Wohlfahrtsstaat und demographischer Wandel Hausarbeit zur Erlangung des Akademischen Grades eines Magister Artium Im Juni 2011 dem Fachbereich Sozialwissenschaften, Medien und Sport der Johannes Gutenberg-‐Universität vorgelegt von Tilman Johannes Scheipers aus Lörrach. Tilman Johannes Scheipers Müllerstraße 30, 2. Aufgg. 13353 Berlin
[email protected] Matrikelnummer: 2608772
Erstgutachterin: Fr. Prof. Dr. Edeltraut Roller Zweitgutachterin: Fr. Dr. Claudia Landwehr
INHALTSVERZEICHNIS I.
EINLEITUNG ...................................................................................................................................1
II.
THEORETISCHER TEIL ..............................................................................................................8
1.
Der demographische Wandel .................................................................................................8 A. Determinanten des demographischen Wandels und seine Entwicklung in Deutschland ............................................................................................................................................... 8 B. Die Ursachen der gegenwärtigen demographischen Entwicklung..................................10 i. Ursachen nach ökonomischen Theorien.................................................................................10 ii. Ursachen nach soziologischen Theorien ...............................................................................12 iii. Ursachen struktureller Natur....................................................................................................14 C. Folgen der derzeitigen demographischen Entwicklung.......................................................15 i. Die demographischen Auswirkungen ......................................................................................15 ii. Die wirtschaftlichen Auswirkungen ........................................................................................18 iii. Die sozialen Auswirkungen........................................................................................................20
2.
Der Wohlfahrtsstaat................................................................................................................ 22 A. Theorien zur Entwicklung, zur Einordnung und zum Vergleich von Wohlfahrtsstaaten.................................................................................................................................22 B. Das Entstehen von Wohlfahrtsstaaten.........................................................................................24 i. Deutschland.........................................................................................................................................24 ii. Großbritannien .................................................................................................................................25 iii. Schweden ...........................................................................................................................................25 C. Die Typologisierung nach Gøsta Esping-‐Andersen.................................................................26 i. Der liberale Wohlfahrtsstaat........................................................................................................29 ii. Der konservative Wohlfahrtsstaat ...........................................................................................29 iii. Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat..........................................................................30
3.
Demographischer Wandel trifft Wohlfahrtsstaat ......................................................... 31 A. Möglichkeiten, Ursachen demographischen Wandels entgegenzuwirken ..................31 i. Kinderbetreuung ...............................................................................................................................32 ii. Gleichberechtigung .........................................................................................................................35 iii. Armutsrisiko.....................................................................................................................................37 B. Familienpolitische Möglichkeiten, demographischem Wandel zu begegnen .............38 i. Definition von Familienpolitik ....................................................................................................40 ii. Akteure mit familienpolitischem Einfluss.............................................................................41 iii. Motive von Familienpolitik ........................................................................................................43 iv. Typen von Familienpolitiken.....................................................................................................45
III. DESKRIPTIVER TEIL.............................................................................................................. 50 1.
Familienpolitische Maßnahmen in Deutschland .......................................................... 52 A. Mutterschaftsgeld .................................................................................................................................52 B. Elterngeld .................................................................................................................................................52 C. Elternzeit...................................................................................................................................................54 D. Kindergeld................................................................................................................................................54
i
E. Kinderzuschlag .......................................................................................................................................55 F. Kinderbetreuungsmöglichkeiten ....................................................................................................55 G. Steuervergünstigungen.......................................................................................................................57 2.
Familienpolitische Maßnahmen in Großbritannien.................................................... 59 A. Mutterschaftsurlaub ............................................................................................................................59 B. Geburtsprämien .....................................................................................................................................60 C. Elternzeit...................................................................................................................................................61 D. Kindergeld................................................................................................................................................61 E. Kinderbetreuungsmöglichkeiten....................................................................................................61 F. Steuervergünstigungen.......................................................................................................................62
3.
Familienpolitische Maßnahmen in Schweden ............................................................... 64 A. Schwangerschaftsgeld.........................................................................................................................64 B. Elterngeld .................................................................................................................................................64 C. Kindergeld ................................................................................................................................................66 D. Unterhaltsbeihilfe .................................................................................................................................67 E. Kinderbetreuungsmöglichkeiten....................................................................................................67 F. Steuervergünstigungen.......................................................................................................................69
IV.
ANALYTISCHER TEIL............................................................................................................. 70
1. Deutschland: Familienpolitische Maßnahmen in Relation zum Wohlfahrtsregime.................................................................................................................... 70 2. Großbritannien: Familienpolitische Maßnahmen in Relation zum Wohlfahrtsregime.................................................................................................................... 73 3. Schweden: Familienpolitische Maßnahmen in Relation zum Wohlfahrtsregime.................................................................................................................... 75 V.
FAZIT ........................................................................................................................................... 77
VI.
LITERATURVERZEICHNIS.................................................................................................... 80
ii
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS BMFSFJ Bundesminiterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend BZgA Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bzgl. bezüglich bzw. beziehungsweise ca. circa et al. et alii, und Andere etc. et cetera, und so weiter GG Grundgesetz ggf. gegebenenfalls i.d.R. in der Regel KAS Konrad Adenauer-‐Stiftung Kita Kindertagessätte Mio. Million Mrd. Milliarde o.ä. oder Ähnliches o.g. oben genannt PDF Portable Document File SGB Sozialgesetzbuch sog. so genannt u.ä. und Ähnliches USA United States of America, Vereinigte Staaten von Amerika usw. und so weiter v.a. vor Allem z.B. zum Beispiel
iii
DANKSAGUNG
Besonderer Dank — in alphabethischer Reihenfolge — gilt folgenden Personen für moralische Unterstützung, für fachliche Beratung, für gute Ratschläge und inhaltliches sowie orthographisch-‐grammatikalisches Gegenlesen. Dr. Herbert Bornebusch Kristina Jeromin Katrin Noller Janna Scheipers Josef Scheipers Sebastian Vösgen
iv
I.
Einleitung
Die zentrale Frage dieser Arbeit lautet: Sind familienpolitische Maßnahmen, die Einfluss nehmen sollen auf den demographischen Wandel, abhängig vom Typ des Wohlfahrtsstaats? Das tangiert gleich zwei der seit ein paar Jahren sowohl in Politik als auch Wissenschaft gleichwohl intensiv wie kontrovers diskutierten Themen: die Zukunft des Wohlfahrtsstaats und die vermutlichen Folgen des demographisches Wandels der vergangenen 30 Jahre. Da stellt sich zuerst die Frage: Was ist demographischer Wandel? Aus soziologischer Sicht ist demographischer Wandel eine Veränderung der Struktur der Bevölkerung, die in einem bestimmten Zeitraum auf einem bestimmten Gebiet lebt. Diese Veränderungen ergeben sich durch die Summe der drei Bevölkerungsprozesse, nämlich durch Geburten, durch Sterbefälle sowie durch Ein-‐ bzw. Auswanderung. Ist Art und Ausmaß dieser Veränderungen über einen gewissen Zeitraum einigermaßen gleichbleibend, so spricht man von einer Bevölkerungsweise.1 Die sich seit etwa
dem
Anfang
der
1970er
Jahre
herauskristallisierende
Bevölkerungsweise in den Staaten Europas und Nordamerikas sieht so aus: Die Geburtenrate geht zurück, und gleichzeitig steigt die Lebenserwartung. Dadurch wächst der relative Anteil älterer Menschen in der Bevölkerung. In den meisten Staaten wirkt Zuwanderung einem Bevölkerungsrückgang entgegen. Auch in Staaten Südamerikas, Asiens
1 vgl.: Höhn, Charlotte: „Bevölkerungsentwicklung und demographische
Herausforderung“, in: Hradil, Stefan / Immerfall, Stefan (Hrsg.): „Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich“, Opladen 1997, S. 71f.
1
und der ehemaligen Sowjetunion lassen sich diese Tendenzen klar erkennen.2 Im Hinblick auf unsere Fragestellung ist in einem zweiten Schritt zu fragen und zu klären: Was ist Wohlfahrt bzw. was verstehen wir unter einem Wohlfahrtsstaat? In Bezug auf den Begriff Wohlfahrt muss zum einen auf der Ebene des umgangssprachlichen Gebrauchs unterschieden werden: Gegenüber dem Begriff Wohlfahrtsstaat sind im Deutschen die Bezeichnungen Sozialstaat oder Sozialpolitik geläufiger. Während bei Sozialstaat direkt eine imperative Komponente mitschwingt, nämlich eine implizite Fürsorgepflicht des Staats, hat Wohlfahrtsstaat bei Angehörigen mancher politischer Lager einen etwas abwertenden Beigeschmack. Zum anderen muss auf der Ebene wissenschaftlicher Definitionen differenziert werden: Betrachtet man das System der Wohlfahrt, wie es sich in einer gegebenen
Gesellschaft
darstellt,
muss
als
Überbegriff
von
Wohlfahrtsregime gesprochen werden. Denn Wohlfahrt produzieren drei Akteure: Staat, Familie und Markt. Wohlfahrtsstaat impliziert also den Staat als Akteur. Sozialpolitik wiederum bezeichnet akteurunabhängig eher ein bestimmtes Vorgehen. Dennoch werden in der Wissenschaft alle drei Begriffe oft synonym verwendet. In dieser Arbeit wird in Anlehnung an die englische Bezeichnung welfare state der Begriff Wohlfahrtsstaat bevorzugt und soll vollkommen deskriptiv und wertfrei verstanden werden. Für den Begriff Wohlfahrtsstaat ist in dieser Arbeit ebenfalls folgende Feststellung von Relevanz: Auch wenn Wohlfahrt nicht für nur eine Staatsform reserviert ist, bleibt der Fokus im Folgenden allein auf den Staaten, die sich zu den demokratischen Rechtsstaaten zählen lassen. Wohlfahrtsstaatlichkeit — gleichwohl in unterschiedlichem Umfang — definiert die Verantwortlichkeit eines Staats, seine Bevölkerung gegen 2 vgl.: Walla, Wolfgang / Eggen, Bernd / Lipinski, Heike: „Der demographische Wandel.
