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W IE K IN DER MIS SH A N DELT W ER DEN Aus dem Alltag eines Spitalarztes

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EIN GROS SES V ER BR ECHEN Wenig ist so schwer zu ertragen wie der Gedanke an misshandelte Kinder. Auf der beinahe unendlichen Rangliste der menschlichen Niedertracht belegt, wer Kinder quält, den ersten Platz. Gerade das Leid kleiner Kinder bleibt oft lange Zeit unentdeckt. Nicht selten sind es Ärztinnen oder Ärzte, die bei einer Untersuchung aufmerksam werden auf mögliche Übergriffe der Eltern oder Bezugspersonen. Am Kinderspital Zürich kommt dies häufiger vor als Fälle von Blinddarmentzündungen, sagt der Arzt Georg Staubli, der die Kinderschutzgruppe des Spitals leitet. Unser Reporter Christof Gertsch hat mit ihm viel Zeit verbracht, seine Reportage über das, was Kindern angetan wird, macht wütend und traurig zugleich (Seite 8). Autoabgase sind das grosse Geruchsübel aller Städte. Dem ist kaum zu widersprechen – mal abgesehen von den durch sie verursachten gesundheitlichen Schäden. In einem Essay in diesem Heft stellt der Duftforscher Claus Noppeney die nicht uninteressante Frage, ob es nicht sein kann, dass der Geruch von Abgasen, dieser typische Stadtraumduft, auch ein Teil unseres kulturellen Gedächtnisses ist (Seite 24). Kann es also sein, dass man sich einmal mit Wehmut an den Verbrennungsmotor erinnert? Wenn irgendwann nur noch Elektroautos durch unsere Strassen fahren, wird dann die Parfumindustrie vielleicht mit einem «Eau de Corvette» das grosse Geschäft machen? FINN CA NONICA

Eltern wollen nur das Beste für ihr Kind? Nicht alle. (Seite 8)

GSELLA M ACHT SICH EINEN R EIM AUF…

SCHL A FENSZEIT

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C OV E R BI L D: M AU R I Z IO DI IOR IO

Viel gewesen, nichts geblieben Zwischen Buch und Internet. Viel gelesen, nichts geschrieben: Heute ohne Text ins Bett. Viel gelegen, nicht geschlafen Zwischen Müdigkeit und Schweiss: Armut wird den Dichter strafen, Der nicht reich zu dichten weiss. Viele Kaffees, wenig Weile Zwischen Nacht und sieben Uhr. Erst am Morgen eine Zeile: «Guten Morgen, Hauptfigur.» Mehr ist heute nicht zu sagen, Und die Welt ist nicht mein Bier. Lieber als mit Müll im Magen Lieg ich hungrig neben dir. THOM AS GSELLA

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Unfall oder Misshandlung? Auf der Notfallstation des Kinderspitals Zürich. VON CHR ISTOF GERTSCH 18 Eine Begegnung mit Cédric Villani, einem der besten Mathematiker der Welt. VON SA R A H PINES 24 Der Geruch von Benzin wird uns noch fehlen. VON CLAUS NOPPENEY

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DA NIEL BINSWA NGER Über Deutschland und die AfD K ATJA FRÜH Über unsichere Männer NIK LAUS PETER Über moderne Lebensberatung PA R A LLELGESCHICHTEN Volkstheater PER SON ORT DING Arundhati Roys Lieblingsort H A NS ULR ICH OBR IST Architektur aus Burkina Faso CHR ISTI A N SEILER Pommes frites EIN TAG IM LEBEN Filmregisseurin Sabine Gisiger M A X KÜNG Lieber Klumpen TRUDY MÜLLER-BOSSH A R D Rätsel N°  41 3

BÖSE ELTERN

R E P ORTAGE

Wie der Pädiater Georg Staubli Kindsmisshandlungen erkennt.

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TEXT CHRISTOF GERTSCH BILDER MAURIZIO DI IORIO Malena* war fünf Jahre alt, als die Sanitäter mit ihr durch die Stadt rasten. Sie starb, kaum dass die Angestellten der Notfallstation sie in ihre Fürsorge genommen hatten. Tod durch Hirnblutung und Atemstillstand, hiess es hinterher in den Akten, so nüchtern, dass man denken konnte, hier wolle jemand dem Ereignis mit Distanz den Schrecken nehmen. Es waren die Eltern, die die Ambulanz gerufen hatten. Aber sie waren es auch, die das Mädchen so zugerichtet hatten. Über Jahre hinweg hatten sie es geschlagen, wenn es nicht gehorcht hatte, und ihm das Essen verweigert, wenn es in die Hose gemacht hatte. Erst als es bewusstlos am Boden lag, der ausgemergelte Körper voller blauer Flecken, liessen sie von ihm ab. Sie waren Täter, und jetzt wollten sie Helfer sein. Doch da hatte Malena bereits all ihre Kraft aufgezehrt, all die Energie, die ein Kind freizusetzen vermag. Das war vor fast fünfzehn Jahren. Der erste Fall von Georg Staubli als Mitglied der Kinderschutzgruppe des Kinderspitals Zürich, nur wenig fehlte, und er hätte das, was noch zu tun blieb, vermasselt. Als er an das Bett trat, in dem das tote Mädchen lag, und sich berichten liess, was man bis dahin wusste, als er nach und nach alle Details der Geschichte ergründet hatte, packte ihn die Wut. Er konnte an nichts anderes denken, als die Eltern in die Mangel zu nehmen und ihnen alle Schande und vielleicht noch ein bisschen mehr zu sagen. Der Chef der Kinderschutzgruppe, dessen Nachfolger er später werden sollte, ermahnte: «Das hilft niemandem, höchstens dir.»

