Wo die Vernunft mit ihrem Latein am Ende ist

Wo die Vernunft mit ihrem Latein am Ende ist Ich habe vor zwei Wochen versehentlich eine John Wesley Predigt gelesen. Wie es zu diesem Versehen gekomm...
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Wo die Vernunft mit ihrem Latein am Ende ist Ich habe vor zwei Wochen versehentlich eine John Wesley Predigt gelesen. Wie es zu diesem Versehen gekommen ist, brauche ich hier jetzt nicht entfalten. Wichtig ist: die Predigt hat mich beeindruckt. Und ich habe mich gefragt, ob es sich lohnen würde, diese Predigt heute zu hören. Ich habe mich dann gefragt: Wie würde John Wesley heute über die Vernunft predigen?

Lasst es mich erklären. John Wesley bezieht sich auf einen Vers aus dem 1. Korintherbrief, wo Paulus sagt: „All unser Wissen ist Stückwerk.“ Und dann geht es los. Wesley betrachtet verschiedene Bereiche, für die sich die Vernunft eines Christenmenschen interessiert.

Zunächst Gott. Mit Gott wird Wesley schnell fertig. Da stellt er nämlich einfach fest: vor Gott macht unsere Vernunft schon recht bald schlapp. Gottes Allgegenwart und Gottes Ewigkeit strapazieren unsere Vorstellungskraft so sehr, dass wir da nur kapitulieren können und uns dem nächsten Bereich zuwenden sollten.

Dieser Bereich ist die Schöpfung. Und hier meint John Wesley die Natur – die Sterne, die Sonne, den Mond, das Licht, die Luft, die Erdkruste. Auch hier gibt es Fragen über Fragen. Die Vernunft muss immer wieder ihr Handtuch werfen.

Der nächste Bereich ist die Geschichte, aber auch die politischen und kulturellen Verhältnisse der Gegenwart. Gottes Vorsehung, sagte man früher dazu. Man könnte nun meinen, dass hier ein wenig mehr Licht ins Dunkle fällt. Geschichte, Politik, Kultur – das ist doch der Lebensraum des Menschen, und Gott hat es ja in ganz besonderer Weise mit dem Menschen zu tun.

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Sollte da die Vernunft nicht mit Recht hoffen dürfen, hier Gottes Wirken zu entdecken? Aber mitnichten! Die Vernunft tappt auch hier im Dunkeln.

Aber die Kirchengeschichte – das Christentum, das „Gegengift gegen die Sünde“, nennt Wesley es. Hier müsste die Vernunft doch endlich aufatmen! Die Kirche sollte doch ein Lichtblick im finstern Tal menschlicher Geschichte sein – eine Leuchtspur von Gottes Wirken, der Vernunft so zugänglich wie ein offenes Buch

einem

begierigen

Leser.

Und

wenn

schon

nicht

die

ganze

Kirchengeschichte, sollte nicht wenigstens das persönliche Leben eines jeden Christen Gottes Wirken klar und deutlich bezeugen? Aber nicht einmal das wird der Vernunft gewährt.

Der Vernunft bleibt der Sinn, den das alles ergeben soll, entzogen. Gott selbst – aber auch die Schöpfung mit ihren verblüffenden Ordnungen. Die Geschichte der Menschheit, der mühsame Weg des Christentums, die Lebensumstände eines jeden Menschen, die ungleiche Verteilung der Chancen und des Leidens – alles, wirklich alles, wofür sich die Vernunft eines glaubenden Menschen interessieren könnte, ist in tiefes Dunkel gehüllt. Nichts davon lässt darauf schliessen, dass Gott wirklich mit dieser Welt und mit unserem Leben zu tun hat. Alles, was Menschen beobachten, drängt zum Stossgebet, zu jenem: „Gott, ich verstehe es nicht, du aber wirst schon deine Gründe haben!“ Es gibt nichts, woran sich die Vernunft festhalten könnte, um Gottes Handeln in der Welt über jeden Zweifel erhaben sein zu lassen.

