Wie viel Freiheit braucht ein Kind?

Spielen und Lernen 04/11 Wie viel Freiheit braucht ein Kind? Kinder brauchen elternfreie Erfahrungs- und Spielräume, um die Welt entdecken und ihr Po...
Author: Sigrid Heidrich
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Spielen und Lernen 04/11

Wie viel Freiheit braucht ein Kind? Kinder brauchen elternfreie Erfahrungs- und Spielräume, um die Welt entdecken und ihr Potential entwickeln zu können Lasse, Ole, Britta und die anderen Kinder haben ihre Pflichten. Sie müssen zur Schule gehen, den Erwachsenen bei der Feldarbeit helfen, werden zum Schuster geschickt oder zum einkaufen. Ansonsten aber sind sie frei. Die Kinder von Bullerbü dürfen auf Bäume klettern und im See baden, sie spielen im Stall, reiten auf Pferden oder schlafen im Heu. Und die Erwachsenen lassen sie dabei einfach in Ruhe. Ein Kinderleben wie in Astrid Lindgrens Bullerbü scheint inzwischen undenkbar. Heutzutage gehen Kinder zum Babyschwimmen und in die Krabbelgruppe, dann in die Kita und zur musikalischen Frühförderung, später in die Schule, zum Tennis, Klavierunterricht, Logopäden und zur Nachhilfe. Ihr Leben ist meist von Erwachsen durchgeplant und überwacht. Sind sie einmal sich selbst überlassen, werden sie durch Fernseher und Computer davon abgehalten, ihren eigenen schöpferischen Impulsen zu folgen. Dabei macht es glücklich, die Welt auf eigene Faust zu entdecken, seine Kräfte mit anderen zu messen und sich in einer Gruppe von Kindern geborgen zu fühlen. Das gilt nicht nur für Bullerbü. Fragt man Menschen nach ihrer Kindheit, die in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geboren wurden, so berichten die mit größtem Vergnügen von gemeinschaftlichen Streifzügen durch Hinterhöfe, Gärten oder Felder, von kleinen Streichen und nicht immer ungefährlichen Kletterpartien. Warum ist ein bisschen Bullerbü heute so selten geworden? „Die Grenzen um die Kinder herum waren nie enger als jetzt“, bestätigt der dänische Familientherapeut Jesper Juul. Sicher, Max, sieben Jahre alt, ist Einzelkind und die Schule, die seine Eltern für ihn ausgesucht haben, liegt nicht im Viertel. Die Nachbarskinder kennt er deshalb kaum und außerdem hat er zum Geburtstag einen Tablet Computer geschenkt bekommen, mit dem er sich die meiste Zeit beschäftigt. Nele, vier Jahre alt, hat zwar zwei ältere Brüder, aber gemeinsam mit ihnen um die Häuser ziehen darf sie nicht. Sie leben in der Stadt und da lauern zu viele Gefahren, sagen die Eltern. Vereinzelung, Verstädterung, Verkehr, die modernen Medien – all das trägt dazu bei, dass die Bewegungsfreiheit von Kindern heute eingeschränkt ist. Andererseits - auch in Erich Kästner´s Berlin der zwanziger Jahre tobte der Verkehr in den Straßen. Dennoch durften Emil und seine Freunde allein durch die Hinterhöfe stromern. Woher kommt es, dass Eltern heute nicht selten das Leben ihrer Kinder vom Morgen bis zum Abend planen und steuern, sich in ihre Spiele und Freundschaften einmischen und sie lieber mit dem Auto herumkutschieren als sie einer unfreundlichen Witterung auszusetzen? Ein Grund liegt darin, dass Mütter und Väter vielfach verunsichert sind, meint Professor Peter Struck, Erziehungswissenschaftler an der Universität Hamburg. Weil Kinder nicht mehr vorrangig zur Anpassung an die Gesellschaft erzogen werden sollen, sondern die Entfaltung des Individuums im Mittelpunkt steht, existiert keine Einigkeit mehr über die richtige Erziehungsmethode. „Im Grunde braucht jedes Kind eine andere Erziehung als das nächste“, so Struck. Da viele Kinder heute alleine oder mit nur einem Geschwister aufwachsen, erhalten sei zudem viel mehr Aufmerksamkeit, als das in größeren Familien möglich ist. Um an ihren Lieben nur ja nichts falsch zu machen, neigen deshalb manche Eltern dazu, des Guten zu viel zu tun. So wie die von Max. Von Anfang an nahm die Mutter sein Leben in die Hand und versuchte, es optimal zu gestalten. Sie nutzte jedes Förderangebote, versorgte Max mit Lernspielzeug, wählte seinen Kindergarten nach pädagogischen Gesichtspunkten und dem „Niveau“ der anderen Kinder und Eltern aus. Gibt es Streit mit Gleichaltrigen, ist sie sofort zur Stelle, bei Schwierigkeiten mit der Lehrerin