Herausforderungen für Politik und Wirtschaft“, Stuttgart 2006, S. 25-‐45
2
gewisse Standardrisiken des menschlichen Lebens abzusichern. Zu diesen Standardrisiken zählen im Kern: Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und Alter.3 Es können auch Einkommensausfälle hinzugezählt werden, die z.B. aufgrund von Ausbildung, Kindererziehung oder dem Tod eines Familienangehörigen entstehen. Weitere wohlfahrtsstaatliche Ziele sind — in verschiedenem Maße — die Eindämmung von sozialen Ungleichheiten, das Streben nach Vollbeschäftigung sowie die größtmögliche
Entkopplung
des
individuellen
Schicksals
von
marktzyklischen Begebenheiten. Diese Regulierungen äußern sich zum Beispiel in Steuer-‐, Arbeitsmarkt-‐ oder Bildungspolitiken.4 Bevölkerung sei hier definiert als diejenigen Personen, die auf dem Staatsgebiet eines bestimmten Staats leben; nicht notwendigerweise ist diese Personengruppe identisch mit den Staatsbürgern ebendieses Staats. Diese Personengruppe bildet im Prinzip eine Solidargemeinschaft, die für individuelle Probleme des Einzelnen standardisiert eintritt — vertreten durch staatliche oder staatsähnliche Versicherungssysteme.5 Je nach Wohlfahrtsregime
sind
es
jedoch
zum
Teil
nur
bestimmte
Bevölkerungsgruppen, die diese Versicherungssysteme finanzieren. Schrumpft eine Gesellschaft, hat das wirtschaftliche und soziale Folgen, die an dieser Stelle zunächst nur schlagwortartig angeschnitten werden sollen:
Arbeitskräftemangel,
Kranken-‐
und
Rentenversicherungsproblematiken, aber auch z.B. ein schwächer werdendes Unterstützungsnetzwerk für ältere Menschen.6 So wird in 3 vgl.: Hauser, Richard: „Soziale Sicherung in westeuropäischen Staaten“, in: Hradil,
Stefan et al. (Hrsg.): a. a. O., S. 523f. 4 vgl.: Schmidt, Manfred G.: „Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich“, Wiesbaden 2005, 3. Auflage, S. 15ff. 5 vgl. hierzu weitergehend: Kaufmann, Franz-‐Xaver: „Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen.“, Frankfurt am Main 2005, S. 23ff. 6 genauere Ausführungen zu Ursachen und Folgen einer schrumpfenden Gesellschaft folgen in den Kapiteln II.1.B und II.1.C
3
dieser Arbeit vorausgesetzt, dass es das Interesse einer Bevölkerung ist, nicht zu schrumpfen. Aus diesem Grund wird angenommen, dass es zur Aufgabe der die Bevölkerung vertretenden Regierung gehört, an der Lösung dieses Problems zu arbeiten.7 In der Bundesrepublik Deutschland gründet sich die Wohlfahrtsstaatlichkeit zudem auf die Artikel 20 und 28 des Grundgesetzes. Darin heißt es zum einen: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“8 Und zum anderen: „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats im Sinne des Grundgesetzes entsprechen.“9 Auf wissenschaftlicher Ebene gehört das Thema Wohlfahrtsstaat zu einem der häufig erforschten Themengebiete: Josef Schmid — einer der wichtigen Autoren in diesem Bereich — spricht in seinem Buch „Wohlfahrtsstaaten im Vergleich“ sogar von einer „akademischen Wachstumsbranche“10. Auch wenn bereits seit etwa 35 Jahren vermehrt Schriften hierzu veröffentlicht wurden, ist das Erkenntnisinteresse noch nicht erschöpft. Es sind v.a. die Arbeiten des Dänen Gøsta Esping-‐ Andersen von besonderer Bedeutung für den wissenschaftlichen Diskurs und auch für den Aufbau dieser Arbeit.11 Insgesamt beschäftigt sich die Literatur v.a. mit dem Thema: Wie und warum sind Wohlfahrtsstaaten entstanden und wie lassen sie sich klassifizieren? Ebenfalls nicht neu für die Forschung ist die Beschäftigung mit dem demografischen Wandel; seit Ende der 1970er Jahre wird das Thema 7 Es scheint ebenfalls evident, anzunehmen, dass politische Maßnahmen alleine das
Problem nicht lindern oder gar lösen können. Mehr dazu in den Kapiteln II.3.A.i sowie II.3.A.ii 8 Art. 20, Abs. 1, GG 9 Art. 28, Abs. 1, GG 10 Schmid, Josef: „Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme“, Opladen 2002, S. 69 11 siehe v.a.: Esping-‐Andersen, Gøsta: „The Three Worlds of Welfare Capitalism“, Cambridge 1990
4
diskutiert. Auf fast schon populärwissenschaftlicher Ebene anzusiedeln, aber für den Anstoß einer breiteren und auch medienöffentlichen Diskussion nicht zu unterschätzen, sind die Beiträge von Herwig Birg: „Prosperität
einer
alternden
Gesellschaft“,
„Die
demografische
Zeitenwende“ und „Die ausgefallene Generation“.12 So fand das Thema 2004 seinen Weg auf die Titelseiten der deutschen Presse; mit dem Titelthema „Land ohne Lachen“ stellte DER SPIEGEL fest: „Deutschland schrumpft — und ergraut.“13 Ebenfalls 2004 erschien das Buch des Mit-‐ Herausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, „Der Methusalem-‐Komplott“14, das sogar ein direktes ‚Gegen-‐Buch’ provozierte: „Die Methusalem-‐Lüge“ von Ernst Kistler15. Bestimmte
Bevölkerungsweisen
und
das
Entstehen
von
Wohlfahrtsstaatlichkeit sowie dessen Ausmaß hängen eng miteinander zusammen. Es wurden unterschiedliche Theorien dazu formuliert, aus welchen Gründen sich in diesem Bereich auf Seiten des Staats ein Verantwortungsbewusstsein für seine Bevölkerung herausgebildet hat. Eine Theorie führt ihr Entstehen auf die wirtschaftlichen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts zurück.16 Diese Umwälzungen verkomplizierten das Zusammenwohnen von mehreren Generationen unter einem Dach, wie es in vorindustrieller Zeit weit verbreitet war, und machten es dadurch seltener. Die technischen Neuerungen machten Kinderarbeit immer überflüssiger. So bewirkte die Modernisierung eine ähnliche demographische Veränderung wie sie heutzutage zu beobachten ist: Die
12 siehe: Birg, Herwig: „Prosperität einer alternden Gesellschaft“, Bad Homburg 2000;
sowie: Birg, Herwig: „Die demografische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa“, München 2001; sowie: Birg, Herwig: „Die ausgefallene Generation. Was die Demografie über unsere Zukunft sagt“, München 2005 13 Bölsche , Jochen: „Land ohne Lachen“, in: DER SPIEGEL, 2/2004, S. 38 14 siehe: Schirrmacher, Frank: „Das Methusalem-‐Komplott: Die Macht des Alterns 2004-‐ 2050“, Frankfurt am Main 2004 15 siehe: Kistler, Ernst: „Die Methusalem-‐Lüge. Wie mit demografischen Mythen Politik gemacht wird“, München 2006 16 genauere Ausführungen zum Entstehen von Wohlfahrtsstaaten in Kapitel II.2.A
5
Geburtenraten sanken, der dadurch wachsende Anteil der älteren Bevölkerung wurde älter. Wohlfahrtsstaatliche Leistungen zur Unterstützung der älteren Generation wurden eingeführt und auf andere Bevölkerungsteile ausgeweitet. 17 In den meisten Wohlfahrtsstaaten sind es v.a. die Teile der Bevölkerung, die einer geregelten Erwerbsarbeit nachgehen, durch die die Finanzierung der sozialen Versicherungssysteme gewährleistet wird. In der Regel ist dies der größte Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter: Menschen zwischen 20 und 60 Jahren. In einer schrumpfenden Gesellschaft wird der Anteil der unter 60-‐Jährigen an der Gesamtbevölkerung jedoch immer kleiner. Eine schrumpfende und alternde Gesellschaft schafft sich Probleme also genau
dort,
wofür
ursprünglich
das
Entstehen
von
Wohlfahrtsstaatlichkeit Linderung und Abhilfe versprach. Im Hinblick auf diese paradoxale Konstellation könnte diskutiert werden, ob — und wenn ja,
welche
—
der
Wohlfahrtsstaatlichkeit
‚Mitschuld’
am
demographischen Wandel zugewiesen werden müsste. Denn unterstützt das Eintreten für etwas, das zuvor durch die Familie aufgefangen wurde, nicht auch das Verschwinden familiärer Aufgaben und somit das ‚Verschwinden’ der Familie selbst?18 Eine Frage, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Denn sie setzt einen Schritt davor an:
17 vgl.: Esping-‐Andersen, Gøsta: „Drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Zur
politischen Ökonomie des Wohlfahrtsstaats“, in: Lessenich, Stephan / Ostner, Ilona (Hrsg.): „Welten des Wohlfahrtskapitalismus“, Frankfurt am Main / New York 1998, S. 24f.; ausführlicher: Wilensky, Harold L.: „The welfare state and equality : strucural and ideological roots of public expenditures.“, Berkley / Los Angeles / London 1975 18 vgl.: Strohmeier, Klaus Peter: „Familiy Policy – How Does It Work?“, in: Kaufmann, Franz-‐Xaver / Kuijsten, Anton / Schulze, Hans-‐Joachim / Strohmeier, Klaus Peter (Hrsg): „Familiy Life and Family Policies in Europe. Volume 2: Problems and Issues in Comparative Perspective“, Oxford 2002, S. 326
6
Diese Arbeit fragt auf der übergeordneten Ebene, was Wohlfahrtsstaaten innerhalb ihres familienpolitischen Feldes möglich ist zu tun, um einer schrumpfenden Gesellschaft entgegen zu wirken. Auf der darunter liegenden Ebene folgt sodann eine Analyse, ob sich familienpolitische Maßnahmen abhängig vom Typ des Wohlfahrtsregimes unterscheiden.
7
II.
Theoretischer Teil 1. Der demographische Wandel A. Determinanten des demographischen Wandels und seine Entwicklung in Deutschland
Die Determinanten des demographischen Wandels sind Veränderungen in der Geburten-‐ und Sterberate sowie in der Aus-‐ und Zuwanderung. In den vergangen 300 Jahren veränderte sich die Bevölkerungsweise in zwei wesentlichen Phasen — dem sog. Ersten und sog. Zweiten Demographischen Übergang.19 In der vorindustriellen Bevölkerungsweise bekamen die Menschen viele Kinder und hatten eine niedrige Lebenserwartung: In Deutschland lag die Geburtenrate bei ca. fünf lebend geborenen Kindern pro Frau, und die Lebenserwartung bei durchschnittlich 30 Jahren. Die Bevölkerung wuchs, da die Geburtenrate oberhalb der Sterberate lag — wenn auch beide auf hohem Niveau. Innerhalb des Ersten Demographischen Übergangs reduzierten sich aufgrund von medizinischen Errungenschaften, Technisierung und Industrialisierung der Gesellschaft zunächst die Sterbe-‐ und dann die Geburtenrate. Da die Geburtenrate immer noch größer war als die Sterberate, wuchs die Bevölkerung dennoch — wenngleich nun jeweils auf niedrigerem Niveau. Dies versteht sich als die industrielle Bevölkerungsweise: Die Fertilitätsrate lag in Deutschland bei ca. 2,5 Kindern pro Frau und die durchschnittliche Lebenserwartung betrug 45 Jahre. 19 vgl.: Andorka, Rudolf: „Einführung in die soziologische Gesellschaftsanalyse“, Opladen
2001, S. 240f.
8
Im Zuge des Zweiten Demographischen Übergangs sank die Geburtenrate nach kurzem Babyboom weiter und fiel unterhalb des Niveaus der Sterberate, die wiederum weitestgehend konstant blieb. Hierbei wird von der postindustriellen Bevölkerungsweise gesprochen: in Deutschland ca. 1,3 Kinder pro Frau und eine durchschnittliche Lebenserwartung von 75 Jahren. Das Prekäre daran: Die Geburtenrate liegt unterhalb des Reproduktionsfaktors von durchschnittlich 2,1 Kindern pro Frau. Bei dieser
Bevölkerungsweise
schrumpft
die
Bevölkerung
ohne
Zuwanderung. Grob gesagt war Deutschland bis zum Zweiten Weltkrieg ein Auswanderungsland:
Aufgrund
von
Kriegen,
Epidemien
und
Hungersnöten emigrierten damals viele Menschen in die Vereinigten Staaten von Amerika oder nach Russland. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde
Deutschland
im
Großen
und
Ganzen
zu
einem
Einwanderungsland: In den 1950er Jahren waren das v.a. Flüchtlinge aus den vormals deutschen Gebieten im Osten, also deutschstämmige Aussiedler; bis zum Bau der ‚Berliner Mauer’ waren das Flüchtlinge aus der sowjetischen Besatzungszone; seit den 1960er Jahren bis zum sog. Anwerbestopp 1973 wurden aufgrund des ‚Wirtschaftswunders’ inklusive Familien fast sieben Mio. ‚Gastarbeiter’ aus den südlichen Mittelmeerländern nach Deutschland angeworben; v.a. seit den 1980er Jahren nahm Deutschland viele Asylbewerber und politische Flüchtlinge auf.20 Seit Bestehen der Bundesrepublik sind rund 31 Mio. Menschen nach Deutschland zu-‐ und etwa 22 Mio. abgewandert; so sind netto 9 Mio. Menschen nach Deutschland immigriert.21
20 vgl.: Hradil, Stefan: „Die Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich“,
Wiesbaden 2004, S. 56f. 21 vgl.: Zuwanderungskommission: „Bericht der unabhängigen Kommission ‚Zuwanderung’, Juli 2001“, Berlin 2001, S. 14f.
