Wie denken Juristinnen und Juristen

The first thing we do: Let’s kill all the Lawyers! Shakespeare Henry VI part II Thomas Fleiner Wie denken Juristinnen und Juristen Überarbeitete Fas...
Author: Frank Gärtner
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The first thing we do: Let’s kill all the Lawyers! Shakespeare Henry VI part II

Thomas Fleiner

Wie denken Juristinnen und Juristen Überarbeitete Fassung der Abschrift der am 05. Mai 2008 in freier Rede vorgetragenen Abschiedsvorlesung

Für Lidija Im Juli 2008

Inhalt: I. Einleitung.............................................................................................3 a. Wer muss sich vor Juristinnen und Juristen fürchten?..................3 b. Bonham’s Case ..............................................................................4 II. Was sind Normen...............................................................................5 a. Die Geltung der Normen ................................................................5 1. Aussagesätze - Normsätze........................................................5 2. Normgeltung ...............................................................................6 3. Naturgesetze - Staatsgesetze....................................................6 b. Norminhalte ....................................................................................8 1. Normative Präzedenzfälle ..........................................................8 2. Abstrakte Normen ......................................................................9 III. Was ist Wahrheit? .............................................................................9 1. Die Pilatusfrage ..........................................................................9 2. Pragmatische Wahrheit............................................................10 3. Wahrheit und Wahrscheinlichkeit.............................................11 a. Wer muss Wahrheit finden?.........................................................12 b. Wie muss man Wahrheit finden? .................................................14 1. Verfahren für fehlerhafte Menschen ........................................14 2. Common Law und Civil Law ....................................................16 3. Wahrheitsfindung im Asylrecht ................................................17 IV. Was ist Legitimität?.........................................................................19 a. Legitimität des Rechts..................................................................19 1. Der Kaufmann von Venedig.....................................................19 2. Antigone ...................................................................................20 3. Die schickliche Bestattung .......................................................21 b. Legitimität des Staates.................................................................22 1. Max Weber ...............................................................................22 2. Konfuzius..................................................................................23

I. Einleitung „The first thing we do: Let’s kill all the Lawyers!” so planen die Verschwörer in Shakespeares Heinrich VI. ihren Putsch gegen den König. Von Irland aus wollte Jack Cade Heinrich VI. vom Thron stürzen. Shakeskpeare hat diesen Satz dem Mitverschwörer und Freund von Jack Cade, dem Metzger Dick in den Mund gelegt. Es war noch die Zeit des 100-jährigen Krieges, und es war vor allem der Beginn der Rosenkriege zwischen dem Haus Lancaster und York. Heinrich VI. war schon 25 Jahre auf dem Thron. Schon als König aber noch als kleiner Junge von neun Jahren hat man ihn 1429 zum Prozess gegen Jeanne d’Arc von Orléans geladen.

a. Wer muss sich vor Juristinnen und Juristen fürchten? Was will uns Shakespeare mit diesem Ausruf, „Let’s kill all the lawyers“ sagen? Juristen, die sich opportunistisch zu Steigbügelhaltern der Macht instrumentalisieren lassen, sind für Verschwörer ungefährlich ja sogar nützlich. Gefährlich sind aber diejenigen Juristinnen und Juristen, die sich von den Grundwerten von Recht und Gerechtigkeit leiten lassen. Steigbügelhalter der Macht hingegen unterstützen Usurpatoren. Sie interpretieren das Recht stets im Sinne der Mächtigen. Ihr Recht steht stets im Dienste der Macht. Gefährlich und deshalb zu töten sind aber diejenigen Juristinnen und Juristen, vor denen sich Potentaten zu fürchten haben. Solche Juristinnen und Juristen müssen den Diktatoren und Machthungrigen Angst einjagen, weil sie sich darum bemühen, dass Recht im Sinne des Rechts, das heisst gerecht angewendet wird. Die Zeit als Shakespeare vermutlich Heinrich VI. erstmals aufführte, war das ausgehende Zeitalter der Herrschaft Elisabeth I. Es war aber auch die Geburtsstunde eines Zeitalters, das Grundlage für unser heutiges rechtsstaatliches Denken wurde. Es war die Zeit des Aufbruchs grosser Juristen in England. Nach der Magna Charta von 1215 war es die Zeit der grossen Erneuerung der Rule of Law. Fünfzehn Jahre nach dem Stück Heinrich VI., im Jahre 1610 erlässt der grosse Jurist Sir Edward Coke den für das zweite Jahrtausend wohl gewichtigsten Bonham’s Case. Mit diesem Entscheid hat Edward Coke wohl erstmals in der Geschichte Englands König und Parlament in die Schranke gewiesen und die Richter als Hüter von Recht und Gerechtigkeit zum Gegenpol aller Machthaber erkoren. Edward Coke wurde damit

wohl zu einem der grössten Richter unserer Zeitgeschichte, soweit wir dies überhaupt beurteilen können.

b. Bonham’s Case Worum ging es in Bonham’s case? Der Sachverhalt war einfach: Ein Arzt hat ohne Bewilligung seine ärztliche Praxis ausgeübt. Deshalb haben ihn die Ärzte gestützt auf ein von König und Parlament erlassenen Gesetzes verurteilt und ins Gefängnis geworfen, weil er eine gesetzliche Vorschrift missachtet hat, die wahrscheinlich noch von Königin Elisabeth I. unterzeichnet wurde. 1610 war allerdings bereits James I (James IV. von Schottland) seit sieben Jahren auf dem Thron von England und Irland. Plötzlich kommt nun ein Richter, hinterfragt ein Gesetz und setzt sich mit der Frage auseinander, ob das Gericht einer Gesetzesvorschrift die Anwendung verweigern darf, auf die sich ein Strafurteil gegen einen angeblichen Arzt abstützt. Kann man ein Gesetz, das Ärzte ermächtigt, über ihresgleichen zu urteilen, hinterfragen? Und in der Tat kommt Edward Coke zum Schluss, dass die Verurteilung im Lichte elementarer Rechtsgrundsätze ungerechtfertigt sei. Niemand kann in eigener Sache Richter sein, „nemo judex in causa sua. Wenn somit Ärzte über Ärzte urteilen, sind sie Richter in eigener Sache. Ihnen fehlt somit die Legitimation, über ihren eigenen Berufsstand urteilen zu können. Selbst der souveräne Gesetzgeber darf sich nicht über elementare Rechtsgrundsätze hinwegsetzen und Ärzte ermächtigen, über das Schicksal der Menschen ihres Berufsstandes zu urteilen. Folgerichtig hat er das Urteil aufgehoben und den Arzt in die Freiheit entlassen. Bonham’s case war und ist heute noch Wiege, Grundlage und Voraussetzung für die Entwicklung der heute so bedeutsamen Rule of Law. „That men are ruled by law and not by men“, dass die Menschen durch das Recht bestimmt werden und nicht durch die Menschen, das war die Grundidee, die letztlich auch zur Leitlinie für den Bonham’s Case wurde. Und damit stellt sich nun die Frage, wie Juristinnen und Juristen denken, wenn sie dafür zu sorgen haben, dass Menschen durch das Recht und nicht durch Menschen beherrscht werden sollen. Was ist denn die Grundlage eines Denkens, das allein vom Recht geleitet werden soll? Warum müssen Machthaber vor Juristinnen und Juristen eigentlich Angst haben? Warum müssen sie sich vor denen fürchten, die sich für Recht und Gerechtigkeit einsetzen?

