Wie kam es zu dieser Idee?

Begegnungen – ein psychohistorischer Trialog als ukrainisch-russisch-deutsche Verständigung vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Geschichte vom 28. b...
Author: Gertrud Huber
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Begegnungen – ein psychohistorischer Trialog als ukrainisch-russisch-deutsche Verständigung vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Geschichte vom 28. bis 31.05.2015 in Potsdam Bericht von der ersten internationalen russisch-ukrainischdeutschen gruppenanalytischen Konferenz Stephan Alder

The message is, nothing gets done alone, and all outcomes depend on interdependence. In contrast, the prevailing myth of the age is: it is all up to you alone and it all depends on the leader. (Wilke, 2014) „Ich bin ganz angefüllt von neuen Erfahrungen. Manches ist ein bleibender Eindruck, ein Bild, eine Stimmung. Worte entstehen erst Schritt für Schritt zu Gedanken. ... Wie erlebe ich den Anderen? Wie erlebt dieser mich? ... Meine innere Landkarte hat sich verändert, ich sehe die in Russland lebenden Menschen aus einer anderen Perspektive, auch die aus der Ukraine und das deutsch-deutsche Verhältnis erschien mir auf überraschende Weise in einem neuen Licht.“ So oder so ähnlich klingen die Eindrücke nach einer viertägigen gruppenanalytischen Konferenzarbeit mit insgesamt 63 Beteiligten. Täglich trafen sich alle in einer Großgruppe und ein bis dreimal in einer konstanten Kleingruppe. Die 38 Teilnehmenden und die zehn Gruppenleiter stammten aus der Ukraine, aus Russland, Deutschland oder aus Großbritannien. „Muss man russisch oder gar ukrainisch sprechen können?“ – so wurde manchmal vor Beginn der Konferenz gefragt. Nein, es waren drei Übersetzer anwesend, die die Gruppenarbeit mit den zwei Leitern kontinuierlich begleiteten. Es arbeiteten jeweils gemischte Gruppenleiterpaare zusammen, deutsch-englisch, deutsch-russisch oder deutsch-ukrainisch. Die vierte Gruppe sprach Englisch und blieb daher ohne Dolmetscher. Die Großgruppe leiteten meine russische Kollegin und ich gemeinsam, begleitet von drei Dolmetschern, die sich abwechselten. Die Gruppenleiterpaare und die Dolmetscher, gemeinsam als Staff bezeichnet, wurden von Gerhard Wilke, einem erfahrenen Organisationsberater und Supervisor, über die Tage begleitet. Die Gruppen waren zudem nach Herkunft, Sprache und Geschlecht gemischt zusammengestellt worden. Ein Austausch war gut möglich. Gruppenpsychother. Gruppendynamik 51: 325 – 329 (2015), ISSN 0017-4947 (print), 2196-7989 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015