Unsere Vernunft versucht, in die Räume einzudringen, in denen Gott doch am Werk sein muss. Aber sie findet von Gott kaum eine Spur. Was schliesst John Wesley daraus? Drei Dinge:

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1. Demütig muss sie werden, die Vernunft. Ohne Gottes Hilfe können wir nicht einen einzigen guten Gedanken fassen. 2. Auf Gott vertrauen empfiehlt sich. Denn je deutlicher wir wissen, dass wir nichts wissen, desto mehr verlassen wir uns auf Gottes Weisheit. Wir sehen immer nur die Oberfläche, seien es nun Fakten oder Menschen. Gott selbst wird die Wahrheit ans Licht bringen. 3. „Resignieren“ muss sie, die Vernunft, sich in Gottes Willen fügen. Das war, so Wesley, die letzte Lektion, die Christus auf Erden lernen musste. Der Höhepunkt seines Lebens war dort im Garten Gethsemane. Es war zugleich der Wendepunkt. Da schlug Jesu heilvolle Gegenwart in dieser Welt in seine Passion um, und er erfuhr im eigenmächtigen Handeln der Menschen Gottes Willen. Wovon spricht Wesley? Von dem Augenblick, in dem Jesus sagte: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst“. Das heisst resignieren, und resignieren ist die vornehmste Aufgabe der menschlichen Vernunft.

Liebe Gemeinde – demütig sein, auf Gott vertrauen und resignieren. Das ist der Weisheit letzter Schluss, laut jener Predigt, die John Wesley am 5. März 1784 in Bristol gehalten hat. Was mich erstaunt ist, mit welcher Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit Wesley die Vernunft sprechen lässt, bevor sie resigniert. Denn wenn die Vernunft auszieht, um in der Natur, in der Geschichte oder auch bloss in einem ganz persönlichen Leben Gottes Wirken aufzuspüren, und sie findet es nicht – dann könnte man doch auch zu einem anderen Schluss kommen: nämlich dazu, dass es keinen Gott gibt, der in der Natur, in der Geschichte oder auch nur im Leben eines Christenmenschen wirken könnte.

Diesen Schluss zieht Wesley nicht. Nein, er empfiehlt der Vernunft, sich zu demütigen, auf Gott zu vertrauen und vor seinem Willen zu resignieren.

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Die Vernunft kann sich an all den Bereichen abarbeiten, von denen der christliche Glaube behauptet: da wirkt Gott. Die Vernunft kommt vielleicht nicht drum herum, Gottes Wirken aufspüren zu wollen. Sie wird keine befriedigenden Antworten finden, und was sie findet, müsste sie eigentlich immer tiefer in die Frage hineinführen, ob Gott, wenn es ihn gibt, denn überhaupt gerecht sein kann. Aber Wesley scheint keine Angst vor der Vernunft zu haben und vor ihrer Sehnsucht, zu verstehen. Das ist das Erstaunliche. Dafür bewundere ich diese Predigt.

Und ich möchte mir vorstellen, wie Wesley heute über die Bereiche Schöpfung, Geschichte, Kirchengeschichte predigen würde?

Vielleicht etwa so:

Wie wenig wissen wir doch von Gott! Wir sagen, Gott ist allgegenwärtig, aber können wir uns vorstellen, was das genau bedeutet? Wir sagen, Gott ist ewig – aber was für eine Ahnung haben wir von der Ewigkeit ausser vielleicht, dass sie so etwas wie Dauer ohne Ende ist und damit sehr eintönig und langweilig?

Vielleicht sollten wir ein wenig tiefer ansetzen. Nicht beim Schöpfer, sondern bei der Schöpfung. Sie ist doch Seiner Hände Werk, und wir sind ein Teil davon, ein beachtlicher Teil, wenn man bedenkt, dass Gott uns zu seinem Bilde geschaffen hat. Sollten wir da nicht in der Lage sein, wenn nicht den Schöpfer, dann doch wenigstens seine Schöpfung zu verstehen?

