Wie Bamberger Lehr-Lern-Forschung dabei hilft, Lernumgebungen in Schule, Hochschule und Betrieb zu gestalten

Talking and Walking Wie Bamberger Lehr-Lern-Forschung dabei hilft, Lernumgebungen in Schule, Hochschule und Betrieb zu gestalten von Detlef Sembill, A...
Author: Ernst Amsel
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Talking and Walking Wie Bamberger Lehr-Lern-Forschung dabei hilft, Lernumgebungen in Schule, Hochschule und Betrieb zu gestalten von Detlef Sembill, Andreas Rausch und Jürgen Seifried

Bamberger Wirtschaftspädagogen sind als Transferexperten bekannt. Sie bilden Handelslehrer aus und beschäftigen sich daher mit Wissenstransfer innerhalb von Universität, Schule und Betrieb – und mit dem Transfer von Wissen und Fertigkeiten zwischen diesen Instanzen. Bamberger Lehr-Lern-Forschung hilft dabei, Lernumgebungen in allen drei Bereichen zu gestalten.

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wirtschaft & verwaltung Der Begriff „Transfer“ birgt ein grundlegendes Missverständnis in sich, das uns sehr wohl auch aus dem – immer noch praktisch dominierenden – Paradigma des Lehrers als „Stoffvermittler“ (talking the talk) bekannt ist. Der Lehrer zwischen Schüler und Stoff ist ja genau die Barriere, welche es zu überwinden gilt. Wissen kann nicht übertragen werden, sondern muss – wie es Goethe weiland schon vom Erbe der Väter bekundete – erworben werden, um es zu besitzen (walking the walk). Dieser Anspruch ist schon innerhalb einer Institution schwierig genug und erfordert diverse Zwischenstufen wie „walking the talk“ (Operationalisierung und Verfügbarkeit von Kriterien und Kategorien) und „talking the walk“ (Handlungsempfehlungen). Der Transfer zwischen verschiedenen Institutionen (hier: Universität › Schule / Betrieb) erfordert prinzipiell genau den gleichen Prozess innerhalb des Zielbereichs! Auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Handlungsempfehlungen und Fertigkeiten können nur insofern in einem anderen Praxisfeld beschleunigend wirken, als schon im Prozess der universitären Erkenntnisgewinnung die Anwendungsbedingungen im angestrebten Zielbereich (hier Transfer: Schule / Betrieb › Universität) berücksichtigt wurden. Da dies aber

aufgrund unterschiedlicher Zielsetzungen und Rahmenbedingungen nur bedingt möglich ist, können erworbene mentale Modelle, Schemata, Skripts oder gar Routinen – quasi als exemplarisches Angebot – zwar helfen, müssen aber in Gänze geprüft werden, da sie wahrscheinlich nie 1:1 transferierbar sein werden. Bamberger Wirtschaftspädagogen erforschen diese komplexen Transferprozesse innerhalb und außerhalb der Universität im Hinblick auf deren Optimierungspotenzial. Im Folgenden werden drei aktuelle Beispiele aus allen Bereichen – kaufmännische Schule, Universität, Betrieb – gegeben.

Selbstorganisiertes Lernen (SoLe) in kaufmännischen Schulen Traditioneller fragend-entwickelnder Frontalunterricht stößt spätestens dann an seine Grenzen, wenn man komplexere Fähigkeiten wie Problemlösekompetenz fördern möchte. Das wissen auch die Lehrkräfte. Unterrichtsanalysen zeigen jedoch, dass etwa drei Viertel des Unterrichts stark lehrergesteuert ablaufen. Das Problem dabei ist, dass nur wenig gelernt bzw. das Gelernte nicht umgesetzt wird. Man spricht hier von trägem Wissen.

Prof. Dr. Sembill während eines Vortrags im Rahmen der Nacht der Forschung 2005

In mehreren Kooperationsprojekten mit beruflichen Schulen haben wir versucht, Lehrkräften mit dem „Selbstorganisierten Lernen“ eine Erfolg versprechende Alternative zur herkömmlichen Qualifizierung anzubieten. Kurz gefasst bezeichnen wir hiermit ein Lehr-Lern-Arrangement, das es dem Lernenden erlaubt, in projektorientierter Kleingruppenarbeit in eigener Verantwortung über mehrere Unterrichtsstunden hinweg komplexe, praxisnahe Problemstellungen zu bearbeiten, einschließlich der Möglichkeit, aus gemachten Fehlern zu lernen (Sembill 2004). Um die „Praxistauglichkeit“ der Konzeption zu prüfen, wurden in Kooperation mit interessierten Lehrkräften selbstorganisationsoffene Lernumgebungen gestaltet. SoLe-Klassen wurden jeweils nach dem traditionellen Muster des fragend-entwickelnden Unterrichts unterrichteten Kontrollgruppen gegenübergestellt. Es zeigte sich in mehrfachen Replikationen, dass SoLe-Klassen bezüglich der Qualifikation „Problemlösekompetenz“ sowie hinsichtlich Emotionaler Befindlichkeit und Motivation überzufällige Vorteile aufweisen. Mittels detaillierter Analysen von Lehr-LernProzessen ließen sich viele Hinweisen finden, die Erklärungsansätze für die Überlegenheit der SoLe-Klassen bieten. Diesbezüglich ist insbesondere die gewinnbringende Nutzung der eingeräumten Zeit- und Handlungsfreiräume während des Unterrichts zu nennen (Sembill 2006). Nicht zu unterschätzen beim Transfer in die Schulen sind zusätzliche Belastungen für Lehrkräfte. Selbstorganisiertes Lernen erforderte von Lehrpersonen, gewohnte Unterrichtsmuster zu überdenken und sich mit bis dato nicht geläufigen didaktischen Konzeptionen auseinander zu setzen. Dabei war es immer auch wichtig, die berechtigte Skepsis der Unterrichtspraktiker ernst zu nehmen und konstruktiv zu nutzen. Nach Auskunft unserer Kooperationslehrer hat sich diese Anstrengung