9
B. Die Ursachen der gegenwärtigen demographischen Entwicklung i. Phänomene
Ursachen nach ökonomischen Theorien demographischer
Natur
anhand
ökonomischer
Entscheidungsmethodiken zu begründen, hat bereits seit Thomas Robert Malthus und Adam Smith Tradition. Doch die Geburtenrate auf Basis der Rational-‐Choice-‐Theorie zu erklären, wurde v.a. durch Gary S. Becker22 begründet. Ein Homo Oeconomicus fällt seine Entscheidung auf Grundlage zweier Determinanten: seinem Nutzen und der subjektiven Wahrscheinlichkeit, diesen Nutzen zu erlangen. Seine Präferenzen werden durch Restriktionen beeinflusst: z.B. durch finanzielle Möglichkeiten, durch Gesetze, durch soziale Un-‐ oder Erwünschtheiten sowie durch mentale oder physische Fähigkeiten.23 Während Malthus die Bevölkerungsentwicklung mittels der Variablen Heiratsalter oder durchschnittliche Koitushäufigkeit in Ehen berechnete, stellte Becker fest, dass in einer modernen Gesellschaft zwei Entwicklungen diese Formel unbrauchbar
gemacht
haben.
Zum
einen
ist
die
Säuglingssterblichkeitsrate vernachlässigbar gering, zum anderen das Wissen um Empfängnisverhütung allgemein verbreitet. Familienplanung ist eine Entscheidungsgröße geworden. Sie hat nichts mehr mit einer durchschnittlichen Koitushäufigkeit in Ehen zu tun. Eine Schwangerschaft bedeutet im Normalfall: Es wurde eine Entscheidung dafür getroffen.24 Der rational abwägende Homo Oeconomicus entscheidet sich für eine Geburt, wenn der zu erwartende Nutzen des Kindes seine 22 siehe: Becker, Gary S.: „An Economic Analysis of Fertility. Demographic and Economic
Change in Developed Countries“, Princeton 1960 23 vgl.: Opp, Karl-‐Dieter: „Die Entstehung sozialer Normen. Ein Integrationsversuch soziologischer, sozialpsychologischer und ökonomischer Erklärungen“, Tübingen 1983, S. 34f. 24 vgl.: Becker, Gary S.: „Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens“, Tübingen 1982, S. 188f.
10
wahrscheinlichen Kosten übertrifft. Überwiegen die Kosten, unterbleibt die Geburt. Als Kosten können die Aufwendungen für z.B. Ernährung, Kleidung, Ausbildung, u.ä. verstanden werden. Der Nutzen ist aufgefächert in Konsum-‐, Arbeits-‐ und Vorsorgenutzen. Nach der ökonomischen Theorie der Fruchtbarkeit haben somit zwei Faktoren zum Sinken der Geburtenraten beigetragen: Auf der Habenseite fällt zu aller erst die Arbeitskraft als Nutzen des Kindes weg. Es kann lediglich der Konsumnutzen — das Kind als Objekt der Freude — als zeitgemäß gelten. Daher definiert Becker Kinder als „eine Quelle psychischen Einkommens oder psychischer Befriedigung, [so dass sie] in der Terminologie der Ökonomie [...] als Konsumgüter“25 verstanden werden müssen. Das Konzept des Value of Children beschreibt den immateriellen Nutzen von Kindern u.a. mit folgenden Größen: Anerkennung
durch
das
soziale
Umfeld,
religiöse
oder
verwandtschaftliche Traditionen, Lebenssinnstiftung durch Elternschaft, emotionale Erfahrungen gegenüber dem Partner und dem Kind.26 Ein weiterer Faktor ist die Bildungsexpansion — v.a. die der Frauen. Mehr Bildung führt zu höherem Einkommen. Mit steigendem Einkommen steigen ebenfalls die Opportunitätskosten des Kindes, die durch Verzicht oder Teilverzicht auf Berufstätigkeit mit dem damit verbundenen Einkommenswegfall entstehen. Da sich die Erwerbsmöglichkeiten von Frauen infolge von höherer Qualifikationen deutlich verbessert haben, muss der Nutzen eben auch solche Kosten relativieren, die in einer bereits investierten Ausbildung zu suchen sind sowie in dem Risiko, im Anschluss an eine Babypause keine Anstellung mehr zu finden.27 Wolfgang Walla et al. haben für eine Frau mit einem Einstiegsgehalt von 25 Zimmermann, Klaus F.: „Die ökonomische Theorie der Familie“, in: Felderer, Bernhard
(Hg.): „Beiträge zur Bevölkerungsökonomie“, Berlin 1986, S. 189 26 vgl.: Höpflinger, François: „Bevölkerungssoziologie“, Weinheim 1997, S. 80ff. 27 vgl.: Andorka, Rudolf: a.a.O., S. 241
11
bspw. 24.000 Euro, die nach sechs Jahren Berufstätigkeit eine Babypause von zwei Jahren einlegt, einen durchschnittlichen Einkommensverlust von 80.000 Euro bis zum 15. Berufsjahr errechnet.28 So erklärt die Logik der Opportunitätskosten das Phänomen des demo-‐ ökonomischen Paradoxons: Je weiter eine Gesellschaft in Bezug auf ihren wirtschaftlichen Fortschritt entwickelt ist und je mehr die Einkommen sowie der allgemeine Wohlstand steigen, desto niedriger liegt die Geburtenrate. Denn je höher die Einkommen, desto höher die Opportunitätskosten. 29 ii.
Ursachen nach soziologischen Theorien
Soziologische
Theorien
der
Fertilität
führen
gesellschaftliche
Konventionen als Gründe an: „Wenn [...] Familien mit zwei oder mehr Kindern für unverantwortlich, altmodisch oder [...] dumm gehalten werden, [...] sind nur wenige bereit, mehrere Kinder zu bekommen.“30
Doch wie kommen diese Konventionen zustande? Zunächst sind es Gründe der Individualisierung und Deinstitutionalisierung: Analog zu den ökonomischen Theorien wird Schwangerschaft und Geburt nicht als spontanes, biologisches Ereignis, sondern als Entscheidung der Eltern aufgefasst. Die Veränderung des reproduktiven Verhaltens wird auf den sog. Wertewandel31 zurückgeführt. Postmaterialistische Werte lösen materialistische ab: Ein Leben fokussiert auf Pflicht und Akzeptanz wird 28 vgl. Walla, Wolfgang et al.: a.a.O., S. 192
29 vgl.: Birg, Herwig: „Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in
Deutschland und Europa“, München 2001, S. 24f.; 42-‐45 30 Andorka, Rudolf: a.a.O., S. 242 31 siehe: Inglehart, Ronald: „Kultureller Umbruch. Wertewandel in der westlichen Welt“, Frankfurt am Main / New York, 1990
12
ersetzt durch Streben nach Selbstfindung und Selbsterfahrung. Die frühere Institution Familie ist lediglich zur am häufigsten gewählten Alternative geworden, doch keine biographische Notwendigkeit. Eine Familie zu gründen muss gegenüber der Abkehr von anderen Möglichkeiten der Lebensführung gerechtfertigt werden. Kinder sind keine logische Konsequenz einer ehelichen oder eheähnlichen Partnerschaft.32 Der damit einhergehende Zuwachs an biographischen Optionen für Männer als auch für Frauen bewirkt eine Zurückhaltung vor endgültigen und langfristigen Entscheidungen: Der Geburtenrückgang ist zurückzuführen
auf
eine
„Zunahme
des
Risikos
langfristiger
biographischer Festlegungen“33. Hinzu kommt: Aufgrund der allgemein bekannten und akzeptierten Möglichkeiten der Empfängnisverhütung wird im Falle einer Schwangerschaft von einer bewussten Entscheidung ausgegangen. Dieser bewussten Entscheidung folgt die Erwartung, das Kind verantwortungsbewusst zu erziehen — der gesellschaftliche Imperativ verantworteter Elternschaft.34 Des Weiteren werden für das Zustandekommen von Fertilität hemmenden Konventionen Gründe der Pluralisierung und Polarisierung aufgeführt: In mittel-‐ und südeuropäischen Staaten ist zu beobachten, dass sich Lebensformen zwar diversifizieren, Elternschaft sich aber dennoch an eheliche oder eheähnliche Partnerschaften knüpft. Im sozial-‐ geographischen Stadt-‐Land-‐Vergleich zeigt sich: In ländlichen Gebieten leben Familien, während sich in Städten häufig kinderlose Milieus finden, in denen Kinderlosigkeit Normalität ist.35,36 Eine für die Landesregierung 32 vgl.: Huinink, Johannes / Strohmeier, Klaus Peter / Wagner, Michael: „Solidarität in
Partnerschaft und Familie: Zum Stand familiensoziologischer Theoriebildung“, Würzburg 2001, S. 12 33 Birg, Herwig / Koch, Helmut: „Der Bevölkerungsrückgang in der Bundesrepublik Deutschland“, Frankfurt am Main 1988, S. 44 34 vgl.: Kaufmann, Franz-‐Xaver: a.a.O., S. 133f. 35 vgl.: ebenda, S. 142f.
13
Baden-‐Württembergs erstellte Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach kommt zu dem Schluss: „Eine Folge der Entfremdung vieler Kinderloser ist, dass [...] Nachteile, die mit Kindern verbunden sind [...], Kinderlosen besonders plastisch vor Augen stehen [...].“37
iii.
Ursachen struktureller Natur
Hierzu werden Schwierigkeiten gezählt, verschiedene konkurrierende, individuelle Interessen miteinander zu vereinen. Dazu können unterschiedliche Wünsche auf partnerschaftlicher Ebene gehören; dazu gehören aber auch ambivalente Einstellungen auf der persönlichen Ebene. Zu nennen sind partnerschaftliche sowie innere Konflikte gegenüber der Vereinbarkeit von Kinderwunsch und beruflicher Entwicklung: Während die meisten jungen Frauen die Zeit zwischen dem 24. und 31. Lebensjahr für das optimale Erstgebäralter halten, möchte die Mehrzahl — v.a. der höher gebildeten Frauen — zunächst ihre Ausbildung abschließen und zu einem befriedigendem beruflichen Punkt gelangen.38 Partnerschaftliche sowie innere Konflikte zwischen gesellschaftlichen Normen, erstrebenswerten eigenen Zielsetzungen sowie realisierbaren Rahmenbedingen sind weitere Gründe für Kinderlosigkeit. Johannes Huinink zählt folgende Problematiken auf, die zu lösen als gesellschaftlich erstrebenswert gilt, bevor man sich für ein Kind entscheidet: Erstens das 36 Interessant, jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengend, wäre der Einfluss von TV-‐
Serien, Kinofilmen u.ä. als Vorbild, in denen Kinder ebenso selten bis gar nicht vorkommen. 37 Institut für Demoskopie Allensbach: „Einflussfaktoren auf die Geburtenrate. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung der 18-‐ bis 44-‐jährigen Bevölkerung“ Allensbach 2004, S. 83 38 vgl.: ebenda, S. 18
14
Perspektiven-‐Problem, zweitens das Ressourcen-‐Problem sowie drittens das Vereinbarkeits-‐Problem.39 En detail sind das: •
„eine gefestigte Paarbeziehung40 [...];
•
eine gefestigte ökonomische Basis [...];
•
ein verlässliches soziales Netzwerk (Verwandte, Freunde), das als Stütze beim Aufziehen von Kindern eingesetzt werden kann;
•
eine halbwegs kalkulierbare berufliche Zukunft;
•
Lebens-‐ und Karriereinteressen [beider Partner], mit denen Kinder vereinbar sind;
•
Berufstätigkeiten, die dem Zusammenleben mit Kindern zuträglich sind.“41
Als letzter struktureller Punkt sind Zukunftsunsicherheiten zu nennen: Tiefgreifende Entscheidungen werden in sog. schweren Zeiten aufgeschoben. Zu diesen sog. schweren Zeiten kann hohe Arbeitslosigkeit zählen sowie wirtschaftliche Krisensituationen oder Unsicherheiten in Bezug auf soziale Sicherungssysteme. Dass sich im Umkehrschluss prosperierende Zeiten positiv auf das reproduktive Verhalten auswirken, konnte bisher nicht bewiesen werden.42 C. Folgen der derzeitigen demographischen Entwicklung i.