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Wie kam es zu dieser Idee? Meine Seminartätigkeit als Gruppenanalytiker (in Bezug zu S. H. Foulkes und Weiterentwicklungen) und Jung’scher Psychoanalytiker hatte mich seit mehreren Jahren nach Moskau, St. Petersburg, Krasnodar und nach Kiew geführt. So kannte ich mehrere dort lebende und arbeitende Kolleginnen und Kollegen. Immer wieder war ich mit den schrecklichen Ereignissen und Erfahrungen aus dem zweiten Weltkrieg, die von der deutschen Wehrmacht und der SS verübt worden waren, konfrontiert. In den Seminaren konnten wir diese Themen (kollektive und individuelle Schuld, Scham, Verantwortung, transgenerative Weitergabe) besprechen. Doch der Stoff verlangte nach mehr. Aus der Darstellung jahrelanger analytischen Gruppenarbeit zwischen Deutschen und Juden und meinen Erfahrungen ging hervor, wie positiv sich diese auf das Miteinander kurz- und langfristig auswirkten. So kam ich auf den für mich naheliegenden Gedanken, nun das ebenso schwierige Verhältnis zwischen Deutschen und den Völkern der Sowjetunion (1920-1991), aktuell den Ukrainern und den Russen, gruppenanalytisch zu untersuchen. Im Frühjahr 2013 war ich gemeinsam mit Elena Pourtova, Psychologin, Jung’sche Analytikerin und Assistenzprofessorin in Moskau, und Dmitro Zalessky, Psychiater und Jung’scher Analytiker aus Kiew, in der südrussischen Stadt Krasnodar. Dort führten wir die Ausbildung der dortigen Kolleginnen und Kollegen im Rahmen des Ausbildungsprogramms der IAAP zum Jung’schen Psychoanalytiker durch. Beide fragte ich, ob sie sich eine gruppenanalytische Konferenz mit psychohistorischem Schwerpunkt vorstellen könnten. Beide stimmten nach kurzem Nachdenken zu, diese Konferenz für 2015 zu planen. Aufgrund der Revolution in der Ukraine, die im November 2013 begann, verschoben wir den ursprünglich geplanten Veranstaltungsort von Kiew nach Potsdam. Unterstützung bekamen wir dankenswerterweise zuerst von der Internationalen Gesellschaft für Analytische Psychologie (IAAP), dann sehr tatkräftig vom Berliner Institut für Gruppenanalyse, der Brandenburgischen Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und medizinische Psychologie (BGPPmP), von der DGAP (Deutsche Gesellschaft für Analytische Psychologie), der D3G (Deutsche Gesellschaft für Gruppenanalyse und Gruppenpsychotherapie) und einer privaten Stiftung zur Förderung der Analytischen Psychologie. Die Vorbereitungsgruppe traf sich über ein Jahr regelmäßig. Nach bangen Wochen hatten sich für dieses Projekt genügend Teilnehmer angemeldet. Es waren fast alle gekommen, manche kamen ganz kurz entschlossen hinzu. Hier ein Auszug aus meinen die Konferenz eröffnenden Worten: „Wir hier sind zusammen gekommen, um unsere Familiengeschichten, unsere persönlichen Geschichten und die europäische Geschichte vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Interesses zu erforschen. Bescheidener gesagt, wollen wir uns füreinander interessieren und voneinander lernen. Wir alle wissen, dass wir Vorurteile in uns tragen, bewusste und unbewusste. Und wir wissen, dass Vorurteile bzw. VorausUrteile manchmal helfen, oft jedoch auch zu massiven Missverständnissen fühGruppenpsychother. Gruppendynamik 51: 325 – 329 (2015), ISSN 0017-4947 (print), 2196-7989 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015



