremdnützigen Experiments zu dessen Subjekt, das aus freien Stücken Beeinträchtigungen seiner körperlichen Integrität zu fremdnützigen Zwecken nicht nur hinnimmt, sondern aktiv bejaht und damit erst legitimiert. Auch Gruppennützigkeit ist Fremdnützigkeit. Auch das gruppennützige klinische Experiment bedarf daher der aktiven Bejahung und Legitimation durch die aufgeklärte Einwilligung des Probanden, der dadurch vom Objekt zum Subjekt des Verfahrens wird. Irgendeine Form der Sozialpflichtigkeit der individuellen körperlichen Unversehrtheit oder Gesundheit ist im Lichte der Menschenwürdegarantie nicht zum Kriterium einer mutmaßlichen Einwilligung geeignet. Die Disposition über eine Aufopferung der eigenen körperlichen Integrität im Gruppen- oder Gesellschaftsinteresse - im Sinne des Gemeinwohls, um es anders auszudrücken - kann nur der Betroffene selbst treffen. Dem Einwilligungsfähigen steht es frei, eine solche Entscheidung aus altruistischen Motiven zu treffen. Dem Nichteinwilligungsfähigen darf sie nicht aufgezwungen werden. Die Darlegung eines Bedürfnisses nach weitergehenden Forschungsmöglichkeiten kann nicht identisch mit seiner Legitimation sein. Vielmehr darf die Diskussion mit der Darlegung eines solchen objektiven Bedürfnisses nicht enden, sondern im Gegenteil: dort muss sie erst beginnen. Wird der einwilligungsunfähige Mensch durch fremdnützige experimentelle medizinische Eingriffe als Mittel zur Verfolgung ausschließlich außerhalb seiner selbst liegender Zwecke gebraucht, so ist seine Menschenwürde tangiert. Verfassungsdogmatisch ist eine derartige Verletzung der Menschenwürde einer Abwägung mit dem möglichen Nutzen - sei es für die Gesellschaft, sei es für das Kollektiv der Kranken, dem der Einwilligungsunfähige selbst angehört - prinzipiell nicht zugänglich. 12

Denn wesentlich für die Gewährleistung der Menschenwürde ist, dass dort ein Kernbereich des menschlichen Seins gerade jeder Disposition im Rahmen einer Drittnützigkeitsabwägung entzogen bleibt. Hier liegt meines Erachtens das Kernproblem der Diskussion. Die angestellten Betrachtungen führen - kurz zusammengefasst - zu folgenden Thesen: Erstens. Die Novelle des § 41 Abs. 2 Nr. 2 AMG begegnet in Bezug auf gruppennützige Arzneimittelerprobung an einwilligungsunfähigen Minderjährigen verfassungsrechtlichen Bedenken, soweit die körperliche Integrität des Probanden dabei verletzt oder seine Gesundheit Gefährdungen ausgesetzt wird. Zweitens. Eine Ausweitung dieser Regelung auf einwilligungsunfähige Erwachsene wäre nicht nur mit den gleichen verfassungsrechtlichen Bedenken belastet, sondern würde auch gegen europäisches Richtlinienrecht verstoßen. Drittens. Aus den gleichen Gründen bestehen ernste Bedenken gegen eine Übertragung dieser Regelungen auf andere Bereiche der klinischen Forschung außerhalb der Arzneimittelerprobung, und zwar sowohl für die Gruppe der nicht einwilligungsfähigen Minderjährigen als auch - erst recht - für die Gruppe der nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall) Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Danke schön, Herr Pap. - Ich danke allen drei Rednern, dass sie sich gut im Rahmen der vereinbarten Redezeit gehalten haben. Wir haben ein Forum, und wir möchten mit Ihnen ins Gespräch kommen. Ich bitte diejenigen, die sich zu Wort melden, an eines der Mikrofone im Saal zu gehen. Wir werden von dieser Veranstaltung - wie von den übrigen Foren auch - ein Wortprotokoll erstellen, das dann auf der Webseite des Nationalen Ethikrates abgerufen werden kann. Bitte nennen Sie, wenn Sie möchten, Ihren Namen, bevor Sie Ihre Fragestellungen oder Anmerkungen einbringen. Wenn Sie konkrete Fragen an einzelne Referenten haben, wäre es vielleicht ganz gut, dass Sie sagen, wen Sie meinen bzw. von wem Sie eine Antwort hören möchten. Herr Kölch hat gesagt, jeder Heilversuch ist ein Humanexperiment. Aber nicht jedes Humanexperiment ist - wie wir gehört haben - ein Heilversuch. Damit darf ich Sie einladen, Ihre Anmerkungen, Kommentare und Fragen einzubringen. - Bitte schön! Hans-Ullrich Paeffgen: Paeffgen, Universität Bonn. - Herr Kölch, ich möchte Ihnen ganz massiv widersprechen. Was Sie mit diesem Bonmot hinsichtlich des Heilversuchs gesagt haben, dass das immer ein medizinisches Experiment sei, ist, glaube Nationaler Ethikrat Forum Bioethik 23.02.2005

ich, Humoristisches aus der Wissenschaftstheorie; denn natürlich gibt es Experimente, die hochproblematisch sind, und es gibt medizinische Versorgungen, die ziemlich große Erfahrungshintergründe haben. Wenn eine Operation durchgeführt wird, die schon tausendmal gemacht worden ist, dann ist diese Sache in concreto sicherlich immer mit Risiken behaftet. Aber ich glaube, kein normaler Arzt würde sagen, dass das ein Humanexperiment ist. Also, das sollten wir vielleicht unter Bonmots abbuchen, aber nicht als ernstes Argument anführen. Dr. Michael Kölch (Universitäts- und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Ulm): Darf ich darauf gleich antworten? Hans-Ullrich Paeffgen: Bitte. Dr. Michael Kölch (Universitäts- und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Ulm): Da haben Sie mich falsch verstanden. Es ging um klinische Studien und um Forschung. Das, was man in der klinischen Forschung als Heilversuch definiert, ist immer auch ein Humanexperiment. Darum ging es. Es ging nicht um die reguläre Versorgung. Das wollte ich gleich dazu sagen, damit wir da nicht lange zu diskutieren brauchen. Hans-Ullrich Paeffgen: Gut. - Dann zu meinem zweiten Punkt. Ich meine, dass die Unterscheidung zwischen den Erwachsenen, die nicht einwilligungsfähig sind, und den Kindern durchaus eine gewisse Legitimation hat. Ich teile die Auffassung von Herrn Pap, dass das verfassungsrechtlich hochbedenklich ist. Aber der Gesetzgeber hat es wieder einmal besser zu wissen gemeint. Bei den Kindern stehen immerhin noch die Eltern im Hintergrund. Die Eltern werden im Regelfall versuchen, Dinge, die für ihr Kind oder die Gruppe potenziell nützlich sind, bei ihrer Entscheidung als Vertreter mit zu berücksichtigen. Diese Entscheidung gibt es aber gegenüber Erwachsenen nicht. Ehepartner, Eltern, Kinder, die über solche Fragen zu entscheiden haben, haben möglicherweise ganz sinistere Motive, angefangen vom vorzeitigen Erbfall bis hin zu anderen Dingen, dass der Betreffende aus dem Weg geräumt ist. Das kann man durch überhaupt keine Analogisierung parallelisieren zu den Konstellationen der Kinder. Deswegen meine ich, wir sollten hier nicht an der Büchse der Pandora schrauben, sondern wir sollten es so lassen, wie es ist. Es ist schon schlimm genug so, wie es geworden ist. Das ist in meinen Augen ein Problem. Sie haben bezeichnenderweise aus dem Bereich der Kinder Krankheitsbeispiele genannt. Ich habe nichts dazu gehört, wieso es bei Erwachsenen - ich denke an Demenzkranke und andere - notwendig sein sollte, irgendetwas an Gesunden nicht erforschen zu können, was wir an den Kranken erforschen müssen. Also, auch da sind Sie meines Erachtens den Hinweis für Ihre These schuldig geblieben. - Vielen Dank.

Nationaler Ethikrat Forum Bioethik 23.02.2005

Katharina von Falkenhayn: Ich habe folgende Frage: Studien werden, soweit ich weiß, folgendermaßen aufgebaut: Es gibt eine so genannte Verumgruppe, in der die Teilnehmer das Prüfmedikament bekommen. Diese Teilnehmer haben - so ist die Studienhypothese - in der Regeln einen Vorteil von der Einnahme des Medikaments. Das heißt, die Teilnehmer in dieser Gruppe haben einen eigenen Nutzen davon. In der Kontrollgruppe gibt es Teilnehmer, die entweder ein Placebo oder ein Standardmedikament erhalten. In beiden Gruppen werden in der Regel Blutabnahmen gemacht, sonstige Laborwerte erhoben, und die Studienteilnehmer sind anderen Belastungen ausgesetzt, etwa in der Weise, dass sie zu der klinischen Studie hinfahren müssen usw. Soweit ich es verstanden habe, ist das Hauptproblem des Gruppennutzens, dass die Studienteilnehmer in der Kontrollgruppe in der Regel keinen eigenen Nutzen von der Studie haben. Das heißt, das Standardmedikament hätten sie bei einer normalen therapeutischen Behandlung sowieso bekommen. Das Placebo schadet ihnen nicht. Sie haben aber trotzdem eine Belastung und ein Risiko, zum Beispiel durch die Blutabnahme. Das ist der Gruppennutzen, von dem wir in der Regel ausgehen. Jetzt stellt sich für mich die Frage an die Praktiker, aber auch an die Juristen: Welchen zusätzlichen Gruppennutzen außerhalb dessen, was ich hier geschildert habe, sehen Sie? Was ist fremdnützige Forschung, die durch das Arzneimittelgesetz möglich ist? Kurt Racke: Meine Frage zielt ebenfalls auf Arzneimittelstudien in Placebo-Armen, hier auch bei Patienten, die nicht einwilligungsfähig sind. Die Frage ist: Ist die Randomisierung in einer Studie mit Placebo-Armen ein potenziell therapeutischer Nutzen für den Patienten, also nach Ihrer Ansicht bei nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen durchführbar, oder ist das eine Situation, die Körperverletzung beinhaltet? Heinz Jürgen Behr: Der Tatsache geschuldet, dass seit Jahren auf medizinischen Konferenzen aller Art nur gesprochen wird und sich da draußen nichts wirklich richtig ändert, und der Tatsache geschuldet, dass wieder drei Beiträge kamen, die keinen Millimeter mehr - wie soll ich sagen? - Verbindlichkeit in die Realität des Alltags bringen, frage ich Sie - danke, dass Sie als Jurist mir auch noch zunicken -: Warum springen Ärzte plötzlich beiseite, wenn man das, was sie aussprechen oder ansprechen, in Schriftform bringt und ihnen noch einmal nachträglich unter die Nase hält mit der Zielstellung, doch noch einmal das Gesprochene miteinander abzuklären? Warum haben Ärzte und medizinische Fachleute Angst, das, was sie denken und sich freimütig auszusprechen trauen, individuell in Schriftform zu bringen? Damit meine ich nicht, dass sie mit Standardformularen hantieren, die sie teilweise selbst noch nie gelesen haben. Nein, ich rede von konkreten, verbindlichen, in Schrift gebrachten Aussagen; denn da 13