Meine Damen und Herren, wenn man etwas verstehen will, muss man bereit sein, zu „ver“-„stehen“. Man muss sich „ver“-„stehen“ können, d.h. man muss sich bewegen und an einen anderen Ort treten können, um Neues aus dessen eigener Dimension zu erfassen und zu erkennen. Ich möchte Sie jetzt auf eine kleine Wanderung durch die Literaturgeschichte und durch die Geschichte einladen, damit wir für uns in der heutigen Zeit erkennen, weshalb gute Juristinnen und Juristen den Mächtigen manchmal, nicht immer, aber dennoch hin und wieder Angst einjagen müssen. Dabei wollen wir uns vor allem mit den folgenden drei Fragen befassen: Zuerst wollen wir die Normen untersuchen und uns fragen, worin sich Normsätze von Aussagesätzen unterscheiden. Dann wollen wir uns dem Problem der juristischen Wahrheit stellen. Schliesslich versuchen wir abschliessend die wohl schwierigste und entscheidende dritte Frage, nämlich die Frage nach der Legitimität des Rechts stellen.

II. Was sind Normen Beginnen wir mit der Frage nach den Normen:

a. Die Geltung der Normen 1. Aussagesätze - Normsätze Das ist ein wunderschöner, voller Saal, es freut mich natürlich ausserordentlich, dass sich so viele zu dieser Abschiedsvorlesung eingefunden haben und der Saal C, soweit ich das absehen kann, bis auf den letzten Platz besetzt ist. Ein ehemaliger Student, der den Weg hierher gefunden hat, hat mir sogar eröffnet, er habe schon die erste Vorlesung gehört, und jetzt möchte er auch die letzte nicht verpassen. Meine Damen und Herren, „der Saal ist voll“ ist eine Aussage aber keine Norm. Aussagen können wahr oder falsch sein. Wir können also überprüfen, ob die Aussage wahr oder falsch ist. Wenn ich diese Aussage jetzt aber in eine Norm verwandle und sage, „in diesem Saal müssen alle Plätze besetzt sein“, dann stellt sich natürlich nicht die Frage, nicht ob der Satz wahr oder falsch ist, sondern es stellt sich die Frage, ob dieser Satz bzw. diese Norm gilt. Wenn sie gilt, muss man sich fragen, für wen die Norm gilt, wer davon betroffen d.h. wer Adressat der Norm ist, wer allenfalls mit Zwangsgewalt in den Saal hineingeschleppt werden könnte. Vor allem aber muss man sich fragen, wer

denn eigentlich das Recht (die Kompetenz oder Legitimation) hat, so einen Satz mit klarer Anweisung zu formulieren, d.h. eine solche Norm zu erlassen. 2. Normgeltung Mit anderen Worten: bei Normen geht es nicht um die Frage, ob sie falsch oder wahr sind, sondern es geht um die Frage, ob sie gelten oder nicht gelten. Nur „gültige Normen“ sind verpflichtend. Bei Normen müssen wir uns somit immer mit der Frage ihrer Geltung auseinandersetzen. Vom grossen Philosophen Thomas Hobbes stammt der berühmte Satz: „Auctoritas non veritas facit legem“, es ist die Autorität und nicht die Wahrheit, die das Gesetz macht. Somit ist es die Autorität, die im Grunde genommen macht, dass eine Norm gilt. Normen gelten also nur dann, wenn sie von einer dafür zuständigen Instanz im richtigen Verfahren erlassen und in Kraft gesetzt wurden. 3. Naturgesetze - Staatsgesetze Ebenso wie es verschiedene Aussagesätze gibt, kennen wir aber auch verschiedene Normsätze. Damit stellt sich natürlich die Frage, was für Arten von Gesetzen es gibt, mit denen wir uns denn auseinandersetzen müssen und wie sie sich voneinander unterscheiden? Wir kennen beispielsweise Naturgesetze, Moralgesetze und Staatsgesetze. Die Frage, die sich jetzt stellt, ist: worin sich denn die Gesetze, die für die Menschen gelten, von den Naturgesetzen unterscheiden, die für die Natur gelten. Worin liegt das Wesen der Gesetze, die für Menschen gelten? Wenn wir einen Stein in die Hand nehmen und dann loslassen, fällt er unweigerlich auf die Erde, davon sind wir alle überzeugt. Newtons Gesetz der Schwerkraft, das wir alle kennen, sorgt dafür – so denken wir -, dass der Stein auf die Erde fallen muss. Nehmen wir nun an, Marsmenschen oder sogenannte Aliens würden auf die Erde geschickt und erhielten den Auftrag, herauszufinden, wie sich Menschen verhalten d.h. welche Gesetze für die Menschen gelten. Auftragsgemäss werden diese Marsmenschen beispielsweise den Strassenverkehr beobachten. Sie werden feststellen, dass Autos bei Rotlicht halten und bei Grün fahren. Folgerichtig schliessen sie, dass es ein Gesetz geben muss, an das sich die Menschen halten und das bestimmt, man müsse bei Rotlicht anhalten und könne bei Grün fahren. Was geschieht aber, wenn sie ein Auto sehen, das bei Rotlicht nicht anhält sondern über die Kreuzung fährt. Müssten die Marsmenschen in diesem Fall

die gleichen Schlüsse ziehen wie etwa der Naturwissenschafter, der plötzlich feststellt, dass der Stein, den er los lässt. plötzlich in der Luft schweben bleibt? Schwebt der Stein in der Luft, müssen Naturwissenschafter daraus schliessen, dass das Gesetz der Schwerkraft abzuändern oder zumindest anzupassen ist, da es ja in dieser generellen Form nicht gelten kann. Das Naturgesetz müssen wir für die Fälle modifizieren, in denen der Stein statt auf den Boden zu fallen in der Luft schwebt. Beim Gesetz aber, das für die Menschen gilt, die bei Rotlicht anhalten müssen, beginnt jetzt die grosse Auseinandersetzung. Natürlich gibt es eine rechtsphilosophische Schule, die sagt, im Grunde genommen gilt nur das als Norm und Gesetz, was in der Wirklichkeit auch befolgt wird. Somit gilt nur die Norm, die in Wirklichkeit angewendet und umgesetzt wird. Zu dieser Rechtsphilosophischen Schule gehören die sogenannten „Legal Realists“. Ihre wichtigsten Vertreter waren in Schweden und gehören zur sogenannten Uppsala-Schule. Nach ihrer Auffassung sind die Gesetze, die für Menschen bestimmt sind, identisch mit den Naturgesetzen. Ein intelligenter Marsmensch, der das Verhalten der Menschen studieren möchte, könnte allerdings auch auf die Beobachtung des Strassenverkehrs verzichten und sich sagen, massgebend sei nicht das wirkliche Verhalten der Menschen, massgebend für die Kenntnis der Gesetze seien vielmehr die geschriebenen Gesetzesbücher. Folgerichtig suchen diese Marsmenschen die Gesetze in den Bibliotheken. Sie forschen in den Büchern, um herauszufinden, nach welchen Normen das Verhalten der Menschen geregelt ist. Wer nur nach der geschriebenen Norm sucht, gehört zur philosophischen Schule der Positivisten. Dazu zählt vor allem die Schule des berühmten Philosophen Kelsen. Wer dieser Schule angehört stellt sich nur die Frage, nach den geschriebenen Gesetzen. Für sie gelten alle jene geschriebenen Gesetze unabhängig davon, ob sie der Wirklichkeit entsprechen und befolgt werden, vor allem dann, wenn sie von der richtigen Instanz erlassen worden sind. Alle Normen, die von der zuständigen Instanz erlassen wurden, gelten, unabhängig davon, ob sie in Wirklichkeit auch befolgt werden. Meine Damen und Herren, mit dieser Antwort können wir uns nicht zufrieden geben. Es muss noch eine schlüssigere Antwort geben auf die Frage, warum denn diese Gesetze gelten. Aber diese Antwort möchte ich auf den Schluss aufsparen.