ebenso. Max nimmt natürlich Gitarren- sowie Tennisunterricht. Maxens Eltern wollen das Beste für ihr Kind, wozu aus ihrer Sicht auf jeden Fall eine ausgezeichnete Bildung gehört. Denn Bildung, das kann man täglich in der Zeitung lesen, ist der Schlüssel zu allem. Wenn ihr Sohn scheinbar ziellos „nur“ spielt, erscheint ihnen das oftmals als Zeitverschwendung. Durch umfassendes Fördern und Lenken, so glauben Maxens Eltern, können sie ihr Kind zu einem erfolgreichen und sorgenfreien Menschen formen. Ein Irrtum, denn Kinder kommen keineswegs als leere „Festplatten“ zur Welt, die unausgesetzt „formatiert“ werden müssen, sondern mit einer Menge überlebenswichtiger „Voreinstellungen“. Sie bringen den unbedingten Willen mit, sich zu entwickeln, zu lernen und sich in die Gemeinschaft einzufügen. Und sie tun es, aus sich heraus in ihrem je eigenen Tempo. Nele hat das eindrucksvoll bewiesen. Als Baby war sie ruhig und behäbig, saß gerne da und beobachtete mit großen Augen, was sich tat. Ans Laufen dachte sie so lange nicht, dass ihre Eltern sie besorgt beim Kinderarzt vorstellten. Der konnte keinen Fehler an ihr finden und, siehe da, eines Tages kam Bewegung in Nele. Sie startete ein intensives Trainingsprogramm, schien sich vorübergehend für nichts anderes mehr zu interessieren und lernte binnen kürzester Zeit zu laufen. Die Kinderärztin Emmi Pickler würde sich über Neles Geschichte nicht wundern. Jahrzehnte lang beobachtete die 1984 verstorbene Ungarin die Entwicklung von Kindern und kam zu folgenden Ergebnissen: Jedes gesunde Kind lernt laufen, sprechen und soziale Fähigkeiten aus eigenem Antrieb. Ein Lernschritt baut dabei auf dem nächsten auf. Jedes Kind macht den Folgeschritt erst dann, wenn es sich des vorherigen sicher ist, und orientiert sich dabei an seinem eigenen inneren „Programm“. Man kann von außen nichts beschleunigen. Versuchen nun Eltern nachhaltig, durch Fördermaßnahmen in diese Abläufe einzugreifen, gerät das Kind unter Druck. Es gewinnt den Eindruck, in den Augen von Mutter und Vater nicht gut genug zu sein. Zunächst bemüht es sich, deren geringes Vertrauen in seine Fähigkeiten zurück zu gewinnen, indem es sich fügt und sein Bestes gibt. Auf die Dauer jedoch führt diese Anstrengung zu Stress und Überforderung, untergräbt das ständig nagende Gefühl, nicht zu genügen, sein Selbstbewusstsein. Weil ihm zu wenig Spielraum bleibt, sich aus eigener Kraft weiter zu entwickeln, leidet zudem sein Durchhaltevermögen. „Überregulierte Kinder fühlen sich immer als Versager“, erklärt Peter Struck. Manche reagieren auf die Dauer mit Resignation, geben jede Anstrengung auf und ziehen sich zurück. Als erklärter Gegner der Idee, dass man Kindern beim Aufwachsen ständig nachhelfen muss, erweist dich Professor Ralph Dawirs. „Kinder muss man nicht fördern“, sagt er. „Sie entwickeln sich von allein.“ Erziehung sei, so gesehen, „das Zulassen von Bildung als Selbstbildung“, meint der Entwicklungsforscher von der Uniklinik Erlangen in Anlehnung an den Philosophen Immanuel Kant. Was aber nun nicht heißt, dass Eltern nichts zu tun hätten, im Gegenteil. Ihnen kommt die Rolle der kundigen, vorausblickenden Begleiter zu. Familientherapeut Jesper Juul gibt Müttern und Vätern folgenden Rat: „Geht ein Stück zurück, guckt dem Kind zu, und bietet eure Begleitung an, wenn es aussieht, als könnte es die jetzt brauchen.“ Ganz am Anfang braucht es naturgemäß die meiste Unterstützung. In seiner völligen Hilflosigkeit ist das Baby auf Menschen angewiesen, die seine Bedürfnisse nach Nahrung, Schlaf, Wärme und Liebe verstehen und befriedigen, Menschen also, auf die es sich hundertprozentig verlassen kann. Wird es darin nicht enttäuscht, entwickelt es eine tiefe Bindung an seine ersten Bezugspersonen und aus dieser Bindung sein Urvertrauen. Eine „Kernkompetenz“ nennt das Ralph Darwirs, mit der ausgestattet sich ein Kind voller Enthusiasmus an die Selbstbildung macht. Aufgabe der Eltern ist es, den sicheren Raum dafür zu gestalten. Das heißt nicht nur, dass sie die Treppe gegen Sturzgefahr absichern und Putzmittel ins obere Regal verbannen. Eltern müssen Kindern auch ein „stabiles Weltbild“