draußen gibt es Menschen, die noch nicht fähig sind, Gedanken, bevor sie ausgesprochen werden, über mehrere Prüfinstanzen und Kontrollinstanzen für sich zu überprüfen. Die gibt es eben. Deswegen brauchen wir die Schriftform. Dann können wir endlich über etwas sprechen, was vielleicht langsam einmal dran ist: Was stellt man sich heutzutage unter Mündigkeit vor? Was ist heute eine mündige Person? Ich glaube, darüber gibt es noch keine Einigkeit. Sonst wären Sie heute in Ihren Darstellungen klarer gewesen. - Danke. Christian Judith: Mein Name ist Christian Judith. Ich komme von ISL, der „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben“. Ich habe eine Frage: Was hat sich seit 1947 Grundlegendes verändert? 1947 gab es diesen Kodex. Was hat sich ethisch-moralisch verändert, sodass wir heute hier überhaupt wieder darüber reden müssen, dass man eine neue fremdnützige Forschung einführen möchte? Prof. Dr. Ignaz Wessler: Mein Name ist Wessler. Ich komme von der Ethikkommission der Ärztekammer Rheinland-Pfalz. Ich möchte den Beitrag von Herrn Pap noch in einem Punkt konkretisieren, der das, was mein Vorredner gerade angesprochen hat, vielleicht ein wenig entkräftet. Das neue AMG sieht für den Fall, dass der Minderjährige auch nach Erreichen der Volljährigkeit noch nicht einwilligungsfähig ist, ausdrücklich das Verbot des Gruppennutzens vor. Das ist in meinen Augen eine sehr wichtige Einschränkung. Das sollte man hier nicht unerwähnt lassen. Mein zweiter Kommentar bezieht sich auf die Begrifflichkeiten. Weder der Terminus „Heilversuch“ noch der Terminus „Humanexperiment“ werden im AMG benutzt. Nach meinem Dafürhalten fällt der individuelle Heilversuch überhaupt nicht in den Geltungsbereich des Arzneimittelgesetzes. Der dritte Kommentar: Sicherlich ausdrücklich hervorzuheben ist die Stellungnahme, dass die nicht einwilligungsfähigen oder vorübergehend nicht einwilligungsfähigen Studienteilnehmer einer ganz besonderen, herausgehobenen Aufklärung bedürfen. Ich denke, das ist ein ganz wichtiges Plädoyer, das man auch hier noch einmal unterstreichen sollte. - Vielen Dank. Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Danke schön. - Wer möchte zum Thema „Gruppennutzen, Studienteilnahme“ etwas sagen? Dr. Michael Kölch (Universitäts- und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Ulm): Ich möchte noch einmal kurz auf die Ausführungen von Herrn Paeffgen eingehen. 14

Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Bitte! Dr. Michael Kölch (Universitäts- und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Ulm): Auch ich sehe durchaus den Unterschied zwischen Erwachsenen und Minderjährigen. Ich habe meines Erachtens auch nicht dafür plädiert, dass man sie alle in einen Topf wirft, wobei mich aber die prinzipielle Annahme schon nachdenklich stimmt. Sie ist zwar sehr schön. Vielleicht kontrastiert sie auch mit meiner klinischen Erfahrung als Kinderpsychiater. Wenn Eltern immer so fürsorglich wären und immer nur das Wohl des Kindes im Auge hätten, dann bräuchten wir keine Jugendämter und kein Sorgerecht usw. Elternschaft wird immer als etwas ganz Hehres und Hochgehobenes dargestellt. Aber es ist nicht unbedingt so, dass Eltern immer zum Wohle des Kindes entscheiden. Wie gesagt, ich wollte das nie in einen Topf werfen. Ich habe eben nur diese Beispiele genannt. Ich denke schon, dass es im Erwachsenenbereich Dinge gibt, die nicht übertragbar sind. Dazu wird Herr Hirsch wahrscheinlich mehr wissen, auch was die gerontopsychiatrischen Patienten angeht, wie sich bei Patienten der Stoffwechsel oder Sonstiges verändert. Ich denke also schon, dass es Gebiete gibt, wo man es nicht übertragen kann. Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Herr Hirsch, können Sie zur Frage des Gruppennutzens noch etwas sagen? Prof. Dr. Dr. Rolf D. Hirsch (Leiter der Abteilung für Gerontopsychiatrie/Gerontopsychiatrisches Zentrum an den Rheinischen Kliniken, Bonn): Vom Prinzip her muss man sagen: Mit zunehmendem Lebensalter verändern sich viele Parameter. Das ist bekannt. Dementsprechend ist aber auch bei vielen einwilligungsfähigen Menschen genau das zu erhalten. Viel wichtiger bei diesen Dingen ist mir, dass frühzeitig bestimmte Aussagen getroffen werden. Ich kenne viele Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten. In keiner einzigen steht bisher drin, ob die Betreffenden damit einverstanden wären, dass dann, wenn Not am Mann ist, unter bestimmten Kautelen bei ihnen etwas geforscht wird. Nirgendwo steht das drin. Solange das nirgendwo drinsteht, fehlt mir eigentlich diese Seite. Natürlich kann man sagen, dass es noch gar nicht so viele gibt. Aber einen Versuch ist es erst einmal wert. Da denke ich schon, dass die Skeptik eigentlich sehr groß ist. Natürlich ist die Situation im Dritten Reich noch gar nicht aufgearbeitet, und wir kommen jetzt wieder mit so Dingen. Die Ängste des Einzelnen sind sehr groß, dass in der Medizin bestimmte Dinge passieren. Natürlich können sie passieren, und sie passieren auch. Wir müssen letztendlich immer wieder gucken: Wie können wir möglichst viel Licht hineinbringen? - Mir geht es darum, bei diesen Forschungen Öffentlichkeit herzustellen. Dann wird die Nationaler Ethikrat Forum Bioethik 23.02.2005

Einwilligung von außen erheblich größer sein. So hat jeder Angst. Ich denke nur an die Kaskadenverantwortlichkeit: Der kleine Assistent vor Ort, der diese Untersuchungen durchführt, ist letztendlich vom Gewissen her verantwortlich, aber ansonsten deckt der Ordinarius oder sonst wer mehr oder weniger alles. Der aber kennt zum Teil die ganzen Bedingungen nicht. Ich kenne es auch von den Pflegekräften her, wie sie dann damit umgehen müssen und Dinge durchführen müssen. Gerade wenn jemand in einer bestimmten Situation etwas nicht will, kommt es darauf an, wie man damit umgeht. Ist das Milieu sinnvoll, ist es offen, sind Angehörige, Dritte mitbeteiligt, sind viele Dinge in einer völlig anderen Form möglich. Klar, die Gesetze sind alle furchtbar wichtig. Aber ich erlebe Tag für Tag, dass die Gesetze in der Praxis niemanden interessieren, gerade was alte Menschen angeht. Da nützt es gar nichts, wenn man tausend neue Gesetze macht. Ich warne davor zu glauben, dass wir durch ständig neue Gesetze immer besser werden. Ich muss fast sagen - das ist mein Eindruck -: Je mehr Gesetze wir haben, desto schwieriger ist es in der Realität und desto weniger interessiert sich jemand noch dafür. Den einzelnen Menschen in der jeweiligen Situation wirklich so anzunehmen, wie er gerade ist, wird immer seltener und immer schwieriger. Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Dazu kann sicherlich Herr Pap noch etwas sagen. - Die Frage ist allerdings, Herr Hirsch, wenn ich Sie so höre: Ist es wirklich nur eine Frage der größeren Transparenz, der Überprüfbarkeit, der Sorgfalt? Herr Kölsch hat auch betont, dass man sich Zeit lassen muss, dass es ein Prozess ist, Einwilligung oder Nichteinwilligung festzustellen. Von daher auch noch einmal zurück zu der Frage von Christian Judith: Was hat sich in ethischer Hinsicht seit 1947 geändert? Hat sich etwas geändert oder hat sich möglicherweise an anderer Stelle etwas geändert? Vielleicht zunächst Herr Pap. Dr. Michael Pap (Rechtsanwalt für Medizinrecht, Karlsruhe): Es ist die Frage gestellt worden: Begrenzt sich der Begriff des Gruppennutzens, der ja nun durch die AMG-Novelle im Hinblick auf klinische Arzneimittelerprobungen an Minderjährigen eingeführt worden ist, auf die Situation der kontrollierten klinischen Studien, bei denen wir die Placebo-Gruppe haben, die möglicherweise - mittelbar - etwas für die Gruppe tut, die das echte Präparat bekommt? So eng ist, wohlgemerkt, die Formulierung im Arzneimittelgesetz nicht zu verstehen. Es geht nicht nur um diese Situation, sondern es geht konkret darum, dass unter bestimmten einschränkenden Kautelen - ich sage einmal - das Humanexperiment am Minderjährigen mit Zustimmung des gesetzlichen Vertreters auch dann erlaubt sein soll, wenn es nicht einmal irgendeiner konkre-