b. Norminhalte 1. Normative Präzedenzfälle Für uns stellt sich zunächst nämlich die folgende Frage: Wie findet man denn heraus, was für Inhalte in eine Norm zu kommen haben und wie diese Inhalte in eine Norm gegossen werden müssen und wie man sie richtig in die Sprache umgiessen muss und zu formulieren hat? Mit dieser Frage haben wir uns intensiv im Gesetzgebungsseminar in Murten befasst. Deshalb freue Ich mich ganz besonders, dass neben Werner Hauck auch Herr Pfister hier ist. Beide haben mich dazu veranlasst, die ersten Gesetzgebungskurse zu geben; sie haben mich auch auf die Idee gebracht, zu erforschen, wie man Inhalte in eine Norm giessen kann. In der Folge habe ich mit Werner Hauck seit 25 Jahren jeweils mehrmals im Jahr die Gesetzgebungsseminar in Murten durchgeführt. Ich möchte die Frage nach dem Wesen der Norm auf Grund eines alten Beispiels aus der viktorianischen Zeit erörtern, das sich bereits in der Rechtsphilosophie von Hart, findet. Als Vertreter der Common Law Tradition befasst sich Hart vor allem mit der Regelung des Verhaltens von Menschen über sogenannte Präzedenzfälle. Wie lässt sich das Verhalten von Menschen durch Präzedenzfälle bestimmen? Der Vater geht mit seinem Sohn in die Kirche und möchte, dass sein Sohn den Hut abnimmt, wenn er in die Kirche geht. Jetzt hat er zwei Möglichkeiten, um das Verhalten seines Sohnes zu bestimmen: er kann ihm vorschreiben: Verhalte dich so, wie ich mich verhalte. Er kann ihm aber auch eine abstrakte Vorschrift machen: „Wenn man in die Kirche geht, nimmt man den Hut ab“. Im ersten Fall, regelt er das Verhalten des Sohnes über den Präzedenzfall, d.h. Das Verhalten des Vaters ist der geltende Präzedenzfall für das Verhalten des Sohns. Jetzt sieht der Sohn, dass sein Vater beim Betreten der Kirche den Hut abnimmt. Will sich der Sohn nun gleich verhalten wie sein Vater, muss er eine schwierige Denkoperation vornehmen. Er muss sich nämlich fragen, ob er schon auf der ersten Treppenstufe den Hut ausziehen, ob er den Hut ebenso wie der Vater mit der linken Hand oder ob er ihn auch mit der rechten Hand ausziehen könne? Wie schnell muss er den Hut ausziehen? Was ist denn wesentlich am Verhalten seines Vaters, das dann auch sein Verhalten bestimmen soll? Wenn Präzedenzfälle das Leben bestimmen, muss man immer fragen, was am Präzedenzfall so wesentlich ist, dass er auch den nächsten Fall mitbestimmt.

2. Abstrakte Normen Wie wir gesehen haben, kann der Vater auch durch die Formulierung einer abstrakten Norm das Verhalten des Sohnes regeln und bestimmen: „In der Kirche nimmt man den Hut ab“. Mit der generellen Norm schafft der Vater einen abstrakten Tatbestand. Inhalt dieses abstrakten Tatbestandes ist nichts anderes als eine Generalisierung unzähliger entweder erlebter oder vorgestellter konkreter Einzel- oder Präzedenzfälle. Wenn Menschen in die Kirche gehen, nehmen sie den Hut ab. Daraus ergibt sich der abstrakte Tatbestand: Wer in die Kirche geht, nimmt den Hut ab. Die Vorschrift gilt jetzt auch für den Sohn, er muss jetzt diese abstrakte Vorschrift für seinen Einzelfall anwenden: Aber auch diese Anwendung setzt Denkoperationen vor aus, denn es ist für den Sohn gar nicht einfach, die generelle Vorschrift auf seinen konkreten Sachverhalt anzuwenden. Jetzt muss er sich beispielsweise fragen, was unter dem Begriff Kirche zu verstehen ist? Ist eine Moschee auch eine Kirche? Ist eine Synagoge eine Kirche? Oder ist eine Wiese unter offenem Himmel, auf der eine katholische Messe gelesen wird, eine Kirche? Was ist denn eine Kirche im Sinne dieser Vorschrift? Überdies: Was versteht man unter einem Hut? Ist ein Sennenkäppi ein Hut, ist der Zierhut einer Dame ein Hut, ist die Kippa ein Hut. Wir sehen: auch bei der Anwendung abstrakter Vorschriften muss man schwierige Denkoperationen vornehmen. Wenn wir mit Normen arbeiten und wenn wir abstrakte Normen auf konkrete Sachverhalte anwenden, geht es ja darum, dass wir einen abstrakten Tatbestand, nämlich: wenn man in die Kirche geht, zieht man den Hut ab, auf den konkreten Sachverhalt – ich gehe in die Kirche und trage einen Hut – anwendet. Gilt die Vorschrift oder der Präzedenzfall und sind sie anwendbar, muss jeder seinen Hut beim Betreten der Kirche abnehmen.

III. Was ist Wahrheit? Aber jetzt kommt natürlich eine ganz schwierige Aufgabe und ich würde meinen, eine der wohl schwierigsten Aufgaben, die sich uns Juristen im Grunde genommen stellen, nämlich die Frage: ist er denn überhaupt in die Kirche gegangen? Geht er auch tatsächlich in die Kirche? Das heisst, wir müssen die Frage nach der Wahrheit stellen. 1. Die Pilatusfrage Und damit kommen wir auf die historisch berühmte und schwierige Frage, die wir aus der Bibel kennen. Es ist, Sie erraten es, die berühmte Pi-

latus-Frage: was ist denn Wahrheit? Was ist Wahrheit, fragt Pilatus im Prozess Jesus. Jesus antwortet: Ich bin die Wahrheit! Dabei meint der natürlich eine andere Wahrheit als die Wahrheit, nach der Pilatus fragt. Er meint die ontologische Wahrheit. Pilatus aber hat nach einer pragmatischen Wahrheit gefragt. Beiläufig kann ich darauf hinweisen, dass wir uns der Bedeutung dieses Prozesses für die Existenz der Schweiz bewusst sein sollten. In diesem Prozess erklärt Jesus ja auch: Ich bin nicht der König von Israel, ich bin der König einer anderen Welt. Meine Damen und Herren, die Schweiz würde nicht existieren, ohne diesen Satz. Denn es war dieser Satz, der dem Papst die Macht über die weltliche Herrschaft im Mittelalter gegeben hat: Jesus geht davon aus, dass es zwei Reiche, ein weltliches und ein spirituelles Reich gibt. Deshalb gibt es auch zwei Arten der Herrschaft bzw. zwei verschiedene „Schwerter“: das geistliche und das weltliche Schwert. Der Papst hatte die Macht, dem weltlichen Kaiser das weltliche Schwert zu verleihen und ihn zum Kaiser zu krönen. Die mittelalterlichen Kaiser mussten sich also ihre Legitimation zur Herrschaft in Rom hohlen. Bekanntlich führte der Weg vom Norden in den Süden unter anderem und damals vor allem über den Gotthard. Um sich den Weg nach Rom zu sichern, haben die Kaiser demzufolge den Waldstätten schon im frühen 12. Jh. die ersten Freiheitsbriefe verliehen und so die Grundlage für die frühe Gründung der Eidgenossenschaft gelegt. Dies ist nebenbei der Ursprung unseres Landes, der mit diesem Prozess gegen Jesus zu tun hat. Dabei muss ich natürlich auch erwähnen, dass, wer immer sich in der jüdischen Rechtsgeschichte auskennt, weiss, dass dieser Prozess, nach diesem Verfahren wie es uns in der Bibel nacherzählt wird, gar nicht hat stattfinden können. Einen Prozess Jesu konnte es entsprechend der jüdischen Rechtsgeschichte so nicht geben. Wir wissen heute, dass man die Geschichte geändert hat, um die für die Ur-Christen wichtigeren Römer zu entlasten und die Israeliten für den Tod Jesu verantwortlich zu machen. Das beispiellose Martyrium des jüdischen Volkes seit 2000 Jahren einschliesslich des Holocaust zeugen dafür, welches unsägliche Leid diese Geschichtsverfälschung verursacht hat. Selbst heute noch weigert sich Papst Benedikt auf Fürbitten für das Jüdische Volk am Karfreitags Gottesdienst zu verzichten. 2. Pragmatische Wahrheit Aber wir wollen uns nun mit der Frage der Wahrheit befassen. Wenn ich als Jurist die Frage nach der Wahrheit stelle, dann will ich nicht, die onto-

