Friedhelm Grützner

Wider die „Freiheit der Wölfe“! Beiträge zur aktuellen >Reformpolitik< aus der Sicht von „Friedhelms Kolumne“ Bremen 2007

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Wider die „Freiheit der Wölfe“! Inhalt: Einleitung: Wider die „Freiheit der Wölfe“! .................................................4 Abtreibung oder ALG II - Bezug? – Die Verfolgungsbetreuung des Hartz-IV-Ministers Clement .................................................................7 Bremer BAGIS verhöhnt Arbeitslose! ........................................................8 Die Hartz-IV-Republik als vormodernes Absurdistan ..............................10 Die Politik und die „Unterschichten“ – Anmerkungen zu einer gespenstischen Debatte ..........................................................................12 Europäische Zentralbank (EZB) plädiert für Massenarbeitslosigkeit.............................................................................15 Der "Reformprozess" geht weiter: CDU-Justizminister fordert Fußfesseln für Langzeitarbeitslose ..........................................................17 „Girokonto für jedermann“ – Beobachtungen bei einer Bundestagsdebatte ..................................................................................19 Hartz IV wird teurer! Müssen nun die Besserverdienenden um ihre Steuernachlässe fürchten? ...............................................................22 FDP-Politiker sorgt sich um den Genpool des deutschen Volkes! Gibt es bald das Mutterkreuz für Akademikerinnen? ..................23 Sozialhilfeempfänger erhalten keine Pelzmäntel und Sportboote mehr! .....................................................................................25 Der FDP-Abgeordnete Dirk Niebel und die ungehorsamen Dienstboten ..............................................................................................26 Wie Diebe in der Nacht ............................................................................28 Wolfgang Clement ist ein unanständiger Mensch! ..................................31 Das Oberlandesgericht Stuttgart sanktioniert soziale Apartheid .............33 Der Durchmarsch der Hartz-IV-Parteien..................................................35 Impressum ...............................................................................................41

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Einleitung: Wider die „Freiheit der Wölfe“! Der Titel der vorliegenden Textsammlung bezieht sich auf ein Zitat des englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588 – 1679), wonach sich die Menschen in der grenzenlosen Freiheit des rechtlich unregulierten „Naturzustandes“ wie „Wölfe“ zueinander verhalten würden (homo homini lupus – „der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“), um aus purem Selbsterhaltungstrieb in einem „Krieg aller gegen alle“ (bellum omnium contra omnes) ihr stets gefährdetes Dasein Friedhelm Grützner gegen andere Mitmenschen zu verteidigen. Die „Freiheit des Naturzustandes“ ist absolute Freiheit. Damit hebt sie sich jedoch selbst auf. Denn die absolute Freiheit der „Starken“ führt geradezu gesetzmäßig zur absoluten Unfreiheit der „Schwachen“, wobei der „Starke“ selbst ständig auf der Hut vor „noch Stärkeren“ zu sein hat, welche ihm seine absolute Freiheit nehmen können. Kurz gesagt: das Leben in der „Freiheit des Naturzustandes“ ist „einsam, armselig, scheußlich, tierisch und kurz“. Im Anschluss (und in kritischer Abgrenzung) zu Thomas Hobbes – welcher nicht nur der Urvater des politischen Liberalismus, sondern auch der theoretische Begründer des absoluten Staates ist – formulierten die Aufklärer Immanuel Kant (1724 – 1804) und Jean Jacques Rousseau (1712 – 1778) das moralische Gebot, „die wilde gesetzlose Freiheit“ des Naturzustandes hinter sich zu lassen, um in Form eines Gesellschaftsvertrages „die Freiheit eines jeden mit der Freiheit aller nach einem allgemeinen Gesetz“ (Kant) kompatibel zu gestalten. Diese von Hobbes bis Kant herausgearbeitete Dialektik der Freiheit wird in dem von Oskar Lafontaine häufig zitierten Satz von Rousseau prägnant zusammengefasst: „Zwischen dem Starken und dem Schwachen befreit das Gesetz, während die Freiheit unterdrückt.“ Die Einsicht in die Dialektik der Freiheit gehört zu den Grundeinsichten des philosophischen Liberalismus, welcher allerdings stets Schwierigkeiten hatte, sich parteipolitisch durchzusetzen. Hier „blamierten“ sich häufig genug „die Ideen vor den Interessen“ (Marx). Dabei ist der Gedanke nahe liegend, die Kritik an der „Freiheit des Naturzustandes“ auf die sozioökonomischen Verhältnisse auszudehnen und sozialrechtliche Regulierungen in den Gesellschaftsvertrag aufzunehmen. Denn der schrankenlose Gebrauch sozioökonomischer Macht

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verteilt die Freiheit höchst ungleich und schließt weite Bevölkerungskreise von ihr de facto aus. Stattdessen werden letztere „Marktzwängen“ ausgeliefert. Aber „Zwänge“ gleich welcher Art (also auch „Marktzwänge“!) stehen per definitionem in einem logischen Widerspruch zum Begriff der „Freiheit“, womit wir wieder bei der oben benannten Dialektik angekommen sind. Diese Überlegungen sind dem Neoliberalismus fremd. Als Vulgärvariante des historisch überwunden geglaubten Manchester-Kapitalismus der Frühindustrialisierung verklärt er die von Hobbes als Schreckensvision geschilderte „Freiheit der Wölfe“ zum Idealzustand, welcher durch das „Marktgleichgewicht“ vermittelt eine prästabile gesellschaftliche Harmonie hervorbringen würde. Sozial flankierend und in krassem logischem Widerspruch zum Vorstehenden greifen die neoliberalen Ideologen dabei auf vormoderne und längst entschwundene Integrationsmechanismen zurück (Familie, Gemeinschaft, mildtätige Karitas usw.), was dieser Glaubenslehre einen besonders bizarren Charakter verleiht. Die hier vorliegenden Kolumnen setzen sich mit der vom Neoliberalismus propagierten „Freiheit der Wölfe“ auseinander. Es handelt sich um eine Auswahl jener Beiträge, die ich unter „Friedhelms Kolumnen“ in unregelmäßigen Abständen auf der Website der WASG platziert habe. Mit kleinen Änderungen habe ich sie als unmittelbare Reaktionen auf aktuelle Ereignisse so belassen, wie sie sind. Im Zentrum stehen dabei die Hartz-IV-Gesetzgebung und die Politik der „geschröderten“ Sozialdemokratie. Sie spiegeln zwei Hauptmotive wider, welche zur Bildung der WASG führten. In der Hartz-IV-Gesetzgebung finden die beiden widersprüchlichen Elemente von Marktgläubigkeit und angestrebter vormoderner Sozialintegration zueinander. Einerseits setzt diese auf das nur noch theologisch zu interpretierende neoklassische Dogma von den „markträumenden Preisen“, wonach der Preis der Ware Arbeitkraft nur soweit absinken muss, bis er sich im „Marktgleichgewicht“ befindet, um Vollbeschäftigung zu sichern, andererseits schafft sie mit Kreationen wie der „Bedarfsgemeinschaft“ zwangskommunitaristische Kollektivformationen personalisierter „mechanischer Solidarität“ (Emil Durkheim), welche der individualisierten Moderne fremd sind. Mit der partiellen Abschaffung der freien Lohnarbeit durch die 1-Euro-Jobs führte die Hartz-IV-Gesetzgebung die feudale Fronarbeit wieder ein. Neben Ungeheuerlichkeiten, die dem Verfasser die Sprache verschlugen (S. 7 – 8, 8 – 10, 17 – 19, 31 – 33) gab es dabei auch Skurrilitäten zu kommentieren, wo die Realität jede Satire schlägt (S. 10 – 12, 25 – 26). Daneben – und sich mit der Hartz-IV-Thematik häufig überschneidend – wurden von mir einige Bundestagsdebatten anhand des amtlichen stenographischen Berichts glossiert (S. 19 – 22, 26 – 28, 28 – 31, 35 – 40). Dabei fiel auf, dass gerade die arbeitsmarktpolitischen Debatten auf dem intellektuellen Niveau eines dümmlichen und vorurteilsbeladenen Stammtischge-