vermitteln, sagt der Erziehungswissenschaftler Peter Struck. Im Rahmen der elterlichen Vorgaben brauchen kleine Kinder vor allem aber eins: Viel Zeit, um im Spiel ihre Fähigkeiten zu entfalten. Von einem unseligen „Frühförderwahn“ spricht Ralph Dawirs und bricht eine Lanze für das freie Spielen: „Kinder brauchen Freiräume, in denen sie sich ungehindert bewegen können“, erklärt er. „Alles, was das freie Spiel behindert, ist schlecht.“ Sich selbst versunken mit den Dingen auseinandersetzen zu können, hilft Kindern, ihre Fantasie zu entwickeln und Zusammenhänge zu verstehen. An der kleinen Nele hätte Professor Dawirs sicher seine Freude. Sie vertieft sich ganze Nachmittage in ein Spiel, in dem sie zwei bescheidene Holzpüppchen die unterschiedlichsten Rollen übernehmen lässt. Die Püppchen streiten und vertragen sich wieder, besprechen, was sie tun, erzählen sich, was sie erlebt haben. Neles Eltern wundern sich zwar, mischen sich aber nicht ein. Wie die kleinen so brauchen auch ältere Kinder Orientierungshilfen durch Erwachsene, um sich in der Gesellschaft zurecht zu finden, wenn gleich mit zunehmendem Alter immer weniger. Neben Regeln und Pflichten dürfen die Freiräume nicht fehlen, in denen weder Eltern noch Erzieherinnen oder Lehrer etwas zu suchen haben. Räume, in denen Kinder ähnlich wie Lasse, Ole, Britta und ihre Freunde die Welt auf ihre Weise entdecken, ihren Fantasien nachhängen, mit anderen spielen und streiten. Dabei machen sie Fehler und schmerzhafte Erfahrungen, es gibt Schrammen am Knie und Tränen, weil die beste Freundin sich einer anderen zugewandt hat. Das müssen Eltern aushalten, denn dem Nachwuchs allen Kummer ersparen zu wollen, ist unmöglich. Pflaster auflegen und trösten dürfen sie allerdings - so lange die Kinder das noch wollen. Der richtige Weg liegt auch hier wie so oft in der Mitte, meint der Entwicklungsforscher Ralph Dawirs, und den zu finden nennt er „hohe Kunst“. Auch der Peter Struck glaubt, dass „Erziehung gelingt, wenn man die Mitte trifft“. Um die Mitte finden zu können zwischen Fürsorge, Aufmerksamkeit, Lenkung und Freiheit müssen Eltern vor allem eins: Ihr Kind sehr gut kennen lernen. Denn nur durch genaues Hinschauen finden sie heraus, wie viel Führung es jeweils braucht und wie viel Freiraum sie ihm überlassen können. Je mehr Urvertrauen ein Kind entwickeln konnte, je sicherer es fühlt, dass die Eltern verlässlich für es da sind, desto sicherer bewegt es sich in der Welt. Es kann Gefahren eher einschätzen und wird mit Problemen leichter fertig, sind sich beide Experten einig. Und es spürt, wann es Zeit wird, die Unterstützung der Erwachsenen einzufordern.