Die demographischen Auswirkungen
Die demographische Entwicklung beeinflusst die Zukunft, d.h. die demographische Zusammensetzung in den nächsten Jahren und 39 vgl.: Huinink, Johannes: „Elternschaft in der modernen Gesellschaft“, in: Gabriel, Karl /
Herlth, Alois / Strohmaier, Klaus Peter (Hrsg): „Modernität und Solidarität. Konsequenzen gesellschaftlicher Modernisierung. Für Franz-‐Xaver Kaufmann.“, Freiburg i.Br. 1997, S. 86f. 40 In genannter Studie des Institutes für Demoskopie Allensbach nennen 84% der Befragten „eine stabile Beziehung“ als Vorraussetzung für die Realisierung eines Kinderwunsches. 41 Strohmeier, Klaus Peter / Schulz, Annett: „Familienforschung für die Familienpolitik. Wandel der Familie und sozialer Wandel als Herausforderungen der Familienpolitik“, Bochum 2005, S. 77 (PDF-‐Version) 42 vgl.: Walla, Wolfgang et al.: a.a.O., S. 95f.
15
Jahrzehnten. Bevölkerungsvorausberechnungen sind — z.B. im Vergleich zu. ökonomischen Prognosen — ziemlich exakt. Frühere Berechnungen für die gegenwärtige Situation weichen um weniger als ein Prozent ab.43 Exemplarisch sollen an dieser Stelle die Zahlen für Deutschland genannt werden; diese Werte weichen für andere westliche Staaten zwar in absoluten Größen ab, unterscheiden sich jedoch nicht in Tendenz und Prinzip.44
Wie
eingangs
beschrieben
gibt
es
die
folgenden
Hauptmerkmale: •
eine Bevölkerung, die schrumpft
•
eine Bevölkerung, die altert
•
eine Bevölkerung, die sich aus immer mehr alten und immer weniger jungen Menschen zusammensetzt.
Während 2001 der Anteil der Alten und Hochbetagten45 an der Gesamtbevölkerung bei etwa 25% lag, wird er bis zum Jahre 2050 auf etwa 35% anwachsen. Lag das Durchschnittsalter 2001 noch bei 41, wird es 2050 bei 47 liegen. Während 2001 knapp 20% der Gesamtbevölkerung unter 21 Jahre alt war, werden es 2050 etwa 15% sein. Im Hinblick auf wirtschaftliche, politische und soziale Implikationen sind der Alten- sowie der Jugendquotient von Relevanz: Der Altenquotient setzt die Größe der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (20 bis 59 Jahre) mit der Größe der Bevölkerung im Rentenalter (60 Jahre und älter) ins Verhältnis. Kamen 2001 auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter noch ungefähr 44 im Rentenalter, so werden es im Jahre 2050 bereits etwa 78 Personen sein. Der Jugendquotient hingegen beziffert das Verhältnis von 43 vgl.: Birg, Herwig: „Dynamik der demographischen Alterung,
Bevölkerungsschrumpfung und Zuwanderung in Deutschland. Prognosen und Auswirkungen“ in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B20/2003, S. 6 44 vgl.: Birg, Herwig: a.a.O., S. 119-‐136 45 Per definitionem sind Menschen über 59 Jahre alt; Hochbetagte sind älter als 79 Jahre
16
unter 20-‐Jährigen gegenüber der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter: Kamen 2001 auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter noch ca. 38 Personen unter 20, so werden es 2050 nur noch ungefähr 34 sein. Der sog. Gesamtquotient veranschaulicht, für wie viele Personen 100 Personen im erwerbsfähigen Alter sorgen müssen, um Ausbildung oder Rente zu finanzieren: Während es 2001 etwa 82 Personen sind, werden es 2050 bereits 112 sein. Bezüglich politischer und sozialer Auswirkungen
ist
anzumerken,
dass
Pro-‐Kopf-‐Ausgaben
für
Kinderbetreuung und Schulausbildung wie auch jene für Gesundheit und Pflege voraussichtlich steigen werden.46 Das Problem ist also nicht nur eine Überalterung, sondern v.a. eine ‚Unterjüngung’ der Gesellschaft.47 Demographischer Wandel hängt auch von Wanderung ab. Im Jahr 2000 rechnete
die
United
Nations
Population
Division
drei
Wanderungsszenarien u.a. auch für Deutschland durch (Projektionsziel 2050): 1. Welche Zuwanderung wäre nötig, um die Bevölkerungszahl konstant zu halten? — Hierzu müssten jährlich etwa 325.000 Menschen zuwandern. 2050 wären das insgesamt ca. 18 Mio. Immigranten, die dann knapp 30% der Bevölkerung ausmachten. 2. Welche Zuwanderung wäre nötig, um die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter konstant zu halten? — Hierzu müssten jährlich ungefähr 460.000 Menschen zuwandern. 2050 wären das insgesamt etwa 25 Mio. Immigranten, die dann knapp 35% der dann insgesamt 92 Mio. in Deutschland lebenden Menschen ausmachten. 46 vgl.: Michael, Frank: „Die demographische Entwicklung in Deutschland und ihre
Implikationen für Wirtschaft und Soziales“, in: Kerschbaumer, Judith / Schroeder, Wolfgang (Hrsg.): „Sozialstaat und demographischer Wandel. Herausforderungen für Arbeitsmarkt und Sozialversicherungen.“ Wiesbaden 2005, S. 54f. 47 vgl.: Lehr, Ursula: „Die Jungend von gestern – und die Senioren von morgen.“ in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 30/2003, S. 3
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3. Welche Zuwanderung wäre nötig, um den Altenquotienten konstant zu halten? — Hierzu müssten jährlich 3,5 Mio. zuwandern. 2050 wären somit 189 Mio. der dann fast 300 Mio. in Deutschland lebenden Menschen Immigranten (80%).48 Nicht nur das letzte Beispiel offenbart die Fiktivität dieser Rechenübung: Aus welchen Ländern soll diese Masse an Menschen einwandern? Wie ließen sich die Herausforderungen meistern, die mit einer Integration all dieser Einwanderer verbunden sind? Und wie wäre mit der — v.a. nach dem dritten Szenario erlebten — Bevölkerungsexplosion umzugehen?49 ii.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen
Die relative und absolute Verkleinerung der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wirkt sich v.a. auf ökonomische Belange aus. Robert Merton Solow50 lieferte Mitte der 1950er Jahre ein theoretisches Modell zur Erklärung von Wirtschaftswachstum: Die drei Determinanten des Wachstums lauten Arbeit, Kapital und technischer Fortschritt. „Arbeit und Kapital bilden den quantitativen Aspekt [...], technische[r] Fortschritt die qualitative Seite des Wirtschaftswachstums [...]. Mit Arbeit ist das geleistete Arbeitsvolumen der Erwerbstätigen [...] gemeint. [...] Kapital beinhaltet sämtliche Produktionsmittel [...] zur Erstellung von Dienstleitungen. Technischer Fortschritt liegt vor, wenn mit der gleichen Menge von Produktionsfaktoren ein höherer Output oder der gleiche Output mit geringerem
Einsatz
von
Produktionsfaktoren
erreicht
wird.
[...]
48 vgl.: United Nations Population Division: „Replacement Migration: Is It A Solution To
Declining And Aging Population?“, New York 2000, S. 37ff. 49 Zum Vergleich: Seit Bestehen der Bundesrepublik sind netto nicht mehr als 9 Mio. Menschen nach Deutschland eingewandert; vgl.: Kapitel II.1.A 50 siehe: Solow, Robert M.: „A Contribution to the Theory of Economic Growth“, in: Quarterly Journal of Economics, Band 70/1956, S. 65–94
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Wirtschaftswachstum [...] ist die Summe aus den Veränderungsraten der genannten Faktoren.“51
Anfang der 1990er Jahre wurde dieses Konzept von N. Gregory Mankiw, Paul Romer und David Weil um den Faktor Humankapital52 erweitert. Verändert sich die Bevölkerungsweise, wirkt sich das u.a. auf die Erwerbstätigenquote oder das Renteneintrittsalter aus. Diese Größen wiederum beeinflussen den o.g. Faktor Arbeit.53 Gibt es weniger Erwerbspersonen, so schrumpft der Faktor Arbeit. Dadurch werden die Preise für Arbeit teurer. Somit muss zur Erhaltung der Qualität der Arbeit mehr Kapital aufgebracht werden, das tangiert die Produktivität sowie die Rendite des eingesetzten Kapitals auf negative Weise.54 Ebenso wird der Faktor technischer Fortschritt durch die Veränderung der Bevölkerungsweise beeinflusst. Die Erlangung verbesserter Produktionsverfahren und gesteigerter Effizienz braucht qualifizierte und motivierte Arbeitskräfte als Grundlage. Hier stehen zukünftige Gesellschaften vor zwei Herausforderungen: Um ihr Humankapital zu expandieren, ist zum einen in breite, allgemeine Ausbildung zu investieren. Auch wenn die älteren Menschen der Zukunft sich geistig und körperlich von den Alten heutiger Tage unterscheiden werden, muss zum anderen dafür Sorge getragen werden, dass die Ressource Erfahrung genutzt wird und diese gleichzeitig durch Fortbildungen weiter vergrößert wird. Das Prinzip des lebenslangen Lernens wird immer
51 Michael, Frank: a.a.O., S. 59 (Hervorhebungen hinzugefügt) 52 Unter Humankapital wird die Masse des Wissens in den Köpfen z.B. der Bevölkerung
eines bestimmten Staats oder eines Unternehmens verstanden. Gefördert und vermehrt werden kann es etwa durch Investitionen in Schul-‐, Aus-‐ oder Fortbildung; siehe: Becker, Gary S.: „Human Capital. A Theoretical and Empirical Analysis with Special Reference to Education“, Chicago 1993 53 vgl.: Gräf, Bernhard: „Deutsches Wachstumspotenzial: Vor der demographischen Herausforderung“, in: Deutsche Bank Research (Hrsg.): Aktuelle Themen, Nr. 277/2003, S. 7 ff. 54 vgl.: ebenda, S. 22
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wichtiger, da für Fortschritt und Innovation große physische und psychische Belastbarkeit, Konzentrationsfähigkeit und Risikobereitschaft als notwendige Faktoren eingeschätzt werden: Eigenschaften, die heute älteren Erwerbstätigen tendenziell eher abgesprochen werden.55 Auch das Konsumverhalten wird sich wandeln. Die Nachfrage an sich wird zurückgehen, besonders im Bereich der Immobilien. Sie wird sich verlagern hin zu personenbezogenen Dienstleistungen, besonders im Pflegebereich — hier ist damit zu rechnen, dass die erhöhte Nachfrage bei nicht parallel wachsendem Angebot die Preise steigen lässt und dadurch den potentiellen Konsum anderer Güter verringert.56 iii.
Die sozialen Auswirkungen
Sozial sei hier im soziologischen Sinne verstanden — also als Interaktion zwischen Menschen. Durch die Zunahme von Kinderlosigkeit werden immer mehr Menschen alt, ohne unmittelbare verwandtschaftliche Beziehungen zur nachfolgenden Generation zu haben. Das lässt eine zunehmende Vereinzelung und Vereinsamung zukünftiger Hochbetagter voraussehen. Gleichzeitig ergibt sich durch diese Alleinstellung eine ganz andere Lebensführung. Es bildet sich eine eigene, quasi neue Lebensphase heraus: die der sog. Junge Alten — eine Lebensphase zwischen Renteneinstiegsalter und gebrechlichem Alter.57 Auch wenn die o.g. Wanderungsrechnungen der United Nations Population Division zunächst nur Zahlenspiele sind — Einwanderung v.a. von hochqualifizierten Erwerbstätigen sowie deren Integration sind 55 vgl.: ebenda, S. 23ff.
56 vgl.: Kaufmann, Franz-‐Xaver: a.a.O., Frankfurt am Main 2005, S. 111 57 vgl.: ebenda, S. 112
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Herausforderungen, die auf die Gesellschaft in Zukunft in noch größerem Maße zukommen werden.
21
2. Der Wohlfahrtsstaat Begrifflichkeit und Definition des Wohlfahrtsstaats wurden bereits im einleitenden Kapitel erörtert. Die Kernaussagen in unserem Kontext sind: •
Zu den Aufgaben des Wohlfahrtsstaats gehören der Schutz des Bürgers vor Risiken des Lebens sowie das Bestreben, Gleichheit der Lebenschancen zu erreichen.
•
Als Instrumente der Umsetzung der wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben dienen im Allgemeinen Einkommensumverteilungen und Dienst-‐ und Sachleistungen.