Und tatsächlich. Fortschritte haben wir gemacht. Wir haben unsere Horizonte erstaunlich erweitert. Sonne, Mond und Sterne sind uns nicht mehr so unbekannt, wie damals noch, vor 200 Jahren. Licht und Materie haben einen Teil ihres Geheimnisses preisgegeben. 4

Die Luft ist nicht mehr eine unbekannte Grösse. Und der Erde, auf der wir uns bewegen, haben wir längst ihre seltsamsten Bodenschätze entrissen. Was uns vor 200 Jahren verborgen war, ist heute jedem Schulkind bekannt. Die Vernunft hat aus dem Meer des Unwissens eine Insel des Wissens gehoben. Naturwissenschaftlich ist das vonstatten gegangen. Mit Modellen, die Teile der Wirklichkeit erklären. Ihre Sprache ist mathematisch und damit international. Und ihre Methode ist das Experiment und die Entschiedenheit, sich immer wieder überprüfen zu lassen.

Einen Höhenflug scheint die Vernunft hinter sich zu haben. Und doch ist ihr Höhenflug nicht grenzenlos. Ganz gleich, zu welchen Erkenntnissen sie sich aufschwingt: immer, wenn sie etwas verstanden hat, tauchen wieder neue Fragen auf. Der Fortschritt der Vernunft scheint die Rätsel nicht zu lösen, sondern ihr mehr und mehr neue Rätsel aufzugeben.

Erschütternd hat im letzten Jahrhundert Einsteins Relativitätstheorie gewirkt. Aber auch dieses Modell muss nicht der Weisheit letzter Schluss gewesen sein. Die Entdeckungen, die in diesen Tagen im CERN von den Teilchen gemacht wurden, die schneller sein sollen als Licht, haben die Fachwelt aufhorchen lassen.

Die Fachwelt – das ist es eben. Heute kümmern solche Sachen bloss noch die Fachwelt. Früher war das anders. Vor 200 Jahren hat es noch Leute gegeben, die sich auf allen Gebieten des Wissens bestens auskannten. Ein Mann konnte Theologe und Arzt sein, konnte fliessend Latein und Griechisch sprechen, und ausserdem war er noch naturwissenschaftlich auf dem neusten Stand. Heute gibt es solche Universalgelehrten nicht mehr. Heute ist jemand eine Koryphäe auf einem sehr begrenzten Gebiet, und in allen anderen Bereichen ist er so ahnungslos wie du und ich. 5

Die Vernunft hat sich spezialisiert, und damit hat sie sich immer engere Grenzen gesetzt. Stückwerk ist sie in der Tat, und je tiefer sie in ihr Spezialgebiet eindringt, desto ehrlicher gesteht sie zu, wie bald sie mit ihrem Latein am Ende ist. Wer würde es heute noch wagen, in einer Predigt den aktuellen Wissensstand gleich mehrerer Wissenschaften auszubreiten, wie es damals von einer Kanzel in Bristol geschah?

Nicht etwa, um die Gemeinde zu verwirren. Sondern um ihnen zu zeigen: Ja, die Menschen sind weit gekommen mit ihrer Vernunft. Aber letztlich stossen sie immer wieder an Grenzen. So sieht es heute aus mit der Vernunft und ihrem Fortschritt: Wir wissen viel und wir wissen sehr wenig. Alle sind in fast allen Bereichen sehr unwissend. Einige wissen vielleicht auf ein oder zwei Gebieten sehr viel. Aber das Wissen, das der Menschheit als ganzer heute zur Verfügung steht, ist so komplex geworden, dass es uns alle überfordert. Je mehr wir eigentlich wissen könnten, desto mehr verlieren wir den Überblick. Und niemand kann sagen, was bei all dem Zuwachs an Wissen einmal herauskommen wird. Technischer Fortschritt, der die Lebenssituation verbessert, oder der Untergang einer Species, die in ihr eigenes Netz geht, weil ja niemand ahnt, wie alles miteinander vernetzt ist.

Ach, und sehen wir uns den Bereich der Geschichte an.