Vor allem hätte es nicht Malenas älterer Schwester geholfen. Auch sie war spindeldürr und hatte einen Hungerbauch. Georg Staubli nahm sie an der Hand und führte sie in der Cafeteria zur Theke. «Ich darf nehmen, was ich will? So viel, wie ich will?», fragte sie. Bis heute hat Staubli nicht vergessen, wie gross ihre Augen, wie glücklich ihr Ausdruck war. Er schaltete die Behörden ein, und die entzogen den Eltern die Obhut über die Schwester. Das war die erste Lektion, die Staubli als Kinderschützer lernte: die vom emotionslosen Kinderschutz. Er sagt: «Egal, wie sehr es dich zerreisst – du musst deine Gefühle im Zaum halten, wenn du diesen Job machen willst.» Klingt schwer. Ist schwer. Bis heute. Seit 2006 ist Staubli Leiter der Notfallstation, seit 2013 auch der Kinderschutzgruppe. Vieles ist über die Jahre Routine geworden, die Meldungen an die Behörden, die Sitzungen im Team, die Auseinandersetzungen mit den Eltern. Aber nicht die Schicksale der Kinder. Und nicht die Zahlen. Man geht davon aus, dass weltweit jedes zehnte bis jedes fünfte Kind bis zur Volljährigkeit mindestens einmal ein Opfer von Kindsmisshandlung wird – und das ist vorsichtig geschätzt. Selbst zu den Fällen, die einer Institution berichtet werden, sind keine vollständigen Zahlen aufzutreiben, nicht einmal in der Schweiz, diesem statistisch vermeintlich bis ins letzte Detail durchleuchteten Land. Staubli hält das für ein Versäumnis. Er findet, dass das Bewusstsein der Gesellschaft für Kindsmiss-

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senenschutzbehörden, denn die Kinderschutzgruppen sind eben genau keine Behörde und haben keine Weisungsbefugnis, nur ein Melderecht. Sie können niemandem ein Kind entziehen, können eine solche oder andere Massnahmen der Kesb höchstens nahelegen. Die meisten Kinderschutzgruppen sind eine Art Beratungsstelle, an die sich Nachbarinnen, Lehrer, Grosseltern und andere Bezugspersonen wenden können, wenn sie einen Verdacht hegen. Auch die KSG des Kispi bietet diesen Dienst an, im Unterschied zu den meisten anderen Kinderschutzgruppen wird aber nicht jeder der 500 Fälle, die sie pro Jahr bearbeitet, von aussen an sie herangetragen. Im Schnitt bekommt sie es am Kispi jede Woche mit drei bis vier misshandelten Kindern zu tun, das sind mehr, als im selben Zeitraum wegen einer Blinddarmentzündung behandelt werden. Etwa die Hälfte dieser Fälle von Kindsmisshandlung deckt die KSG selbst auf, ohne dass zuvor jemand einen Verdacht geäussert hätte. Das macht sie zur Eingreiftruppe des Spitals: ein zwölfköpfiges Team aus Oberärztinnen, Sozialarbeitern, Psychologinnen und Pflegefachleuten, die zu Detektiven werden, wenn ihnen oder anderen Spitalangestellten etwas seltsam erscheint. Der rätselhafte Sofasturz Staublis Dienst beginnt mit dem Röntgenrapport, bei dem jeden Morgen die Bilder des Vortages mit Vertretern aller Stationen und Disziplinen besprochen werden. Es geht darum, allfällige Diagnosefehler aufzuspüren. Meist ist der Termin schnell vorüber, weil sich alle einig sind, aber diesmal meldet sich ein Chirurg aus den hinteren Reihen zu Wort. Der Beamer zeigt die gebrochenen Mittelhandknochen eines sechs Jahre alten Mädchens. Die Verletzung wurde von den Eltern damit erklärt, dass das Mädchen vom Sofa gefallen und mit dem ganzen Gewicht auf der Hand gelandet sei. «Glaube ich nicht», sagt der Chirurg. Staubli, der immer in einer vorderen Reihe Platz nimmt, löffelt das letzte bisschen Schaum aus der Tasse und dreht sich um. «Dieser Bruch», sagt der Chirurg, «stammt nicht von einem Aufprall, da bin ich mir recht sicher. Solche Brüche kenne ich von Kindern, die ihre Hand in der Tür einklemmen.» Staubli nickt. Wird wohl ein KSG-Fall. Er wird mit den Eltern reden. Und wenn die an der Geschichte mit dem Sofasturz festhalten, eine eingehendere Überprüfung jedoch ergeben sollte, dass der Chirurg recht hat und die Verletzung so nicht zu erklären ist, dann wird er die Eltern damit konfrontieren. Vielleicht wird sich herausstellen, dass man die Eltern falsch verstanden hat. Oder sie werden zugeben, dass sie gelogen haben, und je nachdem, wie Staubli ihre Glaubwürdigkeit einschätzt, wird er mit ihnen Abmachungen treffen. Oder er wird den Fall mit einer Gefährdungsmeldung an die Kesb weiterleiten. Oder mit einer Strafanzeige an die Polizei. Das sind die drei Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung stehen, wenn sich ein Verdacht auf Kindsmisshandlung bestätigt. Die erste ist die häufigste,