•
Anwendung finden wohlfahrtsstaatliche Leistungen im Falle von bspw. Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit, Invalidität, Unfall oder Schwangerschaft und Elternschaft.58
Doch wie lassen sich Wohlfahrtsstaaten als solche definieren, wie lassen sie sich ordnen und wie kann man sie miteinander vergleichen? Antworten darauf versuchen mehrere theoretische Ansätze zu geben: A. Theorien zur Entwicklung, zur Einordnung und zum Vergleich von Wohlfahrtsstaaten Die
Theorie
des
sozioökonomischen
Funktionalismus
sah
als
Unterscheidungskriterium die Sozialausgaben. In der Erklärung der jeweiligen Höhe der Sozialausgaben stützte sie sich v.a. auf den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung. Detlev Zöllner bspw. verglich mehr als 30 sehr unterschiedliche Staaten miteinander und konstatierte: „Die Sozialleistungsquote entwickelt sich weitgehend unabhängig von
58 vgl.: Schmitt, Manfred G. / Ostheim, Tobias: „Einleitung“, in: Schmitt, Manfred G. /
Ostheim, Tobias / Siegel, Nico A. / Zohlnhöfer, Reimut (Hrsg.): „Der Wohlfahrtsstaat. Eine Einführung in den historischen und internationalen Vergleich.“, Wiesbaden 2007, S. 21
22
politischen Wertvorstellungen.“59 Diese These konnte allerdings in erneuten Analysen nicht verifiziert werden. Die Machtressourcentheorie und Parteiendifferenzlehre hingegen hat eine sehr policy-‐bezogene Herangehensweise60. Sie geht davon aus, dass die Zusammensetzung und parteipolitische Prägung der Regierung maßgeblich dafür verantwortlich ist, welches Niveau die Sozialausgaben erreichen. So wurde dargelegt, dass unter sonst gleichen Bedingungen Sozialleistungen umso höher ausfallen, je größer die Kabinettsitzanteile linker Parteien sind. Kritiker dieses Ansatzes bemängeln die zu undifferenzierte Aufteilung der internationalen Parteienlandschaft in ‚rechts’ gegenüber ‚links’, die so nicht allerorts in ein ebenfalls zu unscharfes ‚konservativ’ gegenüber ‚sozialistisch’ übersetzt werden könne. Um Akteure außerhalb der Regierung mit einbeziehen zu können, bringt das institutionalistische Theoriekonzept den Vetospieler-‐Ansatz in die Diskussion mit ein und kann
so
verschiedenste
Faktoren
für
die
Durchsetzbarkeit
wohlfahrtsstaatlicher Reformen berücksichtigen.61 Jedoch verwenden alle diese Theorien zur Entwicklung und zum Vergleich der wohlfahrtsstaatlichen Tätigkeiten das Niveau der Sozialleistungsquote, um Wohlfahrtsstaaten einzuordnen. An dieser Vorgehensweise wird u.a. von Esping-‐Andersen bemängelt, es sei nicht klar, welche Ausgaben zu den Sozialausgaben gezählt werden müssten. Zum anderen bildet die Höhe der Ausgaben allein noch keinen Indikator dafür, welche Art von wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen implementiert 59 Zöllner, Detlev: „Öffentliche Sozialleistungen und wirtschaftliche Entwicklung. Ein
zeitlicher und internationaler Vergleich“, Berlin 1963, S. 115 60 Der Begriff Politik hat mehrere Bedeutungsdimensionen. Um diese klar zu trennen werden auch im Deutschen die englischen Begriffe policy, polity und politics gebraucht. Policy bezeichnet die inhaltliche Dimension von Politik, während polity die strukturelle, institutionelle Dimension beschreibt und politics die politischen Prozesse. 61 vgl.: Siegel, Nico A.: „Sozialpolitik“, in: Lauth, Hans-‐Joachim: „Vergleichende Regierungslehre. Eine Einführung“, Wiesbaden 2006, S. 298-‐301
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wurden und wer die Empfänger dieser Leistungen sind: „Sozialausgaben sind nur Begleiterscheinungen dessen, was die theoretische Substanz des Wohlfahrtsstaats ausmacht.“62 B. Das Entstehen von Wohlfahrtsstaaten Gøsta Esping-‐Andersen unterteilt die Welt der Wohlfahrtsstaaten in drei Typen.63 Als Beispiele für diese drei Typen können Schweden, Großbritannien und Deutschland gelten. Um die Herangehensweise in der Esping-‐Andersen’schen Typologisierung vorzubereiten, soll zunächst ein Überblick über das Entstehen von Wohlfahrtstaatlichkeit in den drei genannten Staaten gegeben werden. i.
Deutschland
Die Beweggründe, die Otto von Bismarck Ende des 19. Jahrhunderts dazu brachten, die ersten Säulen des deutschen Wohlfahrtsstaats zu errichten, waren reine Mittel zum Zweck: Sein Ziel war, in Zeiten aufkommender politischer und gewerkschaftlicher Mobilisierung die Bevölkerung ruhigzustellen und die Herrschaft zu sichern. So wurde zur sog. ‚Lösung der Arbeiterfrage’ eine Kranken-‐ und eine Unfall-‐ sowie eine Invaliditäts-‐ bzw. Altenversicherung geschaffen.64 Die Prinzipien der Versicherung und der Bedürftigenfürsorge blieben bis heute bestehen, lediglich das Finanzierungssystem wurde geändert sowie der Inklusionsradius und das Volumen modifiziert.65
62 Esping-‐Andersen, Gøsta: a.a.O., S. 33 63 ausführlich im folgenden Kapitel, in II.2.C 64 vgl.: Butterwegge, Christoph: „Krise und Zukunft des Sozialstaates“, Wiesbaden 2005,
S. 40-‐44 65 vgl.: Schmid, Josef: a.a.O., S. 106; 109
24
ii.
Großbritannien
Erste wohlfahrtsstaatliche Elemente wurden 1834 in Form des sog. Poor Law eingeführt: Armenfürsorge bedeutete die Bereitstellung von Armenhäusern, die hilflose Arme, Kranke und Alte davor bewahren sollte, an den Folgen ihrer Hilflosigkeit zu sterben. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden weitere, weniger stigmatisierende Leistungen installiert, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf Grundlage des nach seinem Autor benannten Beveridge-‐Reports in Form einer Sozialversicherung, einer Sozialhilfe und einem nationalen Gesundheitsdienst ausgebaut wurden.66 In den 1980er und 1990er Jahren reduzierten die Regierungen Thatcher und Major viele wohlfahrtsstaatliche Leistungen und verlagerten sie auf den privaten Sektor. Ziel war, die Marktkräfte zu stärken und damit das Preis-‐ Leistungs-‐Verhältnis zu verbessern.67 Das Prinzip der universellen Armutsrisikoabsicherung blieb erhalten. iii.
Schweden
Seinen Anfang nahm der schwedische Wohlfahrtsstaat in Initiativen nicht-‐staatlicher Organisationen, die peu à peu von den kommunalen Verwaltungen aufgegriffen wurden. Dabei sicherlich förderlich war die Tatsache, dass zum einen die schwedische Gesellschaft sehr homogen war: ohne große ethnische, religiöse oder regionale Minderheiten. Zum anderen gab es nie eine feudale Landwirtschaft.68 So entstanden schon bis in die 1930er Jahre folgende Elemente des Wohlfahrtsstaats: ein Arbeitsschutzgesetz; eine Unfallversicherung; ein zunächst noch 66 vgl.: ebenda, S. 161ff.
67 vgl.: Mitton, Lavinia: „Vermarktlichung zwischen Thatcher und New Labour: Das
britische Wohlfahrtssystem“, in: Schubert, Klaus / Hegelich, Simon / Bazant, Ursula (Hrsg.): „Europäische Wohlfahrtssysteme“, Wiesbaden 2008, S. 264ff. 68 vgl.: Hort, Sven O.E.: „Sklerose oder ständige Bewegung? Das schwedische Wohlfahrtssystem“, in: Schubert, Klaus et al.: a.a.O., S. 526
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freiwilliges, doch später obligatorisches Krankenkassensystem; eine Rentenversicherung; ein System der Armen-‐ und Kinderfürsorge; sowie eine einkommensunabhängige Volksgrundrente. Des Weiteren wurde bereits zu dieser Zeit realisiert, dass Geburtenüberschüsse in Zukunft abnehmen würden und spezielle Kündigungsschutzregelungen für Schwangere sowie eine Müttervorsorge eingeführt.69 C. Die Typologisierung nach Gøsta Esping-‐Andersen Wie angeklungen bezweifelt Esping-‐Andersen die Aussagekraft einer linearen Nebeneinanderstellung von Wohlfahrtsstaaten, aufgereiht nach der Höhe ihrer Sozialausgaben.70 Um eine Typologisierung zu finden, fordert er, die Frage zu stellen, was einen Wohlfahrtsstaat eigentlich ausmacht:71 Könnte — wie es Göran Therborn vorschlägt72 — als Minimaldefinition gelten, dass die Mehrzahl der täglichen Routine-‐Aktivitäten73 geleistet werden; Aktivitäten im Sinne von finanziellen Aufwendungen sowie Dienstleistungen? Richard Titmuss schlägt vor, zwischen sog. residualen und institutionellen Wohlfahrtsstaaten zu unterscheiden.74 Ist die Trennlinie also im Inklusionsradius der Leistungsadressaten zu suchen — also zwischen einem residualen Wohlfahrtsstaat auf der einen Seite, dessen Verantwortung dort beginnt, wo Markt und Familie versagt haben und 69 vgl.: Schmid, Josef: a.a.O., S. 203f. 70 vgl.: Kapitel II.2.A. 71 vgl.: Esping-‐Andersen, Gøsta: a.a.O., S. 34f.
72 siehe: Therborn, Göran: „When, How and Why does a Welfare State become a Welfare
State?“, Freiburg 1983 73 Im englischen Original heißt der Terminus: „daily routine activities“, vgl.: Esping-‐ Andersen, Gøsta: „The Three Worlds of Welfare Capitalism“, Cambridge 1990, S. 20 74 siehe: Titmuss, Richard: „Essays on the Welfare State“, London 1958
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auf der anderen Seite einem institutionellen Wohlfahrtsstaat, der universell für die gesamte Bevölkerung in der Pflicht steht? Ist Ausmaß und Inklusion eines idealtypischen Wohlfahrtsstaats zunächst normativ festzulegen, um sodann Wohlfahrtsstaaten an den dadurch definierten Kriterien zu messen und mit dem formulierten Idealtypus in Vergleich zu setzen? Die Esping-‐Andersen’sche Typologisierung besteht gewissermaßen in der Quintessenz dieser drei Ansätze: Sein Blick ist zum einen auf die Qualität der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen gerichtet. Zum anderen schlägt er Kategorisierungen bezüglich ihrer unterschiedlichen Ausprägung vor. Des Weiteren entwickelt er idealtypische Modelle. Seine Kategorisierung fußt auf drei Parametern: auf dem Grad der De-Kommodifizierung des Individuums, auf dem Ausmaß der Stratifizierung der Gesellschaft sowie auf der Verortung im Dreieck der Wohlfahrtsproduzenten Familie, Markt und Staat. •
De-Kommodifizierung beschreibt die Unabhängigmachung des Erwerbstätigen von den Preisen und Zwängen des Markts. Doch das Vorhandensein von Elementen sozialer Fürsorge bedeutet nicht notwendigerweise die Abwesenheit von Marktabhängigkeit: Bedürftigkeitsabhängige Fürsorge etwa stärkt sogar den Markt. Da Fürsorge stigmatisiert, spornt sie an, alles dafür zu tun, sie nicht in Anspruch
nehmen
zu
müssen.