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ten Vergleichsgruppe im Rahmen einer klinischen Studie dient, sondern der Gruppe derjenigen, die an derselben Krankheit leiden, künftig irgendeinen konkreten Nutzen bringen kann. Das ist also sehr viel weiter. Wenn wir jetzt noch einmal den Bogen schlagen zum einwilligungsunfähigen Erwachsenen - das ist ja eigentlich das Thema -, dann fällt auf: Auch die AMG-Novelle und die europarechtliche Richtlinie, auf der die Novelle beruht, sehen diese Gruppennützigkeit als Legitimationskriterium für die klinische Arzneimittelerprobung beim erwachsenen Einwilligungsunfähigen nicht vor. Das ist eine Distinktion, die man dort trifft, über deren Sinn und Unsinn man streiten kann. Ich bin ebenfalls nicht der Meinung, dass allein die Situation, dass ein Minderjähriger in der Regel über Eltern verfügt, die nur das Beste für ihn wollen, ein tragfähiges Kriterium ist. Ich formuliere es einmal ketzerisch: Wenn man den Eltern im Sinne eines informed consent wirklich so, dass sie es auch verstehen, erklärt, dass man hier etwas ausprobiert, von dem ausgeschlossen ist, dass es dem Kind selbst hilft - nur dann braucht man nämlich das Kriterium der Gruppennützigkeit -, und dass es das Kind in irgendeiner Weise gefährden kann - denn das ist bei Arzneimittelerprobungen schon wegen der Nebenwirkungsrisiken nie ganz auszuschließen -, wenn ich in dem Feld das den Eltern so erkläre, wie es wirklich ist, dann wäre die Zustimmung, die die Eltern zu so etwas erklären, etwas, was sorgerechtlich höchst problematisch wäre. Ich möchte nicht von einem Missbrauch des Sorgerechts sprechen. Aber wir sind da in einer Situation, in der einfach verschiedene rechtliche Prinzipien nicht mehr so ganz leicht in Einklang zu bringen sind. Wenn man feststellt, dass die Umsetzung eines Gesetzes solche Normenkollisionen mit sich bringt, dann sollte man vielleicht noch einmal innehalten und nachdenken, ob das tatsächlich so sinnvoll ist. (Vereinzelter Beifall) Katharina von Falkenhayn: Sie sagten gerade: „unter bestimmten Kautelen“. Diese Kautelen sind im Wesentlichen die minimale Belastung und das minimale Risiko. Können Sie mir ganz konkrete Beispiele nennen, wo diese Bedingungen eingehalten werden, dass gruppennützige Forschung stattfindet, die so ein minimales Risiko und eine minimale Belastung zur Bedingung haben? Mir wurde bisher gesagt, es gibt nur eine denkbare Möglichkeit - neben dem, was ich vorher aufgezeigt habe -, dass nämlich in der Verumgruppe eine Arzneimittelgabe stattfindet, die von der Dosierung her zu gering ist oder bei der die Dauer der Dosierung zu kurz ist, als dass sie für den wahrscheinlich chronisch kranken Patienten einen Nutzen haben könnte. Das ist das einzige Beispiel, das mir noch genannt wurde. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie uns noch andere, ganz konkrete Beispiele nennen könnten.

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Prof. Dr. Dr. Rolf D. Hirsch (Leiter der Abteilung für Gerontopsychiatrie/Gerontopsychiatrisches Zentrum an den Rheinischen Kliniken, Bonn): So ganz habe ich die Frage nicht verstanden. Natürlich gibt es auch noch andere Bereiche im Rahmen der gesamten Diagnostik, in denen bestimmte Dinge auftreten können. Was Untersuchungen angeht, so ist natürlich die Schwierigkeit zu verdeutlichen. Für mich ist umgekehrt eher das Entscheidende: Wer bestimmt, was das minimale Risiko oder die minimale Belastung in der Einzelsituation ist? - Da erlebe ich es so: Je weiter man in der Hierarchie nach unten kommt, desto weniger interessiert es, worum es geht; vielmehr geht es darum, dass die Untersuchungen genau zu dem Zeitpunkt in der Art dann auch stattfinden, dass in der Zeit die Medikamente genommen werden, dass in der Zeit die Blutuntersuchungen durchgeführt werden und sonst was. Dazu muss ich sagen: Bei Demenzkranken ist ein solcher Versuch, wenn er in dieser statischen Form abläuft, völlig absurd. Er widerspricht völlig der Individualität; denn auch ein Demenzkranker bleibt mit zunehmender Erkrankung Individuum, er bleibt Mann oder Frau. Dementsprechend gibt es hier deutlich andere Unterschiede. Diese würden bei einem statischen Untersuchungsvorgang, der üblicherweise vorgegeben ist, völlig ad absurdum geführt. Das würde zu nichts führen, im Gegenteil: zu massivsten Widerständen. Das macht es sehr schwierig und bedenklich. Dr. Michael Kölch (Universitäts- und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Ulm): Zu der Sache mit dem Gruppennutzen fällt mir noch ein: Wenn man die Standardbehandlung mit irgendeinem Placebo oder so etwas macht, was Arzneimitteluntersuchungen oder das Arzneimittelrecht betrifft, in dieser Richtung. Dr. Hans-Jochen Vogel (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Meine Frage geht an Herrn Pap. Aber vielleicht mögen sich die beiden anderen Herren auch dazu äußern. Bei der Patientenverfügung, über die ja lebhaft diskutiert wird, spielt bei im entscheidenden Moment nicht mehr einwilligungsfähigen Personen für die Frage, ob lebenserhaltende Maßnahmen fortgesetzt oder nicht fortgesetzt werden, unter Umständen auch der mutmaßliche Wille eine Rolle. Der Betreuer ist an den mutmaßlichen Willen, wenn er sich denn feststellen lässt, gebunden. Frage an Herrn Pap: Spielt dieser Begriff des mutmaßlichen Willens auch in dem Bereich eine Rolle, über den wir uns gerade austauschen, insbesondere bei jemandem, der normalerweise einwilligungsfähig ist, aber vorübergehend oder auch für längere Zeit in einem Zustand ist, dass eben ein Betreuer oder ein Bevollmächtigter für ihn auftritt? Spielt dann der mutmaßliche Wille eine Rolle? Wie wird er ermittelt? Gibt es da Parallelen zur Patientenverfügung?

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Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Das war eine klare Frage, auf die es vielleicht auch eine klare Antwort gibt. Dr. Michael Pap (Rechtsanwalt für Medizinrecht, Karlsruhe): Ja, es ist eine klare Frage. Die Antwort auf die Frage, ob der mutmaßliche Wille hier eine Rolle spielt, habe ich, glaube ich, schon gegeben. Der spielt natürlich eine sehr große Rolle. Was man immer vermuten darf, ist, dass es dem mutmaßlichen Willen jedes Menschen entspricht, dass man etwas tut, um seine konkrete gesundheitliche Situation zu verbessern. Ich denke, das ist eine Vermutung, die man aussprechen darf, ohne zu weit zu gehen. Jetzt kommen wir zu Ihrer Frage. Wenn jemand, der heute einwilligungsunfähig ist, zu einem Zeitpunkt, zu dem er noch einwilligungsfähig war, eine Patientenverfügung getroffen hat - eine Patientenverfügung wäre es ja nicht einmal, sondern eine Forschungsverfügung, wie auch immer -, die bestimmt, dass er dann, wenn er einwilligungsunfähig wird - es gibt ja auch Fälle, in denen das absehbar ist -, bereit ist, an einem bestimmten Versuchsdesign teilzunehmen, was nicht eigennützig ist - das wäre ja ganz konkret Ihre Frage auf die Spitze getrieben -, so ist es theoretisch denkbar, dass das eine Legitimation vermittelt. Aber es ist mit den gleichen praktischen Problemen behaftet, wie die Patientenverfügung, die etwa besagt: Wenn ich in dem und dem Zustand bin, dann schaltet bitte die intensivmedizinische Behandlung ab. Das Problem ist, dass die Patientenverfügung in der Praxis ja nur ein - wenngleich ein nicht unwesentliches Indiz zur Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Betroffenen, der seinen tatsächlichen Willen aktuell nicht mehr äußern kann, darstellt. Das heißt, wenn wir in der Situation sind, dann stellt sich die Frage: Wie lange liegt diese Verfügung schon zurück? Gibt es Anzeichen dafür, dass sich dieser mutmaßliche Wille geändert haben könnte? Hinzu kommt - das hat einer meiner Vorredner angesprochen -: Ich bezweifle, dass es praktikabel ist, in dem Bereich überhaupt solche Verfügungen zu treffen; denn das würde ja voraussetzen, dass das konkrete Versuchsdesign mit allen Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität, die damit verbunden sind, im Zeitpunkt der Errichtung der Patientenverfügung schon konkret absehbar ist. Das scheint mir eine eher theoretische Frage zu sein; denn gerade die medizinische Forschung lebt von der Entwicklung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine solche Patientenverfügung, wenn sie nicht ständig und kurzfristig aktualisiert wird, im praktischen Einzelfall das Versuchsdesign, das dann aktuell ist, tatsächlich noch trifft. Wenn das nicht der Fall ist, dann ist es zwar theoretisch denkbar, dass das ein wichtiges Indiz für den mutmaßlichen Willen darstellt. Praktisch ist es aber wertlos, weil es einfach den Fall nicht trifft.

