Wie viel Erde braucht der Mensch?

Wilfried F. Noisternig Lebensspuren eines Bergbauern Ein fotografisches Porträt Wie viel Erde braucht der Mensch ? Tyrolia Wilfried F. Noisternig...
Author: Stefan Otto
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Wilfried F. Noisternig

Lebensspuren eines Bergbauern Ein fotografisches Porträt

Wie viel Erde braucht der Mensch ?

Tyrolia

Wilfried F. Noisternig

Wie viel Erde braucht der Mensch ? Lebensspuren eines Bergbauern – Ein fotografisches Porträt

Tyrolia Verlag

Vorwort Begonnen hat diese Geschichte 2008 bei einem der gemeinsamen Spaziergänge mit meiner Frau und unserer Hündin. Ich begegnete dem »Kugler-Bauern« erstmalig, als er auf seinem Anwesen den Berghang hinaufstapfte, ein Gestell, den »Ferggl« auf dem Rücken tragend. Dieses Motiv hat sofort mein Interesse geweckt. Da ich bei meinen Spaziergängen meinen Fotoapparat immer mit dabeihabe, bin ich dem »Kugler-Bauern« einfach nachgestapft und habe dabei meine ersten Bilder von diesem Mann gemacht. Mein Tun blieb natürlich nicht unbemerkt. Er, »der Kugler«, ließ sich aber davon nicht irritieren und ging beharrlich seinen Weg weiter hinauf bis zur Scheune, wo er dann seine Heu-Fuhre, das »Heu-Reisl«, zusammenstellte. Währenddessen entspann sich unser erstes Gespräch, das sehr unterhaltsam war und im Zuge dessen wir etwas mehr voneinander erfuhren. Ich kannte den Mann eigentlich nur »vom Sehen aus«, was bedeutet, dass ich zwar wusste, dass der »Kugler« allein auf seinem Bauernhof lebte, aber mehr auch schon nicht. In diesem Gespräch war ich sehr erstaunt darüber, wie gut der »Kugler« über die Geschehnisse des Ortes, über die Leute und selbst auch über meine Person Bescheid wusste, obwohl wir uns vorher nie direkt begegnet waren. Das war der Beginn einer langjährigen Freundschaft, im Laufe derer wir uns immer mehr annäherten. Der »Kugler-Bauer« gewährte mir zunehmend Einblicke in seine Lebens- und Denkweise. Bei meinen Spaziergängen und Aufenthalten auf seinem Anwesen entstanden im Laufe der Jahre Hunderte von Fotograien. Diese möchte ich jedoch nicht als Dokumentation über das traditionelle bäuerliche Leben im Allgemeinen wissen, sondern als meditative Betrachtung über das Leben eines Menschen, der es verstanden hat, auf seinem abgeschiedenen Bauernhof seine Zufriedenheit in der Genügsamkeit zu leben. Was braucht dieser Mensch, um glücklich zu sein? – Es ist die Arbeit mit den ihm anvertrauten Gütern: Hof, Vieh, Wiesen, Felder und Wald. Diese sind sein Lebenselixier. Der »Kugler«-Bauer lebt so, wie er es von seinen Ahnen gelernt und übernommen hat, ohne sich dem vorherrschenden Zeitgeist anzupassen. Mit

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seiner naturnahen Lebens- und Arbeitsweise hinterlässt er einen ökologischen Fußabdruck, der der nächsten Generation keine Lasten aubürdet. Im Gegenteil, auf unverdorbenen Böden gedeiht immer noch die prächtigste Vielfalt der altbekannten Wiesenblumen, die sonst kaum noch aufzuinden ist. Als ich 2008 mit dem Fotoprojekt begann, war »der Kugler« ein knapp 70-jähriger Mann, der mit immer noch voller Lebenskraft seine harte Arbeit als Bergbauer verrichtete. Irgendwie schien die Zeit stehen geblieben zu sein: Der Hof, den er bewirtschaftete, war nach einem Brand im November 1927 wiederaufgebaut worden und ist seit 1928 innen wie außen unverändert. Es herrscht hier bis heute die Aura einer konservierten Anspruchslosigkeit, aubauend auf einem demutsvollen Gottvertrauen. Man kann förmlich den positiven Energieluss spüren, wenn man sich auf diesem Anwesen auhält. Es muss wohl einen Grund geben, dass es hier in dieser lokalen Abgeschiedenheit schon im frühen Mittelalter erste Ansiedlungen gab. Urkundliche Erwähnungen reichen zurück bis ins Jahr 1578 und nennen ein »Pöckles-Lehen« in Obfeldes, einem Weiler oberhalb von Matrei am Brenner. Die Fotograien zeigen eine eigentümliche Welt: den 1928 nach einem Brand wieder aufgebauten Hof, den umliegenden Wald, die Wiesen und den Zaun. Und überall lassen sich einzigartige Spuren dieses Menschen inden, die sein in sich abgeschlossenes Universum beseelen, oftmals nur in kleinen Details ersichtlich. Die gewährten Einblicke führen zwangsläuig zu eigenen Relexionen über die Sinnhaftigkeit der eigenen Lebensansprüche. Eingebettet in Kontraste von Licht und Schatten kann man vielältigste Motive aufspüren, welche, einer Metapher gleich, in den wechselnden Jahreszeiten auf die immerfort sich wiederholenden Erdenrhythmen hinweisen: Frühling, Sommer, Herbst, Winter … und wieder Frühling. Grundpfeiler für sein bodenständiges Leben sind wohl sein »g’sunder Hausverstand« und seine ehrlich gelebte Frömmigkeit. Mit diesen inneren Kräften ausgestattet, lebt er seine Genügsamkeit und seine Lebenszufriedenheit. Obwohl ihm kein Eheleben beschieden war, hat er in Wirklichkeit kein gänzliches »Einsiedler-Leben« geführt. Immer wieder kommen Leute bei ihm am Hof vorbei auf einen kurzen »Hoangascht«. In diesen Gesprächen erährt er die aktuellen Geschehnisse in der Gemeinde und Neues über die Menschen in seiner Umgebung.