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schwätzes verharrten. Für mich als Historiker, der ich mit großem Genuss die früheren Reichstagsdebatten mit August Bebel, Eugen Richter, Otto von Bismarck und Ludwig Windthorst gelesen habe, war die Lektüre der dürftigen Reden ihrer Nachfolger an dieser historischen Stätte doch recht deprimierend. Da könnte man ja fast mit Konrad Adenauer ausrufen: „Was soll bloß aus Deutschland werden?“ Einen weiteren Schwerpunkt bildet die „geschröderte“ SPD, wobei anzumerken ist, dass wir es bei dem ehemaligen sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhart Schröder mit dem kapitalfreundlichsten deutschen Regierungschef seit Franz von Papen (Reichskanzler 01.06. –03.12.1932) zu tun hatten. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass im Vollzug dieser Politik die Performance der Sozialdemokratischen Partei durchaus schändliche Züge trug. Am Anfang stand der Wahlbetrug von 2002 (aber seit Franz Müntefering wissen wir ja, dass es unfair ist, die Parteien an ihren Wahlversprechen zu messen). Danach kamen populistische Hetzfeldzüge gegen die angeblich „faulen“ Langzeitarbeitslosen, um die „Arbeitsmarktreformen“ dem „gesunden Volksempfinden“ schmackhaft zu machen. Den absoluten Tiefpunkt bildete in diesem Zusammenhang die Schlüssellochperspektive des berüchtigten Clement-Reports, womit sich der gewesene Arbeits- und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement am Ende seiner Amtszeit als unanständiger Mensch dekuvrierte (s. hierzu den Beitrag „Wolfgang Clement ist ein unanständiger Mensch!“ S. 31 – 33). Den Schlusspunkt lieferte schließlich die angeblich „linke“ SPD-Bundestagsabgeordnete Andrea Nahles mit ihrer abenteuerlichen Behauptung, die Rechtsverschlechterung der Beweislastumkehr bei der Feststellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften im Rahmen der Verschärfung von Hartz IV sei in Wirklichkeit eine Verbesserung für die Betroffenen (s. hierzu „Der Durchmarsch der Hartz-IV-Parteien“ S. 35 – 40). Die restlichen Beiträge beschäftigen sich mit sozial-, wirtschafts- und finanzpolitischen Aktualitäten, wo ich auf politische Auslassungen der politischen Klasse eingehe, in denen sich – wie so oft - empörende und skurrile Inhalte miteinander vermischen. Aber lieber Leser, lies selbst!

Links: WASG Bremen : http://www.wasg-hb.de/ Die Linke Bremen : http://www.hier-ist-die-linke.de/ Kolumnen : http://www.wasg-hb.de/friedhelms-kolumne.htm

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Abtreibung oder ALG II - Bezug? – Die Verfolgungsbetreuung des Hartz-IV-Ministers Clement Am 03.06.05 wandte sich in einem Rundbrief ein besorgter Minister Clement (SPD) an die ihm unterstellten Arbeitsgemeinschaften für Langzeitarbeitslose (ARGE’s) und klagte bitterlich darüber, dass „die Zahl der Bezieher von Arbeitslosengeld II …deutlich über den Erwartungen des Gesetzgebungsverfahrens“ liege. Diese für ihn unerfreuliche Tatsache führte der Sozialdemokrat – wie kann es auch anders sein - auf „Leistungsmissbrauch und ungerechtfertigten Leistungsbezug“ zurück. Dem müsse „entschieden entgegengetreten werden.“ Denn schließlich braucht Rot-Grün die hier zu viel verausgabten Gelder für weitere Steuersenkungen bei den Großverdienern. Die ARGE in Dresden reagierte prompt. Sie strich einer Langzeitarbeitslosen das ALG II, da letztere von ihrem Mitbewohner ein Kind erwartet und somit in einer eheähnlichen Gemeinschaft mit einem noch in Arbeit befindlichen Mann leben würde. Als die betroffene Frau am 14.06.05 vor dem Sozialgericht angab, dass dem so nicht sei und es sich bei der Schwangerschaft lediglich um einen „Unfall“ handele, antwortete die ARGE: „Dann hätte man sich überlegen müssen, ob man das Kind bekommt“. Im Klartext bedeutete dies: Wenn die schwangere Frau einen Anspruch auf ALG II haben will, dann soll sie erst einmal abtreiben! Damit folgte die ARGE der obigen Anweisung ihres obersten Dienstherrn Wolfgang Clement (SPD). Das Sozialgericht Dresden brachte es in seinem Urteil auf den Punkt (S 23 AS 332/05 ER): Die ARGE würde von der schwangeren Arbeitlosen verlangen, „einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu müssen, um sich des unterstellten Eindrucks der SGB II-Leistungsträger erfolgreich zur Wehr zu setzen, es bestehe eine eheähnliche Gemeinschaft.“ Weiter führt das Gericht aus: „Dies pervertiert nicht nur das Recht auf Schutz des ungeborenen Lebens, sondern steht weder mit dem staatlichen, grundrechtlich verbürgten Schutz- und Fürsorgeauftrag aus Art. 6 GG noch mit der unantastbaren Menschenwürde im Einklang.“ Mit diesen Sätzen hat das Sozialgericht Dresden sein Urteil über die Arbeitsmarktpolitik des Sozialdemokraten Wolfgang Clement und der rot-grünen Hartz-IV-Koalition gesprochen! Auch für Arbeitslose gilt der Verfassungsgrundsatz der „unantastbaren Menschenwürde“. Die Wählerinnen und Wähler

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sind diesem Urteil am 18. September 2005 gefolgt, indem sie weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb eine Mehrheit verschafften und der LINKEN mit 8,7 % zum Einzug in den Bundestag verhalfen.

Bremer BAGIS verhöhnt Arbeitslose! Es gibt ein altes deutsches Sprichwort, wonach jemand, „der den Schaden hat, für den Spott nicht mehr zu sorgen braucht“. Daran erinnerte sich wohl die Bremer Hartz-IV-Behörde BAGIS, als sie sich daran machte, das Zwangsumsiedlungsprogramm für Langzeitarbeitslose in die Praxis umzusetzen. Wir alle wissen, dass die BAGIS chronisch unterbeschäftigt ist. Arbeitsplätze, die zu vermitteln wären, gibt es nicht. Also beschränkt sie sich bisher auf die Zuweisung von 1-Euro-Jobs. Die ihr zur Verfügung gestellten Mittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik ließ sie dagegen im letzten Haushaltsjahr zum großen Teil verfallen. Wahrscheinlich war für sie die sinnvolle Verwendung dieser Gelder mit zuviel Arbeit verbunden. Nun hat die BAGIS ein neues Betätigungsfeld gefunden: Im Auftrag der Sozialdeputation ist sie für die soziale Entmischung der Stadtteile zuständig. Frei nach Noske („Irgendjemand muss ja die Drecksarbeit machen“) ist sie damit beschäftigt, unter Zugrundlegung viel zu niedrig berechneter Mietobersätze (245 Euro kalt für eine Einzelperson) und ohne Vorlage eines amtlichen Mietspiegels die Langzeitarbeitslosen aus ihren Wohnungen zu vertreiben. Schließlich braucht jede moderne Großstadt ihr Armenghetto – und Bremen will auch hier mithalten und so seinen „Reformeifer“ bundesweit beweisen. Ist es Dummheit, Zynismus oder Ignoranz? Oder will die BAGIS nur demonstrieren, dass sie ein „Herz“ für ihre Klienten hat, und ihnen jederzeit mit Rat und Tat zur Seite steht. Geradezu fürsorglich schreibt sie in ihrer Vertreibungsmitteilung: Bitte bemühen Sie sich bis zum XX.XX.XX um die Senkung der Unterkunftskosten für Ihre jetzige Wohnung auf eine Höhe von maximal 245 Euro. Sie haben dafür insbesondere folgende Möglichkeiten: - Untervermietung eines Teils der Wohnung. (Die BAGIS geht also davon aus, dass Wohnungen mit einem Mietpreis über 245 Euro über riesige Zimmerfluchten verfügen, wo spielend Untermieter unterzubringen sind. Aber Vorsicht: Vielleicht handelt es sich hier um einen ganz üblen Trick! Denn der eventuelle Untermieter läuft Gefahr, von der geplanten Arbeitslosen-Stasi des Herrn Müntefering als Mitglied einer Be-

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darfsgemeinschaft vereinnahmt zu werden, damit auf diesem Wege die Hartz-IV-Kosten noch weiter gesenkt werden können. Aber man kann natürlich auch argumentieren, dass nach dem Zweiten Weltkrieg schon einmal mehrere Parteien auf engstem Raum sich eine Wohnung teilten. Und warum sollen die Arbeitslosen von heute besser gestellt sein als die Ausgebombten von 1948?) - Verhandlungen mit Ihrem Vermieter über eine Senkung der Miete auf maximal 245 Euro. (Dieser Vorschlag ist wirklich kindlich! Als „widerlegbare Vermutung“ gehe ich davon aus, dass an dieser Stelle schlichte Dummheit dem Verfasser die Feder führte. Als naiver Mensch hält er offensichtlich die Wohnungsbaugesellschaften für mildtätige Einrichtungen! Es heißt ja manchmal „So blöd kann niemand sein“ – aber hier wird es zum Ereignis! Der durch PISA deutlich gewordene Bildungsnotstand macht sich wohl inzwischen auch in der BAGIS bemerkbar.) - Eigenverantwortliche Zahlung des die Angemessenheitsgrenze übersteigenden Teils der Miete aus eigenen Mitteln. (Da scheint jemand nicht zu wissen, was es bedeutet, von 345 Euro im Monat zu leben. Der Verfasser meint wohl, dass „Eigenverantwortlichkeit“ als Modebegriff irgendwo in seinem Text schon auftauchen muss. „Eigenverantwortlich“ können die Leute ja auch verhungern und damit eindrucksvoll das Mantra von Angela Merkel („mehr Freiheit wagen“) seiner eigentlichen Bedeutung zuführen. Es wäre allerdings möglich, dass sich in der BAGIS ein Partisan der WASG herumtreibt, der an dieser sinnigen Textstelle den Terminus „Eigenverantwortlichkeit“ besonders raffiniert ad absurdum führen wollte.) - Aufnahme einer Arbeit oder Beschäftigung, die Sie von unseren Leistungen unabhängig macht. (Ja, ja – wir wissen alle: In Bremen gibt es soviel offene Stellen, dass die BAGIS mit der Vermittlung gar nicht mehr nachkommt! Der Annoncenteil der Zeitungen quillt vor Stellenangeboten über. Händeringend werden auf einem leergefegten Arbeitsmarkt die dringend benötigten Kräfte gesucht. Da wir nahezu Vollbeschäftigung haben, so wird es den wenigen Arbeitslosen spielend gelingen, binnen kurzem eine Beschäftigung zu finden, die sie von den Fürsorgeleistungen der BAGIS „unabhängig“ macht. Aber Spaß beiseite: Einiges spricht dafür, dass dieser Satz von einem Ignoranten verfasst wurde, der weder Fernsehen sieht noch Zeitung liest. Wahrscheinlicher ist es jedoch – als „widerlegbare Vermutung“ -, dass wir es hier mit einem Zyniker zu tun haben). Zum Schluss sei die BAGIS herzlich gebeten, dass sie zukünftig bei ihrem trostlosen Geschäft die zu vertreibenden Menschen mit obigen Vorschlägen verschont. Deren Leben ist erbärmlich genug. Da sollte man sie nicht auch noch mit „Hinweisen“ behelligen, welche die Intelligenz eines durchschnittlich aus-