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handlungen noch immer zu niedrig ist. «Eine umfassende Übersicht würde die Menschen aufschrecken und aufmerksamer machen.» Als er das sagt, sitzt Staubli, 51 Jahre alt, auf der Terrasse des Kispi, wie in Zürich das Kinderspital genannt wird, und gönnt sich eine letzte Pause vor der Schicht, von der er befürchtet, dass sie länger dauern wird als im Dienstplan vorgesehen. Früher, als Assistenzarzt, hat er pro Woche 80 bis 120 Stunden gearbeitet. Heute kommt er noch auf 55 bis 60 Stunden. Ihn würde es nicht stören, wenn es weniger wären, andererseits liegt ihm einfach viel am Kispi. Er rührt in einer Tasse Cappuccino aus dem Automaten und betrachtet das auf dem Schaum wackelnde Schokoladenpulver. Er ist kulinarischen Genüssen nicht abgeneigt, nur Alkohol mag er nicht, ausser in Kirschstängeli, von denen das ganze Notfallpersonal weiss, dass sie seine Lieblingssüssigkeit sind. Aber bei der Arbeit wirkt er wie ein Asket – oder wie der Spitzensportler, der er in seinen jungen Jahren als Rock’n’Roll-Tänzer war. Wenn sich das Unerledigte in seinem Büro stapelt oder die Anzahl Patienten es verlangt, kann er auch Zwölfstundenschichten mit lediglich ein paar Cappuccini und einem Birchermüesli überstehen. «Ist gut für die Linie», sagt er dann mit gespieltem Ernst. In Wahrheit hat er an solchen Tagen kaum Zeit zum Essen. Heute ist so ein Tag, einer, an dem sich am Eingang zur Notfallstation Schlangen bilden und es im Wartebereich zugeht wie beim Besuchstag im Kindergarten. Stillende Mütter, nach einem Wasserspender Ausschau haltende Väter, quengelnde Geschwister. Dem Personal, das sich am Empfang eine Übersicht zu Unfallhergängen und Symptomen zu verschaffen versucht und den Kindern eine Triagekategorie von eins bis fünf zuteilt und so die Dringlichkeit für die ärztliche Behandlung festlegt, war vorhin schon anzusehen, dass es über Verstärkung nicht unglücklich wäre, dabei steht der Ansturm des Abends, wenn die Kinderarztpraxen schliessen, noch aus. Es ist einer der letzten Tage vor den Ferien, was bedeutet, dass sich die Eltern schon beim kleinsten Anzeichen einer Erkrankung vergewissern wollen, dass nichts Ernsthafteres im Anflug ist. 44 000 Patientinnen und Patienten werden auf der Notfallstation des Kispi jedes Jahr behandelt, durchschnittlich 120 pro Tag, an Tagen wie diesem sind es auch einmal mehr als 200. Mehr als 200 Kinder in 24 Stunden, betreut in drei Schichten von zwölf Pflegenden, sieben Assistenzärzten und drei Oberärztinnen. Und mehr als 200 Eltern, die für ihre Kinder nur das Beste wollen. Manchmal auch nicht. Manchmal wollen Eltern, dass niemand mitbekommt, was sie ihrem Kind angetan haben. Darum gibt es die Kinderschutzgruppe, die KSG, wie sie Kispi-intern heisst. Sie wurde 1969 gegründet, als erste in der Schweiz, inzwischen existieren überall welche. Man darf die Kinderschutzgruppen nicht mit den Kesb verwechseln, den Kindes- und Erwach-

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P ORT R ÄT: V E R A H A RT M A N N / 1 3 PHO T O

«Bist du hässig?»: Georg Staubli, oberster Kinderschützer am Kinderspital Zürich.

und sie ist Staubli auch am liebsten. Die dritte, die Strafanzeige, ist die seltenste. Staubli setzt sie nur ein, wenn es sich um eine schwere Misshandlung handelt und die Umstände zwingend geklärt werden müssen. Auf dem Weg in die Notfallstation bittet er übers Handy die Sekretärin, eine Ad-hoc-Sitzung mit Mitgliedern seines Teams einzuberufen, um den Fall des Mädchens mit der gebrochenen Hand zu besprechen. Er und die Kolleginnen und Kollegen halten sich für solche Situationen pro Tag einen oder zwei Slots frei, aber jetzt erfährt er, dass die bereits belegt sind, einer davon mit einem Fall, der ihm am Vortag Rätsel aufgegeben hat. Und dann, endlich, tritt er den Praxisdienst an, für den er eingeschrieben ist. Das ist der Dienst, in dem man sich um Fälle mit Priorität vier und fünf kümmert, solche, die keine Eile verlangen, Bienenstiche, Verstauchungen, Erkältungen. Er hat den Dienst eingeführt, um die Notfallstation zu entlasten, gerade an Tagen wie diesem. Loyal bis zur Selbstaufgabe Alle zehn bis fünfzehn Minuten begrüsst er nun ein neues Kind, die meisten in Begleitung der Mütter. Er rollt auf dem Schemel näher heran, macht grosse Augen und einen runden Mund und sagt: «Dann lass uns mal schauen, was mit dir ist.» Wenn das Kind schreit