logische Wahrheit kennen sondern die pragmatische Wahrheit. Was ist unter dem Begriff der pragmatischen Wahrheit zu verstehen? Nun, meine Damen und Herren, auf diese Frage gibt es eigentlich zwei Unterfragen: Von welcher Wahrheit sprechen wir, von der Wahrheit der Vergangenheit oder von der Wahrheit der Zukunft? Im Strafrecht muss der Jurist die Wahrheit der Vergangenheit abklären. Ein in der Vergangenheit abgeschlossener Sachverhalt muss auf seine Wahrheit und seine Übereinstimmung mit dem abstrakten strafrechtlichen Tatbestand überprüft werden. Wenn ich aber als Verwaltungsrechtler Wahrheit finden will, dann muss ich mich meist auf die Zukunft ausrichten. Das heisst, wenn ich beispielsweise die Wahrheit suche über die Gefährdung von Asylbewerbern, die um die Gewährung des Flüchtlingsstatus ersuchen, muss ich wissen, ob sie in Zukunft, falls sie in ihr Land zurückkehren, an Leib und Leben gefährdet sind. Ich muss also gewissermassen die Zukunft vorausholen und kann mich nicht auf die Vergangenheit abstützen. Aber, meine Damen und Herren, selbst die juristische Ausbildung an staatlichen Universitäten unterliegt den Grundsätzen des Verwaltungsrechts. Auch diese Ausbildung muss sich an der Zukunft orientieren. Wir können uns ja nicht damit begnügen, Studierende auf Grund der vergangenen Bedürfnisse der Rechtssuchenden auszubilden. Wir müssen eine juristische Ausbildung anbieten, die Juristinnen und Juristen auf ihre zukünftige Tätigkeit vorbereiten. Das ist die Herausforderung, der sich die Universität seit alters und namentlich in der heutigen schnelllebigen Zeit fortwährend stellen muss. Für den Verwaltungsrechtler ist aber die Frage nach der Wahrheit der Zukunft eine der wohl schwierigsten Fragen. 3. Wahrheit und Wahrscheinlichkeit Dann aber stellt sich die Frage, welche Wahrheit gemeint ist, von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus, nämlich demjenigen der Wahrscheinlichkeit: was für eine Wahrheit meinen wir denn eigentlich? Meinen wir, die über jeden Zweifel erhabene Wahrheit? Meinen wir, eine sichere Wahrheit, eine wahrscheinliche Wahrheit, eine mögliche Wahrheit? Leider stellen wir uns diese Frage oft viel zu selten. Auch in den Gesetzen wird diese Frage kaum angeschnitten. Dennoch müsste man sich eigentlich immer wieder die Frage stellen, welche Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit eigentlich für einen Verwaltungsentscheid oder ein Urteil notwendig ist, wenn etwa die Sicherheit eines Kernkraftwerkes zu beurteilen ist oder wenn man sich fragen muss, mit welchen Gefahren bei einer geplanten Demonstration zu rechnen ist.

Bei der Beantwortung der Frage nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit, beantworten wir im Prinzip, welche Arten von Beweisen für den Nachweis eines vergangenen oder möglichen zukünftigen Sachverhaltes zu erbringen sind. Dieses Thema des Beweisverfahrens und der Beweiswürdigung wird beispielsweise in der angelsächsischen Ausbildung viel eingehender behandelt, als das in unserer kontinentaleuropäischen juristischen Ausbildung der Fall ist. Die Frage nach der Wahrheit wirft eine weitere wichtige Frage auf, der wir uns jetzt zu stellen haben. Nämlich erstens die Frage, wer denn ist befugt ist, die Wahrheit zu finden oder zu bestimmen, und zweitens die Frage, in welchem Verfahren Wahrheit am glaubhaftesten gefunden werden kann.

a. Wer muss Wahrheit finden? Wer soll befugt sein, Wahrheit zu finden? Auf diese Frage gibt es zwei gegensätzliche Antworten Eine vor allem im mittelalterlichen Kirchenrecht massgebende Antwort lautete, wer höher im Amt steht, wer näher bei Gott ist, findet die bessere Wahrheit als untergeordnete Behörden. Diese Lehre geht ist geprägt von Wert der Hierarchie. Der hierarchisch Höhere steht immer näher bei der Wahrheit und somit auch näher bei Gott als der untere Beamte oder gar der Untertan. Diese Sicht entspricht dem kanonischen Denken, das das französische und damit auch das kontinentaleuropäische Denken beeinflusst hat. In der Schweiz erscheint diese Lehre ausgeprägt im bezeichnenden Satz: „Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand“. Ich bekomme Verstand, wenn ich ein hierarchisch höheres Amt innehabe. Dann stehe ich auch näher bei der Wahrheit. Das Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes, das der Verwaltung in Art. 12 die Pflicht aber auch das Recht überträgt, die Wahrheit zu finden, wäre ohne diese Tradition nicht denkbar. Die angelsächsische Tradition geht eigentlich von einer demokratischen Überlegung aus. Danach findet sich die Wahrheit durch das demokratische Verfahren. Schliesslich war es ein mit der Schweiz vertrauter Philosoph des Mittelalters, nämlich Marsilius von Padua, der sich dazu bekannt hat, dass nämlich mehr Augen mehr sehen, als nur ein oder nur zwei Augen. Mehr Augen sehen mehr, das heisst also, über die Demokratie findet sich Wahrheit eher als durch die das Amt innehabende Einzelperson in der Hierarchie.