Prof. Dr. Detlef Sembill; Dipl-Hdl. Andreas Rausch; Dr. rer. pol. Jürgen Seifried Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik

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Abb. 1 (oben): Inhalte und Ablauf des E-Learning-Seminars Abb. 2 (unten): Eingabemaske zur Erfassung einer Tätigkeit im Lernund Arbeitstagebuch

jedoch gelohnt. Sie berichten übereinstimmend über eine gestiegene Berufs- und Arbeitszufriedenheit. Dies betrifft nicht nur das Unterrichten im eigentlichen Sinn, die Lehrkräfte empfinden auch die Unterrichtsvorbereitung im Team als äußerst positiv,

der Unterricht wird quasi zum kollektiven Eigentum. Der in Lehrerkollegien üblicherweise verbreiteten Ansicht, unabhängig von Kollegen und mit diesen gleichberechtigt zu sein (Autonomie-Paritäts-Muster), kann so entgegengewirkt werden.

Schließlich wurden das entspannte Lehrer-Schüler-Verhältnis und individuelle Betreuungsmöglichkeiten hervorgehoben. In Gesprächen mit den Lehrkräften zeigte sich auch, dass diese in der Lehreraus- und -weiterbildung Angebote vermissen, die sich mit der Gestaltung von komplexen, schülerzentrierten Lernumgebungen beschäftigen. Es stellt sich daher die Frage, wie entsprechende Qualifikationen bereits an der Universität erlernt werden können.

E-Learning in der Lehrerausbildung

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Ein Ziel der Bamberger Wirtschaftspädagogen ist es, den einleitend skizzierten talking x walkingProzess bereits innerhalb der ersten Phase der Lehrerausbildung zu realisieren und damit einen Grundstein

für den auch später erforderlichen Transfer empirisch abgesicherter Methoden und Ergebnisse zu legen. Für diese Zwecke wurde das Seminar „Planung und Vorbereitung selbstorganisationsoffenen Unterrichts“ konzipiert. Der Fokus liegt auf der Planung mehrwöchiger Unterrichtssequenzen und der Entwicklung authentischen Lernmaterials. Um auch Studierenden anderer Universitäten und Unterrichtspraktikern die Möglichkeit zu bieten, entsprechende Erfahrungen zu sammeln, wird das Seminar als E-Learning-Veranstaltung angeboten, die sich sowohl inhaltlich als auch methodisch am SoLe-Konzept orientiert. Die Bearbeitung der Problemstellungen erfolgt größtenteils in kollaborativer Kleingruppenarbeit mit intensiver tutorieller Betreuung (Abb. 1). Als technische Plattform dient das eigens für die Erfordernisse Selbstorganisierten Lernens konzipierte System EverLearn. Hier standen also ein Transfer innerhalb und zwischen vergleichbaren Institutionen und ein Transfer von Methoden im Mittelpunkt. Das Seminar wird seit 2004 als A-Kurs im Katalog Lehrerbildung der virtuellen Hochschule Bayerns (vhb) durchgeführt und inzwischen von den Kollegen in Mainz übernommen. Die Durchführung dort erfolgt mit eigener Betreuung. Diese „Franchising-Variante“ entpuppt sich zunehmend als zukunftsfähiges Modell. Fast 200 Studierende haben seither erfolgreich am Seminar teilgenommen. Die acht Seminardurchläufe (5 x Bamberg, 3 x Mainz) wurden von Beginn an wissenschaftlich begleitet. Die Evaluationsergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen (Wolf & Rausch 2006): (1) Die Seminarkonzeption auf Basis des SoLeKonzepts erweist sich als besonders motivationsförderlich. (2) Auch bei wechselnden Betreuerteams werden vergleichbar positive Ergebnisse erzielt. (3) Das Seminar eignet sich zur Förderung fachspezifischer Problemlösefähigkeit.