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Annette Rausch: Ich würde gerne noch auf den Aspekt der Forschung an Minderjährigen eingehen; denn da geht es ja auch um eine Abwägung. Bei den Minderjährigen, zumindest im Krankenhausbereich, werden zu 80 % Medikamente verwendet werden, so genannte Off-Label-Use, die nicht - zumindest für diese Altersgruppe nicht - zugelassen sind; es ist in der Behandlung ein Quasi-Experiment. Nach Abschluss der Behandlung wäre es, wenn es die Novellierung des Arzneimittelgesetzes nicht gegeben hätte, zum Beispiel nicht möglich, eine Blutuntersuchung durchzuführen, die der Person nicht mehr zugute kommt, weil die Behandlung Erfolg gehabt hat. Eine weitere Blutuntersuchung hat jedoch im Hinblick auf Forschung und die zukünftige Behandlung anderer Personen den großen Vorteil, dass bestimmte Aspekte nachvollzogen werden können und dass in der Folge die Behandlung für die Folgegeneration sicherer gemacht werden kann. Diese letzte Blutuntersuchung war nach den bisherigen Regelungen nicht möglich. Durch die Novelle zum Arzneimittelgesetz wird das ermöglicht. Insofern gab es da eine entsprechende Abwägung, bei der noch einmal genau geschaut wurde. Wir haben dort einen Bereich, in dem zum allergrößten Teil mit nicht zugelassenen Medikamenten gearbeitet wird. Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Herr Kölch, ich denke, das ist eine direkte Frage an Sie. Dr. Michael Kölch (Universitäts- und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Ulm): Ich habe die Frage nicht herausgehört, muss ich ehrlich sagen. Ich glaube, es war eher eine Feststellung. Der Feststellung kann ich mich nur anschließen. Das ist richtig so. Das ist ja die Besonderheit - das war durchaus lange in der Diskussion -, die vielleicht auch dazu geführt hat, dass die Minderjährigen in der 12. Novelle zum Arzneimittelgesetz so explizit benannt werden, nämlich dass wir dort diesen eklatanten Missstand mit den Off-LabelUse haben. Die Medikamentendaten haben wir bisher auch nie auswerten können; denn dann wäre es wieder eine Studie gewesen, die nicht zulässig gewesen wäre. Das ist ein ganz großes Problem. Das ist jetzt von der Gesetzeslage her etwas besser. Dennoch muss von den Leuten natürlich immer noch etwas getan werden. Wir haben das Problem, dass in der Kinderheilkunde und auch in der Kinderpsychiatrie sehr viele individuelle Heilversuche gemacht worden ist. Es sind nicht alle Medikamente zugelassen, sondern - wie Sie sagen - es sind zum Teil 80 % der Medikamente nicht zugelassen; im niedergelassenen Bereich sind es vielleicht 20 %. Eine sehr große Anzahl wurde im Rahmen eines individuellen Heilversuchs gegeben, Off-Label. Bekannt geworden ist das ganze Problem ohnehin erst, als es die Erwachsenenmedizin tangiert hat, als es nämlich die Kassen nicht mehr erstattet haben. Vorher hat es überhaupt niemanden geschert. Auch das muss man der Ehrlichkeit halber einmal sagen.

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Wir dürfen die Daten dieser individuellen Heilversuche jedoch nicht auswerten, weil wir uns dann wieder auf Forschungsterrain begeben. Darin liegt aber auch ein ethisches Problem; denn wir könnten eigentlich diese Daten, die wir ohnehin anwenden, von Patienten wunderbar auswerten. Aber wenn wir das als Forschung deklarierten - da müssen wir uns an das Arzneimittelgesetz halten -, müssten wir hohe Kriterien erfüllen. Das aber einfach nur als Feststellung. Ich werte da nicht. Ich sage auch nicht, dass ich mich für das eine oder für das andere entscheide. Ich zeige lediglich die Problematik auf. Dr. Michael Pap (Rechtsanwalt für Medizinrecht, Karlsruhe): Ich bin mir nicht sicher, ob wir zu Ermöglichung der von Ihnen beschriebenen Blutuntersuchung tatsächlich die Novellierung des AMG in diesem Punkt gebraucht hätten. Problematisch werden die Dinge ja dort, wo wir eine Beeinträchtigung der körperlichen Integrität oder eine Gesundheitsgefährdung haben. Wenn wir in einem Bereich sind, wo es darum geht, eine möglicherweise im Verlauf der Behandlung ohnehin entnommene Blutprobe auch zu Forschungszwecken zu analysieren - da sind wir, wohlgemerkt; das möchte ich noch einmal betonen: wir sind nicht in einem Bereich, der die körperliche Integrität berührt -, so ist das zum Schluss eine Frage der Selbstbestimmung über Körperstoffe. Aber das ist weder im Bereich einer Körperverletzung noch - wenn ich es grundgesetzlich überhöht ansehe - gar im Bereich der Menschenwürde anzusiedeln. Das sind Dinge, die nach meinem Dafürhalten auch ohne die AMG-Novelle durchaus in rechtmäßiger Weise möglich gewesen sind. Ingrid Giesa: Meine große Angst ist, dass zum Beispiel an bewusstlosen Patienten oder an Patienten, die aus anderen Gründen nicht in der Lage sind, eine Meinung zu äußern, heimliche Untersuchungen durchgeführt werden, das heißt, irgendwelche Blutentnahmen gemacht werden, um irgendwelche Tests durchzuführen, ohne dass der Patient überhaupt etwas davon weiß. Wie sehen Sie das? Ich meine, solche Fälle hat es doch sicherlich schon zu Dutzenden, zu Tausenden gegeben; ich weiß es nicht genau. Jedenfalls hat es solche Fälle schon gegeben. Dr. Michael Kölch (Universitäts- und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Ulm): Ich denke, dass es solche Fälle sicherlich gibt. Aber sie sind natürlich illegal. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist: Da kann man nur auf die Scientific Community hoffen. Wie geht man in diesen Fällen vor? Kann man diese Ergebnisse publizieren? Warum macht ein Wissenschaftler etwas? Weil er Ruhm haben möchte, weil er publizieren möchte, weil er irgendwie veröffentlichen möchte. Er hat natürlich auch ein primäres wissenschaftliches Interesse. Aber er kann es nicht verwerten. Auch da gibt es Richtlinien - inzwischen auch ethische Richtlinien -, die gerade auch bei den Kindern

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evident geworden sind, was die SSRIs angeht, durch nicht publizierte Daten zum Beispiel. Heutzutage haben auch die Zeitschriften und die Fachgesellschaften strengere ethische Richtlinien zur Publikationspraxis. So etwas dürfte man eben nicht verwenden. Das ist jetzt auf dieser Ebene der Grund, warum man so etwas dann vielleicht nicht tut oder warum es da keinen Anreiz gibt. Kurt Racke: Ich möchte zunächst einen Kommentar zu der Frage der Dame bezüglich des Gruppennutzens bei Kindern mit minimalen invasiven Eingriffen abgeben. Ein typisches Beispiel wäre ein Arzneimittel, dessen Kinetik bei Erwachsenen gut bekannt ist, bei einem Kind hingegen nicht. Ein Antibiotikum braucht das Kind jedoch auch. Man weiß aber nicht, ob die Konzentrationen, die man braucht, erreicht werden und ob der Spiegel lange aufrechterhalten bleibt. Man wird im Laufe der notwendigen Behandlung mehrere Blutentnahmen machen, um zu sehen, ob die Plasmaspiegel in einem therapeutischen Bereich sind. Das wäre ein typisches Beispiel für eine Untersuchung mit Gruppennutzen; denn zukünftige Patienten werden davon profitieren, ohne dass der Patient im konkreten Fall schon davon profitieren könnte. Dann möchte ich noch einmal auf meine Frage von vorhin zurückkommen; denn Ihre Antwort darauf fand ich nicht befriedigend. Kann ein Betreuer in eine Arzneimittelstudie mit Placebo-Armen zustimmen? Das ist eine sehr kritische Frage, die uns in der konkreten Arbeit sehr beschäftigt. Deswegen richte ich diese Frage noch einmal an Sie. Josef Neumann: Ich komme vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin in Halle. Ich will auf eine Bemerkung von Herrn Pap zurückkommen, die mich etwas befremdet hat, und zwar darauf, dass sich das Humanexperiment vom Heilversuch dadurch unterscheiden würde, dass im Experiment keine Indikation gegeben sei. Ich glaube, wenn es bei der Unterscheidung Heilversuch/Humanexperiment tatsächlich so ist, wie Sie gesagt haben, nämlich dass beim Experiment keine Indikation gegeben ist, dann sprechen wir sehr undifferenziert über die Dinge bzw. über die Handlungssituationen; denn wenn das Experiment so definiert wird, dass keine Indikation gegeben ist, dann wird der Proband oder der Patient, auch wenn ich ihn aufkläre, dadurch nicht vom Objekt zum Subjekt befördert. Er bleibt Objekt. Er stellt sich als Objekt zur Verfügung. Aber ich will auf die Differenzierung eingehen. Ich würde als Unterscheidung zwischen dem Experiment, das in höchstem Maße problematisch ist, und dem Heilversuch die Studie nennen; denn sowohl beim Heilversuch als auch bei einer Studie, an der eine Patientin/ein Patient freiwillig teilnimmt, ist eine Indikation gegeben. Gleichzeitig hat die Studie natürlich insofern Experimentcharakter, als die Substanz, die da erprobt wird, noch 18