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gestatteten Mitteleuropäers beleidigen. Wenn die BAGIS-Verantwortlichen schon über die Arbeitslosen höhnen und spotten wollen, dann mögen sie sich dabei auf ihre Amtsstuben beschränken. Die unleserliche Unterschrift unter dem Schreiben lässt da ein wenig hoffen. Ich vermute, da hat sich jemand geschämt, mit seinem Namen für alle kenntlich zu zeichnen

Die Hartz-IV-Republik als vormodernes Absurdistan In früheren Zeiten war es so üblich, dass während der Sommerpause irgendwelche parlamentarischen Hinterbänkler, von denen außerhalb ihres Wahlkreises bisher niemand Notiz genommen hatte, mit skurrilen Vorschlägen („Mallorca muss deutsches Bundesland werden“) auf sich aufmerksam machten und damit ihre Mitwelt erheiterten. Heute sind es politische Schwergewichte – der Generalsekretär der CSU und ein leibhaftiger Bundesminister -, die außerhalb des „Sommerlochs“ mit zwar absonderlichen, aber gar nicht mehr komischen Vorstellungen den Blätterwald füllen. Beim Umgang mit den Langzeitarbeitslosen beobachten wir schon seit geraumer Zeit, dass sich hier der Denkhorizont der zuständigen Politiker immer mehr in Richtung vormoderner und vorkapitalistischer Zeiten verlagert. Mit den 1Euro-Jobs wurde das Prinzip der freien Lohnarbeit verlassen, und es wurden unverkennbar Elemente des unfreien Hörigenwesens aus den Zeiten des Ancien Regime übernommen. Die Genehmigungspflicht für den Auszug von langzeitarbeitslosen volljährigen Menschen unter 25 Jahre aus ihren „Bedarfsgemeinschaften“ geht von der Existenz vormoderner Großfamilien und vormoderner personalisierter Solidaritätsformen aus, wo der individuelle „Kürwillen“ des Einzelnen dem kollektiven „Wesenswillen“ der (Groß)Familie zwangskommunitaristisch untergeordnet wird (ich bediene mich hier der Terminologie von Ferdinand Tönnies in seinem Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“). Bei soviel Anleihen an feudalistische Zustände ist es nicht verwunderlich, wenn mit Markus Söder der Generalsekretär einer konservativen Partei auch gleich die Freizügigkeit der Langzeitarbeitslosen zur Disposition stellt und für sie so eine Art „Schollenpflichtigkeit“ fordert. Denn auf „Schollenpflichtigkeit“ läuft sein Vorschlag hinaus, den Langzeitarbeitslosen den „Urlaub“ zu streichen. »Es gibt für die Hartz IV-Empfänger einen Urlaubsanspruch. Das geht nicht«. Es müsse klar sein – so Söder -, »dass

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sich jemand nicht ausruhen kann in Hartz IV«. Woher der CSU-Generalsekretär weiß, dass sich Leute „in Hartz IV ausruhen“ (und was er darunter versteht), sagt er uns nicht. Als billiger Populist betreibt er hier mit unbewiesenen Behauptungen nichts weiter als Volksverhetzung. Und dass Langzeitarbeitslose mit ihren 345 Euro monatlich „Urlaub unter Palmen“ machen, kann nur jemand sagen, der sich mit seinem „dicken“ Gehalt vollständig von der Lebenswirklichkeit des unteren Drittels der Gesellschaft entfernt hat. Unter den gegebenen Verhältnissen bedeutet „Urlaub“ für Langzeitarbeitslose lediglich, dass diese – zeitlich limitiert! - hin und wieder ihre Freunde und Verwandten in einer anderen Stadt besuchen können. Diese Möglichkeit möchte Herr Söder ihnen verwehren. So wie der gutsuntertänige Bauer des Ancien Regime sein Dorf nicht verlassen durfte, so sollen die Langzeitarbeitlosen als Bürger minderen Rechts sich nur noch innerhalb der Grenzen ihrer Gemeinde aufhalten, um jederzeit für irgendwelche „Fronarbeiten“ auf Basis der 1-Euro-Jobs zur Verfügung zu stehen. Geradezu abenteuerlich ist der Vorschlag von Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee, Hartz-IV-Empfänger als Anti-Terror-Patrouillen in öffentlichen Verkehrsmitteln zu verwenden. Hier ist der Berliner Zeitung zuzustimmen, die in einem Hohn triefenden Kommentar feststellt: „Deutschen Politikern wird zuweilen vorgeworfen, sie seien nicht kreativ genug. Wenn es aber um die Frage geht, was Langzeitarbeitslose alles machen könnten, ist ihr Einfallsreichtum ungebrochen. Koma-Patienten Geschichten vorlesen, im Altersheim Theater spielen, in Problemschulen die Pausenhöfe überwachen, das sind so die Vorschläge. Langzeitarbeitslose sind mit der Zeit zu einer Art Geheimwaffe geworden. Wenn es irgendwo schwierig wird, werden sie gerufen. Deshalb ist es nur logisch, dass sie jetzt auch Terroristen und Kofferbomben aufspüren. Hartz-IVEmpfänger als Volkssturm gegen El Kaida, da können sogar die Amerikaner noch was von uns lernen.“ Über den möglichen Einsatz eines Hartz-IV-Volkssturmes im Kampf gegen Kofferbomber in Ostdeutschland führt der Kommentar weiter aus: „Vor allem in den neuen Bundesländern gibt es jede Menge arbeitslose, kräftige, junge Männer, die eine gewisse Erfahrung darin haben, friedliche, deutsche Fahrgäste von gefährlichen Ausländern zu unterscheiden. Man muss ihnen nur mal eine Chance geben.“ Diese Phantasie kann man natürlich auch dahingehend erweitern, dass der Hartz-IV-Sheriff den gerade seinen Fahrschein lösenden Fallmanager aus seinem Jobcenter, welcher ihn ständig schikaniert, - natürlich irrtümlicherweise – mit einem Terroristen verwechseln könnte und entsprechende Zwangsmaßnahmen ergreift. Herr Tiefensee hat inzwischen erkannt, welche Imponderabilien sein Vorschlag enthält. So schob er nach, dass die Hartz-IV-Sheriffs selbstverständlich „unbewaffnet“ sein sollten. Na ja, das wäre

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aber auch ein „Ding“, das marginalisierte Subproletariat auch noch zu bewaffnen! Aber jenseits des von mir bevorzugten Sarkasmus: Es ist unverantwortlich, nicht ausgebildete und eventuell von der körperlichen Konstitution her völlig ungeeignete Kräfte den Risiken für Leib und Leben auszusetzen, die solche Ordnungsaufgaben im öffentlichen Raum naturgemäß mit sich bringen. Die bei den Betroffenen vorauszusetzende Unkenntnis des Gesetzes über den unmittelbaren Zwang würde darüber hinaus die Hartz-IV-Sheriffs der ständigen Gefahr der Strafverfolgung wegen Körperverletzung, Freiheitsberaubung usw. aussetzen, wenn sie ihre Aufgaben wirklich ernst nehmen sollten. Und dann sei, an die Adresse des Herrn Bundesverkehrsministers gerichtet, gesagt: Wenn er tatsächlich ein Bedürfnis nach vermehrten Ordnungskräften in öffentlichen Verkehrsmitteln verspürt, dann möge er sich doch bitte regulär auf dem Arbeitsmarkt bedienen und entsprechende sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze anbieten. Denn dies ist der Normalfall! Langzeitarbeitslose sind nicht die „Reservearmee“ für einen ausgebluteten Öffentlichen Dienst, und sie haben nicht für alles und jedes in Form feudaler Fronarbeit zur Verfügung zu stehen. Die Vorschläge von Söder und Tiefensee zeigen eindrucksvoll, wie verkommen derzeit die politische Klasse ist und in welcher – im wahrsten Sinne des Wortes und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass wir in einer liberalkapitalistischen Wirtschaft- und Gesellschaftsordnung leben – reaktionären Gedankenwelt sie lebt. Sie schwatzt von „Modernisierung“ und bietet doch nur Vorstellungsgehalte an, die einer versunkenen Welt angehören und mit Freiheit und Demokratie nun wirklich nichts mehr zu tun haben.