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ren. Einerseits wissen wir schon ganz viel von uns und den anderen, andererseits wissen wir nichts und so manches Falsche oder Verzerrte, vielleicht sogar Bizarre. Wie immer bei Begegnungen in Gruppen gibt es viel Neugier und Interesse, sonst wären Sie alle nicht gekommen, aber auch ebenso viel Angst. Angst können wir haben, und ängstlich können wir sein, weil Angst Gefahr signalisiert. Wir kommen aus Ländern, die miteinander friedlich verbunden sind, aber im Osten der Ukraine herrscht ein Bürgerkrieg. Die russische Politik ist daran mehr oder weniger beteiligt. Deutschland nimmt eine mittlere, Vermittlung suchende Position ein, weil die deutsche Politik aufseiten der USA und Nato steht und diese die ukrainische Unabhängigkeit unterstützen. Andererseits wird gerade von deutscher Seite das Bemühen sichtbar, ohne militärische Mittel mit kooperativer Haltung zu den russischen und ukrainischen politisch Verantwortlichen eine Frieden bringende Lösung zu unterstützen. Bereits um das auszudrücken, habe ich Sorge, missverstanden zu werden. Und wir als deutsche Bürger sind zugleich Kinder aus erster oder zweiter Generation, 70 Jahre nach dem Ende des von Deutschland ausgegangenen, schrecklichen Zweiten Weltkrieges. Dem wurde Anfang Mai in der politischen und medialen Öffentlichkeit mehrfach gedacht. – Carl Gustav Jung sprach 1945 in diesem Zusammenhang von der „Kollektivschuld der Deutschen“. Wir „Nachgeborenen“ (Berthold Brecht) wissen, dass wir keine individuelle Schuld tragen. Deshalb bezeichnen wir diese kollektiven Gefühle, die etwas mit der Großgruppenidentität nach Vamik Volkan zu tun haben, als ein Gefühl von Schuld und Scham angesichts der uns bekannten Schreckenstaten der Deutschen Wehrmacht und SS gegenüber den slawischen Völkern, dem jüdischen Volk und dem Volk der Sinti und Roma. Diese Schrecken des Krieges mit einer furchtbaren Täter-Opfer-Dynamik haben auch mich dazu motiviert, mich gerade mit Kolleg/ innen aus Russland und der Ukraine zu treffen, um etwas von diesem „namenlosen Grauen“ (Bion) und dem „unfassbarem Schrecken“ zu erfassen und darüber nachdenken zu können. Wir haben demnach die Schrecken der Vergangenheit ebenso wie die Schrecken der Gegenwart in uns. Das ist Gefahr und Potenzial zugleich. Es besteht die Gefahr der Wiederholung und das Potenzial, durch die gemeinsame Konfrontation mit dem Schrecklichen in einem ausreichend sicheren Rahmen kreativ und beseelt Leben bewahrende und Leben fördernde Erfahrungen machen zu können.“ Was waren die Ergebnisse dieser Konferenz? Teilnehmende Beobachter jeder Kleingruppe waren zwei Studierende der Psychologie (von der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin), vier saßen als Beobachter in der Großgruppe. Was diese jungen Forscher unter wissenschaftlicher Begleitung von Prof. M. B. Buchholz herausgefunden hatten, stellten sie zum Ende der Konferenz im sogenannten „Fishbowl“, einem für einen abschließenden ReflexiGruppenpsychother. Gruppendynamik 51: 325 – 329 (2015), ISSN 0017-4947 (print), 2196-7989 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015

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onsprozess hilfreichem Setting, allen Teilnehmenden mit ersten Gedanken zur Verfügung. Tenor war, dass sie von dem ernsthaften Bemühen der Konferenzteilnehmer tief berührt waren, selbst vieles gelernt hatten und sich ausdrücklich als die junge Generation ebenfalls angesprochen fühlten. Eindrucksvoll wurde im persönlichen Gespräch wie in schriftlichen Mitteilungen von Teilnehmenden beschrieben, wie überwältigend die Emotionen und neuen Gedanken waren. Das Maß an Offenheit und gegenseitigem Vertrauen während der Arbeit in den Gruppen wurde geschätzt. In dieser Atmosphäre waren dann persönlicher Schmerz, Scham, Schuld, Wut und Trauer erlebbar. Mehrere russische Kollegen hatten gerade Anfang Mai begeistert den Sieg der Roten Armee gegen Nazideutschland vor 70 Jahren gefeiert. Sie rechneten nun mit Skepsis und Feindseligkeit von Seiten der Deutschen. Demgegenüber waren sie angenehm berührt und überrascht, von deutscher Seite freundlich eingeladen und empfangen worden zu sein. Meine russische Kollegin und ich – als leitendes Duo – hatten bereits in den Vorgesprächen herausgefunden, dass unsere Großväter an der Kriegsfront im zweiten Weltkrieg quasi gegeneinander gekämpft hatten und gestorben waren. Mit Gefühlen von Schrecken, Schmerz, Trauer und ausreichendem Vertrauen war ich erleichtert, dass ich uns diese Konfrontation zumuten konnte. Jetzt sitzt die Enkelgeneration zusammen, erzählt mit Vorsicht und neugierigem Interesse von sich. Die positive Resonanz ließ mich Verbindung spüren, wo vorher Tod und Vergessen waren. In den Kleingruppen stellte sich für einige Teilnehmer schnell eine familiäre Erinnerungsebene her. So war ein deutscher Kollege1 in seiner Kindheit in einer Atmosphäre von bedrücktem Schweigen aufgewachsen. Nur am Küchentisch wurde vor dem Essen gebetet und dabei des vermissten Onkels gedacht. Später erfuhr er, dass sein zweiter Vorname sich auf den vermissten Onkel bezog. Eine deutsche Kollegin war mit der Mutter aufgewachsen, die mit 13 Jahren von sowjetischen Soldaten unter Androhung von Erschießen vergewaltigt worden war. Noch heute könne sie keine russischen Lieder oder überhaupt diese Sprache hören, ohne innerlich zu erstarren. Nun saß sie in solch einer Gruppe gemeinsam mit russischen Kollegen. Als ein russischer Kollege die Geschichte hörte, war er voller Scham. Damit hatte er nicht gerechnet. Es war für beide Protagonisten und alle Beteiligten eine irritierende, dann in Trauer verbindende Erfahrung, gemeinsam zu erschrecken, zu weinen und sich neu ansehen zu können. Aus der Ukraine wurde von einer Kollegin berichtet, die verwundete Soldaten aus der Ost-Ukraine psychologisch betreute. Junge Männer mit abgetrennter Hand oder zerschossenem Bein sind ebenso real wie die Mütter und Väter, die versuchen, ihre Kinder von dem Krieg zurückzuhalten. Wenn es dann zur unmit1 Ich danke den Kolleginnen und Kollegen für die Erlaubnis, ihre Erfahrungen hier mitteilen zu