Auf dieser Überzeugung fusst der Grundrechtsanspruch auf ein Geschworenengericht des Verfassungsrechts der USA. In der angelsächsischen Tradition und vor allem im amerikanischen Verfassungsrecht sollen die Geschworenen dafür garantieren, dass in jedem Verfahren nur die Wahrheit gilt, die die Geschworenen überzeugt. In der angelsächsischen Tradition sind es weder das Parlament noch die Wahl ins Parlament, sondern vor allem die aus dem Volk zufällig ausgewählten Geschworenen, die für die demokratische bis ins 14. Jahrhundert zurückgehende Tradition verantwortlich sind. Dabei sind es in der Regel nicht Mehrheitsentscheide sondern einstimmige Entscheide der aus herkömmlichen Menschen ausgewählten Geschworenen, die sich zur Wahrheit durchringen müssen und damit am ehesten für Wahrheit garantieren. Was die Geschworenen als wahr empfinden, gilt dann als unverbrüchliche Wahrheit, die rechtlich kaum oder nur schwer zu hinterfragen ist. Meine Damen und Herren! Hand aufs Herz! Wer ist am ehesten dazu befugt, die Wahrheit zu finden: die Richter, die Geschworenen, das Volk oder das Parlament? Nun, wir alle kennen aus dem alten Testament die Legende des weisen Richters Salomon, die sich übrigens auch in anderen Kulturtraditionen findet. Salomon der weise Richter, hat die Wahrheit über die Frage gefunden, welche von zwei Frauen, die sich um ihr kleines Kind streiten, die richtige Mutter ist. Der weise Richter Salomon wusste ja nicht, wer die richtige Mutter ist. Und nun schlägt er vor, das Kind in zwei Teile zu schneiden und jeder Mutter einen Teil zu geben. In der Folge hat dann natürlich – ich sage bewusst „natürlich“, und komme später darauf, ob das tatsächlich so natürlich ist - die richtige Mutter mit einem Aufschrei den Vorschlag abgelehnt. Nein, das Kind darf nicht getötet werden. In diesem Fall will ich es lieber meiner Rivalin überlassen. Damit hat Salomon nach allgemeiner Auffassung gewusst, welches die richtige Mutter d.h. die natürliche Mutter ist. Salomon ist eine Legende, die es hier in vielen Kulturen gibt. In China kennt man unter dem Titel des Kaukasischen Kreidekreises eine ähnliche Geschichte, bei der der Richter die streitbaren Mütter auffordert, das Kind mit ihrer Kraft aus dem Kreidekreis herauszuziehen, sodass diejenige die stärker ist, das Kind behalten soll. Berthold Brecht hat die Legende des Kaukasischen Kreidekreises für ein eigenes Theaterstück verwendet und daraus eine ganz andere Geschichte entworfen. In Brechts kaukasischem Kreidekreis ist der Richter nicht ein grosser und weiser salomonischer König. Richter ist vielmehr ein einfacher Arme-Leute-Richter. Zweitens ist für Brecht die richtige Mutter nicht die genetische sondern die Pflegemutter. Es ist die

Pflegemutter, die schliesslich das Kind erhält, weil sie es liebt und es deshalb beim Kampf mit der richtigen Mutter loslässt. Ihre Liebe zum Kind ist grösser als ihr Bedürfnis, das Kind zu besitzen. Woher kommen zwei so völlig gegensätzliche Resultate der Literaturgeschichte? Fragen wir uns zunächst einmal, welche Voraussetzungen jemand haben muss, damit er legitimer Richter sein kann. Welche Legitimation hätte Salomon beispielsweise, wenn er selber der Vater des Kindes wäre? Wie könnte Salomon richten, wenn das Kind die Frucht seines Nebenbuhlers wäre? Wäre er auch dann ein hervorragender Richter? Da kommen wir wieder auf den eingangs erwähnten Bonham’s case: Nemo iudex in causa sua, Niemand kann Richter in eigener Sache sein. Also die Frage, ob Salomon der weise Richter ist, ist nicht nur abhängig davon, ob er als Person oder als König integer ist, sondern sie ist natürlich und in erster Linie davon abhängig, ob er als Richter unabhängig und unparteiisch ist. „Justice must be seen to be done”. Einer meiner ersten Doktoranden hat seine Dissertation zur Europäischen Menschenrechtskonvention auf diesem Grundsatz aufgebaut. Gerechtigkeit soll sich nicht verstecken. Nur die für alle sichtbare Gerechtigkeit, ist glaubhaft und damit legitim. Auch der Arme -Leute Richter von Berthold Brecht entscheidet gerecht, wenn er unabhängig ist. Sichtbar ist die Gerechtigkeit allerdings nur, wenn diejenigen, die Gerechtigkeit anwenden, auch für alle anderen und auch für alle Dritten als unabhängige Richter glaubhaft sind. In keiner Weise dürfen sie auch nur indirekt in den konkreten Fall verstrickt sein. Überdies müssen sie auch politisch unabhängig sein und sollen für ihre Urteile von der Politik weder durch Beförderung belohnt noch durch Versetzung bestraft werden können. Auch das Volk kann nicht Richter sein. Wer Recht setzen kann, soll nicht Recht anwenden. Sonst entartet das Recht zur Willkürjustiz. Die Verpolitisierung der Justiz führt letztlich zur LynchJustiz.

b. Wie muss man Wahrheit finden? 1. Verfahren für fehlerhafte Menschen Dabei stellt sich natürlich auch die Frage, wie man vorgehen soll, wenn man Wahrheit finden muss. Für die Beantwortung dieser Frage sollten wir uns an die alte menschliche Weisheit halten, dass wir alle mit Fehlern behaftet sind. Aus diesem Grund müssen wir Institutionen und Verfahren schaffen, die von dieser Fehlerhaftigkeit der Menschen ausgehen und Menschen keine Aufgaben und Befugnisse übertragen, die letztlich nur

fehlerlose, integre über alle Zweifel erhabene engelhafte Menschen erfüllen können. Perfekte Menschen bräuchten weder Institutionen noch geregelte Verfahren. Engel brauchen weder Gesetze noch Verfassungen. Nutzlos wäre es aber auch über Verfahrensregelungen Teufel in Schranken zu weisen. Menschen sind aber weder Engel noch Teufel, es sind vielmehr lernfähige Wesen, die aus Fehlern lernen können. Institutionen und Verfahren, die regeln, wie Wahrheit zu finden ist, müssen somit so beschaffen sein, dass lernfähige aber auch fehlerhafte Menschen kontrolliert werden können und sich für ihre Entscheide verantworten müssen. Wie verträgt sich diese Weisheit mit der Forderung nach dem unparteiischen und politisch unabhängigen Richter? Auch die Richter sind in ein Verfahren mit Parteien, Anwälten und Kollegen des Gerichtes eingebunden. Ihre Entscheide sind nicht unfehlbar. Deshalb müssen Urteile auch durch obere Instanzen überprüft werden können. Die Bindung der Richter an das Recht und ihre Pflicht, nur nach dem Recht zu entscheiden, schützt uns zwar nicht vor Fehlurteilen. Es ist aber, wie die Geschichte uns lehrt, der beste Schutz vor Willkürherrschaft oder Lynchjustiz. Unsere Institutionen müssen uns in Schach halten und dafür sorgen, dass wir nicht über die Stränge hauen. Darin liegt im Grunde die Weisheit jeder guten Verfassungs- und Gesetzgebung des Gemeinwesens, das sich an Recht und Gerechtigkeit halten will. Wenn sich aber der Staat nicht an diese Weisheit hält und an Stelle überzeugender Institutionen und Verfahren den Diktatoren alle Macht anvertraut und davon ausgeht, wie wir das sehr oft bei Diktaturen finden, dass die Untertanen vor allem von integren und guten Menschen geleitet werden sollen, dass Heilige auf den Thron gesetzt werden müssen, werden wir uns an die Weisheit des englischen Lord Acton erinnern müssen, der für alle Zeiten davor warnt, dass Macht die Menschen immer korrumpiert und dass absolute Macht zur absoluten Korruption führt. Selbst wenn die besten Philosophen im Sinne von Platon das Gemeinwesen beherrschen, werden auch sie letztlich von der Weisheit Lord Actons eingeholt werden: „Power corrupts and absolute power corrupts absolutely“. Juristinnen und Juristen müssen sich aller menschlicher Dimensionen bewusst sein, aus dieser Weisheit lernen und realistische Verfahren und Institutionen schaffen.