Die Politik und die „Unterschichten“ – Anmerkungen zu einer gespenstischen Debatte In gewissen Grenzen ist es normal und nicht weiter erwähnenswert, dass Politiker zur Durchsetzung ihrer Ziele ganz bestimmte Sprachspiele verwenden, um die Wirklichkeit in ihrem Sinne zu interpretieren (oder zu vernebeln) und dabei gleichzeitig Anhänger für die eigene Sache zu gewinnen. Problematisch wird dieser Zustand jedoch, wenn der Pluralismus miteinander konkurrierender Sprachspiele verschwindet und an seine Stelle ein Hegemonialdiskurs tritt, der souverän sämtliche intellektuelle Standards missachtend die soziale Wirklich-

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keit beseitigt und stattdessen Sprachkosmetik mit wohlklingenden, aber völlig sinnentleerten Plastikwörtern betreibt („Zivilgesellschaft“, „Bürgergesellschaft“, „vorsorgender Sozialstaat“ usw. usw.). Es macht zunächst sprachlos, wie in der derzeit laufenden Debatte über die „Unterschichten“ die Phrasendreschmaschinen der offiziellen Politik in einer Mischung aus Ignoranz, Heuchelei und Zynismus auf eine Studie der FriedrichEbert-Stiftung zum „abgehängten Prekariat“ reagieren. Dieses Urteil gilt es zu begründen. Ignoranz: In den letzten Jahrzehnten fand ein wohlorganisierter medialer Feldzug gegen das Prinzip der Gleichheit statt. Da war von der notwendigen „Lohnspreizung“ die Rede, was selbstverständlich eine ungleichere Einkommensverteilung und damit eine Verminderung der Lebens- und Sozialchancen am Ende der sozialen Skala intendierte. Währenddessen erhöhte und verfestigte sich die Arbeitslosenzahl ständig und gleichzeitig stiegen die prekären Arbeitsverhältnisse steil an (Scheinselbständigkeit, Niedriglohnsektor, Mini- und Midi-Jobs, 1-Euro-„Arbeitsgelegenheiten“ usw. usw.). Unter der von den Nazis entlehnten Parole „Sozial ist, was Arbeit schafft“ werden heute durch die HartzIV-Gesetzgebung viele Menschen gezwungen, auch noch den schlechtestbezahlten und ungesichertesten Drecksjob anzunehmen, den die „Wirtschaft“ ihnen anzubieten geruht. Dass all dies natürlich Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Stratifikationsverhältnisse hat (egal, ob man nun von „Klasse“ oder „Schicht“ spricht), ist für jeden, der intellektuell noch „alle beisammen“ hat, einfach evident (dazu bedarf es wahrlich keines sozialwissenschaftlichen Studiums!). Wenn hier von „allen“ die Rede ist, so macht allerdings unser Arbeitsminister Franz Müntefering eine Ausnahme. Als Schröders Kompagnon im Betrugsunternehmen „SPD“ und Mitbankrotteur der AGENDA 2010 folgt er nämlich der Maxime „Dass nicht sein kann, was nicht sein darf“. Kraft seiner Amtsautorität als Bundesminister verkündete er einfach: „Es gibt keine Schichten in Deutschland.“ Und siehe da: weil Franz Müntefering es so will, haben wir keine Armut und auch keine zukünftigen Hartz-IV-Wohnghettos, wie sie beispielsweise der hiesige Senat durch seine Politik der Zwangsumzüge gerade einzurichten gedenkt. Während Franz Müntefering in sozialdemokratischer Einfalt die Wirklichkeit nur wegdekretierte, hatte sein Kabinettskollege, der ansonsten nicht weiter auffällige Wirtschaftsminister Michael Glos, etwas mehr zu bieten. Als Konservativer griff er gleich in die völkische Schmutzkiste und bezeichnet den soziologischen Begriff der „Unterschichten“ als „undeutsch“. Demnächst wird er wohl noch hinzufügen, dieser sei nicht nur „undeutsch“, sondern auch „artfremd“.

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Denn bei deutschen Konservativen ist stets mit weiteren sprachlichen Entgleisungen zu rechnen, wenn sie neben der Wirklichkeitsretusche auch noch ihren Antiintellektualismus ausleben. Heuchelei: In trauter Eintracht sorgen sich Franz Müntefering und der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, um den „guten Ruf“ jener Menschen, die der „Unterschicht“ zugeordnet werden (wahrscheinlich meinen sie damit die früher als „ehrbare Arme“ bezeichneten Personen): „Die dürfen nicht abqualifiziert werden“ (Müntefering) – „Dieser Ausdruck stigmatisiert und sorgt dafür, dass man diese Leute nicht mehr erreicht“ (Kauder). Beide Politiker verschweigen dabei, dass es ihr parlamentarischer Tross von Brandner bis Brauksiepe war, der mit demagogischen Hetzreden im Bundestag die Stigmatisierung der Langzeitarbeitslosen als Drückeberger und Sozialschmarotzer eifrig vorantrieb, um letztere weiter zu entrechten - wie überhaupt die gesamte Hartz-IV-Gesetzgebung ein einziger gigantischer Stigmatisierungsversuch ist. Es sei nur an die erbärmliche Schlüssellochperspektive des Clement-Reports erinnert, mit dem sich Münteferings Vorgänger als „unanständiger Mensch“ aus der aktiven Politik verabschiedete. Angesichts des von Münteferings und Kauders Fußtruppen inszenierten Kesseltreibens gegen ALG-II-Empfänger (was anhand der Bundestagsprotokolle nachgewiesen werden kann!) mutet es – sofern uns der Humor nicht vergangen ist – fast komisch an, wenn nun plötzlich ein völlig unschuldiger und rein deskriptiver soziologischer Begriff wie „Unterschicht“ die Krokodilstränen fließen lässt und tantenhafte Ermahnungen auslöst. Nein, humorvoll ist das nicht mehr – es ist nur noch ekelhaft! Zynismus: Vor Müntefering und Kauder (und vor Erscheinen der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung) hatte sich der SPD-Vorsitzende Kurt Beck – gewissermaßen der gewählte Oberstammtischbruder dieser Partei – zum Thema „Unterschichten“ gemeldet. Dies passierte allerdings, bevor die Sprachregelung ausgegeben wurde, dass es ein derartiges Phänomen gar nicht gebe. Im Gegensatz zu Müntefering und Kauder konstatierte Beck durchaus die Existenz einer „Unterschicht“, die er denn auch sofort stigmatisierte, indem er ihr kollektiv den „Aufstiegswillen“ absprach und ihren Angehörigen vorwarf, sie würden sich in ihren prekären Verhältnissen einrichten. Dies war wohl der offizielle Fußtritt der SPD gegenüber ihrer ehemaligen Stammklientel der „kleinen Leute“. Die heutige „Unterschicht“ zeichnet aus, dass sie im Gegensatz zu früheren Zeiten soziokulturell höchst heterogen zusammengesetzt ist. Es sind ja nicht nur die „üblichen Verdächtigen“ in den schlecht ausgebildeten und bildungsfernen Bevölkerungsgruppen, die sich dort einfinden. Zum „Prekariat“ gehören auch

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die vielen über 50jährigen qualifizierten Arbeitskräfte, die aufgrund von unternehmerischen Entscheidungen „freigesetzt“ wurden sowie Akademiker, die nach einer Serie von befristeten Arbeitsverträgen keine neue Anstellung mehr fanden. Diesem Personenkreis, die ohne eigenes Verschulden und durch die Entscheidung anderer in ihre prekäre Lage kamen, „fehlenden Aufstiegswillen“ zu unterstellen, ist einfach frivol. Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck unterscheidet sich damit von seinem Parteifreund, dem Schlüssellochexperten Wolfgang Clement, nur noch in Nuancen. Die Heuchelei des Franz Müntefering und der Zynismus des Kurt Beck markieren einen weiteren Tiefpunkt im Niedergang der SPD. Immerhin haben seit 1990 ca. 40 % ihrer Mitglieder diese Partei verlassen. So mögen denn die „geschröderten“ Restbestände in der Großen Koalition vor sich hinfaulen. Es ist nicht mehr schade um sie.