nicht zugelassen ist und der Weg von der Substanz, die möglicherweise hilft, zum Medikament nach bestimmten Kriterien noch durchschritten werden muss. Also, hier sehe ich - vielleicht auch in der Diskussion, mit entsprechenden negativen Auswirkungen - doch eine mangelnde Differenzierung. Einerseits ist ein Experimentcharakter vorhanden. Andererseits muss aber diese Erprobung im Sinne der Probanden bzw. der Patienten stattfinden. Dr. Maximilian Zollner: Ich bin Vizepräsident der Landesärztekammer BadenWürttemberg. Ich möchte zwei Bemerkungen machen, zunächst zur Patientenverfügung. Nach meiner Erfahrung als Hausarzt machen die Leute diese Patientenverfügung, weil sie Angst haben, dass irgendwelche Dinge - intensivmedizinisch oder sonstige Dinge - mit ihnen passieren. Ich halte es für kontraproduktiv, Herr Hirsch, wenn Sie sagen, man könnte in die Verfügung auch aufnehmen, dass man mit Arzneimittelexperimenten einverstanden ist. Ich glaube, dann tendiert die Akzeptanz dieser Verfügungen gegen Null. Dann wird es niemand machen. Das war meine erste Bemerkung. Zweite Bemerkung. Es ist hier schon einige Male die Ethikkommission erwähnt worden, die in der Vergangenheit recht verdienstvoll gearbeitet hat. Jetzt aber ist die Arbeit bei den Ärztekammern gefährdet, weil die Kammern jetzt auch finanziell haften. Ich weiß zum Beispiel aus Baden-Württemberg, dass wir für eine sehr hohe Summe eine Versicherung bis maximal 10 Millionen € abschließen können. Das wird aber dann, wenn es einmal zum Knall kommt, das heißt, wenn irgendein Fehler gemacht wird und eine Arzneimittelfirma die Ethikkommission haftbar macht, wohl nicht ausreichen. Jetzt diskutiert man über Staatshaftung usw. Aber auch die Staatshaftung ist nicht unerschöpflich. Also, wenn dieses Problem nicht gelöst wird, dann kann ich mir vorstellen, dass manche Ärztekammer sagt: Wir können die Haftung nicht mehr übernehmen und stellen die Arbeit dieser Ethikkommission ein. - Diese Gefahr sehe ich. Prof. Dr. Ignaz Wessler: Ich möchte Ihre Frage als klinischer Pharmakologe noch einmal aufgreifen. Ich denke, es gibt ein großes Missverständnis hinsichtlich der gruppennützigen Forschung bei Minderjährigen, die zur Voraussetzung hat, dass nur minimale Risiken und minimale Belastungen damit verbunden sind und der Kenntnisgewinn nicht bei Erwachsenen oder gleich Erkrankten - Patientenkollektiv - zu gewinnen ist. Es ist zum Beispiel völlig undenkbar, wie es gerade gesagt wurde, dass Arzneimittel, deren Erprobung erst am Anfang steht, unter diese Regelung fallen, einfach weil damit die Conditio des minimalen Risikos und der minimalen Belastung überhaupt nicht in Übereinstimmung zu bringen wäre. Das scheidet von vornherein aus. Durchaus denkbar aber ist - das war nach altem Recht, nach der 11. AMG-Novelle überhaupt nicht mögNationaler Ethikrat Forum Bioethik 23.02.2005

lich -, dass eine klinische Prüfung mit einem Arzneimittel durchgeführt wird und überprüft wird, ob eine bestimmte Darreichungsform bei Kindern besser wirksam ist als eine andere. Das ist in diesem Studiendesign dann auch eine vertretbare Formulierung, da damit nur ein minimales Risiko und eine minimale Belastung verbunden sind. Ich denke, hier hat der Gesetzgeber sehr wohl dem Therapienotstand bei Minderjährigen Rechnung getragen und gleichzeitig die Rahmenbedingungen durch die Definition, minimales Risiko und minimale Belastung, so abgesichert, dass hier wirklich ein Schaden von Minderjährigen ferngehalten werden kann. Eine Therapiestudie oder klinische Forschung an Kindern ist, gerade weil der Wissensstand so gering ist, auch immer gleichzeitig eine Forschung für Kinder. - Vielen Dank. Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Wobei natürlich die Frage ist: Was ist ein minimales Risiko? Was ist eine minimale Belastung? Wer definiert das? Was ist zum Beispiel bei den gruppennützigen Forschungsprogrammen, bei den Studien die wesentliche Erweiterung des wissenschaftlichen Verständnisses? Was ist das Wesentliche, wer definiert das? Das sind ja alles Begriffe, die sowohl im Arzneimittelgesetz als auch in der europäischen Richtlinie noch sehr vage und weit und auch interpretationsfähig gehalten sind. Annegret Heinker: Ich weiß nicht, wieso wir hier so herumeiern, Menschen mit Behinderung zu schützen, zumindest die Menschen zu schützen, die man per se als nicht einwilligungsfähig definieren kann. Dass solche Menschen benutzt werden, das gibt es doch schon lange. Das müsste Ihnen aber auch bekannt sein. Das können Sie nicht einfach unter den Tisch kehren. Davon sind dann Diplomarbeiten und Dissertationen fabriziert worden. Das ist nie richtig aufgedeckt worden. Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Doch, da hat es ein Gutachten gegeben, das auch publiziert worden ist. Annegret Heinker: Trotzdem: Die betroffene Angehörige einer Frau, die da benutzt worden ist - sagen wir einmal so: im Rahmen einer Pseudoforschung -, hat Gerichtsprozesse verloren. Wo war denn da die Ärzteschaft? Sie hätte sich auch einmal für die Frau engagieren können. Es handelt sich um eine Rentnerin, die das alleine hochgezogen hat; sie hat es aufgedeckt. Da waren sie nicht da, weil da wahrscheinlich die Kasse nicht geklingelt hat. Katharina von Falkenhayn: Ich möchte das von der Vorrednerin angesprochene Problem kurz aufgreifen. Es gibt außerhalb des Arzneimittelgesetzes, des Medizinproduktegesetzes, der Röntgenverordnung und der Strahlenverordnung keine RegeNationaler Ethikrat Forum Bioethik 23.02.2005

lungen für Forschung, vor allem von Nichtärzten. Das heißt, für Forschungen, die Psychologen, Soziologen oder Sportwissenschaftler durchführen, gibt es keine Regelungen. Ethikkommissionen müssen ihnen auch nicht zustimmen. Ich möchte noch einen anderen Punkt aufgreifen. Mit der neuesten Fassung der Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes und der Zulässigkeitsregelung des Gruppennutzens in der 12. AMG-Novelle wurde die Placebo-Forschung mit Kindern ermöglicht, und zwar auch für den Fall, dass es eine Standardmedikation gibt. Das heißt, mit der neuen Fassung der Deklaration von Helsinki ist es möglich geworden, Kinder in Studien einzubeziehen und ihnen gleichzeitig das vorhandene Standardmedikament vorzuenthalten, wenn keine lebensbedrohliche Erkrankung vorliegt. Meine Frage ist: Welches Interesse hat die Industrie daran? Können Sie uns als Forscher erklären, warum überhaupt ein Placebo-Einsatz in der Forschung mit Kindern notwendig ist, wenn es ein Standardmedikament gibt? Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Ich hatte am Anfang ja erwähnt, dass es auch eine Frage der Forschungsmethoden oder auch der Veränderung von Forschungsmethoden ist. - Frau Kollek, bitte. Prof. Dr. Regine Kollek (stellvertretende Vorsitzende des Nationalen Ethikrates): Genau das ist mein Punkt. Ich möchte etwas aufgreifen, was Herr Judith angesprochen hat. Es hat in den letzten zwei, drei Jahrzehnten im Bereich der wissenschaftlichmedizinischen Forschungen Veränderungen gegeben. Ich denke, eines hat sich ganz gewiss verändert, nämlich der Anspruch an die Wissenschaftlichkeit und den Nachweis auch von Wirkungen und die Reproduzierbarkeit, also alles das, was unter den Begriff „evidence based medicine“ fällt. Meine Frage in diesem Zusammenhang ist folgende: Wie können wir zum Beispiel im Bereich der Notfallmedizin mit schwer eingeschränkten Patienten, Infarktpatienten etwa, eine Forschung machen, die auf der einen Seite möglicherweise bestimmten Kriterien genügt, auf der anderen Seite aber auch den ethischen Vorgaben? Herr Pap, ich stimme Ihnen völlig zu: So, wie es im geltenden Arzneimittelgesetz formuliert ist, kann keine Gruppennützigkeit, keine Fremdnützigkeit als Legitimation für eine solche Forschung gegeben sein. Die Frage ist also - vielleicht auch an Herrn Hirsch -: Was sind die methodischen Alternativen, die wir in dem Bereich haben? Das ist sicherlich keine Frage, die man unbedingt den Juristen stellen muss. Ich denke, das geht uns alle etwas an. Ist es das individuelle Heilexperiment oder was ist es dann? Oder müssen wir einfach andere Kriterien für Wirksamkeit, Wissenschaftlichkeit usw. entwickeln? Ich meine, wir sind da einfach in einem Dilemma.

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Konrad Falke: Ich möchte noch einmal auf das Problem Heilversuch versus kontrolliertes klinisches Experiment zu sprechen kommen. Ich schicke voraus: Ich bin seit mehr als 30 Jahren Intensivmediziner und habe ein Gutteil der Entwicklung dieser Spezialität miterlebt. Ich möchte nur am Rande erwähnen: Alle die Patienten, die heute auf einer Intensivstation behandelt werden und das überleben - das sind viel mehr als vor 30 Jahren -, profitieren von dem, was wir jetzt fremdnützige Forschung nennen. Ich muss allerdings all denen, die verantwortlich dafür zeichnen, sagen: Das, was jetzt Gesetz werden soll, sollte ihnen eigentlich zu denken geben. Wir leben in einer Gesellschaft, die für sich in Anspruch nimmt, altruistisch, humanistisch zu sein und auf christlicher Basis sich entwickelt zu haben. Da frage ich mich, warum es solch ein Riesenproblem ist, dass fremdnützige Forschung zugelassen wird, selbst an nicht einwilligungsfähigen Patienten. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass ein Mensch, ebenso wie er bestimmt, dass seine Organe gespendet werden, bestimmt und festlegt, dass er sich im Falle eines Falles bereit findet, an fremdnütziger Forschung teilzunehmen. Aber bis dahin müssen wir vielleicht noch einen langen Entwicklungsprozess durchlaufen. Aber nun zu dem Eigentlichen, was ich sagen wollte. Ich frage mich: Warum ist in unserer Gesellschaft der Heilversuch so hoch angesiedelt? Wenn wir einmal ehrlich sind, dann ist das doch ein ziemlich primitives Experiment. Wir wissen nicht, ob es richtig oder falsch ist. Es wird ausprobiert. Das ist Trial and Error. Das wird irgendwie höher gestellt, höher klassifiziert als das kontrollierte wissenschaftliche Experiment. Damit habe ich ein Problem, übrigens haben das unsere amerikanischen Kollegen auch. Sie sehen es genau umgekehrt wie wir. Natürlich ist der Heilversuch mit der guten Absicht des Arztes verbunden, dem Patienten zu helfen; das ist unstrittig. Aber das ist, glaube ich, kein gutes Argument dafür, diese Vorgehensweise mit einer höheren Wertigkeit zu versehen. Ich denke, das kann man eigentlich nur mit unserer sehr spezifischen deutschen Geschichte erklären. Vielleicht ist das letztlich auch der Grund dafür, dass wir in Zukunft an nicht einwilligungsfähigen Patienten keine kontrollierten Untersuchungen mehr machen können und dürfen, wenngleich das Standard ist. Die Voraussetzung für jede Zulassung eines Medikaments ist ja die kontrollierte Untersuchung. Das wird dann in Deutschland nicht mehr stattfinden. Damit habe ich ein sehr großes Problem. - Entschuldigung, wenn ich jetzt einen kleinen Vortrag gehalten habe. (Vereinzelt Beifall - Annegret Heinker: Sie können doch an sich forschen lassen!) Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Ich denke, wir kommen gleich noch zu der Frage der kontrollierten Studie. 20