Furcht ist ein schlechter Ratgeber Meist sind es Ängste, die Eltern antreiben, ihre Kinder über die Maßen zu behüten. Typisch ist  die Angst, etwas falsch zu machen. Weil es keine einheitlichen Erziehungsvorstellungen mehr gib, sind Eltern häufig verunsichert. Auch der vielstimmige Medienchor trägt zu Verunsicherung der Eltern bei, sagt der Erziehungswissenschaftler Peter Struck.  die Angst, das Kind könnte körperlich zu Schaden kommen. Tatsächlich besteht die Gefahr, dass es beim Laufen stürzt, beim Fahrrad Fahren mit einem Auto kollidiert und vieles mehr. Aber, obwohl die Unfallzahlen ebenso rückläufig sind, wie die Zahl von Gewalttaten an Kindern, nehmen viele Eltern das anders wahr. Auch daran, glaubt Peter Struck, sind nicht zuletzt sensationslüsterne Medien schuld.  die Angst, das Kind könnte sozial ausgegrenzt werden, keinen Anschluss und keine Freunde finden.  die Sorge um die Zukunft des Kindes. In der heutiger Zeit, in der sich alles ständig verändert, ist die weder überschau- noch planbar.

Übermäßige Elternängste allerdings übertragen sich auf Kinder, untergraben ihr Selbstvertrauen und können sie sogar krank machen. Das kann man dagegen tun:  Mütter und Väter sollten sich über den Verlauf der kindlichen Entwicklung informieren. Das Wissen darüber, was ein Kind wann und wie lernt, hilft, sicherer einzuschätzen, wann man es getrost sich selbst überlassen kann und wann Eingreifen und Lenkung nötig ist. 

Väter und Mütter sollten sich selbst und ihrem Kind Mut zusprechen.



Schließlich hilft eine Portion Humor sowie rheinländische Gelassenheit und Zuversicht, meint der Entwicklungsexperte Ralph Dawirs, und zitiert einen kölnischen Grundsatz: „Et hätt noch immer jot jejange.“

Die Freiheit, sich langweilen zu dürfen Einem gesunden Kind ist nie langweilig, denn seine natürliche Neugier und seine Kreativität sind unerschöpflich. Klagt es dennoch gelegentlich über Langeweile, so steckt meistens etwas anderes dahinter, ein körperliches Unwohlsein zum Beispiel oder der Wunsch nach Kontakt. Kommt es hingegen häufiger vor, dass ein Kind nichts mit sich anzufangen weiß, dann hat es, zumindest vorübergehend, sein lebendiges Interesse an der Welt verloren, erklärt die Züricher Psychologin Verena Kast. Das kann passieren, wenn Kinder zu sehr gelenkt und überfordert werden. Auf ihr klägliches „Mir ist sooo langweilig!“ reagieren Eltern jedoch meist wiederum mit Vorschlägen und Aktivitäten. Statt Vertreibung durch Aktionismus empfiehlt Verena Kast hingegen, die "lange Weile" zuzulassen. Über kurz oder lang, erklärt sie, wird die Fantasie wieder aktiv werden, wird die Innenwelt von allein in Bewegung kommen. Ein Kind, dem die Freiheit zugestanden wird, die Langeweile aus eigener Kraft überwindet und zu seiner Kreativität zurückfindet, macht eine wichtige Erfahrung, die es stärkt.

Lesetipps: Ralph Dawirs und Gunther Moll: Die 10 größten Erziehungsirrtümer und wie wir es besser machen können. Beltz Verlag 2010, 215 Seiten, 14,95 € Unterhaltsames Plädoyer für mehr Gelassenheit in der Erziehung und gegen den grassierenden „Förderwahn“. Emmi Pikler: Friedliche Babys - zufriedene Mütter. Herder Verlag 2011, 224 Seiten, 9,95 € Ein Klassiker, der anhand der Entwicklung von Babys und Kleinkindern anschaulich beschreibt, wie Kinder sich entwickeln und welche Art von Beleitung sie brauchen.

Jesper Juul: Dein kompetentes Kind. Rowohlt Verlag 2010, 283 Seiten, 8,95 € Kinder sind keine unbeschriebenen Blätter. Sie wollen mit den Eltern zusammenarbeiten und bringen soziale Fähigkeiten mit, die die Familie bereichern. Man muss sie erkennen.