Europäische Zentralbank (EZB) plädiert für Massenarbeitslosigkeit In den frühen siebziger Jahren gab es einst innerhalb des Kreises der „üblichen Verdächtigen“ (konservative Politiker, Wirtschaftsvertreter und die dazu gehörende Journallie) ein großes Geschrei. Auf einer SPD-Veranstaltung hatte nämlich der damals amtierende Bundesfinanzminister Helmut Schmidt in der für ihn typischen nassforschen Art eine Inflationsrate von fünf Prozent für eher hinnehmbar erklärt als eine Arbeitslosenquote in gleicher Größenordnung. Dem späteren „Weltökonomen“ sprachen die o.g. Kreise daraufhin jeglichen wirtschaftspolitischen Sachverstand ab. Aber die Zeiten ändern sich. In aller Unschuld griff vor einigen Tagen die Europäische Zentralbank als Gralshüter der neoliberalen Glaubenslehre den Gedankengang von Helmut Schmidt auf, nur dass sie ihm eine diametral entgegengesetzte Wertentscheidung unterlegte. War für den späteren Bundeskanzler die Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit ein vorrangiges politisches Ziel, so gilt dies nicht für die Banker der Europäischen Zentralbank. Aus ihrer Sicht kann Massenarbeitslosigkeit einen nützlichen und begrüßenswerten Beitrag zur Preisstabilität liefern. Seit Jahrzehnten liegen uns nun schon die neoliberalen Propheten mit der ständigen Mahnung in den Ohren, nur die Anwendung der von ihnen empfohlenen Rezepte (Sozialabbau, Entrechtung der Arbeitnehmer, Steuersenkungen für

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Reiche) würden zu „Wachstum und Beschäftigung“ führen. Jetzt, wo tatsächlich ein (mäßiger) Aufschwung existiert, welcher die Staatskassen entlastet und den Aufwärtsstrend in der Arbeitslosenstatistik bremst, hört man dagegen ganz andere Töne. Da erklärt der Vizepräsident der EZB, Lucas Papademos, dass ohne „neue Wirtschaftsreformen ... das Wachstum, das wir im vergangenen Jahr gesehen haben, nicht aufrechterhalten werden (kann), ohne Inflationsdruck zu erzeugen“. Große Sorgen macht sich in diesem Zusammenhang Herr Lucas Papademos über die mögliche Reduktion der Massenarbeitslosigkeit. „Die Arbeitslosigkeit liegt derzeit bei 7,5 Prozent – das ist ein Niveau, das nach verschiedenen Schätzungen längerfristig mit inflationsfreiem Wachstum zu vereinbaren ist.“ Niedrigere Arbeitslosenquoten seien dagegen gesamtwirtschaftlich schädlich. Sie würden „Druck auf die Preise“ verursachen, so dass ohne vorherige „Reformen“ auf dem Arbeitsmarkt die Arbeitslosigkeit nicht „gefahrlos“ (wohl für die Renditen der Finanzindustrie) gesenkt werden könnte. Im Klartext: Im Gegensatz zu den bisher verbreiteten Propagandalügen geht es nach Aussage des EZB-Vizepräsidenten der herrschenden Wirtschaftspolitik gar nicht um „Wachstum und Beschäftigung“, sondern allein um die Umverteilung von unten nach oben. Wird dieser Umverteilungsprozess durch „Wachstum und Beschäftigung“ behindert, dann haben sie als politische Ziele zu weichen. Wir sollten dem Vizepräsidenten der EZB für seine zynische Offenheit dankbar sein. Wenn zukünftig Merkel, Müntefering, Westerwelle e tutti quanti medienwirksam wieder einmal ihre Krokodilstränen über das Elend der Arbeitslosen vergießen und zu ihrem angeblichen Nutz und Frommen erneut „Reformen“ einfordern, dann können wir gegen sie als „Autorität“ den EZBVizepräsidenten Lucas Papademos ins Feld führen, um sie als Betrüger zu entlarven. Im Gegensatz zu dieser Bagage war der „rechte“ Sozialdemokrat Helmut Schmidt mit seiner oben zitierten Sentenz aus den frühen 70er Jahren noch ein Ehrenmann – und zwar was seine Wertentscheidung angeht (unabhängig von der Plausibität der ihr zugrundeliegenden wirtschaftwissenschaftlichen These, die offensichtlich der EZB-Vizepräsident teilt). Der Verfasser dieser Zeilen ist ein gemäßigter Mensch. So habe ich grundsätzlich nichts gegen eine marktwirtschaftliche Ordnung einzuwenden, wenn Marktmacht in ihr ordoliberal begrenzt wird, sozialstaatliche Regulierungen die sozialen Lebensrisiken kompensatorisch abfedern und eine politisch zu verantwortende makroökonomische „Globalsteuerung“ destruktive Marktprozesse ausgleicht. Aber wie alle menschlichen Ordnungen ist die Marktwirtschaft kein „natürlicher“ Zustand, sondern eine artifizielle Veranstaltung, die der legiti-

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matorischen Zustimmung der in ihr lebenden Menschen bedarf. Und wie alle menschlichen Ordnungen kann sie unter Legitimationsdruck geraten. So erlebte die marktwirtschaftlich-kapitalistische Wirtschaftsordnung während der Weltwirtschaftskrise 1929-1934 ihre schwerste Legitimationskrise. Diese Krise war 1945 noch nicht ausgestanden, als selbst Teile der CDU (Ahlener Programm) einen - zumindest rhetorisch - antikapitalistischen Kurs steuerten. Die Vertreter der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Ordnung sahen sich daher zu Beginn der alten Bundesrepublik gezwungen, erst einmal für ihr Projekt eine Legitimationsgrundlage zu schaffen. Dies geschah jedoch nicht mit der heutigen Phraseologie von „mehr Freiheit wagen“ oder dem Ruf nach „Eigenverantwortlichkeit“ (und ähnlichem Gedöns). Die Parole hieß vielmehr „Wohlstand für alle“. Dabei wurde der ungute Erinnerungen weckende Begriff des „Kapitalismus“ geschickt umgangen und durch den der „Sozialen Marktwirtschaft“ ersetzt. Jede Wirtschaftsordnung ist zur Absicherung ihrer legitimatorischen Grundlage darauf angewiesen, den „Wohlstand für alle“ zu schaffen. Dies gilt nicht nur für den Kapitalismus, sondern auch für den Sozialismus. Letzterer in seiner „real existierenden“ Form scheiterte nicht zuletzt an seiner Mangelwirtschaft und den damit verbundenen frugalen Lebensverhältnissen. Der „real existierende Kapitalismus“ in seiner neoliberalen Metamorphose propagiert heute ganz offen den „Wohlstand für wenige“. Angesichts dieses Tatbestandes stellt sich daher für jene, die davon ausgeschlossen sind, ganz pragmatisch und völlig undogmatisch die Frage, was sie mit dieser Ordnung überhaupt noch zu schaffen haben – und ob es nicht andere Formen gesellschaftlicher Produktion gibt, welche dem „Wohlstand für alle“ förderlicher sind. Denn eine Wirtschaftsordnung, welche nach Aussage des EZB-Vizepräsidenten für ihre Funktionsfähigkeit entweder Hungerlöhne oder Massenarbeitslosigkeit voraussetzt, hat sich von dem Postulat des „Wohlstandes für alle“ verabschiedet und damit ihrer eigenen Legitimationsgrundlage beraubt. Sie gehört damit auf den „Misthaufen der Geschichte“. Sie kann sich dort gleich direkt neben der Leiche des „real existierenden Sozialismus“ betten. Denn in ihrem Zynismus und in ihrer Menschenverachtung passen sie gut zueinander.

Der "Reformprozess" geht weiter: CDU-Justizminister fordert Fußfesseln für Langzeitarbeitslose Wenn wir gedacht haben, mit dem gesetzlichen Armutsförderungsprogramm Hartz IV, mit der Aufhebung der Vertragsfreiheit für Langzeitarbeitslose und

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mit der Wiederbelebung feudaler Fronarbeit in Form von 1-Euro-Jobs wäre es genug, dann haben wir uns getäuscht. Denn jetzt soll nach Vorstellungen aus der CDU auch die Menschenwürde "modernisiert" werden. In einer Presseerklärung anlässlich eines Auftritts der hessischen Landesregierung auf der CeBIT 2005 am 10. März 2005 lobte der hessische Justizminister Christian Wagner nach einem Bericht von www.nachdenkseiten.de zunächst die resozialisierende Wirkung der elektronischen Fußfessel für Straftäter und schlug dann vor, dieses Instrument modernster Technik gleich auch für Langzeitarbeitslose zu verwenden. "Die elektronische Fußfessel bietet ... auch Langzeitarbeitslosen und therapierten Suchtkranken die Chance, zu einem geregelten Tagesablauf zurückzukehren und in ein Arbeitsverhältnis vermittelt zu werden. ... Durch die Überwachung mit der elektronischen Fußfessel kann eine wichtige Hilfe zur Selbsthilfe geleistet werden." Der hessische Justizminister begreift seinen Vorschlag offensichtlich als Teil des Workfare-Konzepts seines Ministerpräsidenten Roland Koch. Innerhalb dieses Konzepts von "Fördern und Fordern" fällt wohl die Anschaffung der Fußfesseln unter das "Fördern". Somit bleibt den Arbeitslosen wenigstens erspart, zur Verbesserung ihrer Vermittlungsfähigkeit sich diese Dinger auch noch selber kaufen zu müssen. Soviel Sozialstaat muss schließlich sein! Und wenn nicht? - Dann hält der SPDVorsitzende Müntefering eine seiner kapitalismuskritischen Reden, um sich zumindest in diesem Punkt effektvoll von der CDU abzusetzen. Das angedachte Reformprojekt "Fußfesseln für Langzeitarbeitslose" macht deutlich, wie weit wir zivilisatorisch ins frühe 19. Jahrhundert zurückgefallen sind. Einst galt Arbeitslosigkeit als ein soziales Risiko, dem prinzipiell jeder Arbeitnehmer in einer marktwirtschaftlich organisierten Wirtschaftsordnung ausgesetzt ist. Heute ist sie aus Sicht der neoliberalen Eliten ein moralisch vorwerfbarer Zustand. Der hessische Justizminister geht nun einen Schritt weiter und macht daraus ein kriminelles Delikt, indem er unbescholtene Langzeitarbeitslose, die sich keines Vergehens oder Verbrechens schuldig gemacht haben, mit Straftätern gleichstellt. Jetzt fehlt nur noch das Arbeitshaus vergangener Tage, und unsere neue Moderne ist perfekt. Offensichtlich ist die CDU-Hessen eine Pflanzstätte rechtsbrecherischer und eidbrüchiger Minister. Erst vor kurzem wurden der langjährige hessische CDULandesvorsitzende und Bundesinnenminister Manfred Kanther wegen Veruntreuung und Bruch des von ihm selbst unterzeichneten Parteiengesetzes zu einer 18-monatigen Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt, womit er automatisch seinen Beamtenstatus verlieren würde. Im Gegensatz zu eventuell fußgefesselten unbescholtenen Langzeitarbeitslosen ist er damit vorbestraft (warum