oder sich abwendet, kneift er die Augen zu Schlitzen zusammen, macht einen Schmollmund und fragt: «Bist du hässig?» Und wenn er das Kind untersuchen muss und merkt, dass es sich gerade darauf einstellt, sich mit allen Kräften zu wehren, zieht er seine farbige und mit Leim zusammengeflickte Lesebrille aus dem Arztkittel, was absichtlich ein wenig albern aussieht, und sagt: «Schau mal, was ich da habe.» Wer Staubli begleitet, merkt bald, dass er wie geschaffen ist für den Beruf des Kinderarztes, weil Kinder rasch Vertrauen zu ihm fassen. Er hält das für eine Grundbedingung in der Pädiatrie. Doch er ist auch wie geschaffen für den Beruf des Kinderschützers, weil er die Hinterhältigkeit und die Herzlosigkeit, die ihm immer wieder begegnen, erträgt, ohne selbst hinterhältig und herzlos zu werden. Jede Kindsmisshandlung erschüttert ihn, nur gibt es welche, die ihn fassungsloser machen als andere, fast immer jene, die in voller Absicht geschehen, zum Beispiel sexuelle Ausbeutung, oder jene, die über eine lange Zeit anhalten, wie bei Malena, dem zu Tode gehungerten und geprügelten Mädchen. Andere Fälle wecken bei Staubli nicht nur Mitleid mit dem Kind, sondern auch mit den Eltern. Es sind die, bei denen die Misshandlung einer schieren Überforderung geschuldet ist, einer Verzweiflung, die Besitz von den Eltern ergreift. Das sind die Eltern, die, einmal der Tat überführt, Staubli gegenübersitzen und sagen, es sei einfach geschehen, einfach so. Und es sind die Situationen, in denen er gewillt ist, Verständnis aufzubringen, auch wenn er weiss, dass nichts plötzlich geschieht, dass jedem Ereignis ein anderes vorausgeht und noch eines. Und dass die Eltern früher hätten erkennen müssen, dass sie gerade auf Abwege geraten, bei der ersten Ohrfeige oder beim ersten Fluch. Die KSG bekommt es mit Kindern jeden Alters zu tun, am meisten mit Ein- bis Vierjährigen. Das ist die Phase nach den Arztkontrollen und vor der obligatorischen Schulzeit, also das Alter, in dem Familien ihre Kinder sozial abschotten können. Niemand merkt etwas, bis die Verletzungen so schlimm sind, dass ein Spitalbesuch nötig wird. Für diese Kinder ist die KSG häufig die letzte Chance, und manchmal kommt auch sie zu spät, wie damals bei Malena. Der Fall des Mädchens ist für Staubli so etwas wie ein Mahnmal, der schlimmste Fall, der ihm je begegnet ist. Nicht weil er Malenas Tod hätte verhindern können, sondern weil ihr Tod ihn daran erinnert, was passiert, wenn niemand hinter die Familienfassade blickt. Staubli ist Arzt geworden, weil er mit Menschen zu tun haben wollte. (Und weil er in der Aushebung derart gut abgeschnitten hatte, dass er die FüsilierRekrutenschule nur umgehen konnte, indem er dem Aushebungsoffizier erzählte, bereits fürs Medizinstudium eingeschrieben und folglich wie gemacht für die Ausbildung zum Militärsanitäter zu sein. Doch das ist eine andere Geschichte.) Bald erfuhr er, dass man von allen medizinischen Fachbereichen nur in der Psychiatrie weniger verdient als in der Pädiatrie.

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Der beidseitige Schädelbruch Zurück im Praxisdienst. Staubli hat sich so sehr beeilt, dass die Fälle mit Priorität vier und fünf nach ein paar Stunden abgearbeitet sind. Er setzt sich an den Computer, scrollt durch die anderen Fälle und entscheidet sich für einen mit Priorität drei, ein Mädchen, sieben Monate alt, das der Mutter, wie sie beim Empfang erzählte, vom Elternbett gefallen sei, nachdem sie es gestillt hatte und eingeschlafen war. Er geht in den Wartsaal und ruft die Mutter zu sich. Sie ist ganz aufgelöst, hat Angst, dass ihrem Baby wegen eines Augenblicks der Unaufmerksamkeit etwas Schlimmes zugestossen ist. Sie klaubt, während sie das Mädchen auf dem Arm hält, ihr Handy aus der Hosentasche und zeigt Staubli die Bilder vom Unfallort, sie zeigen die Höhe des Bettes, die Beschaffenheit des Bodens. «Ist das gefährlich?», fragt sie. Staubli will wissen, ob das Mädchen seither erbrochen oder übertrieben lange geweint habe oder vorübergehend bewusstlos gewesen sei, weil das An-

«Kann sich das Kind in dem Alter so weit fortbewegen?» – «Natürlich nicht.»

zeichen eines Schädeltraumas sind. Die Mutter verneint. Das Mädchen hat eine kleine, aber zum Glück harte Beule am Kopf, es ist also kein Blut ausgelaufen. Eigentlich weiss Staubli jetzt, dass kein Grund zur Sorge besteht, einen Schädelbruch schliesst er nahezu aus. Trotzdem bittet er die Mutter, das Mädchen auf die Liege zu legen und es auszuziehen. Dabei beobachtet er beiläufig, ob das Mädchen krabbelt und sich von selbst auf den Bauch drehen kann, um den motorischen Entwicklungsstand des Kindes mit der Geschichte abzugleichen, die die Mutter erzählt hat. Nebenbei sucht er den Körper nach blauen Flecken ab. Dann beruhigt er die Mutter, «alles gut», sagt er. «Man könnte argumentieren», sagt er, als sie mit ihrer Tochter das Zimmer verlassen hat, «dass es sich um eine Vernachlässigung handelt, wenn die Mutter einschläft, während das Kind ungesichert neben ihr liegt, aber das halte ich für übertrieben. Die Mutter hat sofort Hilfe gesucht, der Vorfall hat ihr sichtlich einen Schrecken eingejagt. Das ist einer dieser Unfälle, die immer wieder passieren – jeder Mutter und jedem Vater aber genau einmal.» Ganz anders würde es sich verhalten, wenn Staubli einen Schädelbruch diagnostiziert hätte. Wie bei dem Fall, der gleich zur Diskussion steht, einem Fall mit einer sehr ähnlichen Geschichte – aber lauter Fragezeichen. Es ist der Fall vom Vortag, für den die Adhoc-Sitzung einberufen wurde, der Fall von Julien*, einem drei Monate alten Buben. Seine Mutter hat ihn auf die Notfallstation gebracht, weil er aus dem El-