2. Common Law und Civil Law Wenn wir diese Realität akzeptieren, welches Verfahren gibt dann die beste Garantie, um zum Recht zu kommen? Auch da gibt es wiederum zwei Antworten. In der angelsächsischen Welt des Common Law und hier vor allem in den Vereinigten Staaten wird man uns antworten, dass Recht habe, wer immer den Prozess gewinnt. Bei uns in der Tradition des kontinental-europäischen Rechts wird man antworten, derjenige sollte den Prozess gewinnen, der Recht hat. Ja, meine Damen und Herren, hier werden wir mit zwei Kulturen der Gerechtigkeit konfrontiert. Diese unterschiedliche Rechtsauffassung führt auch zu unterschiedlichen Konzepten und Zielen der juristischen Ausbildung. Wenn ich Juristinnen und Juristen im Bereich der Common Law Tradition ausbilde, muss ich diese dazu trainieren, den Prozesskampf gegen die ebenfalls von hervorragenden Juristen vertretene Gegenpartei zu gewinnen. Bei uns müssen wir den Juristen zeigen, wie sie das Recht finden und anwenden können. Rechtskenntnis steht im Vordergrund der europäischen Ausbildung, während die Fähigkeit, das Prozessverfahren zu beherrschen und den Prozess zu gewinnen, im Focus der angelsächsischen Ausbildung steht. Wir müssen Juristen zu weisen Rechtskennern und Rechtsanwendern heranbilden, die Angelsachsen müssen die Juristen zu guten Prozesskämpfern trainieren. Dies sind zwei grosse, zwar sich allmählich annähernde aber immer noch gegensätzliche Kulturen. Diese Gegensätze haben ihre Auswirkungen auch auf das Verfahrensrecht. Im Zentrum des angelsächsischen Verfahrens steht das Prinzip des sogenannten „adversary“ Verfahrens. Wahrheit nach diesem Verfahren findet sich dann am besten, wenn zwei Parteien in einem geregelten Verfahren, das beiden Parteien gleiche Spiesse garantiert, vor dem unabhängigen Richter um die Wahrheit kämpfen. An dieses Verfahren zur Wahrheitsfindung hält man sich selbst im Straf- und wenn immer möglich auch im Verwaltungsrecht. Auch der Staat, der das öffentliche Interesse vertritt, soll auf die Stufe der gleichberechtigten Gegenpartei herabgesetzt werden. Nur auf der Grundlage gleichberechtigter Parteien lässt sich nach dieser Auffassung Wahrheit finden. Nur wenn zwei Gegenparteien um das Recht vor dem unabhängigen Richter und in den meisten Fällen vor den durch Zufall ausgewählten Geschworenen kämpfen, besteht die grösste Chance Wahrheit zu finden. Die Prozesstradition und manchmal die Gesetze bestimmen dann, inwieweit die Parteien mit ihren Beweisen die Last ha-

ben, um entweder die Wahrscheinlichkeit, die mögliche Wahrheit oder gar die über alle Zweifel erhabene Wahrheit nachzuweisen. Auf dem europäischen Kontinent halten wir uns im Straf- und Verwaltungsrecht meist an das Prinzip des Inquisitions- oder Untersuchungsverfahrens. Artikel 12 des Verwaltungsverfahrensgesetzes bestimmt beispielsweise eindeutig, dass die Behörden den gesetzlich massgebenden Sachverhalt d.h. die Wahrheit finden müssen. Die Behörden müssen wissen, was in der Vergangenheit aber auch in der Zukunft „wahr“ ist. Der Verwaltung wir die Macht und die Verantwortung übertragen, Wahrheit zu finden. Das ist eine riesige Verantwortung, aber es ist auch eine schwierige Aufgabe, die den Behörden viel Freiraum aber auch viel Macht gibt. 3. Wahrheitsfindung im Asylrecht Meine Damen und Herren, wie folgendes Beispiel zeigt, machen wir es uns sehr oft auch einfach bei der Wahrheitsfindung. Menschen, die in ihrem Staat in ihrer Freiheit oder an Leib und Leben gefährdet sind, müssen von anderen Staaten so auch von der Schweiz als Flüchtlinge aufgenommen werden. (Art. 3 Asylgesetz) Wer unser Asylgesetz liest, erwartet somit, dass diejenigen Personen, die an Leib und Leben gefährdet sind, als Flüchtlinge aufgenommen werden sollen. Aber in Artikel 7 des Asylgesetzes heisst es beispielsweise nicht etwa wie man erwarten müsste: „Die Behörden stellen fest, ob Asylbewerber gefährdet sind.“ (Art. 12 VwVG). Da die Wahrheitsfindung gerade in diesem Bereich höchst schwierig ist, bürdet der Gesetzgeber plötzlich entgegen dem Prinzip der Untersuchungsmaxime den Asylbewerbern die Beweislast für den Nachweis der Wahrheit ihrer Gefährdung auf. (Art. 7 Abs. 1 Asylgesetz). „Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nachweisen oder glaubhaft machen.“ Asylbewerber müssen selber nachweisen oder glaubhaft machen, dass sie gefährdet sind. Aufgabe der Behörde ist es nur mehr, zu beurteilen inwieweit der Asylbewerber glaubhaft ist. Die Glaubhaftigkeit des Flüchtlings ist aber überhaupt nicht entscheidend für die Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft, allein entscheidend muss die Frage sein, ob der oder die betreffende gefährdet ist. Viele Menschen, die unter dem Trauma einer besonders bedrohlichen vergangener Lebensgefährdung leben müssen, sind vielleicht viel weniger glaubhaft, als Menschen, die sich sicher fühlen und deshalb viel eher in der Lage sind, den Behörden Glaubhaftigkeit vorzugaukeln. Der Gesetzgeber entlastet die Behörde

somit den eigentlichen Sachverhalt nämlich die Gefährdung des Asylbewerbers zu überprüfen. Dies ist systemwidrig. Entweder wird die Wahrheit in einem Verfahren zweier gleichberechtigter Parteien ermittelt, dann bestimmt das Gesetz, welche Beweise Parteien für den Nachweis ihres Rechtsanspruches zu erbringen haben. Oder die Behörde muss die Wahrheit finden, dann aber darf der das Asyl beantragenden Partei keine Beweislast (höchstens Behauptungslast) überbürdet werden. Das Asylgesetz geht aber noch weiter. Es befreit die Behörden nicht nur grundsätzlich davon, zu beurteilen, ob Asylbewerber gefährdet sind. Die Behörden müssen überdies lediglich beurteilen, ob Asylbewerber glaubhaft sind. Das heisst mit anderen Worten: die Behörde beurteilt nur, inwieweit Asylbewerber glaubhaft darstellen können, dass sie gefährdet sind. Und wenn unsere Amtsstellen darauf hinweisen, dass viele Asylbewerber eigentlich Wirtschaftsflüchtlinge seien, entspricht dies nicht der Wahrheit. Denn den Sachverhalt der eigentlichen Gefährdung mussten die Behörden gar nicht überprüfen. Wir wissen somit nur, dass viele Asylbewerber entweder nur ungenügende Beweise ihrer Gefährdung vorlegen bzw. ihre Gefährdung nicht genügend glaubhaft machen konnten. Aber ob sie im Sinne von Artikel 3 des Gesetzes tatsächlich in ihrem Land gefährdet sind, können wir auf Grund der durch das Gesetz ermöglichten mangelhaften Abklärung nicht wissen. Nun kann man davon ausgehen, dass es dem Gesetzgeber frei steht, selber zu bestimmen, wer die Last hat, den Nachweis seiner Gefährdung zu erbringen. Das Verwaltungsverfahrensgesetz enthält eine klare Bestimmung, die verlangt, dass Gesetze, die Verfahrensfragen regeln, in keiner Weise den grundlegenden Bestimmungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes widersprechen dürfen. Die im Asylgesetz vorgesehene Beweislastregelung verstösst aber klar gegen die in Artikel 12 vorgesehene Untersuchungsmaxime und damit auch gegen diesen Artikel 4 des Verwaltungsverfahrensgesetzes. Im Grunde genommen hat der Gesetzgeber mit sich an alle späteren Gesetzgeber wendenden Vorschrift, die Grundsätze des Verwaltungsverfahrens zu beachten, eine verdeckte Verfassungsnorm geschaffen. Da diese Norm aber auf der Gesetzes- und nicht der Verfassungsstufe verankert ist, müssten die Gerichte andere, sogar später erlassene Bundesgesetze auf ihre Übereinstimmung mit den Grundsätzen wie z.B. der in Artikel 12 VwVG festgelegten Untersuchungsmaxime überprüfen und gesetzeswidrigen Bestimmungen die Anwendung verweigern. Mit diesem Artikel 4 VWVG hat der Bundesgesetzgeber auf Gesetzesstufe eigentlich