dürfen.

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telbaren Begegnung im Krieg kommt, kann das Töten im Angesicht des Anderen aufhören, wie man es in Reiner M. Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ von 1929 nachlesen kann. So war es auf der Konferenz möglich, durch unmittelbare Begegnung neue Perspektiven zu eröffnen und zuvor vertretene Positionen infrage zu stellen. Gab es Widerstände während des Gruppenprozesses? Diese wurden in vielgestaltiger Form sichtbar. So gab es zu Beginn die Vorstellung, dass man sich den Themen entsprechend einer vorgegebenen Aufgabe nähern müsse. Ein Teilnehmer vermisste genaue Informationen über die anderen Länder und ihre Geschichte. Auch Situationen des Schweigens waren bedeutsam. Diese Reaktionen tauchten an Stellen auf, wo es meist um schmerzliche Erfahrungen ging, die vorerst geschützt werden mussten. Bewegend war zudem der abendliche kurze Vortrag von Gert Sauer (Jung’scher Psychoanalytiker) mit einem Ausschnitt aus dem berühmten Roman von Michael A. Bulgakow: „Der Meister und Margarita“. Bulgakow, 1891 in Kiew geboren und in Moskau 1940 gestorben, beschrieb 1938, wie Tod und die Vernichtung sich vollziehen, jedoch durch Sorge und Liebe ein bedeutsames Gegengewicht erhalten. Um einmal das uns gastlich beherbergende Konferenzhotel (Seminaris Seehotel Potsdam) zu verlassen, besichtigten wir das Schloss Cecilienhof, wo ab Juli 1945 die Potsdamer Konferenz stattgefunden hatte. Vergangenheit und Gegenwart erlebten wir in einem Spannungsverhältnis, das uns ermöglichte, voreinander zu erschrecken und uns versöhnlich die Hand zu reichen. Mein Resümee Der wohlwollende Respekt vor dem Anderen, der geteilte Schrecken über die Zerstörung in der Vergangenheit und in der Gegenwart, führten zu einer Ahnung von Freude am Leben und Lieben und – in all seiner Begrenztheit – zu einer Art Verantwortungsübernahme für das Leben. Mehrfach war der Wunsch zu hören, dass wir diese Art der Begegnung fortsetzen mögen – wahrscheinlich in zwei Jahren in Potsdam oder Krasnodar, in Kiew, Lwiw (Lemberg) oder Moskau. Danken möchte ich allen Teilnehmenden, die die Konferenz ermöglichten, und allen Gruppenleiter/innen aus Russland, der Ukraine, Großbritannien und Deutschland. Korrespondenzadresse: E-Mail: [email protected] Gruppenpsychother. Gruppendynamik 51: 325 – 329 (2015), ISSN 0017-4947 (print), 2196-7989 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015

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