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Trotzdem spezialisierte er sich darauf, denn in den ersten Jahren als Assistenzarzt war ihm klar geworden, dass er lieber Kinder behandelt. Erwachsene kommen oft selbst verschuldet ins Spital, und sie tun auch nicht, was ihnen der Arzt aufträgt. Kinder sind anders. Sie heucheln nicht, und sie werden zwar schnell krank, aber auch schnell wieder gesund. Staubli wusste, dass er als Pädiater damit umgehen muss, dass manche Kinder Angst vor ihm haben und sich mit Weinen und Schreien gegen jeden Piks wehren. Aber wenn alles vorbei ist, bekommt er von ihnen auch riesige Dankbarkeit zu spüren. Kinder sind ehrlich. Manchmal auch nicht. Manchmal wollen Kinder, dass niemand mitbekommt, was ihre Eltern ihnen angetan haben, und sind loyal bis zur Selbstaufgabe. Wie der Bub, der sieben Jahre alt war, als er zum ersten Mal auf der Notfallstation erschien, «multiple Hämatome an Wangen und Ohren», wie notiert wurde. Ein Sturz, sagte der Bub und blickte zu Boden. Nur passten weder die Verletzungen noch sein Verhalten zu der Erklärung. Dass sich ein Bub bei einem Sturz blaue Flecken an Wangen und Ohren zuzieht, nicht aber an typischen Anschlagstellen wie Stirn, Jochbein, Nase, Kinn, Ellenbogen, Beckenkamm, Knie oder Schienbein, ist höchst unwahrscheinlich. Also wurde die KSG eingeschaltet. Staubli bestätigte den Verdacht der erstbehandelnden Assistenzärztin. Aber weil der Bub auf seiner Version der Geschichte beharrte, reichte Staubli bei der Kesb eine Gefährdungsmeldung und bei der Polizei eine Strafanzeige gegen unbekannt ein. Nichts geschah. Fünf Jahre vergingen, ehe die Mutter Strafanzeige erstattete. Nicht gegen unbekannt, sondern gegen ihren Partner, den sie endlich verlassen hatte. Der Partner hatte sie und ihren Buben über lange Zeit tyrannisiert, und erst jetzt hatte sie den Mut gefunden, sich und das Kind aus seinen Zwängen zu befreien. Die Geschichte des Buben auf der Notfallstation war komplett erfunden.

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ternbett gefallen sei und sie sich jetzt Sorgen wegen der Beule am Kopf mache. Sie hatte ihn, wie sie weiter erzählte, auf den Bauch gelegt, in der Annahme, er werde gleich einschlafen, selbstverständlich nicht an den Rand des Bettes. Daraufhin habe sie das Zimmer verlassen und sei erst zurückgekehrt, als sie einen Aufprall und Schreie gehört habe. Der Assistenzarzt, der die Mutter in Empfang genommen hatte, ordnete ein Röntgen an. Es wurde ein beidseitiger Schädelbruch festgestellt, eine Schädelfraktur parietal links und rechts, was in der 3D-gestützten Computertomografie ein bisschen aussah wie eine umgekehrte Salatschüssel mit zwei Sprüngen. Knochen von Kindern wachsen innert kürzester Zeit wieder gänzlich zusammen, Schädelbrüche bei Säuglingen sind üblicherweise nach einem Monat verheilt, auch doppelte. Kein Grund zur Beunruhigung also, auch wenn man sich unter einem Schädelbruch erst einmal das Allerschlimmste vorstellt. Die einzige Gefahr besteht in Blutungen, die auch Tage nach dem Unfall noch auftreten können. Daher entschied der Assistenzarzt, Julien vorderhand im Kinderspital auf einer der Bettenstationen zu behalten. Bis hierhin: alles Routine. Aber dann bemerkte eine Assistenzärztin, die Julien eine Weile beobachtet hatte, dass er noch gar nicht imstande war, sich in Bauchlage selbstständig fortzubewegen. Wie also hätte er allein an den Rand des Elternbettes gelangen und von dort herunterfallen können? Was war wirklich geschehen?

Das war der Moment, in dem Staubli eingeschaltet wurde. Er besprach sich mit dem Assistenzarzt von der Notfall- und der Assistenzärztin von der Bettenstation, und schnell war klar, dass der Fall zu viele Ungereimtheiten aufwies, um ihn abzuhaken. Da war, erstens, die Höhe des Bettes, die nicht mehr als 60 Zentimeter betrug, und die Frage, warum es dann trotzdem zu einer Fraktur gekommen war. Aus der Statistik weiss man, dass Stürze von Säuglingen und Kleinkindern aus einer Höhe von bis zu 80 Zentimetern in 99 von 100 Fällen glimpflich verlaufen, ohne Knochenbrüche. Und da war, zweitens, das Rätsel, wie sich Julien den Schädel auf beiden Seiten hatte brechen können, wenn er doch nur auf eine Seite gefallen war. Log die Mutter? Man unterscheidet fünf Formen von Kindsmisshandlung: körperliche Misshandlung, psychische Misshandlung, sexuelle Ausbeutung, Vernachlässigung und Münchhausen-Stellvertretersyndrom. Mit Abstand am häufigsten sind die körperliche Misshandlung, zu der beispielsweise Schläge, Verbrühungen, Stiche und Schütteln gehören, und die sexuelle Ausbeutung, zu der Exhibitionismus, Masturbation mit dem Kind und vaginale, anale oder orale Penetration zählen. Von sexueller Ausbeutung sind deutlich mehr Mädchen als Buben betroffen, die meisten im Kleinkindesalter, von körperlicher Misshandlung etwas mehr Buben. Im Unterschied zur körperlichen Misshandlung sind sichtbare Hinweise bei sexueller Ausbeutung selten, was den Nachweis erschwert. In der Statistik der KSG aus dem Jahr 2016 machen die körperliche Misshandlung und die sexuelle Ausbeutung je rund ein Drittel der Fälle aus. Dahinter folgt mit etwa 20 Prozent die psychische Misshandlung, deren häufigste Form die häusliche Gewalt ist, bei der das Kind die Auseinandersetzungen seiner Eltern miterleben muss. Etwa 10 Prozent der Fälle sind auf Vernachlässigung zurückzuführen. Und den geringsten Anteil macht das Münchhausen-Stellvertretersyndrom aus: Eltern, meist Mütter, zeichnen beim Spitalpersonal ein sehr positives Bild von sich selbst und erfinden Symptome, die das Kind, meist sind es Töchter, angeblich hat. Die Mutter stellt sich als besorgte Betreuungsperson der Tochter dar, der nicht geholfen werden kann. Nur in wenigen Fällen erweist sich der Verdacht der KSG als unbegründet. Ist Julien ein solcher Fall? Schaut die KSG vielleicht zu genau hin, weil es sich bei der beidseitigen Schädelfraktur um eine gravierende Verletzung handelt – so wie man umgekehrt Gefahr läuft, bei weniger schlimmen Verletzungen nicht aufmerksam genug zu sein? Das sind die Fragen, die Staubli beschäftigen, als er sich auf den Weg zur Ad-hoc-Sitzung macht. Diese findet in einem anderen Gebäude des Kispi statt. Er geht durch die Gänge und erklärt das Schweizer System für Kinderschutz. Man müsse sich das wie eine Zwiebel vorstellen: das Kind, dann die Schutzhüllen. Erstens die Familie – Eltern, Grosseltern, Onkel, Tanten. Zweitens das Netz aus Personen, die re-