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dann keine Fußfesseln für Kanther?). Nun meldet sich in diesen Tagen aus diesem Bundesland ein amtierender Justizminister, der seinen Verfassungseid bricht, indem er dazu aufruft, die Menschenwürde und die Grundrechte von Langzeitarbeitslosen einzuschränken. Der "Reformvorschlag" des hessischen Justizministers ist aber nicht nur offenkundig verfassungswidrig. Er steht auch in der Kontinuität einer fortschreitenden Dehumanisierung im neoliberalen Denken. Da werden beispielsweise von einem prominenten Wirtschaftsprofessor (Prof. Sinn) die Menschen mit Äpfeln verglichen und damit in einen marktgängigen Konsumartikel verwandelt. Da werden Überlegungen angestellt, ob die medizinische Versorgung der Menschen rationiert und vorrangig nach Maßgabe ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit gewährt werden soll. Jungpolitiker sorgen sich um den Genpool des deutschen Volkes und beklagen die Gebärfreudigkeit der "Unterschichten". Was soll man unter diesen Umständen von einem CDU-Justizminister noch anderes erwarten? Der um sich greifende Utilitarismus, der die Menschen nur noch danach bewertet, welchen Beitrag sie für einen imaginären "Gesamtnutzen" leisten und wie weit sie in den Kapitalverwertungsprozess einbezogen werden können, untergräbt die grundlegende moralische Einsicht der Aufklärung, wonach jeder Mensch über eine unverlierbare Würde verfügt, die allen Nützlichkeitserwägungen entzogen ist. Die neoliberale Glaubenslehre unterteilt die Menschen nur noch in nützliche "Leistungsträger", die als "Unternehmer ihrer eigenen Arbeitskraft" herumwerkeln, und in überflüssige unnütze Esser, die der Gemeinschaft parasitär zur Last fallen. Letztere werden dann mit Hartz IV, Zwangsarbeit und – wenn es nach Justizminister Christian Wagner geht schließlich mit Fußfesseln drangsaliert. Sie werden dazu gezwungen, ihre pure Existenz zu rechtfertigen! Auf diesem Wege geraten die allen Kapitalverwertungsinteressen vorgeordneten Grundrechte unter "Modernisierungsdruck". Irgendwann einmal wird dann ein ganz schlauer "Reformpolitiker" die Menschenwürde zum traditionalistischen Ballast erklären, da sie den "Standort Deutschland" gefährdet und "unsere" Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten bedroht.

„Girokonto für jedermann“ – Beobachtungen bei einer Bundestagsdebatte

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Der von der Bundestagsfraktion DIE LINKE eingebrachte und von Oskar Lafontaine begründete Gesetzentwurf, wonach Banken und Sparkassen verpflichtet werden sollen, jedem Bürger auf Wunsch ein Girokonto einzurichten, beruht auf der Tatsache, dass nach Informationen der Arbeitsgemeinschaft der Schuldnerberatungen „hunderttausende Verbraucher“ in Deutschland vom bargeldlosen Zahlungsverkehr ausgeschlossen sind und für dieselben nach der (allerdings uneinheitlichen) Rechtsprechung auch kein Rechtsanspruch auf Eröffnung eines Girokontos besteht. Interessant war nun, wie die neoliberalen Kartellparteien im Bundestag auf diesen Antrag reagierten. Der Tenor der Entgegnungen von CDU/CSU/SPD lässt sich mit dem Satz der SPD-Vertreterin Simone Violka zusammenfassen, der da lautet: „Wir sollten einfach abwarten“, wobei zur allgemeinen Beruhigung auf einen in Aussicht gestellten Bericht der Bundesregierung verwiesen wurde. Für die Betroffenen war dies gewiss sehr tröstlich. Aber damit nicht genug: In dieser für die „Große Politik“ eigentlich nebensächlichen Debatte wurde ein Großteil der neoliberalen Ideologiefragmente transportiert, die uns auch in anderen Bereichen begegnen. In der neuzeitlichen Staatstheorie war es bisher unumstritten, dass die „ungesellige Geselligkeit“ moderner Sozialverhältnisse den institutionalisierten und allgemeinen Rechtszwang erfordert. Dieser Rechtszwang soll die Individuen einerseits in ihrem alltäglichen Verhalten moralisch entlasten und andererseits sicherstellen, dass die öffentlichen Interessen gewahrt sowie Willkürhandlungen gegen Dritte ausgeschlossen bleiben. In letzterem Sinne schränkt der Rechtszwang auch implizit die Freiheit der Starken gegenüber den Schwächeren ein. Nun können wir beobachten, dass im neoliberalen Diskurs die „Starken“ darauf drängen, sich dieser für sie lästigen Fesseln zu entledigen. Ihr Zauberwort heißt dabei „freiwillige Selbstverpflichtung“. Ob es sich um Umweltauflagen oder um eine kompensatorische Ausbildungsplatzabgabe zur Bekämpfung des Lehrstellenmangels handelt – ständig werden von den Interessenten völlig unverbindliche „Selbstverpflichtungen“ ins Feld geführt, um sich dem allgemeinen Rechtszwang zu entziehen. So auch in der Frage eines „Girokontos für jedermann“. Hier bietet das Kreditgewerbe für Streitfälle eigene Schlichtungsstellen als eine Art ständischer Gerichtsbarkeit an. Diese verletzen jedoch das Prinzip der Unparteilichkeit, weil das Kreditgewerbe in derartigen Verfahren in eigener Sache urteilt. Im ständischen Sinne – und damit in völliger Verkennung der Funktion des Rechts als unparteiischem Medium der Konfliktregulierung – kritisierte denn auch der CDU-Abgeordnete Leo Dautzenberg im Bundestag den Antrag der LINKEN: „Die Entscheidung von Streitfällen würde auf die Gerichte verlagert werden. Ich sehe nicht, dass dies im Sinne der

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Bürger sein soll.“ Welche „Bürger“ der Redner dabei meinte, sagte er allerdings nicht. Der rechtsfreie Raum als neoliberale Idylle, wo allenfalls ständische Gerichtsbarkeiten in eigener Sache urteilen, kommt in einigen ressentimentgeladenen Äußerungen der Debattenbeteiligten recht gut zum Ausdruck. So sieht Dautzenberg in der bisherigen unverbindlichen Regelung ein „Beispiel dafür, dass der Staat nicht alles regeln und schon gar nicht alles besser regeln kann als die Wirtschaftsteilnehmer im Rahmen einer bestimmten Selbstregulierung“ (Staatsbürger als eigenständige Rechtssubjekte kommen in seiner Rede nicht vor. F.G), und der FDP-Abgeordnete Frank Schäffler sekundiert: „Ein gut funktionierendes Beschwerdesystem der Branche jetzt durch einen gesetzlichen Zwang zu ersetzen, sorgt gerade für die Bürokratie, die wir hoffentlich alle abbauen wollen“. Dort, wo CDU und FDP so einig sind, da darf natürlich auch die SPD nicht fehlen („Oh, gewährt mir die Bitte/ ich sei in Eurem Bund der Dritte.“). Dem neoliberalen Zeitgeist huldigend warnte nämlich die SPD-Vertreterin: „Es sollte aber nicht zu einer Gesetzesflut, zu einer Regelungswut kommen“ – und diese Sorge äußerte unsere tapfere Sozialdemokratin ausgerechnet bei einer vergleichsweise so harmlosen Sache wie dem „Girokonto für jedermann“. Besonders engagiert verteidigten in diesem Zusammenhang die beiden Abgeordneten von CDU und FDP die „Freiheit“, so wie sie diese verstehen. FDPSchäffler ließ es sich nicht nehmen, der LINKEN vorzuwerfen: „Sie drücken damit Ihr tiefes Misstrauen gegenüber Wettbewerb und sozialer Marktwirtschaft aus.“ Dabei unterschlug er natürlich, dass allein aus Wettbewerbsgründen die Banken an „Girokonten für jedermann“ überhaupt nicht interessiert sein können. Denn ALG-II-Empfänger und sonstige Arme kommen weder als Kreditkunden noch als Geldanleger in Frage. Ihre Kontenbetreuung verheißt keine profitablen Anschlussgeschäfte. Sie produzieren nur Kosten. Jedes betriebswirtschaftliche Kalkül spricht aus der Sicht der Banken dafür, sich diese „Kundschaft“ vom Leibe zu halten. CDU-Dautzenberg sah wohl auch aus diesem Grunde den „Kontrahierungszwang“ als drohendes Gebilde am Horizont auftauchen. Dass es bei der KfzHaftpflicht bereits seit anno dunnemal einen Kontrahierungszwang gibt, vergaß er dabei geflissentlich. Auch ist uns nicht bekannt, dass Herr Dautzenberg dem Kontrahierungszwang für Langzeitarbeitslose bei Einführung der 1-Euro-Jobs im Zuge von Hartz IV widersprochen hätte. Ja, ja – das ist eben die ganz spezielle „Freiheit“, welche sie da meinen. Geradezu lächerlich machte sich FDP-Schäffler, als er den Horror eines Zwanges zum „Girokonto für jedermann“ an die Wand malte. „Noch ist es nicht so