Katrin Grüber: Ich komme vom Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft. - Meine Frage passt sehr gut zu dem, was mein Vorredner gesagt hat. Ich frage jetzt eher Frau Neuer-Miebach als Veranstalterin nach dem Ziel der Veranstaltung. Der Gesetzgeber hat das Arzneimittelgesetz vor ungefähr einem Jahr novelliert. Man könnte meinen, diese Veranstaltung hat den Inhalt, jetzt einmal zu überlegen: Sollen wir sofort eine neue Novelle machen? Oder geht es nicht eher darum zu überlegen, wie wir mit diesem Gesetz umgehen? Da scheint es mir etwas an Klarheit zu fehlen. Das haben gerade der letzte Beitrag und auch der Beifall dazu, der anschließend kam, gezeigt. Vielleicht könnten Sie, Frau Neuer-Miebach, das noch einmal klarstellen bzw. sagen, was das Ziel dieser Veranstaltung ist. Es ist die Frage, ob das noch etwas mit dem geplanten Gendiagnostikgesetz zu tun hat, bei dem das Heilexperiment sicherlich keine Rolle spielt, aber bei dem es möglicherweise auch um Forschung geht. Mir wäre sehr an einer Klarstellung gelegen. Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Ich habe, wenn ich mich recht entsinne, bei meinen einleitenden Bemerkungen auf die AMG-Novelle und auch auf die Auslegung des Forschungsprotokolls zur Biomedizinischen Forschung der Konvention des Europarates abgehoben. Ich denke, bei beiden geht es darum, ob und inwieweit gruppennützige, fremdnützige Forschung an einwilligungsunfähigen Menschen möglich sein kann, möglich sein soll. Die Begrifflichkeiten, die in beiden verwendet werden, sind ja sehr offen, sehr vage. Jetzt, da die AMG-Novelle in Kraft ist, geht es darum, wie das in die Praxis umgesetzt werden kann, wie es so angewendet werden kann, dass denjenigen, um die es dabei geht - zum einen die Minderjährigen im Rahmen der AMG-Novelle -, geschützt werden können, wie sie aber auch gleichzeitig tatsächlich teilhaben können an dem, was medizinischer Fortschritt ist. Da ist zum Beispiel eine konkrete Frage, die schon in mehreren Beiträgen angesprochen worden ist und die sich auch für uns als Gremium, das sich mit ethischen Abwägungen in diesen Zusammenhängen befasst, stellt: Wie können die Möglichkeiten, die Erfolge, die Heilerwartungen eingelöst werden, ohne dass diejenigen, die einbezogen werden, in irgendeiner Art und Weise Schaden nehmen? Dies gilt vor allem dann, wenn die Betreffenden sich selbst nicht so äußern können - das ist häufig das Problem -, dass diejenigen, die die Untersuchung machen, es verstehen können. Da geht es darum, wie Gestik, Mimik oder dergleichen zu interpretieren sind. Es geht uns auch darum - gerade im Rahmen unserer Erkenntnisfähigkeit -, herauszubekommen, in welcher Art und Weise Menschen geholfen werden kann, Sachverhalte, Situationen zu verstehen, um möglicherweise ihr Einverständnis zu bekommen oder aber auch um das, was sie an Nichtwollen artikulieren, respektieren zu können.

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Ich glaube allerdings nicht, dass wir hier heute - auch der Ethikrat als Gremium nicht - diese Fragen beantworten können. Ich denke, es geht darum, die aktuellen Umsetzungsfragen zu dieser Novelle und der Richtlinie zu diskutieren und zu gucken, ob und inwieweit es für die medizinische Praxis, für die Rechtspraxis, für die ethische Abwägung hilfreiche Konkretisierungen geben kann. Ich würde jetzt gerne die Teilnehmer des Podiums um ihre Anmerkungen, Kommentare und Antworten bitten. Vielleicht fangen wir mit der Frage der kontrollierten Studien an, die ja von mehreren angesprochen worden ist. Ist es richtig, wie es im vorletzten Beitrag gesagt worden ist, dass jetzt Placebo-Forschung an Kindern möglich ist, dass aber gleichzeitig an erwachsenen einwilligungsunfähigen Menschen kontrollierte Studien nicht mehr möglich sein sollen - wie es formuliert worden ist -, oder wie würden Sie das beurteilen? Dr. Michael Pap (Rechtsanwalt für Medizinrecht, Karlsruhe): Auf die Frage kann man eine verhältnismäßig klare Antwort geben, wenn man das geltende Arzneimittelgesetz zugrunde legt. Werden die weiteren einschränkenden Bedingungen eingehalten, die für - ich sage einmal gruppennützige Forschung an Minderjährigen im AMGBereich gelten, dann ist es grundsätzlich möglich, dass der gesetzliche Vertreter - sprich: die Eltern - eine wirksame Einwilligung zur Teilnahme des Kindes an einer kontrollierten Placebo-Studie abgibt. Das ist nach der derzeitigen Rechtslage möglich, wenn die ganzen Präliminarien eingehalten sind. Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Auch wenn eine Standardbehandlung vorhanden ist? Dr. Michael Pap (Rechtsanwalt für Medizinrecht, Karlsruhe): Das ist ja gerade der Punkt, der über das hinausgeht, was wir bisher hatten. (Zuruf) Dr. Michael Kölch (Universitäts- und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Ulm): Ich möchte einmal ein praktisches Beispiel nennen, das ich kenne. Da ist die Aufregung gar nicht so neu. Es gibt ein Medikament gegen das hyperkinetische Syndrom beim Kind, das Methylphenidat, allseits bekannt; über die Vor- und Nachteile brauchen wir jetzt hier nicht zu streiten. Es geht mir um Folgendes: Dieses Medikament wurde lange Zeit nur von einer Firma angeboten. Es wollten dann aber auch andere Hersteller auf den Markt bringen. Es handelt sich um eines der Medikamente mit den meisten Untersuchungen bei Minderjährigen. Was wurde von der deutschen Zulassungsbehörde gefordert? Es wurde eine Placebo-Studie zur Zulassung gefordert. So weit zu dem, was - egal, was Forscher oder andere wollen - teilweise die Anforderun-

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gen sind. Da kann man dann wieder über Sinn und Unsinn und über ethische Fragen diskutieren. Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Zu der Frage nach den Kriterien für die Wissenschaftlichkeit, Herr Hirsch: Gäbe es auch andere Forschungsmethoden, um die Wissenschaftlichkeit nachzuweisen? Prof. Dr. Dr. Rolf D. Hirsch (Leiter der Abteilung für Gerontopsychiatrie/Gerontopsychiatrisches Zentrum an den Rheinischen Kliniken, Bonn): Zunächst einmal ist es so, dass man bei bestimmten Erkrankungen nicht auf jeden Fall über einen bestimmten Zeitraum Doppel-Blind-Studien durchführen wird; vielmehr greift man zum Teil auch auf ähnliche Medikamente - bekannte, weniger bekannte - zurück und macht hier ein Design, um zu verdeutlichen, welche Vor- und Nachteile das im Einzelnen hat. Da gibt es, denke ich, mehrere Dinge. Zu sagen - das ist ein ganz altes Argument -, die Angst sei fremdnützig, sie sei etwas Kapitalistisches, nutze letztendlich der Pharmaindustrie und sonst niemandem, ist, denke ich, ein bisschen Schwarzweißmalerei, die es sehr schwierig macht. Auf der anderen Seite muss man sagen: Ein Großteil der Pharmazeutika wird letztendlich von der Pharmaindustrie gesponsert. Wenn das nicht der Fall wäre, würde fast nichts passieren. Das wäre beschämend für unsere Gesellschaft. Gleichwohl kann man seriöse Forschung machen. So etwas gibt es auch. Dr. Michael Pap (Rechtsanwalt für Medizinrecht, Karlsruhe): Ich kann das nur unterstreichen. Ich selbst habe im Laufe dieser Diskussion die eine oder andere Lanze gegen die Fremdnützigkeit und die Gruppennützigkeit gebrochen. Ich weiß allerdings auch in Bezug auf den Forschungsbereich, wovon ich spreche. Ich bin selbst Mitglied des Aufsichtsrates von pharmazeutischen Firmen. Ich kenne die Bedürfnisse dort. Trotzdem meine ich, dass gerade die Pharmaindustrie gut daran tut, auch einmal Alternativen in Erwägung zu ziehen, bevor man sagt - dieser Aussage würde ich gerade aufgrund meiner beruflichen Erfahrung widersprechen -: Die Forschung in Deutschland bricht zusammen, wenn wir nicht die Möglichkeit haben, fremdnützige Experimente an Minderjährigen oder an einwilligungsunfähigen Erwachsenen zu machen. - Das ist eine Aussage, die ich nicht unterschreiben kann, weil sie einfach auch mit der Realität nichts zu tun hat. Das ist das eine. Das andere ist - das ist angesprochen worden -: Wir müssen sehen, dass klinische Studien generell nichts Schlechtes sind. Auch fremdnützige Forschung ist generell nichts Schlechtes. Es wird am einwilligungsfähigen Menschen ständig klinisch geforscht, gerade im Bereich der Arzneimittelerprobung. Ich gebe Ihnen Recht: Ohne das könnten wir Arzneimittel in großem Umfang überhaupt nicht herstellen. - Wenn der einwilligungsfähige 21