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Schwierigkeiten? Sind sie sozial isoliert oder drogenabhängig oder emotional verunsichert? Handelte es sich um eine ungewollte Schwangerschaft? Um den wichtigsten Schritt, den medizinischen, kümmert sich Staubli. Vorausgesetzt, man ist aufmerksam genug, lassen sich manche misshandlungsbedingten Verletzungen relativ leicht als solche erkennen. Zum Beispiel sind Verbrühungen verdächtig, wenn sie scharfe Abgrenzungen aufweisen, etwa weil jemand die Füsse des Kindes in kochendes Wasser getaucht hat. Hämatome sind verdächtig, wenn sie sich an untypischen Anschlagstellen befinden oder unterschiedlich verfärbt und folglich unterschiedlich alt sind, die Eltern aber nur von einem Ereignis berichten. Oder wenn sich die Spuren einem Gegenstand oder Körperteil zuordnen lassen, einer Gürtelschnalle, einem Draht, einer Hand, einem Gebiss. Verbrennungen sind verdächtig, wenn sie mit einem Sturz oder einem Stolperer erklärt werden, aber das Kind sonst unversehrt ist oder nur an solchen Körperstellen Verbrennungen aufweist, mit denen man sich bei einem Sturz oder einem Stolperer nicht auffängt. Und Brüche, so wie in Juliens Fall, sind verdächtig, wenn sie die Rippen oder die langen Röhrenknochen betreffen, also Oberarmknochen, Elle, Speiche, Oberschenkelknochen sowie Schien- und Wadenbein. Oder wenn man bei einem Ganzkörperröntgen feststellt, dass ältere Brüche existieren, die bisher nicht dokumentiert waren. Dieses Ganzkörperröntgen leitet Staubli nun in die Wege. Die Resultate werden morgen vorliegen. Bis dahin wird ihm der Fall, fürchtet er, nicht aus dem Kopf gehen. Er beendet den Praxisdienst, fragt auf der Notfallstation, ob es noch etwas zu tun gibt, erledigt im Büro ein paar E-Mails – und macht sich dann zum Aufbruch bereit, kurz vor Mitternacht. Er wohnt mit seiner Partnerin auf dem Land in einer umgebauten Weintrotte. Handgelenke eingipsen, Zäpfli verschreiben Am Tag danach ist Staubli diensthabender Oberarzt auf der Notfallstation, was bedeutet, dass er alle paar Minuten mit einem neuen Fall konfrontiert wird, vorgetragen von den Assistenzärzten, die sich nach jeder Untersuchung rückversichern, ob ihre Diagnose stimmt. Meistens hört er nur zu und nickt, aber wenn ihm eine Ungereimtheit auffällt, fragt er: «Hast du die Möglichkeit einer Misshandlung überhaupt in Erwägung gezogen?» Dazwischen biegt er Armbrüche zurecht, gipst Handgelenke ein, näht Zehen zusammen, verschreibt Zäpfli, tröstet Kinder und beruhigt Eltern. Und wenn die Zeit und die Anzahl der Patienten es zulassen, wirft er einen Blick auf den Fernseher, der im Stationszimmer gleich neben der Tür steht. Er ist so gut wie nie eingeschaltet, ausser Federer oder die Nati spielen. Ein Assistenzarzt hat auf einen Sieg von Federers Gegner gewettet und es herumposaunt, worauf Staubli müde gelächelt hat. Es war ein Moment der Gelöstheit inmitten der Hektik, aber er zog schnell vorüber.

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gelmässig mit dem Kind Kontakt haben – Krippenmitarbeiterinnen, Kinderärzte, Vereinstrainerinnen, Erzieher. Drittens die spezifisch im Kinderschutz tätigen Institutionen. Im Sitzungszimmer setzt er seine alberne Lesebrille auf und loggt sich in den Computer ein. Die Sekretärin hat Wasser, Früchte, Sandwiches und Schokolade bereitgestellt, weil sie geahnt hat, dass Staubli wieder nur einen Cappuccino mitbringen würde. «Grüezi mitenand», sagt er, «wir sind wegen Julien hier, drei Monate alt.» Dann schaltet er den Beamer ein, zeigt die Bilder und hört sich an, was die Kolleginnen und Kollegen zu sagen haben. «Sind das mehrere Stürze?» «Nur einer.» «Abgesehen davon, dass es in der Verantwortung der Eltern liegt, Unfallgefahren zu erkennen und Abhilfe zu schaffen: Wenn es wirklich so passiert ist, wie die Mutter es erzählt, und wenn es sonst keine Auffälligkeiten gibt, ist das kein KSG-Fall.» «Das ist die Frage: Ist es wirklich so passiert?» «Aus der Literatur weiss man, dass ein beidseitiger Schädelbruch selbst bei einem einseitigen Aufprall vorkommen kann – in etwa einem von zehn Fällen.» «Dass die Verletzung durch einen Sturz theoretisch erklärbar ist, heisst noch nicht, dass ein Sturz tatsächlich die Ursache war.» «Beidseitige Brüche sind einfach sehr selten bei einem einseitigen Aufprall.» «Überhaupt sind Brüche sehr selten bei einem Sturz aus dieser Höhe.» «So weit waren wir schon.» «Also braucht es weitere Abklärungen.» «Kann sich das Kind in dem Alter so weit fortbewegen?» «Natürlich nicht.» «So weit waren wir auch schon.» «Wenn wir bei einer Verletzung, die so viele Fragen aufwirft, die Möglichkeit einer Misshandlung nicht ausschliessen, machen wir unseren Job nicht.» Man einigt sich darauf, an dem Fall dranzubleiben. Es ist spät, die meisten wollen nach Hause, deshalb diskutieren sie, wer sich um was kümmert. Gewisse Schritte sind standardisiert. Dazu gehört, sich schnell einen Eindruck von den Eltern zu verschaffen. Es gibt nämlich durchaus Umstände, die die Möglichkeit einer Misshandlung nahelegen. Zum Beispiel machen sich Eltern verdächtig, wenn sie zuletzt ungewöhnlich häufig die Arztpraxis oder das Spital gewechselt oder wiederholt Arzttermine kurzfristig abgesagt haben. Oder wenn sie das Kind vor den Augen des Spitalpersonals auffallend lieblos behandeln. Oder wenn sie sich vor dem Kind immerfort streiten. Und natürlich gibt es Risikofaktoren, zu denen man sich nun Informationen beschafft, sie bei den Eltern oder beim Kinderarzt erfragt: Ist das Kind ein Schreibaby? Hat es Schlafstörungen oder eine Behinderung oder ein problematisches Essverhalten? Ist es chronisch krank? Haben die Eltern finanzielle