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weit, dass wir in Deutschland verpflichtet werden, bei Zahlungsempfängen zwingend ein Girokonto angeben zu müssen. Dass Sie dieses Stückchen Freiheit auch noch beschneiden wollen, traue ich Ihnen zu.“ Dieser Satz ist so blödsinnig, dass ich ihn nicht weiter zu kommentieren vermag. Irgendwo erreicht nämlich auch mein Sarkasmus seine Grenzen. Völlig zu Recht vermerkt das Protokoll an dieser Stelle „Lachen des Abg. Dr. Dieter Dehm (DIE LINKE)“. Und dabei will auch ich es bewenden lassen. Dass die SPD-Abgeordnete Violka diesen Blödsinn auch noch bestätigte („Man kann ... niemanden zwingen, ein Konto zu führen oder anzugeben, warum er keines führt.“), sei hier nur kurz angemerkt. Aber was will man von der Schröder/Müntefering-Partei auch anderes erwarten? An dem kleinen Beispiel des „Girokontos für jedermann“ lässt sich verdeutlichen, wie das neoliberale Kartell mit Gesetzesinitiativen umgeht, die ihm missfallen. Da wird vernebelt und auf irgendwann erscheinende Kommissionsberichte verwiesen. Dann greift man ganz tief in den Phrasensack, um in der Bevölkerung virulente Ressentiments (z. B. gegen „Bürokraten“) zu bedienen. Und am Ende verschiebt man die Debatte auf ein völlig abstruses Feld und sorgt sich um Dinge, die völlig an den Problemen der Betroffenen vorbeigehen. Irgendwie erinnert mich der letzte Punkt an die Diskussionen um das Verbot der Kinderarbeit im 19. Jahrhundert. Auch damals wurden von interessierter Seite unter Vergießung dicker Krokodilstränen die Eltern bedauert, die von den staatlichen Stellen angeblich „gezwungen“ werden sollten, ihre minderjährigen Sprösslinge nicht mehr zwölf Stunden am Tag in die Bergwerke zu schicken. Item semper – wie sich die Dinge doch wiederholen.

Hartz IV wird teurer! Müssen nun die Besserverdienenden um ihre Steuernachlässe fürchten? Das hatten sich Schröder, Clement und Eichel so schön ausgedacht. Durch die letzte Stufe der Steuerreform sollte der Spitzensteuersatz endlich auf die von den Besserverdienenden so heißersehnten 42 % absinken. Die Gegenfinanzierung schien gesichert. Das prächtige Steuergeschenk für die neue SPD-Klientel sollten die Langzeitarbeitslosen mit der Absenkung ihrer Leistungen auf Sozialhilfeniveau bezahlen. Aber nun kommt alles ganz anders! Schröder, Clement und Eichel hofften nämlich, dass "nur" 2,66 Millionen Haushalte von der neuen Armenfürsorge "profitieren" würden. Aber "leider" sind es jetzt tatsächlich 3,01 Millionen, die mit den "Leistungen" nach Hartz IV bedacht werden. Dadurch

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wird die "Arbeitsmarktreform" nach Berechnungen der Bundesländer um 6,2 Milliarden Euro teurer als geplant. Allein die Zahlungen, die der Bund an die Kommunen für die "Unterbringung" zahlen muss, erhöhen sich von 3,2 auf 5,17 Milliarden Euro. Im Berliner Regierungsviertel sieht man deswegen lange Gesichter und einen depressiv herumschleichenden Hans Eichel. Indirekt dürfte die Fehlrechnung unserer Regierenden auf die Sommerdemonstrationen gegen Hartz IV zurückzuführen sein. Zusammen mit den Softwarepannen bei der Bundesagentur für Arbeit führten diese dazu, dass die Leistungen "großzügiger" als vorgesehen bewilligt wurden, um nicht gleich wieder den Zorn der Betroffenen aufzupeitschen. Aber wie heißt es doch so schön: Kommt Zeit kommt Rat! Wenn in einem halben Jahr die "Verlängerungen" anstehen, dann werden – in der Hoffnung, dass nach entsprechend teurer PRSeelenmassage das Hartz-IV-Programm im Bewusstsein der Bevölkerung "durch" sei – die Zügel wohl angezogen, Bescheide nicht mehr bewilligt und der Umzug in Arbeitslosenghettos durchexerziert. Dann kann auch Hans Eichel wieder lachen! Gerhard Schröder wird ihm kumpelhaft auf die Schulter klopfen und sagen: "Na, Hänschen, das haben wir aber doch noch gut hingekriegt." Die Besserverdienenden können ganz beruhigt sein. Der zeitweilige Mehraufwand für Hartz IV wird sie nicht um ihre Steuergeschenke bringen. Denn wenn ihre Interessen im Vordergrund stehen, dann sind der Abbau des Staatsdefizits und das Maastrich-Kriterium kein Thema mehr. Schröder hat ja gegenüber Brüssel schon angeregt, dass der Stabilitätspakt bei kurzfristig höheren Ausgaben, die durch Armutsprogramme herbeigeführt werden, nicht mehr so eng ausgelegt werden soll. Hier schließt sich dann wieder der Kreis.

FDP-Politiker sorgt sich um den Genpool des deutschen Volkes! Gibt es bald das Mutterkreuz für Akademikerinnen? Eingeweihte haben es ja schon immer gewusst. Der Neoliberalismus orientiert sich in seinen Grundannahmen eher am Sozialdarwinismus als am klassischen politischen Liberalismus. Nun hat der FDP-Jungpolitiker Daniel Bahr endlich Klartext geredet. "Es ist falsch, dass in diesem Land nur die sozial Schwachen die Kinder kriegen", klagte er gegenüber der "Bild am Sonntag". Daher seien auch die PISA-Ergebnisse so schlecht. Die dort festgestellten Bildungsdefizite wären nämlich nicht auf die Mängel unseres Schulsystems zurückzuführen –

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etwa an dessen zu selektiver Ausrichtung -, vielmehr müsse die fatale Fruchtbarkeit der Unterschichten hierfür verantwortlich gemacht werden. Da sich disproportional zu den Unterschichte die Akademikerinnen leider ihrer nationalen Gebärpflicht entzögen, würde massenhaft minderwertiges Menschenmaterial (ökonomisch gesprochen "Humankapital") in unsere Bildungsanstalten geschwemmt. Um dieses "Humankapital" einer Optimierung zuzuführen – und damit seine besseren Verwertung sicherzustellen -, sei eine Änderung in der Familienpolitik nötig. Der Geist, der hinter den Verlautbarungen des FDP-Politikers steht, ist altbekannt. Er beherrschte die eugenischen und sozialdarwinistischen Diskurse in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhundert. Damals wurde beklagt, dass leider der zivilisatorische Humanisierungsprozess die "Naturgesetze" der Evolution außer Kraft gesetzt habe, so dass eine "natürliche Auslese" nicht mehr stattfände. Unterschichten, Asoziale, Schwachsinnige und Kriminelle könnten deshalb den jeweiligen nationalen Genpool verhunzen, was zu Degeneration, sittlichem Verfall und schließlich zum Untergang des "Volkskörpers" führe. Diese eugenischen und sozialdarwinistischen Gedankengänge wurden von den Nationalsozialisten aufgegriffen und in Programme zur "Arterhaltung" und zur "Erbgesundheitspflege" umgesetzt. Während die Nazis "rassisch wertvolle" Familien zum Kinderkriegen ermunterten und großzügig – bis zur Verleihung des Mutterkreuzes – förderten, wurden Menschen mit angeblich minderwertigem Erbgut (s.o.) zwangssterilisiert. Da Herr Bahr aber auf dem Boden der "Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung" steht, so ist nicht zu erwarten, dass er die logischen Schlussfolgerungen aus seinen Gedanken zieht - so wie es etwa die Nationalsozialisten taten, als sie das eugenische Programm technokratischer Weltverbesserer übernahmen und zu Ende dachten. Aber es geht auch anders. Man könnte etwa den im Sinne von Herrn Bahr "falschen Leuten" die freiwillige Sterilisation durch "Anreize" (so heißt ja im neoliberalen Neusprech) nahe legen und beispielsweise eine Prämie dafür zahlen oder die Bewilligung des ALG II nach Hartz IV davon abhängig machen. Herr Bahr schlägt vor, dass kinderkriegende Akademikerinnen die Kosten für Haushaltshilfen bis zu 12 000 Euro von der Steuer absetzen können. Ich hätte da für Herrn Bahr einen Verbesserungsvorschlag: Da diese Haushaltshilfen in der Regel aus den für den Niedriglohnbereich vorgesehenen "sozial schwachen" Kreisen kommen, so sollten diese lukrativen Arbeitsplätze im Ersten Arbeitsmarkt nur solchen jungen Frauen angeboten werden, die zuvor ein ärztlich bescheinigtes Sterilisationszeugnis vorlegen können.