Ebenso
birgt
das
Versicherungsprinzip keine vollkommene Unabhängigkeit. Die Versicherungen beinhalten oftmals bestimmte Zugangskriterien und sind an die vorherige Einzahlung von Beiträgen gekoppelt bzw. ihre Leistungen stehen in Relation zur Höhe des zuvor Eingezahlten. Echte De-‐Kommodifizierung sähe so aus: Jeder Bürger könnte, ohne die Konsequenzen bzgl. der Fortführung
27
seiner beruflichen Karriere und bzgl. des Bestreitens seines Lebensunterhalts zu bedenken und fürchten zu müssen, einfach sein Arbeitsverhältnis verlassen, wann immer er dies aus z.B. gesundheitlichen, familiären oder altersbedingten Motivationen tun möchte.75 •
Stratifizierung beschreibt die Schichtung einer Gesellschaft in unterschiedliche
Klassen.
wohlfahrtsstaatliche
Nicht
Instrumente
notwendigerweise auf
die
zielen
Nivellierung
klassenspezifischer Unterschiede einer Gesellschaft. Erwähnte bedarfsabhängige Fürsorge ebenso wie ein Versicherungsprinzip mit unterschiedlichen und exklusiven Versicherungszielgruppen sind z.T. aus gewollt stratifizierenden Gründen implementiert worden.76 Ein universalistisches System hingegen stattet jeden Bürger mit gleichen sozialen Rechten aus, ungeachtet seiner sozialen Herkunft, seiner Klassenzugehörigkeit oder seiner Stellung am Markt. Allerdings ist ein universelles System nicht davor gefeit, ggf. ungewollt zu polarisieren: Auf der einen Seite stehen die mit Hilfe des Markts Bessergestellten, die versuchen, sich Vorteile durch z.B. zusätzliche, private Versicherungen zu verschaffen. Auf der anderen Seite stehen jene, die sich nur auf den Staat verlassen können.77 Wohlfahrtsstaaten unterscheiden sich sehr in Bezug auf diese beiden Kriterien. In seinen berühmten drei Welten von Wohlfahrtsstaaten differenziert Esping-‐Andersen anhand dieser Eigenschaften die
75 vgl.: Esping-‐Andersen, Gøsta: „The Three Worlds of Welfare Capitalism“, Cambridge
1990, S. 21f. 76 vgl. mit der Entstehung der Wohlfahrtsstaaten bspw. in Großbritannien oder Deutschland; Kapitel II.2.B.i. und II.2.B.ii. 77 vgl.: Esping-‐Andersen, Gøsta: a.a.O., S. 23ff.
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verschiedenen Regime auf einer qualitativen Achse von Markt, Familie und Staat.78 i.
Der liberale Wohlfahrtsstaat
Auf die regulierenden Kräfte des Markts vertraut das System des liberalen Wohlfahrtsstaats. Auch wenn es universelle Leistungen gibt, sind sie auf niedriger Höhe angesiedelt. Ebenso bescheiden ausgestattet präsentieren sich
Sozialversicherungsprogramme.
Bedarfgeprüfte
und
häufig
stigmatisierende Mindestleistungen bringen die Mittelschicht dazu, private und marktgestützte Vorkehrungen zu treffen. Dieses Regime ist wenig de-‐kommodifizierend und sehr stratifiziert. Als Beispiele seien Staaten wie Australien, die USA oder Großbritannien angeführt. ii.
Der konservative Wohlfahrtsstaat
Im Regimetyp des konservativen Wohlfahrtsstaats differieren viele soziale Rechte schichtabhängig; ein gewisses Maß an Stratifizierung ist Intention. Es setzt in der Wohlfahrtsproduktion v.a. auf den Rückhalt familiärer Strukturen. Das gilt für bspw. werdende Eltern ebenso wie für Arbeitslose oder Pflegebedürftige. Erst wenn die Familie ausfällt, springt der Staat ein; zumeist in Form von monetären Transferleistungen. So kann dieses Regime als teilweise de-‐kommodifizierend eingestuft werden. Als Beispielstaaten seien Italien, Österreich oder Deutschland genannt. 78 vgl.: ebenda, S. 26ff.
29
iii.
Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat
Im dritten Modell fungiert der Staat als größter Wohlfahrtsproduzent; er bietet universelle Leistungen auf einem vergleichsweise hohen Niveau und wendet sich oft auch in Form sozialer Dienste unmittelbar an die Leistungsempfänger: Kinder, Alte, Pflegebedürftige oder Kranke. So erreichen Wohlfahrtsstaaten des sozialdemokratischen Systems einen hohen Grad an De-‐Kommodifizierung und ein geringes Ausmaß an Stratifizierung. Sie entkoppeln damit nicht nur das Individuum vom Markt, sondern entlasten auch die Familie. Musterbeispiele hierfür sind Norwegen, Finnland oder Schweden.
30
3. Demographischer Wandel trifft Wohlfahrtsstaat A. Möglichkeiten, Ursachen demographischen Wandels entgegenzuwirken Betrachtet man die in den Kapiteln II.2.B.i bis II.2.B.iii genannten Ursachen, kristallisiert sich Folgendes heraus: Die Ursachen dafür, dass sich viele Menschen gegen Kinder entscheiden, lassen sich in mindestens zwei Dimensionen verorten. Auf der einen Seite sind es Überzeugungen, die sich durch einen Wandel der
Werte
entwickelt
haben:
veränderte
Ideale;
gewandelte
Normvorstellungen; andere Lebensentwürfe und Lebensläufe. Charlotte Höhn et al. fassen es in einer Studie für die Robert Bosch-‐Stiftung wie folgt zusammen: „Kinder haben [...] nur noch relativ wenig Bedeutung für ein erfülltes Leben. Obwohl Ehe und Familie als abstrakte Werte hochgehalten werden, haben die Menschen kaum noch das Gefühl, daß [...] Kinder ihr eigenes Ansehen bei Freunden oder Nachbarn erhöhen würden [...].“79
Auf der anderen Seite gibt es Ursachen auf einer eher praktischen Ebene: der richtige Zeitpunkt für eine Schwangerschaft im Entwurf des eigenen Lebenswegs; die Vereinbarkeit von Elternschaft und beruflicher Entwicklung; die Befürchtung finanzieller Schwierigkeiten und Ungewissheiten. Es dürfte evident sein, dass sich gesellschaftlich entwickelte Normen und Überzeugungen nur schwerlich mittels vom Gesetzgeber verordneter Maßnahmen ändern lassen; und falls doch, dann mit Sicherheit nicht eindimensional und direkt, sondern nur über einen langen Zeitraum. Und
79 Höhn, Charlotte / Ette, Andreas / Ruckdeschel, Kerstin: „Kinderwünsche in
Deutschland. Konsequenzen für eine nachhaltige Familienpolitik“, S. 78 (PDF-‐Version auf: http://www.bosch-‐stiftung.de/content/language1/downloads/Kinderwunsch.pdf)
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würden bspw. in Deutschland alle Kinder geboren werden, die potentielle Eltern angeben, sich zu wünschen, hätte die Fertilitätsrate 2005 anstatt 1,37 Kindern pro Frau immerhin 1,75 betragen.80 Und in der finanziell-‐ strukturellen Dimension erscheinen gestalterische Eingriffe von Seiten des Staats durchaus möglich. Der erste Schritt auf der Suche nach Möglichkeiten, Ursachen demographischen Wandels entgegenzuwirken, muss also so aussehen: Die Frage, was ein Staat tun kann, um nicht zu schrumpfen, muss modifiziert werden. Nämlich: Wie kann ein Staat die Barrieren so niedrig wie möglich halten für diejenigen, die gerne (weitere) Kinder bekommen würden, sich von äußeren Umständen jedoch daran gehindert fühlen? Wo liegen die Ursprünge dieser Hindernisse? Und wo hat hierbei ein Staat mittels seiner gesetzgeberischen Kompetenzen die Möglichkeit der Einflussnahme? i.
Kinderbetreuung
Das Bundesministerium für Finanzen gibt an, dass in Deutschland 2009 rund 20% der Kinder im Alter von unter drei Jahren einen Betreuungsplatz in einer Kita81 in Anspruch genommen haben.82 Schaut man sich die Zahlen genauer an, erkennt man große Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern: Während in Ost-‐ 80 vgl.: ebenda, S. 16
81 Abk. f. Kindertagesstätte; die genaue Definition ist national und zum Teil sogar
regional unterschiedlich. Im Folgenden wird „Kita“ im Sinne einer Kinderkrippe für Kinder bis 3 Jahre verwendet, in Abgrenzung zu Kindergarten (für Kinder von 3 bis 6 Jahre) oder Schulhort, den Grundschulkinder vor Schulbeginn und nach Schulende besuchen 82 vgl.: Bundesfinanzministerium: „Kein Kitaplatz für mein Kind? Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten für Kinder unter drei Jahren in Deutschland“, (Web-‐Version: http://www.bundesfinanzministerium.de/DE/Buergerinnen__und__Buerger/Familie__u nd__Kinder/Kinderbetreuung/100106__Kita.html)
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Deutschland 37% in einer Kita betreut werden, können Eltern im Westen nur für 3% ihrer unter drei jährigen Kinder einen Betreuungsplatz bekommen.83 Gleichzeitig sind die Vorhaben der Bundesregierung ambitioniert: Bis 2013 soll es für jedes Kind unter drei Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz geben.84 Doch mindestens bis dahin müssen die meisten Eltern mit Bekannten, Tagesmüttern, Au-‐Pairs und Verwandten eine Patchwork-‐Betreuung organisieren. Denn knapp ein Drittel der Mütter mit Kleinkindern geht einer Erwerbstätigkeit nach, während die anderen zwei Drittel als Nichterwerbpersonen oder in Elternzeit zuhause bleiben. Für viele Frauen ist dies nicht der gewünschte Lebensentwurf: Jede zweite Frau zwischen 20 und 45 Jahren favorisiert das sog. modifizierte Ernährermodell — er arbeitet vollzeit, sie teilzeit.85 Für diejenigen Eltern, die für ihr Kind einen der Plätze in einer Kita erhalten haben, ist die Bezeichnung „Kindertagesstätte“ allerdings irreführend.
Die
Betreuungszeiten
sind
sogar
mit
einer
Teilzeitarbeitsstelle schwer zu kombinieren: In den meisten Fällen sind die Öffnungszeiten von Kinderbetreuungseinrichtungen nicht auf allgemein übliche Kernarbeitszeiten abgestimmt — bspw. öffnen sie erst um 9 Uhr, schließen um 16 Uhr und haben von 12 bis 13 Uhr eine Mittagspause.86
83 vgl.: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ): „1.
Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland“, München 2005, (Web-‐Version: http://www.bmfsfj.de/Publikationen/genderreport/5-‐Vereinbarkeit-‐von-‐familie-‐und-‐ beruf/5-‐8-‐kinderbetreuungsangebote-‐und-‐erwerbstaetigkeit.html) 84 vgl.: BMFSFJ: „Gute Kinderbetreuung“ (Website: http://www.bmfsfj.de/bmfsfj/generator/BMFSFJ/Kinder-‐und-‐ Jugend/kinderbetreuung.html) 85 vgl.: Peuckert, Rüdiger: „Familienformen im sozialen Wandel“, Wiesbaden 2008, S. 237f. 86 vgl.: Pfundt, Karen: „Die Kunst, in Deutschland Kinder zu haben“, Berlin 2004, S. 35ff.; vgl. ebenfalls: Gerlach, Irene: „Familienpolitik“, 2. Aktualisierte und überarbeitete Auflage, Wiesbaden 2010, S. 332
33
In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Entscheidung gegen Nachwuchs häufig aus folgenden Gründen fällt 87: •
Vermeidung von Opportunitätskosten, die durch einen Ausstieg aus dem Beruf entstehen,
•
Fehlen eines verlässlichen, sozialen Netzwerks, das in der Kinderbetreuung als Unterstützung gebraucht wird,
•
Unvereinbarkeit der Berufstätigkeit mit der notwendigen Betreuung des Nachwuchses.
Wohnen die Großeltern nicht am Ort und sieht das Zeitbudget von Nachbarn oder Freunden ebenfalls prekär aus, ist das Ausweichen in der Kinderbetreuung auf Au-‐Pairs oder Tagesmütter eine Angelegenheit, die sich finanziell nicht allen Bevölkerungsschichten anbietet. Gäbe es also mehr und bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten, wären diese Hinderungsgründe theoretisch bereits für viele potentielle Eltern relativiert. So stehen nach einer Untersuchung der Robert-‐Bosch-‐Stiftung auf den Plätzen eins bis drei folgende Verbesserungen, die sich Eltern zwischen
20
und
49
Jahren
2006
gewünscht
haben,
um
Familiengründung und Berufstätigkeit vereinbaren zu können: 1.