Mensch, der komplett darüber aufgeklärt ist, was er tut, aus altruistischen Motiven oder aus sonstigen Motiven heraus - etwa, weil er das Geld gerne haben möchte, das es für den einwilligungsfähigen Probanden meistens gibt, wenn er an solchen Reihen teilnimmt; aber auch das ist eine legitime Motivation - sagt: „Ja, ich mache da mit“, dann ist das in Ordnung und moralisch keineswegs verwerflicher als der Heilversuch. Das Problem entsteht erst, wenn der Proband einwilligungsunfähig ist. Da dürfen wir halt eine altruistische Motivation nicht in seine mutmaßliche Einwilligung hineinlesen. Das führt zu einer Sozialpflichtigkeit des eigenen Körpers. Das ist etwas, was mit unserem Grundgesetz schwerlich vereinbar ist. Es ist zu Recht gesagt worden: Das ist vielleicht gerade so, weil wir die Dinge nicht ohne unsere eigene Geschichte sehen können. Aber auch daran ist ja möglicherweise nichts Schlechtes; denn auch in anderen Bereichen regt das unter Umständen etwas dazu an, Alternativen zu finden. Bei der Stammzellforschung hat es am Anfang geheißen: Wenn nicht auf embryonale Stammzellen zurückgegriffen werden kann, bricht alles zusammen, dann kommen wir ins Hintertreffen usw. Angesichts der Widerstände hat man nach anderen Wegen gesucht und gesehen, dass vieles auch mit körpereigenen Stammzellen möglich ist. Man hat Wege gefunden, Forschung produktiv zu ermöglichen unter Einhaltung der ethischen und rechtlichen Kriterien, die wir uns mit dem Grundgesetz nun einmal gegeben haben. Dieser Weg ist vielleicht etwas mühsamer, und er ist auch anspruchsvoller. Deshalb sollten wir ihn jedoch nicht scheuen. (Beifall) Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Danke schön. - Es gab noch eine konkrete Frage, die Sie vielleicht am ehesten beantworten können, Herr Pap: Kann ein Betreuer in eine Placebo-Studie einwilligen? Dr. Michael Pap (Rechtsanwalt für Medizinrecht, Karlsruhe): Bei einem einwilligungsunfähigen Erwachsenen ist die Frage auch unter Geltung des neuen Arzneimittelgesetzes grundsätzlich mit „Nein“ zu beantworten; denn das Kriterium der Gruppennützigkeit gilt auch nach dem neuen Arzneimittelgesetz und nach der europäischen Richtlinie, die ihm zugrunde liegt, nicht für den einwilligungsunfähigen Erwachsenen. Übrigens ist das nicht etwas, was früher einmal möglich war und durch die AMG-Novelle jetzt nicht mehr möglich wäre. Das klang vorhin in einer Frage so etwas an. Selbstverständlich war das auch nach dem bisher geltenden Arzneimittelgesetz nicht möglich. Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Ich sehe noch drei Wortmeldungen, die ich trotz der fortgeschrittenen Zeit - eigentlich wollten wir um 20 Uhr 22

Schluss machen - noch zulassen möchte. Ich würde dann die Teilnehmer des Podiums bitten, sofern sie mögen, eine kurze Antwort oder einen kurzen Kommentar dazu abzugeben. Christian Judith: Noch einmal meine Frage von eben; denn sie wurde, finde ich, nicht beantwortet: Was hat sich moralischethisch verändert, dass wir heute das wieder diskutieren müssen, was 1947 beantwortet worden ist? Ich habe kein neues Argument gehört, was ethisch-moralisch jetzt eine Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen rechtfertigt. Wie kommen wir darauf, diese Frage jetzt wieder neu zu diskutieren? Dr. Christiane Woopen (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Ich schicke vorweg, dass mir diese kategoriale Unterscheidung von fremdnütziger oder gruppennütziger Forschung, die an Minderjährigen unter bestimmten Voraussetzungen zulässig sein soll, nicht aber bei nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen, nicht plausibel ist. Ich begründe das jetzt aus Zeitgründen nicht, möchte aber einen Fall konstruieren und Sie um Ihre rechtliche Meinung bitten; denn mir geht immer die angesichts der Überalterung unserer Gesellschaft zunehmende Zahl an Demenzkranken durch den Kopf, die unserer dringenden Hilfe bedürfen. Wenn ein Arzneimittel entwickelt werden sollte, das eine Frühdiagnostik, die dann natürlich in einem Stadium der Nichteinwilligungsfähigkeit anwendbar wäre, ermöglichen würde, dann hätte das für die Betroffenen, an denen die Verträglichkeit dieses Arzneimittels oder überhaupt die Wirksamkeit erwiesen werden müsste, keine therapeutischen Auswirkungen. Das heißt, die Betroffenen, an denen das erst einmal geprüft würde, hätten davon keinen Nutzen. Es hätte aber möglicherweise einen Gruppennutzen. Muss ich aus der EU-Richtlinie und aus der AMG-Novelle schließen, dass die Prüfung eines solchen Arzneimittels, auch wenn es schon an gesunden einwilligungsfähigen Probanden auf Verträglichkeit getestet worden ist, nicht möglich ist? Prof. Dr. Ignaz Wessler: Ich wollte noch einmal auf die Aussage eingehen, dass eine placebo-kontrollierte Studie bei Minderjährigen die Legitimation durch den Gruppennutzen ermöglicht, selbst wenn das bedeutet, dass eine Therapieoption der Gruppe, die Placebo erhält, vorenthalten wird. Da ist vielleicht ein Missverständnis entstanden. Das ist sicherlich nicht vertretbar; denn hier wären die Vorgaben des minimalen Risikos und der minimalen Belastung auf gar keinen Fall gegeben. Es ist, glaube ich, ganz wichtig, das in der Unterscheidung auch festzuhalten. Zu der Frage, was sich seit 1947 in der Bewertung geändert hat, kann ich Ihnen keine philosophische Antwort, sondern nur eine medizinische Teilantwort geben. Unser Kenntnisstand über die Pharmakokinetik, darüber, wie der Körper sich mit Arzneimitteln auseinander setzt, Nationaler Ethikrat Forum Bioethik 23.02.2005

ist im Hinblick auf die Unterscheidung bei Kindern und bei Erwachsenen sicherlich exorbitant gestiegen. Das schafft das Problem, Forschung auch bei Minderjährigen durchzuführen, zum Wohl der Patientengruppe, die nicht einwilligungsfähig ist. Das ist, denke ich, ein ganz wesentlicher medizinisch-wissenschaftlicher Unterschied zum Stand von 1947. Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Herr Hirsch, was hat sich seit 1947 aus ethischer Perspektive geändert? Prof. Dr. Dr. Rolf D. Hirsch (Leiter der Abteilung für Gerontopsychiatrie/Gerontopsychiatrisches Zentrum an den Rheinischen Kliniken, Bonn): Vom Grundsatz her hat sich gar nichts verändert. Verändert hat sich die Differenziertheit, wie wir mit Dingen umgehen, und dass wir jetzt eigentlich versuchen, wesentlich offener mit den einzelnen Schwierigkeiten in der Öffentlichkeit umzugehen. Manche Fachleute wagen sich mehr als je zuvor an die Öffentlichkeit. Das heißt aber noch lange nicht, dass alle sich dahin wagen. Man muss immer wieder sagen: Ein Forscher ist ein Mensch, den - übertrieben gesagt - primär seine Forschung interessiert. Er sieht sich mehr oder weniger als Heil- und Seelsorger der Welt. Das macht es schwierig, wenn keine Kontrollen da sind. Das ist in jedem anderen Bereich mehr oder weniger ähnlich. Da, wo ich bisher einen Missbrauch erlebt oder mitbekommen habe, haben - das muss ich schon sagen Ethikkommissionen zum Teil wirklich versagt. Andererseits habe ich die einzelnen Schritte nicht so direkt mitgekriegt, sodass mir jetzt auch gesagt werden könnte, ich könne die einzelnen Sachen nicht beurteilen. Ich weiß es aus zweiter oder dritter Hand. Ich denke aber schon, dass wir in den Ethikkommissionen wirklich Leute brauchen, die mit betroffen oder Betroffenenvertreter sind. Ohne sie kann man die Ethikkommissionen meiner Meinung nach völlig vergessen. Wenn Wissenschaftler untereinander sind, dann versucht jeder - das ist ja logisch -, das Optimum erreichen. Aber der Haken ist, dass das extrem einseitig ist. Was die Frage der Demenzkranken angeht, so ärgert mich folgendes: Bei dem größten Teil derjenigen, die unserer Meinung nach beginnende Demenz haben, wird die Diagnostik überwiegend schlampig gemacht. Viele Hausärzte erkennen sie nicht. Das gilt nicht nur für Hausärzte, sondern auch für andere. Da gibt es also einen massiven Nachholbedarf. Das ist bekannt. Dem Nachholbedarf wird nicht Rechnung getragen, weil wir angeblich kein Geld haben. Das Zweite ist: Mindestens was die Medikation, aber auch was die nichtmedikamentöse Behandlung angeht, so wird beides in Deutschland eklatant nicht durchgeführt. Wenn das der Fall ist, dann frage ich mich, was man mit einer Forschung will, die dann später vielleicht irgendwelchen Leuten zugute kommt, die das erforderliche Geld haben. Wer heutzutage das Geld nicht hat, nur in einer Nationaler Ethikrat Forum Bioethik 23.02.2005