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chen an dem Tag zweimal aus dem Kinderwagen gehoben habe und beide Male habe es geweint. Staubli schickte das Mädchen zum Röntgen, wo man feststellte, dass der Oberarm im Ellenbogenbereich gebrochen war. Das müsse, schlossen die Eltern, beim Herausheben aus dem Kinderwagen passiert sein. Da war Staubli sich sicher, dass er eingreifen musste. Jeden Tag, dachte er, werden Millionen Kinder in den Buggy gelegt und wieder herausgenommen – und nie zieht sich eines einen Bruch zu. Aber seine Mittel waren ausgeschöpft. Die KSG darf nicht Ermittlungen anstellen wie die Polizei, darf weder die Eltern noch sonst jemanden aus dem Umfeld des Kindes gegen dessen Willen zur Befragung einbestellen. Also reichte Staubli Strafanzeige ein, worauf die Polizei die Eltern zum Verhör lud. Erst da gab die Mutter zu, dass sie dem Kind den Arm absichtlich gebrochen hatte. Staubli hat über die Jahre Hunderte solcher Fälle bearbeitet. Manche von ihnen haben mit der Landung eines Rega-Helikopters begonnen, andere mit der Ankunft der Ambulanz, und jetzt scheint einer gerade mit einem Brief anzufangen, der im Stationszimmer auf Staublis Pult liegt, als er von einer Pause an der Sonne zurückkehrt. Der Brief ist vom Anwalt eines Vaters verfasst, dessen Kind sich seit ein paar Tagen im Kispi befindet, eingeliefert von der Mutter. Vater und Mutter sind offenbar zerstritten, jedenfalls wirft der Vater der Mutter in dem Brief alle möglichen Verfehlungen im Umgang mit dem Kind vor. Staubli liest ihn durch und legt ihn zur Seite, der Fall ist ihm bekannt. Tatsächlich hat sich die Mutter auch auf der Notfallstation auffällig verhalten, weshalb sich die KSG überhaupt eingeschaltet hat. Staubli hatte den Eindruck, dass sie ziemlich fertig war. Dass sich jetzt der Vater meldet, erstaunt ihn nicht. Er will nicht vorgreifen, ehe er nicht mit allen Beteiligten geredet hat, aber gerade wird er das Gefühl nicht los, dass der Vater die Situation ausnutzen will, um das alleinige Sorgerecht zu beantragen. Staubli weiss, dass Kinderschützer aufpassen müssen, nicht instrumentalisiert zu werden. Immer geht es um starke Gefühle. Der kleinste Fehler hat verheerende Folgen, und selbst Fälle, in denen ein Arzt richtig entscheidet, können zu öffentlichen Anschuldigungen führen. Zu wenige Indizien Darüber denkt er nach, als er die Notfallstation verlässt, um in der KSG die neuesten Entwicklungen im Fall Julien zu besprechen. Wie er erfährt, ist nichts auffällig, nicht bei der Beobachtung der Eltern im Spital, nicht bei den Hintergrundabklärungen. Also schaut man sich im Team den Skelettstatus an, das Ergebnis des Ganzkörperröntgens, das Staubli inzwischen zugestellt wurde. Man weiss aus der Statistik, dass jeder zweite Bruch, den sich ein Kind zuzieht, bevor es gehen kann, auf eine Misshandlung zurückzuführen ist. Und dass ein solcher Bruch tendenziell nicht allein auftritt. Einem misshandelten Kind sind durchschnittlich zwei weitere Brüche zugefügt wor-