eine verdeckte Verfassungsbestimmung geschaffen, die die Gerichte zur Gesetzesüberprüfung ermächtigt, weil sie dazu befugt sind, sich widersprechende Gesetzesbestimmungen zu überprüfen. Das Untersuchungsverfahren ist also ein Verfahren, das den Behörden viel Verantwortung und Macht überträgt und das sicher auch von der im mittelalterlichen kanonischen Recht verankerten Grundidee getragen ist, dass derjenige, der näher bei Gott ist, auch besser über Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit entscheiden kann. Übertragen auf das Verwaltungsverfahren bedeutet dies, die höhere Stufe der Verwaltungshierarchie steht näher an der Wahrheit.

IV. Was ist Legitimität? Meine Damen und Herren, wir haben jetzt die Norm kennengelernt, wir haben herausgefunden, wer und wie man Wahrheit findet, haben wir damit unsere eingangs gestellte Frage beantwortet, d.h. inwieweit und warum Usurpatoren der Macht Juristinnen und Juristen fürchten müssen? Ich meine, da fehlt uns noch eine ganz wichtige Frage, nämlich die Frage nach der Legitimität. Und hier können wir wieder auf Shakespeare zurückgreifen. Shakespeare ist ein grosser Lehrer, nicht nur für die Schauspieler sondern auch für uns Juristen. Dabei halte ich mich an seinen Kaufmann von Venedig.

a. Legitimität des Rechts 1. Der Kaufmann von Venedig In diesem Theaterstück wird der herzlose Gläubiger Shylock vom klugen Richter überlistet. Es wäre übrigens verfehlt, Shakespeare auf Grund dieses Stückes Antisemitismus vorzuwerfen, ich will darauf hier aber nicht näher eingehen. Was uns an diesem Stück aber interessieren muss, ist die Frage, nach welchen Grundsätzen der Richter den Vertrag zwischen dem Bankier Shylock und dem Kaufmann Antonius beurteilt. Shylock leiht dem Kaufmann Antonius, der mit seiner noch fern auf dem Meer schwimmenden lukrativen Schiffsladung einen hohen Gewinn erwartet, er einen Kredit, für die Finanzierung der Mitgift für die Heirat seiner Tochter. Antonius verpflichtet sich, dem Shylock seine Schuld zu begleichen, sobald seine die Schiffe heimkehren. Falls er die Schuld nicht zurückzahlen kann, erhält Shylock das Recht, sich ein Kilogramm Fleisch vom lebenden Shylock zu nehmen.

Und natürlich kommt es so, wie es kommen muss: Die Schiffe versinken in einem Sturm, und Antonius kann das Geld nicht zurückbezahlen. Jetzt pocht Shylock auf sein Recht. Er geht mit seinem Messer zum Richter und fordert ihn auf, dem Antonius zu befehlen, die Brust zu entblössen, damit er sich das Kilogramm Fleisch herausschneiden kann. Zu Gericht sitzt aber die als Richter verkleidete Tochter des Antonius. Sie lässt sich vom Rechtsgelehrten Belarius beraten, und dieser gibt ihr den Rat, das Urteil nach den universellen Prinzipien von Recht und Gerechtigkeit zu erlassen. So erklärt der Richter dem Shylock: “For though urgest justice, I assure though that though will get justice and that though will have justice more than though desirest” Du verlangst Gerechtigkeit, und ich garantiere dir, dass Du mehr Recht erhalten wirst, als dir lieb ist. Für Shakespeare gibt es also ein Recht, das mehr ist, als das verbürgte Recht, das Shylock lieb ist. Worin besteht denn das Recht, das mehr ist, als das vertraglich verbürgte Recht? Auf diese Frage gibt der Richter Portia die folgende Antwort: „Du hast zwar das Recht dem Antonius Fleisch aber nur das Fleisch ohne einen Tropfen Blut herauszuschneiden, denn der Vertrag kein Recht mit dem Fleisch auch das Blut zu nehmen. Man mag Belarius als spitzfindigen Juristen bezeichnen, der die Lücke des Vertrages gefunden hat. Man kann den Vertrag von Shylock aber auch im Sinne der universellen Menschenwürde auslegen. Niemand ist legitimiert, Verträge abzuschliessen, die gegen die Menschenwürde oder gegen die Grundsätze von Recht und Gerechtigkeit verstossen. Oft – und dies sicher zu Recht – können gute Juristinnen und Juristen mit manchmal spitzfindigen Argumenten positives Recht auslegen. Spitzfindigkeiten haben aber nur dann Legitimität, wenn sie sich letztlich auch auf die Grundlage der Jurisprudenz nämlich die Ethik der Menschenwürde abstützen können. Nur dann kann man sich auf ein Recht berufen, wenn das verschriebene positive Vertrags- oder Gesetzesrecht mit diesen universellen Werten übereinstimmt. 2. Antigone Es gibt also „Recht“ und Recht. In der uns aus der Literaturgeschichte wohl best bekannten Tragödie der Antigone von Sophokles erscheint dieser Widerspruch „Recht“ und Recht als unlösbares griechisches Dilemma. Die Tragödie der Antigone hat die Menschen seit dem Beginn der Geschichte d.h. seit mehr als 2000 Jahren in Bann gehalten.

Worum ging es? Antigone, die Inzest Tochter von Ödipus und dessen Mutter Iokaste will ihren getöteten Bruder und früheren König von Theben Polyneikes so geziemend bestatten, wie es ihr die Götter vorgeschrieben haben. Polyneikes, der von seinem Bruder Eteokles vom Thron von Theben gestürzt wurde, wollte sich im Kampf mit ihm rächen und den Thron zurückerobern. Beide Brüder starben in der Schlacht um Theben. Nachfolger auf dem Thron ist Kreon, der Vater von Haimon, der Antigone heiraten will. Dieser neue König Kreon verbietet Antigone, ihren Bruder nach den Gesetzen der Götter schicklich zu bestatten. Zur Strafe für dessen Untaten als früherer König von Theben sollen die Geier über die Leiche des in der Schlacht gefallenen Bruders herfallen können. Und, - meine Damen und Herren -, schon Hugo Grotius erwähnt, dass die Völker gestützt auf ihr Widerstandsrecht den rücksichtslosen Herrschern wenigstens die schickliche Bestattung verweigert konnten, weil sie zu dessen Lebzeiten keinen Widerstand leisten durften. Nun verbietet Kreon der Antigone die schickliche Bestattung ihres Bruders. Antigone gibt ihm zur Antwort, die Götter hätten ihr aufgetragen, als dessen Schwester für seine schickliche Bestattung zu sorgen. Gestützt auf das göttliche Recht verweigert sie gegenüber dem positiven Gesetz von Kreon den Gehorsam und leistet Widerstand. Zur Strafe wird sie lebendig eingebunkert. Im Kerker richtet sie sich selbst, und Kreon, der sein Urteil bereut, kommt zu spät, um sie zu befreien. Dies ist das unlösbare griechische Dilemma zweier gegensätzlicher Rechte: das Recht von Kreon und das Recht der Götter. Dieses Drama hat manche Poeten dazu veranlasst, den Konflikt zwischen der Macht und dem Recht entsprechend ihrer Zeitgeschichte neu zu schreiben. Jean Cocteau hat mit seiner Antigone bereits in den 20-er Jahren des letzten Jahrhunderts die spätere Katastrophe einer Macht, die alle Werte der Gerechtigkeit zerstört, vorausgeahnt. Zur Zeit des Nationalsozialismus hat Jean Anouilh eine Antigone in Paris aufgeführt, der man die Angst vor der Zensur noch ansieht. Berthold Brecht klagt mit der Antigone den Nationalsozialismus an. In seiner Antigone ist Kreon Nationalsozialist. 3. Die schickliche Bestattung Aber, meine Damen und Herren, wie würden wir heute diesen Konflikt von „Recht“ und Recht lösen? Nun, die alte Bundesverfassung garantiert in Artikel 63 Absatz 2 noch ausdrücklich das Recht auf eine schickliche Bestattung. Die neue BV hat diesen Satz einfach mit der Begründung weggelassen, dass diese Garantie nicht mehr notwendig sei. Dafür wer-