normalen Kasse versichert ist, der kriegt diese Sachen nicht geregelt. Er hat keine Chancen. Das heißt nicht, dass man keine Forschung machen sollte. Aber ich möchte erst einmal, dass da, wo Erkenntnisstand da ist, dieser endlich umgesetzt wird. Davon sind wir in Deutschland meilenweit entfernt. Das macht mir dabei viel mehr Kopfzerbrechen als so manch andere Dinge. (Vereinzelt Beifall) Dr. Michael Kölch (Universitäts- und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Ulm): Auch ich möchte noch einmal auf die Frage eingehen, was sich seit 1947 verändert hat. Ich denke, es hat sich auch vor 1947 von den ethischen Prinzipien her nichts verändert. Sie bestehen weiterhin. Sie werden manchmal gebrochen, so wie es zwischen 1933 und 1945 der Fall gewesen ist. Aber die Ethik, die dahinter steht, ist eine alte. Neuer sind die Forschungsmethoden, die Möglichkeiten der Forschung, die dann differenzierter Antworten auf Basis dieser Ethik bedürfen. Vorhin kam ein wichtiger Beitrag, auf den ich kurz eingehen möchte; das führt auch noch einmal hin zu dem Forschungsdesign. Es war ein richtiger Einwand, dass gesagt wurde: Wir haben diese strengen Richtlinien im gesamten Bereich der Sozialforschung, der soziologischen Forschung bisher nicht gehabt, die wir in der Medizin haben, ohne zu wissen, ob es nicht die gleichen Auswirkungen hat. Dazu nur ein plastisches Beispiel: Wir wissen nicht, was in der Psychotherapie mit einem schwer depressiven Patienten passiert. Da kann genauso viel Schlimmes passieren. Daran kann auch ein Leben hängen, aber es wird nicht über eine Ethikkommission oder Ähnliches wirklich kontrolliert. Das ist in Amerika anders. Die Amerikaner haben ihre ethischen Richtlinien seit den 70er-Jahren auch auf die Verhaltensforschung und auf die sozialwissenschaftliche Forschung ausgeweitet. Da hinken wir hinterher. Wir haben uns immer auf die medizinische Forschung beschränkt. Das führt mich zum Thema Forschungsdesign. Ich denke, ein großes Problem bei uns besteht darin, dass wir manchmal viel zu sehr auf Altgewohntes starren. Da macht man dann eben eine placebokontrollierte Studie, oder - ich sage es einmal ganz böse: was jetzt auch die neue Mode ist - man macht f-MRT-Studien oder so etwas, wo man mit relativ wenigen ganz gut publizieren kann. Studien in Richtung ‚natürliches Design’ aber, bei denen es mehrere Methoden gibt, bei denen der Patient eben nicht im klinischen Experiment daliegt, ein Medikament bekommt, das dann ganz toll wirkt, und dann ist der Patienten geheilt, sondern bei denen wir ein multifaktorielles Geschehen bei dem Patienten haben, wozu die psychosoziale Betreuung ebenso gehört wie die medikamentöse Betreuung und die individuelle Lebenssituation, diese Studien werden bei uns bisher zu wenig gemacht.

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Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Das spricht doch dafür, dass nicht nur nach Alternativen, sondern auch nach verschiedenen Methoden geschaut werden muss und dass verschiedene Methoden angewendet werden müssen. Warum macht man das nicht? Das wird diskutiert. Das ist ja auch in der Literatur immer wieder nachzulesen und wird in der öffentlichen Diskussion kritisiert. Ist es darauf zurückzuführen, dass man immer noch glaubt, eine medikamentöse Behandlung beispielsweise bringe im engen medizinischen Verständnis einen schnelleren Effekt? Es gibt ja zum Beispiel auch Langzeitstudien. Es gibt Studien, die nur mit Betroffenen, mit Erkrankten, mit Risikopatienten gemacht werden, die natürlich längerfristige Beobachtungszeiträume erfordern. Die Frage ist: Warum gibt es so wenig Fantasie, so wenig Vielfalt in Bezug auf Methoden, die unter Umständen - zumindest teilweise - nicht so starke Eingriffe mit sich bringen und die daher Einwilligungen auf einem niedrigeren Niveau ermöglichen, weil es sich eben nicht um invasive Eingriffe handelt? Dr. Michael Kölch (Universitäts- und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Ulm): Ich möchte fast sagen: Die Antwort ist zu banal. Aber es liegt natürlich am Geld. Es liegt am gesamten Wissenschafts- oder Forschungssystem. Im medizinischen Bereich darf man länger an der Universität sein, als Assistent zum Beispiel, als in anderen Fächern. Ich denke, man hat die Zeit gar nicht, um von der Perspektive her solche Sachen zu entwickeln. Das sind ja Lebensaufgaben. Das sind Forschungsdesigns. Das ist heute gar nicht mehr möglich. Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Andersherum ist dann natürlich die Frage: Muss man, weil man das nicht kann, nicht will, die Zeit nicht hat, dann auf Techniken wie die Einbeziehung von einwilligungsunfähigen Menschen rekurrieren? Das wäre die Alternative, die ich so nicht vertreten würde. Dr. Michael Pap (Rechtsanwalt für Medizinrecht, Karlsruhe): Ich möchte noch einmal auf die grundlegende Frage eingehen, die vorhin gestellt worden ist: Hat sich ethisch tatsächlich etwas verändert, wenn wir heute Dinge infrage stellen, die etwa 1947 und auch lange Zeit danach nicht infrage gestellt wurden? Bisher wurde als Argument die Bedürfnisse der Forschung angeführt. Aber das erklärt es nicht. - Ja, es hat sich ethisch etwas verändert. Es gibt eine - aus meiner Sicht - sehr gefährliche Tendenz. Wenn wir die letzten Jahre einmal Revue passieren lassen, so sehen wir in der gesamten Gesellschaft - das ist kein Problem der Arzneimittelforschung allein - eine gewisse Tendenz, die grundgesetzlich verbürgten Freiheitsrechte, die individuellen Freiheitsrechte, die für uns eigentlich immer Kernbestand gewesen sind - bis hin zur Menschenwürdegaran24

tie -, Schritt für Schritt zurückzudrängen zugunsten einer - ich nenne es einmal provokant: - Vollkaskogesellschaft, einer Anspruchshaltung auf Versorgung, einer erhöhten Regulationsdichte, verbunden mit einem Schritt für Schritt spürbaren Abbau von individuellen Freiheitsrechten. Das ist im juristischen Bereich wunderbar ablesbar an der Neukommentierung von Artikel 1 Grundgesetz in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz. Diejenigen von Ihnen, die juristisch bewandert sind, wissen, was ich meine. Da werden Dinge, die bislang als unantastbar gegolten haben, relativiert. Das sind Signale dafür, dass sich hier nicht nur die Anforderungen der Medizin ändern, sondern dass sich tatsächlich ethisch etwas verändert. Was ich sage, ist, glaube ich, nur eine Bestandsaufnahme. Ich möchte es nicht weiter qualifizieren. Dass ich dieser Entwicklung kritisch gegenüberstehe, merken Sie an meinem Beitrag. Ich denke, das ist Teil eines Wandels von gesellschaftlichen Werten, den wir beobachten. Wir mögen ihn gut finden, wir mögen ihn schlecht finden. Aber er ist vorhanden. Damit müssen wir uns auseinander setzen. Was wir im Bereich der klinischen Forschung gerade im Hinblick auf die Einwilligungsunfähigen sehen, die Tendenzen, die sich europaweit und weitergehend in eine bestimmte Richtung entwickeln, das ist ein Ausschnitt aus diesem Paradigmenwechsel. Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Danke schön, Herr Pap. - Könnten Sie vielleicht noch auf die Frage von Frau Woopen eingehen? Dr. Michael Pap (Rechtsanwalt für Medizinrecht, Karlsruhe): Können Sie mir gerade noch einmal ein Stichwort geben? Es sind so viele Fragen gestellt worden. Dr. Christiane Woopen (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Ist es richtig, dass sich ein diagnostisches Arzneimittel bei Demenzkranken unter den geltenden Bedingungen, also unter den rechtlichen Voraussetzungen, tatsächlich nicht erforschen lässt? Dr. Michael Pap (Rechtsanwalt für Medizinrecht, Karlsruhe): Ja, denn es muss unmittelbar geeignet sein, der gesundheitlichen Situation der Versuchsperson zu dienen, und zwar sowohl nach der Richtlinie als auch nach der AMGNovelle. Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach (Mitglied des Nationalen Ethikrates): Danke schön. - Ich habe kürzlich den Begriff „reziproker Altruismus“ gelesen. Da ging es darum, dass Altruismus, Unterstützung anderer, Selbstlosigkeit auf Gegenseitigkeit beruhen. Wir haben den gesamten Abend über Eingriffe diskutiert, die Einwilligungsunfähigen nicht oder nur potenziell zugute kommen. Einwilligungsunfähige Menschen haben Nationaler Ethikrat Forum Bioethik 23.02.2005

nach den Regelungen, die wir diskutiert haben, Eingriffe zu erdulden, die unter Umständen anderen, ähnlich Erkrankten oder Risikopersonen zugute kommen. Man könnte in unserer Gesellschaft, wenn denn die nichteigennützige Forschung, das Humanexperiment so notwendig ist, natürlich auch darüber nachdenken, dass jeder und jede von uns prinzipiell zur Verfügung steht, wenn es darum geht, den medizinischen Fortschritt entsprechend voranzubringen, und es nicht per Regelung auf Menschen zu konzentrieren, die von sich aus da nicht einwilligen können. Das wäre nicht nur ein interessantes Gedankenexperiment, sondern möglicherweise auch wirklich so etwas wie die Umsetzung von gesellschaftlicher Solidarität zum Wohle der Gesundheit aller Gesellschaftsmitglieder. Sie merken, wir sind mitten in der Diskussion. Unsere Diskussionszeit für heute Abend ist zu Ende. Ich glaube aber, dass es richtig und notwendig ist, an diesen Fragestellungen weiterzuarbeiten, gerade auch, weil sehr viele Begrifflichkeiten in den Neuregelungen vorhanden sind, die eben nicht ausgefüllt sind, die auch für die Praxis in den Kliniken, in der klinischen Forschung, in der Grundlagenforschung noch nicht konkretisiert sind. Insofern möchte ich Sie alle auffordern, sich in diese Diskussion einzubringen. Ich wünsche mir jedenfalls auch für den Ethikrat, dass diese Diskussion wieder öffentlicher und breiter geführt wird, damit mehr Transparenz in die Verfahren hineinkommt. Ich danke Ihnen für Ihre engagierte, aktive Mitarbeit, für Ihr geduldiges Zuhören und wünsche Ihnen einen guten Nachhauseweg. Danke schön! (Beifall)

(Schluss: 20.29 Uhr)

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