Warum gibt es immer wieder Kriege? Warum kommen die einen hier und die anderen dort zur Welt und warum sind auf dieser Welt die Lebenschancen so unterschiedlich verteilt? Warum werden die einen da geboren, wo das Evangelium sie nie erreicht, wenn doch das Evangelium so wichtig ist für alle Menschen? Was hat Gott damit zu tun – mit den Nöten auf unserem Erdball, mit dem Hunger nach Wasser und Brot, nach Frieden und Gerechtigkeit? Ist unsere Vernunft da nicht bald mit ihrem Latein am Ende? 6

Ja, warum gibt es diese Welt eigentlich immer noch? Wie kommt es, dass das Christentum diese Welt eigentlich gar nicht so viel besser gemacht hat? Wie konnte es geschehen, dass Jesus Gottes Reich verkündigte und heiss ersehnte, und dass es bis heute ausgeblieben ist? Warum dauert die Geschichte an, warum geht sie weiter? Die Vernunft ist hier mit ihrem Latein zu Ende.

Und der Protestantismus: ausgezogen, um Missbräuche in der Kirche zu beseitigen. Dass Menschen sich freikaufen können von den üblen Folgen ihrer Sünde, indem sie der Kirche Geld geben, das hat Martin Luther zu Recht angeprangert. Er hat Christus als alleinige Quelle der Vergebung gepredigt. Christus, der gesagt hat, man könne nur einem dienen: Gott oder dem Mammon. Und ausgerechnet im Protestantismus ist der Wohlstand zum Zeichen der Erwählung geworden. Am Wohlstand könne man erkennen, ob Gott einen Menschen erwählt hat oder nicht. Die Armen sind verstossen, die Reichen sind erwählt – das kann weder im Sinne der Bibel sein, noch im Sinne Jesu, noch im Sinne Luthers, noch im Sinne Wesleys, und wohl auch nicht im Sinne Calvins – und dennoch hat sich gerade in protestantischen Kulturen eine Lebenshaltung durchgesetzt, in der Arbeit, Fleiss, Sparsamkeit, Pflichtbewusstsein hoch geschätzt werden. Und es sind alles Tugenden, die um das Geld herum gebaut werden. Warum eigentlich? Kann Gott das so gewollt haben? Die Vernunft ist hier mit ihrem Latein am Ende.

Ganz gleich, wo sie hinblickt, die Vernunft eines Christenmenschen: sehr bald ist sie mit ihrem Latein am Ende. Heute nicht weniger als zu Zeiten von John Wesley.

Soll sie sich also demütigen und sagen: Ohne dich, Gott, kann ich keinen guten Gedanken fassen. 7

Soll sie also wissen, dass sie nichts weiss, und Gott darum umso mehr vertrauen. Und soll sie resignieren und sagen, wie Christus im Garten Gethsemane: „Vater, dein Wille geschehe.“ Und dennoch, in aller Demut: die Vernunft wird immer in die Welt blicken und hoffen, dass das, was geschieht, einen Sinn ergibt, und sie wird sich vor den Kopf gestossen fühlen, wenn sie wieder einmal alles für sinnlos halten muss. Und sie wird darüber klagen, wenn die Tatsachen gegen Gott sprechen und Gott ungerecht erscheinen lassen. Sie kann nicht anders und muss ihre Klagen aussprechen, und sei es im Stossgebet, wie John Wesley es getan hat. Sie muss es tun, die Vernunft, allein, damit Gott einmal Seine Antwort gibt.

Gib mir die Freude, Gott, dich zu verstehen, in den Mut machenden Worten der Bibel. Gib mir das Vertrauen, Gott, dich zu erkennen in den Umrissen deiner Schöpfung, in dem von dir geliebten Leben. Gib mir die Vernunft, meine Vernunft zu gebrauchen, den Alltag zu bestreiten, aber auch nach Höherem zu fragen, die Grenzen zu erspüren, die unserem Leben auferlegt sind. Gib mir die Hoffnung, von dir eine Antwort zu bekommen auf alle ungelösten Fragen, die sich nicht abschütteln lassen. Und gib mir die heilende Liebe die dich im Angesicht dieser Welt ersehnt und diese Welt in das Licht deiner Liebe stellt. Mitunter gegen jede Vernunft. Amen. 8