Evaluation betrieblicher Lern- und Arbeitsbedingungen Für den Wissenstransfer stellt das Lernen im Betrieb den zumindest quantitativ bedeutenderen Zielbereich der dualen Berufsausbildung dar. Nach wie vor gibt es aber nur wenige Studien, die Aufschluss darüber geben, wie Auszubildende den Lernort Betrieb wahrnehmen und welche Bedingungen motivations- und lernförderlich sind. Um diesbezüglich einen näheren Einblick zu gewinnen, haben wir 51 Auszubildende der Deutschen Telekom AG befragt. Die angehenden Einzelhandelskaufleute waren u. a. aufgefordert, täglich fünf bis acht repräsentative Tätigkeiten zu erfassen und diese jeweils anhand zehn vorgegebener Eigenschaften (1 = geringe Ausprägung, 6 = hohe Ausprägung) zu bewerten. Abb. 2 zeigt einen Ausschnitt aus der Online-Version des Lern- und Arbeitstagebuchs. Die erfassten 564 Tätigkeiten lassen sich zu vier Kategorien zusammenfassen: (1) Eigenständiger Kundenkontakt, (2) alltägliche Routinearbeiten, (3) gezielte Lerntätigkeiten und Schulungen sowie (4) das Zu-

schauen bei oder Unterstützen von erfahrenen Kollegeninnen und Kollegen. Abb. 3 gibt einen Überblick über die Eigenschaftsprofile der vier Tätigkeitskategorien aus Sicht der Auszubildenden. Über alle Kategorien hinweg nehmen die Auszubildenden die ihnen übertragenen Tätigkeiten als recht interessant wahr und berichten selten über Langeweile (Zeitempfinden). Sie empfinden Aufgaben im Durchschnitt weder als besonders schwierig noch berichten sie über große Nervosität. Sowohl Kategorie 1 „eigenständiger Kundenkontakt“ als auch Kategorie 2 „Routinearbeiten“ werden überwiegend als bekannt eingeschätzt, gehen mit geringer Zusammenarbeit und Hilfe anderer einher und bieten nur geringe Leistungsrückmeldungen. Dennoch eröffnen diese Tätigkeiten, die gemeinsam etwa 75 Prozent der Arbeitszeit ausmachen, aus Sicht der Auszubildenden durchaus noch Lernmöglichkeiten. Eine schrittweise Regression über alle Tätigkeiten dieser beiden Kategorien (n = 439) mit dem Item „Lernmöglichkeit“ als abhängige Variable weist die Variab-

Abb. 3: Eigenschaftsprofile der Tätigkeitskategorien (Mittelwerte)

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len Interessantheit, Leistungsrückmeldung, Neuartigkeit und Hilfe anderer Personen als aussagekräftigste Prädiktoren aus (korr. R2 = .45). Im Hinblick auf die Ausprägungen dieser Variablen ist für den vorliegenden Fall zu vermuten, dass insbesondere vermehrte Rückmeldung und Unterstützung durch Kolleginnen und Kollegen förderlich für das Lernen am Arbeitsplatz wären, während die Interessantheit der Tätigkeiten bereits als relativ hoch eingeschätzt wird und deren Neuartigkeit sicher

Abb. 4: Mentale Umsetzungsbarrieren

Weitere Informationen Sembill, D. (2004): Abschlussbericht zu „Prozessanalysen Selbstorganisierten Lernens“ im Rahmen des DFGSchwerpunktprogramms „Lehr-Lern-Prozesse in der kaufmännischen Erstausbildung“. Bamberg. Sembill, D. (2006). Zeitlebens Lebenszeit. In: Minnameier, G. & Wuttke, E. (Hrsg.): Berufs- und wirtschaftspädagogische Grundlagenforschung – Lehr-Lern-Prozesse und Kompetenzdiagnostik. Festschrift für Klaus Beck. Frankfurt a. M. et al.: Lang, 177-194. Wolf, K. D. & Rausch, A. (2006): Lernmotivation und Problemlösefähigkeit als Erfolgskriterien für virtuelle Seminare in der Lehrerbildung. In: J. Seifried & J. Abel (Hrsg.): Empirische Lehrerbildungsforschung – Stand und Perspektiven. Münster: Waxmann, 83-106.

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nicht beliebig variierbar ist. Die Datenanalyse ist derzeit in Arbeit und weitere Studien zum Lernort Betrieb befinden sich im Feld. Ziel ist es, auf Grundlage empirischer Befunde Konzepte zur Gestaltung lernförderlicher Ausbildungs- und Arbeitsumgebungen zu entwickeln.

Walking the walk Beim Transfer neuer Lehr-LernKonzeptionen müssen (Hoch-)Schullehrer, Schüler und Studierende, Ausbildungspersonal, Auszubildende,

(Hoch-)Schul- und Unternehmensleitung konkret in Entwicklungsprozesse einbezogen werden. Aus Betroffenen sind Beteiligte zu machen und mentale Umsetzungsbarrieren zu berücksichtigen. Hier sollte man gute Argumente zur Hand haben, um den in Abb. 4 aufgeführten „Klassikern“ wirkungsvoll begegnen zu können. In unserem Fall hat es sich bewährt, dass wir Effekte nicht nur behaupten, sondern mit entsprechenden Forschungsbefunden untermauern können.

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