Sein Tagesrhythmus wird bestimmt durch die Erfordernisse der Arbeit als Bauer, durch die Jahreszeiten und auch durch das gerade vorherrschende Wetter. Immer geht er mit der ihm eigenen Ruhe und Ausgeglichenheit an sein Tagwerk: Bei der Heuernte im Sommer verährt er ganz nach seinem Motto: »Wenn’s halt amol regnet, leg’ i mi zui zum Ofn und wart’, bis es wieder schian werd’.« Er mäht immer gerade so viel ab, wie es ihm die Umstände erlauben. Dafür dauert es halt um einiges länger. Das Speziikum seines Anwesens ist wohl der einzigartige Zaun. Dieser ist aus Lärchenholz gefertigt, von den mit der Hand gehauenen Holzlatten bis zu den handgemachten Zaunringen. Die Lebensdauer des Zauns nennt er 50 Jahre und länger, einzelne Abschnitte hat er zeit seines Lebens noch nie reparieren müssen. Dieser Zaun umgibt sein Anwesen mit einer Gesamtlänge von 2 100 m und grenzt seinen Hof und damit die Welt des »Kugler« nach außen ab. Es ist eine ganz spezielle Welt, die 2016 für manche Beobachter rückständig oder altmodisch anmuten mag. Aber es ist auch eine Welt, die eine besondere Zufriedenheit und Dankbarkeit dem Leben gegenüber ausstrahlt, und eine Welt, die sich als ein besonderer Ort für ein gutes Leben und für Relexionen über das Leben eignet. Mein Dank gilt im Speziellen dem »Kugler« für seine Ofenheit und sein Vertrauen bei unseren Begegnungen und für seine Zustimmung zur Veröfentlichung der Fotograien und Zitate. Im Anschluss an die Fotograien inden Sie die Erzählung von Leo N. Tolstoi, die diesem Buch den Titel gegeben hat. Diese steht der Biograie des »KuglerBauern« diametral gegenüber und ist unter zwei Gesichtspunkten interessant. Erstens, weil sie den Leser dazu anregt, den eigenen Lebensanspruch zu überprüfen. Wie viel Erde brauchen wir für uns selbst, um zu leben? Zweitens stammt der Titel aus einer der Anekdoten vom »Kugler-Bauern« selbst. In einem unserer Gespräche erzählte ich von einem Film über Swetlana Geier, deren Lebenswerk darin bestand, die großen Romane von Fjodor Dostojewski, die sogenannten »Fünf Elefanten«, aus dem Russischen neu ins Deutsche zu übersetzen. Darauhin antwortete mir der »Kugler« mit einer Geschichte aus seiner Schulzeit:

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»In der Volksschul’ hatt’ ins der Lehrer von an russischen Dichter d’erzählt, der hatt’ a G’schicht g’schrieb’n: »Wie viel Erde braucht der Mensch?« – des hun i mir dermerkt!« »In der Volksschule hat uns der Lehrer von einem russischen Dichter erzählt, der eine Geschichte geschrieben hatte: »Wie viel Erde braucht der Mensch?« – das hab’ ich mir gemerkt.«

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»Schon als Säugling bin i zu meiner Tant’n auf’n Kugler-Hof kemmen, weil dahoam im Schmirntal hatt man mir koa Lebenschance mehr ’geb’n.« »Schon als Säugling bin ich zu meiner Tante auf den Kugler-Hof gekommen, weil zu Hause im Schmirntal hat man mir keine Überlebenschance mehr gegeben.«

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»Mei Muatter hatt immer sehr viel g’arbeit’ und sich um ’n Hof und um ’n todkrank’n Vatter kümmern miass’n, da hatt sie dann nimmer g’nuag Zeit und Kraft für mi g’habt.« »Meine Mutter hat immer sehr viel gearbeitet und sich um den Hof und um den todkranken Vater kümmern müssen, da hat sie dann nicht mehr genug Zeit für mich gehabt.«

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»Mit sechs Jahren war i Vollwaise – da bin i b’ständig zum Kugler kemmen.« »Mit sechs Jahren war ich Vollwaise – da bin ich gänzlich zum Kugler gekommen.«

»Die Heilige Familie«

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»Ab 1958 hun i nur mehr mit meiner Ziachmuatter gemeinsam den Hof bewirtschaftet. Die Dienschtboten sein zu teuer ’word’n.« »Ab 1958 habe ich nur mehr mit meiner Ziehmutter gemeinsam den Hof bewirtschaftet. Die Dienstboten sind zu teuer geworden.«

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