„mehr und bessere Teilzeitarbeitsmöglichkeiten für Eltern mit Kindern
2.
flexiblere Arbeitszeiten für berufstätige Eltern mit kleinen Kindern
3.
bessere Möglichkeiten zur Tagesbetreuung von Kindern ab drei Jahren bis zum Schulalter“88
87 vgl.: Kapitel II.1.B.i bis II.1.B.iii 88 vgl.: Höhn, Charlotte et al.: a.a.O., S. 44
34
ii.
Gleichberechtigung
Ende der 1950er Jahre wurde in Deutschland eine Umfrage durchgeführt, in der 55% der Männer und sogar 61% der Frauen die Einbringung eines Gesetzes befürworteten, nach dem es Müttern verboten werden sollte, einer Arbeit nachzugehen, bevor ihr jüngstes Kind nicht das zehnte Lebensjahr erreicht hätte.89 Etwa 60 Jahre später hat sich das Bild zwar stark gewandelt: Fast 90% der befragten Frauen gehen davon aus, dass erwerbstätige Mütter eine ebenso herzliche und innige Beziehung zu ihren Kindern haben könnten wie nicht erwerbstätige Mütter. Jedoch sind bestimmte Tendenzen unbewusst fest verhaftet: In einer Studie von 2003 stimmte fast die Hälfte der Befragten der Aussage zu, dass Kinder im Vorschulalter höchstwahrscheinlich unter der Berufstätigkeit der Mutter leiden würden. 30% der Befragten sind der Ansicht, dass Kinder, die in jungen Jahren eine Kita besuchen, später aus diesem Grund Probleme bekommen würden. Knapp 60% sind der Meinung, dass das Familienleben darunter zu leiden hat, wenn die Frau einer Vollzeitberufstätigkeit nachgeht.90 Gleichzeitig hat das Deutsche Institut für Wissenschaft herausgefunden, dass die meisten Frauen in Deutschland gerne Beruf und Kinder verbinden würden und dass Frauen, die diese Verbindung wollen und schaffen, zufriedener sind: „Die Doppelbelastung durch Familie und Beruf mündet paradoxerweise oft in einer höheren Zufriedenheit der Mütter. [...] Wer sich im Beruf und in der Familie in gleicher Weise engagiert — dies gilt auch für Mütter von Vorschulkindern —, ist gesünder, psychisch stabiler und zufriedener mit seinem Leben.“91
89 vgl.: Peuckert, Rüdiger: a.a.O., S. 229
90 vgl.: Dorbritz, Jürgen / Fiedler, Christian: „Familien im Spannungsfeld von
Kinderbetreuung und Frauenerwerbstätigkeit: Ergebnisse und Umfragen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung im Kontext der aktuellen Diskussion.“, in: BiB-‐Mitteilungen, Nr. 28(1) 2007, S. 21-‐25 91 Peuckert, Rüdiger: a.a.O., S. 243
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Jan Künzler kommt darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass in Gesellschaften eher eine höhere Fertilitätsrate vorliegt, in denen eine egalitärere Aufteilung zwischen den Geschlechtern vorherrscht bezüglich Erwerbsarbeit auf der einen Seite und Aufgaben im Haushalt und in der Kindererziehung bzw. Kinderbetreuung auf der anderen Seite. Wohingegen
in
Gesellschaften,
geschlechtsspezifische
in
denen
Aufgabenteilung
vornehmlich praktiziert
eine wird,
wahrscheinlicher eine sehr niedrige Geburtenrate zu ermitteln ist.92 In Deutschland verführen häufig steuerliche Anreize viele Paare und Familien dazu das traditionelle Ernährermodell zu leben — klare Aufteilung: er arbeitet, sie ist für den Haushalt und die Kinder zuständig — obwohl das Gegenteil der Wunsch vieler Paare ist .93 Werden die Kinder dann älter, wird der Anteil der Frauen größer, die wieder einer Arbeit nachgehen (wollen). Jedoch sind sie mit der Berufspause das Risiko eingegangen, beim Wiedereinstieg Nachteile in Kauf
nehmen
zu
müssen.
Häufig
können
sie
nur
einer
Teilzeitbeschäftigung nachgehen, arbeiten unterqualifiziert oder müssen sich auf befristete Arbeitsverhältnisse einlassen.94 Handelt es sich — wie in den meisten Fällen — bei der Partnerschaft um eine Ehe, kommt spätestens nach der Babypause ein zweiter Aspekt zum Tragen: Oft ist das Ehegattensplitting dafür verantwortlich, dass es finanziell in der Summe keinen Unterschied macht, ob die Frau einer Arbeit nachgeht oder nicht; manchmal sind die Auswirkungen nach Steuern sogar negativ und es ist per Saldo besser, sie arbeitete nicht.95 Ehegattensplitting bedeutet: Die Einkünfte beider Ehepartner werden gemäß des Tarifs für 92 vgl.: Kaufmann, Franz-‐Xaver / Schulze, Hans-‐Joachim: „Comparing Family Life in the
Frame of National Policies: An Introduction“, in: Kaufmann, Franz-‐Xaver et al.: a.a.O., S. 13 93 vgl.: Pfundt, Karen: a.a.O., S. 241 94 vgl.: ebenda, S. 237; S. 245 95 vgl.: ebenda, S. 32
36
den Durchschnitt aus ihren beiden Einkünften einheitlich besteuert. Aufgrund des progressiven Steuertarifs in Deutschland ergibt sich somit ein umso größerer Vorteil, je größer der Unterschied zwischen den beiden Einkünften ist. Bleibt ein Elternteil also — in aller Regel die Frau — zuhause, macht sich dieser dadurch komplett abhängig vom arbeitenden Partner.96 Das gefällt v.a. Frauen mit höherer Bildung immer weniger. Besteuerte man — wie etwa in Schweden — das Einkommen getrennt, könnte laut einer Simulation die Frauenerwerbsrate auch in Deutschland deutlich gesteigert werden.97 iii.
Armutsrisiko
Eine Familie zu haben ist in Deutschland ein Armutsrisiko. Allem voran liegt das daran, dass Beruf und Familie für Frauen schwer miteinander vereinbar sind. So können sie nichts zum Familienbudget beitragen. Deswegen gestaltet sich die Situation für Alleinerziehende besonders schwer.98 Das Armutsrisiko entsteht gleichermaßen daraus, dass kindbezogene Ausgaben steuerlich kaum geltend gemacht werden können. Das Nebeneinander von Kindergeld und Kinderfreibetrag begünstigt sogar Besserverdienende. Zusätzlich ist die Unterstützung sehr dezentral organisiert; das führt dazu, dass selbst Experten nicht exakt beziffern können, welches Geld welchen Familien in welchen Situationen insgesamt zusteht: Laut einer Studie der Universität
96 vgl.: Peuckert, Rüdiger: a.a.O., S. 233
97 vgl.: Gustafsson, Siv: „Getrennte Besteuerung und subventionierte Kinderbetreuung.
Warum schwedische Frauen häufiger erwerbstätig sind als Frauen in Deutschland, den Niederlanden und den USA“, in: Grötzinger, Gerd / Schubert, Renate / Backhaus , Jürgen (Hrsg.): „Jenseits von Diskriminierung“, Marburg 1993, S. 237-‐260 98 vgl.: Hradil, Stefan: a.a.O., S. 225
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Frankfurt am Main können Eltern bis zu 155 verschiedene Sozialleistungen bei mehr als 35 verschiedenen Stellen beantragen.99 Aufgrund dieser multikausalen Hinderungsgründe, sind Maßnahmen mit dem Ziel, diese Barrieren abzubauen, nicht nur jene, deren Gesetzesvorlagen in einem Familienministerium ausgearbeitet werden. Es spielen hier arbeitsmarktpolitische genauso wie wirtschaftspolitische oder finanzpolitische Aspekte eine Rolle. Doch möchte sich diese Ausarbeitung
darauf
konzentrieren
und
beschränken,
den
familienpolitischen Bereich unter die Lupe zu nehmen. B. Familienpolitische Möglichkeiten, demographischem Wandel zu begegnen Diese Arbeit fragt nach den Auswirkungen des Wohlfahrtsstaatsregimes auf den demografischen Wandel. Es drängt sich also auf, zunächst zu klären, welchen Einfluss Familienpolitik als Teil des Wohlfahrtsstaats losgelöst von der Einordnung in Regimetypen überhaupt auf demographischen Wandel haben kann. In dieser Frage herrscht weitreichende Einigkeit: Der unmittelbare Einfluss von bestimmten Familienpolitiken auf die Fertilitätsrate ist als sehr gering einzuschätzen. In Zahlen ausgedrückt: Die am eindeutigsten ausschließlich familienpolitische Maßnahme — die französische Praxis, frisch gebackenen Eltern eine nicht zu versteuernde Geldprämie auszuzahlen — hebt auf lange Sicht die Fertilitätsrate nur um 0,2 Kinder pro Frau.100 Darüber hinaus ist es sehr schwierig, bestimmte Maßnahmen und ihre Auswirkungen isoliert zu betrachten und zu
99 vgl.: Pfundt, Karen: a.a.O., S. 240 100 vgl.: Fux, Beat: „Which Models of Family are Encouraged or Discouraged by Different
Family Policies?“, in: Kaufmann, Franz-‐Xaver et al.: a.a.O., S. 408
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untersuchen. So ist es die wesentlich sinnvollere Variante, Maßnahmen als Bündel zu betrachten — so wie es Kaufmann vorschlägt: „It is rather obvious that life situation or quality of life of individuals and families result from a combined impact of rights, economic resources, available opportunities, and disposable capacities.“101
Um Aussagen darüber zu treffen, wie und in wie weit Familienpolitiken das reproduktive Verhalten der Bürger beeinflussen, ist ein Umweg zu nehmen. Familienpolitik und Fertilität, Konstrukte auf der Makroebene, werden in Abhängigkeit gebracht, indem der Weg über die Mikroebene eingeschlagen wird: über die individuellen Lebensformen.102 Es sind also folgende Punkte zu klären: •
Wie definiert sich Familienpolitik?
•
Welche sind die Hauptakteure?
•
Welche Motive kann Familienpolitik haben?
•
Wie lassen sich Familienpolitiken kategorisieren?
•
Welche Familienpolitiken erschweren oder begünstigen welche Lebensformen?
So können dann die weiterführenden Fragen geklärt werden: Wie beeinflusst Familienpolitik die individuellen Lebensformen und wie beeinflussen die individuellen Lebensformen die Fertilität? Es wird weiter — wie zu Beginn dieser Arbeit beschrieben — davon ausgegangen, dass es im Interesse der Bevölkerung eines Staats liegt103,
101 Kaufmann, Franz-‐Xaver: „Politics and Policy towards the Family in Europe: A
Framework and an Inquiry into their Differences and Convergences“, in: ebenda, S. 438 (Hervorhebung im Original) 102 vgl.: Strohmeier, Klaus Peter: a.a.O., S. 339ff. 103 vgl.: Kapitel I, Kapitel II.1.B, Kapitel II.1.C
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Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft zu nehmen. Auch wenn der Sektor Familie auf den ersten Blick als ein privater Bereich anmutet: Die sehr individuelle Entscheidung eines Paares, Eltern zu werden, sieht sich schon immer Regeln und Restriktionen von Seiten der Gesellschaft und des Staats gegenüber gestellt. Genannt sei hier beispielhaft zum einen, dass legitime Elternschaft Heirat voraussetzte, sowie zum anderen, dass Heirat bestimmten Besitz und gewisse Abstammung voraussetzte.104 Die familienpolitischen Ziele sehen heute etwas anders aus — wie, sei in den folgenden Abschnitten beschrieben. i.