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Staubli kennt die meisten seiner Assistenzärztinnen und Assistenzärzte von der Uni. Er hält eine Vorlesung über Kinderschutz, und schon da bläut er ihnen ein, dass ihr Job nicht nur aus dem Kurieren von Krankheiten und dem Heilen von Verletzungen bestehen wird. «Kinderschutz», doziert er jeweils, «verlangt, dass ihr euch routinemässig einen Moment des Nachdenkens zugesteht, nachdem ihr ein Kind untersucht habt, ein kurzes Stutzen. Zumal Misshandlungsfälle, sobald sie bewiesen sind, total logisch klingen, während nur schon der Verdacht, dass eine Misshandlung vorliegen könnte, eine Zumutung ist, wenn ihr das weinende Kind vor euch habt, daneben die verängstigte Mutter und den scheinbar beunruhigten Vater. Es muss Standard sein, dass ihr bei der Differenzialdiagnose ebenso an eine Vernachlässigung denkt wie an eine bakterielle Erkrankung, bei Hämatomen einen Missbrauch ebenso in Betracht zieht wie eine Blutgerinnungsstörung. Ihr müsst das misshandelte Kind als solches erkennen. Das ist viel schwieriger, als eine Krankheit oder eine Verletzung korrekt zu diagnostizieren. Am schwierigsten aber ist es, den Zweifel überhaupt zuzulassen. Das macht niemandem Freude. Es setzt voraus, dass ihr lernt, den Eltern zu misstrauen. Obwohl wir alle andersherum sozialisiert worden sind – nämlich dass Eltern die Wahrheit sagen, wenn man fragt, was passiert sei. Davon geht man aus, aber im Kinderschutz ist das ein Problem.» Wie bei dem Mädchen, das drei Monate alt war, als seine Eltern es wegen eines Hämatoms unter einem Auge auf die Notfallstation brachten. Das Spitalpersonal war ratlos. Auch die Eltern gaben vor, keine Ahnung zu haben, woher die Verletzung stammen könnte. Sie waren jung und machten einen aufgeschlossenen Eindruck. Wie immer in solchen Fällen klärte man ab, ob es sich um eine Blutgerinnungsstörung handelt. Das Ergebnis war negativ. Auch die KSG, die man einschaltete, kam nicht weiter. Mehrere KSG-Mitglieder unterhielten sich getrennt voneinander mit den Eltern und glichen die Geschichten miteinander ab, normalerweise eine der verlässlichsten Strategien, um jemanden der Lüge zu überführen. Aber die Eltern erzählten stets dieselbe Version: dass rund um die Uhr jemand von ihnen mit dem Mädchen zusammen gewesen sei und sie sich den Fleck nicht erklären können. Dass das Mädchen nirgends heruntergefallen sei und sich auch nirgends angeschlagen habe. Staubli und die anderen KSGMitglieder trafen sich zu mehreren Sitzungen, sie waren sich einig: Ein Kind in dem Alter kann sich eine solche Verletzung nicht selbst zufügen. Weil sie weder einen Beweis noch ein Geständnis hatten, blieb ihnen nichts übrig, als die Eltern mit dem Baby nach Hause zu lassen. Sie meldeten den Fall der Behörde, auch die unterhielt sich mit den Eltern – ohne Folgen. Zwei Monate später erschien das Mädchen wieder auf der Notfallstation, diesmal mit stark geschwollenem Ellenbogen. Wieder spielten die Eltern die Unwissenden. Die Mutter sagte, dass sie das Mäd-

den. Würde die KSG im Skelettstatus von Julien also ältere Brüche feststellen, die die Eltern verschwiegen haben, die Indizien wären überwältigend. Ältere Brüche sind anhand des Kallus zu erkennen, des Knochengewebes, das sich bildet, wenn ein gebrochener Knochen zusammenwächst. Voraussetzung dafür ist, dass die Bruchenden nicht zu hundert Prozent aufeinanderstehen und ein Spalt überbaut werden muss. Bei Julien ist auch der Skelettstatus unverdächtig. Da ist nichts ausser der mysteriösen Schädelfraktur. Staubli ist nicht wohl bei der Sache, aber im Gespräch mit dem Team wird klar, dass man den Fall abschliessen und als «nicht bestätigt» in den Akten vermerken muss. Eine kleine Notiz für etwas, das allenfalls viel grösser ist. Staubli zwingt sich zu glauben, dass stimmt, was die Mutter erzählt. Es wäre eine sehr ungewöhnliche Aneinanderreihung seltener Ereignisse, aber vielleicht ist Julien tatsächlich von selbst an den Rand des Elternbettes gelangt und zu Boden gefallen, und vielleicht hat er sich den Schädel tatsächlich bei ebendiesem Sturz gebrochen, beidseitig, aus dieser Höhe. Vielleicht hat Staubli den Eltern Unrecht getan. Wäre dies ein Fall, in dem sich der Verdacht bestätigt hätte, würde er die Eltern jetzt mit dem Ergebnis der Untersuchung konfrontieren. Er wüsste, worauf er sich vorzubereiten hätte: auf Eltern, die ihn bedrohen und anschreien oder ihn mit zittriger Stimme fragen, ob er sich vorstellen könne, was er ihnen gera-

Muss ich beim Neusten bald wieder Daten löschen?

de antue, und ob er auch Kinder habe. Wäre die erste Bestürzung abgeklungen, würde er ihnen zu vermitteln versuchen, dass er dasselbe wolle wie sie, nämlich dass es ihrem Kind gut gehe, was bedinge, dass sie Hilfe anzunehmen gewillt seien. Und dann wären sie vielleicht einsichtig. Oder sie würden sich wenigstens beruhigen. Wenn nicht, müsste er auch das aushalten. Und den Fall an die Kesb oder die Polizei weiterleiten. Aber dies ist kein solcher Fall, sondern einer, der zu einem Ende findet, indem sich Staubli erkundigt, in welchem Zimmer Julien liegt, und sich auf den Weg macht. Er wird anklopfen, sich bei den Eltern vorstellen und ihnen eröffnen, dass sich die Kinderschutzgruppe eingeschaltet habe, weil der Schädelbruch ihres Kindes ein besonders aussergewöhnlicher sei. Er wird ihnen alles erklären, die KSG, die internen Abläufe, seine Pflichten und ihre Rechte, und ihre Fragen beantworten. Und zum Schluss wird er sie darauf hinweisen, dass sie Julien in Zukunft nicht mehr ungesichert und unbeaufsichtigt im Bett liegen lassen sollen. Dann wird er sich verabschieden. Und hoffen, dass das alles war, was gesagt werden musste. * Name geändert

CH R I S TOF GERT S CH ist Reporter für «Das Magazin»; [email protected]

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