de der Bundesrat ein Gesetz vorschlagen, um in den Kantonen das Recht auf schickliche Bestattung zu garantieren. Ich habe natürlich auch bei unserem Programm von Lexfind, (die beiden Protagonisten diese Programms Marius Roth und Thomas Singer sind hier anwesend (www.lexfind.ch/) nachgeschaut, es gibt, was kaum überraschend ist, heute noch kein Gesetz des Bundes, das die schickliche Bestattung sicherstellt. Immerhin gewährleisten wenigstens die Genfer Konventionen im Kriegsfall ausdrücklich das Recht auf schickliche Bestattung aller Gefallenen. In seiner Botschaft zur neuen Bundesverfassung beruft sich der Bundesrat aber ausdrücklich auf ein universelles Menschenrecht, indem er sagt: „Schickliche Bestattung ist eine Frage der Menschenwürde“. In der Tat ist die schickliche Bestattung ist eine Frage der Menschenwürde, und als Recht auf Menschenwürde steht der Anspruch auf schickliche Bestattung über dem positiven Recht. An dieses überpositive Recht haben wir uns zu halten; es ist das Recht das letztlich auch über dem Souverän, selbst wenn es das Volk ist, steht. Wie also löst sich der Konflikt zwischen der Legalität und der Legitimität? Ich setze Ihnen die Pistole auf die Brust und fordere: „entweder Ihr Geld oder Ihr Leben! Der Steuerbeamte verlangt: „entweder Zwangsbetreibung oder das Geld heraus“ Worin liegt der Unterschied? Was unterscheidet den Mafiaboss vom Steuerbeamten? Nun, stellt man diese Frage den Steuerbeamten werden wir vielleicht die berühmte DreisäulenAntwort erhalten: „Da könnte jeder kommen - wo kämen wir da hin - das haben wir noch nie gemacht!

b. Legitimität des Staates 1. Max Weber Wenn wir bei Max Weber fragen, nennt er drei Arten der Legitimität: Die rationale, die geschichtliche und die charismatische Legitimität. Von der charismatischen Legitimität halten wir uns lieber fern, denn diese führt uns schnell in die Legitimität eines Hitlers und manch anderer Tyrannen unserer jüngsten Geschichte. Die geschichtliche Legitimität bringt uns im Grunde genommen auch nicht viel weiter. Vergangenes historisches Unrecht kann keinesfalls das Unrecht der Gegenwart legitimieren. Die rationale Legitimität hingegen geht davon aus, dass man Gesetze anerkennt, weil man sie als gerechtfertigt ansieht. Ich vertrete allerdings nicht die Meinung, es sei in jedem Fall gerechtfertigt, wenn mir der Steuerbeamte mein Geld wegnimmt. Aber ich nehme mindestens an, dass

die Gesetze, auf die sich der Steuerbeamte beruft, in einem rationalen und richtigen Verfahren zu Stande gekommen sind und eine verfassungsmässige Grundlage haben. Dies also ist die Idee der Gerechtigkeit, die der rationalen Legitimität im Sinne von Max Weber zugrunde liegt. Damit Steuerbeamte Legitimität haben, müssen sie sich sowohl auf die Autorität des Staates aber auch auf dessen Macht, die Gesetze durchzusetzen abstützen können. Das Gesetz auf das sich der Steuerbeamte beruft, gilt dann, wenn es sich letztlich auf den Souverän zurückführen lässt. John Austin, der grosse englische Philosoph schreibt: „Souverän ist, wer die grösste Chance auf Gehorsam von Seiten des überwiegenden Teils Bevölkerung hat“. Als Nachfolger von Austin, hat Hart daraus logisch gefolgert, dass Gesetze dann gelten, wenn sie als legitim anerkannt werden. Diejenigen, die das Gesetz anerkennen, anerkennen dessen Legitimität; sie anerkennen aber auch, dass das positive Recht in Einklang steht mit der Gerechtigkeit. Und in diesem Sinne unterscheidet sich der Steuerbeamte klar vom Mafiaboss, dessen Forderung „Geld heraus!“ keine Anerkennung auf Rechtsgeltung hat. Die Forderung des Steuerbeamten aber wird anerkannt, weil diese sich letztlich auf den Souverän abstützen kann. Und wer aber ist jetzt der Souverän? Ist souverän nur derjenige, der die grösste Macht hat? Souveränität setzt meines Erachtens neben der Macht auch das Recht voraus. Dabei stehen sich Rechtsphilosophen wiederum im Streit um die Frage, was letztlich Priorität habe: das Recht oder die Macht. Genügt allein die Macht oder brauche ich zur Macht auch das Recht? Diese Streitfrage möchte ich mit einem Vergleich aus unserer Staatslehre (Thomas Fleiner und Lidija Basta Fleiner) beantworten: Wir unterscheiden zwischen verschiedenen Arten von Glühbirnen: Es gibt Glühbirnen, die viel Elektrizität wenig Licht erzeugen und es gibt solche, die mit wenig Energie viel Licht erzeugen können. Gleiches sollte auch für die Beurteilung der Souveränität des Staates gelten es sollte aber auch Richtschnur für gute Juristinnen und Juristen sein: Wir müssen dafür sorgen, dass der Souverän seine Legitimität auf wenig Macht und viel Gerechtigkeit und Anerkennung abstützt. 2. Konfuzius In diesem Sinn möchte ich diese Abschiedsvorlesung mit einer kleinen Geschichte von Konfuzius abschliessen: Ein Schüler fragt seinen Lehrer: „Was braucht es denn, um einen Staat zu führen?“ Konfuzius antwortet:

“Es braucht Armee, es braucht Nahrung und es braucht Vertrauen.“ „Ja aber, wenn ich von diesen Dreien auf eines verzichten muss, worauf kann ich zuerst verzichten?“ darauf antwortet der Lehrer: „Auf die Armee kann ich verzichten. Nahrung, d.h. Wirtschaft und Vertrauen braucht der Staat.“ Nach wie vor neugierig, gibt sich der Schüler noch nicht zufrieden und fragt: „Ja, aber wenn ich von diesen Zweien, Vertrauen und Wirtschaft, auf eines verzichten muss, worauf kann ich dann am ehesten verzichten?“ Die Antwort lautet: “Auf die Wirtschaft. Vertrauen ist die absolute Voraussetzung für jede Staatsführung“. In der Tat kann man ohne Vertrauen kein Staatswesen führen. Vertrauen für das Recht und den vom Recht bestimmten Staat zu gewinnen, dies war seit fast 40 Jahren bis auf den heutigen Tag der Kerngehalt meiner Vorlesungen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.