Definition von Familienpolitik
In einer weiten Definition umfasst Familienpolitik alle Maßnahmen einer Regierung, von denen Familien in irgendeiner Form direkt und indirekt betroffen sind. Doch dies umschlösse auch Maßnahmen, die sich negativ auf Familien auswirkten. Daher bietet es sich für eine engere Definition an, unter dem Terminus Familienpolitik nur jene Maßnahmen zu verstehen, die positive Effekte für Familien haben. Nun können positive Auswirkungen für Familien Ziel bestimmter Maßnahmen sein oder sie sind positive Nebeneffekte von Maßnahmen, deren primäre Ziele ganz woanders liegen. Aus diesem Grunde ist es zielführend, zwischen sog. expliziter und impliziter Familienpolitik zu differenzieren: Von impliziter Familienpolitik ist dann zu sprechen, wenn zwar Familien zu Gute kommende Maßnahmen zu beobachten sind, diese Maßnahmen jedoch eher nur aus wissenschaftlicher Sicht als familienfreundlich interpretiert werden können. In den häufigsten Fällen ist die eigentliche Zielgruppe der 104 vgl.: Gerlach, Irene: a.a.O., S. 134
40
Maßnahmen nicht ausdrücklich die Familie: Sie entstammen den Ressorts der Steuer-‐, Frauen-‐, Jugend-‐, etc. oder der Sozialpolitik allgemein und sind sozusagen zufällig auch Familien zuträglich. Von expliziter Familienpolitik ist erst dann zu sprechen, sobald mindestens zwei Merkmale vorhanden sind. Zum einen sollte eine weitestgehend selbstständige Institution für die Interessen der Familie zuständig sein wie etwa ein eigenes Ministerium oder zumindest eine eigene Unterabteilung. Zum anderen sollten Familien das beabsichtigte Ziel der Maßnahmen sein, die sie betreffen.105 Folgendes Zitat fasst die wesentlichen Punkte sehr gut in einem Satz zusammen: „Familienpolitik ist die Summe aller Handlungen und Maßnahmen, die im Rahmen
einer
feststehenden
Rechtfertigungsordnung
eines
Verfahrens-‐,
Staates
normativ
Kompetenz-‐ und/oder
und
funktional
begründbar die Situation von Familien im Hinblick auf eine als wünschenswert definierte Erfüllung von deren Teilfunktionen hin beeinflussen.“106
ii.
Akteure mit familienpolitischem Einfluss
Generell kann von zwei verschiedenen Verständnissen gesprochen werden, wie familienpolitische Inhalte ihre Adressaten erreichen:107 •
Das Ursache-Wirkung-Modell geht von Folgendem aus: Die Regierung
beschließt
eine
bestimmte
familienpolitische
Maßnahme, um ganz gezielt ein bestimmtes Verhalten von Individuen oder Familien hervorzurufen.108 Dieses Modell
105 vgl.: Kaufmann, Franz-‐Xaver: a.a.O., S. 430ff. 106 Gerlach, Irene: a.a.O, S. 256 107 Zur Aufstellung der Akteursmodelle vgl.: Fux, Beat: a.a.O., S. 369ff. 108 Welchen Einfluss Familienpolitik überhaupt auf individuelles Verhalten ausüben
kann, wird in Punkt II.3.B.v behandelt.
41
impliziert, dass sich das Individuum mehr oder weniger ausschließlich durch den Akteur Regierung beeinflussen lässt; außerdem
werden
Bedeutungen
der
unterschiedliche Maßnahmen
Auswirkungen auf
und
unterschiedliche
Bevölkerungsgruppen und somit nicht beabsichtigte Nebeneffekte außer Acht gelassen. Ebenfalls setzt es rationale Entscheidungen voraus. •
Ein zweites Modell geht davon aus, dass im Entscheidungsprozess neben dem Staat noch weitere Akteure im Spiel sind. Das Modell der gegenseitigen dynamischen Abhängigkeiten berücksichtigt unterschiedliche, individuelle Präferenzen, Vorlieben und Interessen und versucht einzukalkulieren, dass Entscheidungen oft nicht rational sind. Staat und Individuum befinden sich in einem Feld diverser wechselseitiger Abhängigkeiten und Verpflichtungen. In diesem Sinne ist Familienpolitik und der Umfang ihres Einflusses ein Ergebnis vielschichtiger Prozesse, in die zusätzliche Größen involviert sind wie etwa die Wirtschaft („der Markt“) oder tradierte Wertevorstellungen sowie Lehren, die aus vergangenen Maßnahmen gezogen wurden. Das Modell sieht die Regierung als Mediator zwischen den unterschiedlichen Akteuren. Während das Ursache-‐Wirkung-‐Modell eindeutige Wenn-‐Dann-‐Zusammenhänge erkennt, beschreibt das Modell der gegenseitigen dynamischen Abhängigkeit eher Tendenzen: Abhängigkeiten, die ein bestimmtes individuelles Verhalten wahrscheinlicher bzw. unwahrscheinlicher machen.
42
iii.
Motive von Familienpolitik
Um Familienpolitiken zu kategorisieren, bietet es sich an, zunächst auf die Motive ihrer Etablierung einzugehen.109 •
Das simpelste Motiv besteht darin, die Institution, den Wert, die Familie an sich bewahren und schützen zu wollen. Dieses familial- institutionelle Motiv geht oftmals einher mit traditionellen Familienbildern, die das traditionelle Ernährermodell favorisieren.
•
Das bevölkerungspolitische Motiv110 beschreibt die wahrscheinlich älteste Zielsetzung familienpolitischer Maßnahmen. Es begründet sich in der Wichtigkeit der demographischen Reproduktion; minimal ausreichender Reproduktionsfaktor ist Nullwachstum.
•
Das ökonomische Motiv betont die makroökonomische Rolle der Familie innerhalb der Gesellschaft: Familie als Produktionsstätte zukünftiger Generationen mittels Kindererziehung, Pflege von Familienmitgliedern, etc. Demographischer Wachstum auf Bestandserhaltungsniveau wird als das ökonomisch sinnvolle Ziel gesehen, weil eine schrumpfende Gesellschaft negativen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum hat.111
•
Verwandte Motive kann dem gesellschaftlichen unterstellt werden: Die Familie als kleinste gesellschaftliche Einheit muss aufgrund der Sicherung und Mehrung von Humankapital als schützens-‐ und förderungswerter Herd der Gesellschaftsreproduktion verstanden werden.
•
Das sozialpolitische Motiv: Im Vordergrund stehen Bedarf und
Gerechtigkeit. Ein erhöhtes Armutsrisiko bzw. ökonomische 109 Zur Kategorisierung der Motive vgl.: Kaufmann, Franz-‐Xaver: a.a.O., S. 426ff.
110 Dieses bewusste und zielgerichtete Einwirken auf die Bevölkerungsstruktur und
Bevölkerungsentwicklung ist – v.a. in Deutschland ob seiner nationalsozialistischen Vergangenheit – ein hochsensibles Thema, dessen Gestaltungsspielräume klar abgesteckt werden müssen! 111 vgl.: Kapitel II.1.C.ii
43
Nachteile, die durch Elternschaft und Anzahl der Kinder entstehen — oft im Speziellen für die Mutter — müssen aufgefangen bzw. ausgeglichen werden. Neben der Nivellierung von Disparitäten ist es ebenso Ziel dieser Politik, die Infrastrukturen für Familien durch spezifische Einrichtungen und Dienstleistungen zu optimieren.112 •
Ebenfalls den Gerechtigkeitsgedanken im Visier hat das emanzipatorische
Motiv.
Da
Familienarbeit
größtenteils
Frauenarbeit bedeutet, wird in diesem Falle Familienpolitik dadurch motiviert, Anstrengungen voranzutreiben, eine egalitäre Verteilung der Familien-‐ und Erwerbsarbeit auf beide Geschlechter zu ermöglichen. Vorangegangen vorgestellte Motive beantworten die Frage, unter welchen
Beweggründen
und
mit
welchen
Schwerpunkten
familienpolitische Maßnahmen angegangen werden können. Davor steht natürlich die Entscheidung, ob überhaupt und — falls ja — in welchem Umfang Familienpolitik betrieben werden soll. Hier lassen sich im Groben drei Herangehensweisen erkennen:113 •
Die Position des starken Wohlfahrtstaats: Es herrscht eine Grundverantwortung des Staats gegenüber seiner Bevölkerung, die mit allen sinnvollen und dem Staat möglichen Mitteln die Familie zu beschützen und zu unterstützen umgesetzt wird. Hier steht als Motor v.a. das bevölkerungspolitische, gesellschaftliche und sozialpolitische Motiv im Vordergrund.
•
Die Position des zurückhaltenden Wohlfahrtsstaats: Die Familie wird als eine schützenswerte, aber autonome und private Einheit gesehen, in die sich der Staat einzugreifen nur im äußersten
112 vgl.: Gerlach, Irene: a.a.O., S. 137 113 Zur Einordnung der Herangehensweisen vgl.: Kaufmann, Franz-‐Xaver: a.a.O., S. 429ff.
44
Notfall erlaubt, uns zwar um Armut und Verwahrlosung abzuwenden. Die vorherrschenden Beweggründe sind das ökonomische und das familial-‐institutionelle Motiv. •
Die Position des punktuellen Wohlfahrtsstaats: Aufgabe des Staats ist es, sich v.a. um die sozial Schwachen, die Benachteiligten und deren Probleme zu kümmern. Auch hier sind das familial-‐ institutionelle sowie das gesellschaftliche Motiv die zentralen Leitgedanken, wobei das sozialpolitische Motiv ebenso eine Rolle spielt. 114
iv.
Typen von Familienpolitiken
In der Synthese aus den Beschreibungen der Akteure und Motive kristallisieren sich drei Hauptüberzeugungen heraus, die in enger Verwandtschaft zu Esping-‐Andersens Welten des Wohlfahrtskapitalismus stehen. Während in „The three worlds of welfare capitalism“ die Familie wenig Berücksichtigung findet, widmet er sich in „Why we need a new welfare state“ besonders den Funktionen der Familie im Wohlfahrtsstaat und fordert gar ein komplettes Umdenken in der Familienpolitik. In „Why we need a new welfare state“ formuliert er diese drei Welten der Familienpolitik: das nordische, das kontinental-‐europäische und das anglo-‐amerikanische Regime.115 Er formuliert Variablen, deren zu erwartender Ausprägung er Typen von Wohlfahrtsstaatssystemen zuordnet.116
114 vgl. ebenfalls: Kapitel II.2.C.i bis II.2.C.iii 115 siehe: Esping-‐Andersen, Gøsta / Gallie, Duncan / Hemerijck, Anton / Myles, John:
„Why we need a new welfare state“, Oxford und New York 2002 116 Zur Aufstellung der Wohlfahrtsstaatstypen aus familienpolitischer Sicht vgl.: Gerlach, Irene: a.a.O., S. 366f.; vgl. ebenfalls: Fux, Beat: a.a.O., S. 372ff. und S. 384
45
a. Familienpolitik im liberalen Wohlfahrtsstaatssystem Hier ist Folgendes zu erwarten: So zurückhaltend wie bei wohlfahrtsstaatlichen Interventionen allgemein verhält sich im liberalen Wohlfahrtsstaat auch das Ausmaß an familienpolitischen Maßnahmen. Es lassen sich oft weder gesamtheitlich abgestimmte Maßnahmen erkennen noch findet sich eine explizite Familienpolitik. Die beschriebenen Variablen fallen fast durchweg negativ aus:117 Die Aufwendungen für Familienunterstützung, gesetzliche Regelungen zu Mutter-‐ oder Elternschaftsurlaub sowie Verbreitung von Kinderbetreuungsstätten sind allgemein durchweg in niedrigem bzw. geringem Maße zu erwarten. Zuwendungen sind Sach-‐ als auch Transferleistungen. Während es zwar wenige Steuervergünstigungen für Familien gibt, ist das Steuerniveau auch insgesamt tendenziell niedrig. Dieses Modell begünstigt zumeist das traditionelle Ernährermodell und macht folgendes Verhalten der Bürger wahrscheinlich: •
Die Entscheidung Kinder zu bekommen oder kinderlos zu bleiben, ist eine polarisierende Frage des Lebensentwurfs. Die Lösung, eine Geburt aufzuschieben, wird häufig getroffen.
•
Im Vergleich zu Ländern anderer Wohlfahrtsstaatssysteme erfolgte hier die Partizipation von Frauen am Erwerbsleben geschichtlich später und entwickelt sich langsamer.
•
Da das Nebeneinander von Beruf und Familie hier individuell organisiert ist, zeichnet sich eine bipolare Alterstruktur v.a. erwerbstätiger Frauen ab. Im Allgemeinen arbeiten sie bis zur Geburt ihres Kindes, konzentrieren sich dann auf die Elternschaft und die Erziehung des Kindes. Sobald das Kind in die Schule
117 Eigene Übersetzung der Kriterien. Im englischen Original bei Fux heißen sie: „Family
Allowances“, „Perinatal Maternity Leave“, Child-‐Care Leave“, „Public Child-‐Care (