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Ach ja: das Mutterkreuz. Dies wird natürlich nur nach der Geburt des dritten Kindes und der Vorlage eines Universitätsabschlusses verliehen. Auf diese Weise wird das "bürgergesellschaftliche Engagement" von Akademikerinnen im Ehebett öffentlich honoriert.

Sozialhilfeempfänger erhalten keine Pelzmäntel und Sportboote mehr! Das waren noch Zeiten! Als 1961 das Bundessozialhilfegesetz verabschiedet wurde, galt noch der "Warenkorb", der von den Lebensmitteln bis zur Kinokarte alles enthielt, wovon man meinte, dass dies ein Mensch für ein würdiges Dasein mindestens brauche. Diese Regelung galt bis Ende der 80er Jahre. Ab da wurde der "Warenkorb" durch das sogenannte "Statistikmodell" ersetzt. Dieses orientierte sich nicht mehr an einem egalitären Mindeststandard für ein menschenwürdiges Leben, sondern am – angeblich wissenschaftlich berechneten "tatsächlichen Ausgabeverhalten unterer Einkommensschichten". Obwohl die damalige CDU/FDP-Koalition dies so beschloss, wurde das "Statistikmodell" von ihr nie richtig umgesetzt. Wir mussten erst auf die rot-grüne Bundesregierung mit ihrem sozialdemokratischen Bundeskanzler warten, damit die Neuberechnung im Mai 2004 auf der Grundlage des Statistikmodells realisiert wurde. Die SPD-geführte Bundesregierung befand sich im "Reformfieber" und war gerade dabei, die Millionen von Langzeitarbeitslosen durch die HartzIV-Gesetze in die Sozialhilfe abzuschieben. Mit der Praxisgebühr und den höheren Medikamentenzuzahlungen waren außerdem neue Ausgabenposten hinzugetreten, die bei der Berechnung des Sozialhilfesatzes berücksichtigt werden mussten. Der "Paritätische Wohlfahrtsverband" kommentiert diese rot-grüne Meisterleistung wie folgt: "Die Bemessung des Existenzminimums mit Hilfe des Statistikmodells gaukelt eine wissenschaftliche Objektivität vor, die in Wahrheit nicht gegeben ist. Von wissenschaftlicher Seriosität kann ... ernsthaft nicht mehr gesprochen werden. Der Umgang mit den zugrunde gelegten Statistiken ist in einer Weise manipulativ und von willkürlichen Setzungen geprägt, die in keiner Weise mehr akzeptabel sind." So weist die Statistik für die unteren Einkommensschichten einen monatlichen Verbrauch von ca. 25,70 Euro (ca. 300 Euro jährlich) für Kleidung aus. Aber der rot-grünen Bundesregierung war dies noch zuviel. Denn – so die abstruse Vorstellung – in dieser Summe seien theoretisch ja auch Pelzmäntel und

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Maßanzüge enthalten. Welcher Angehörige der arbeitenden unteren Einkommensschicht kann sich aber so was leisten? Natürlich niemand! Logische Schlussfolgerung der Berliner Schlaumeier: 10 % der Kleidungsquote wurden gestrichen. Aber Sozialhilfeempfänger kaufen von ihrer Stütze nicht nur Pelzmäntel. Nein – sie geben (wenigstens rein theoretisch) auch noch Geld für Sportboote und Segelflugzeuge aus! Da diese jedoch eindeutig den Hobbys der Oberklasse dienen und für "untere Einkommensschichten" nicht standesgemäß sind, so wurden von den errechneten 4,71 Euros monatlich für Freizeitgeräte und Musikinstrumente gleich 30 % einbehalten. Der "Paritätische Wohlfahrtsverband" kommentiert diese (und andere) Sachverhalte der neuen Sozialhilfeverordnung wie folgt: "Die Liste dieser absurden Beispiele ließe sich noch reichlich verlängern. Sie alle belegen das gezielte Kleinrechnen, selbst dort, wo nichts mehr kleinzurechnen ist. Im Ergebnis erhalten wir Beträge, die geradezu skurril anmuten und lediglich deutlich machen, wie weit diejenigen, die eine solche Verordnung zu verantworten haben, von der Lebenswirklichkeit in Deutschland entfernt sind." Wenn die ganze Sache nicht so traurig wäre, so könnte man daraus ein Kabarettprogramm entwickeln – etwa unter dem Titel: "Rot-Grün tagt im Rathaus zu Schilda, der Hauptstadt von Absurdistan".

Neoliberaler Populismus im Bundestag

Der FDP-Abgeordnete Dirk Niebel und die ungehorsamen Dienstboten Seit mehr als zwei Monaten dauert nun der Streik im Öffentlichen Dienst gegen die von den Arbeitgebern aufgenötigte Mehrarbeit an. Dies war Anlass für die Bundestagsfraktion DIE LINKE, dieses Thema am 16.03.06 in Form einer Aktuellen Stunde auf die Tagesordnung des Parlaments zu bringen. Zu Beginn der Debatte demonstrierten einige Abgeordnete der Linksfraktion ihre Solidarität mit den Streikenden, indem sie sich Streikwesten von VERDI anzogen, was natürlich sofort die Pöbelinstinkte der rechten Seite des Hauses (FDP und CDU/CSU) aktivierte. „Lafontaine, das ist die Schweinebande, die hinter dir sitzt!“ und „Diese Proleten“ schallte es aufgebracht durch den Plenar-

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saal. Von bürgerlicher Wohlanständigkeit und „guter Kinderstube“ war wenigstens für einige Augenblicke nichts zu spüren. Derart eingestimmt betrat dann der FDP-Abgeordnete Dirk Niebel das Rednerpult. Herr Niebel hat sich bisher politisch vor allem als Gegner der Arbeitslosen hervorgetan. Überall, wo darum verhandelt wird, wie man Arbeitslose noch besser und noch raffinierter drangsalieren kann, da ist Herr Niebel vorneweg dabei. Dies prädestinierte ihn schließlich dazu, FDP-Generalsekretär zu werden (ein Mann – ein Programm). Seit Margret Thatchers Zeiten ist es das erklärte Ziel neoliberaler Politik, die Gewerkschaften als gesellschaftlichen Faktor auszuschalten und eine atomisierte ohnmächtige Arbeitnehmerschaft dem Diktat der „Märkte“ auszuliefern. Hohe Arbeitslosigkeit und schwache Gewerkschaften sind für die Arbeitgeber der ideale strategische Ausgangspunkt, um niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten und schlechte Arbeitsbedingungen flächendeckend durchzusetzen. Diese Politik bedarf allerdings in einer Mediendemokratie flankierend der populistischen Verhetzung. Bei Hartz IV waren und sind es die angeblich „faulen“ Arbeitslosen, welche gegen die schlechtbezahlte Verkäuferin ausgespielt werden, um letzterer dann unter Verweis auf den Arbeitsmarkt das Gehalt zu kürzen. Im aktuellen Arbeitskampf von VERDI wird „das Volk“ als Nutznießer der öffentlichen Leistungen gegen die Streikenden in Stellung gebracht, damit anschließend auch seine Löhne und Gehälter weiter abgesenkt und die Arbeitszeiten verlängert werden können. Das Gegeneinanderausspielen der Bevölkerungsgruppen funktioniert bei Herrn Niebel so: „Tatsächlich geht es ... darum, dass wir im letzten Monat 5 047 668 registrierte Arbeitslose hatten. Sie hingegen reden über einen Streik, bei dem es um 18 Minuten Mehrarbeit geht.“ Unter Zuhilfenahme eines abgeschmackten Vertreterarguments - so als ob man Leuten eine überflüssige Versicherung andrehen will („Sie zahlen täglich nur einen Euro“) - werden hier die Arbeitslosen ins Feld geführt, um über die Arbeitszeitverlängerung und dem damit verbundenen Arbeitsplatzabbau noch mehr Arbeitslose zu produzieren. Zynischer geht es nun wirklich nicht! In seiner populistischen Hetze scheut Niebel auch vor persönlicher Verunglimpfung nicht zurück, indem er den VERDI-Vorsitzenden Frank Bsirske zum „durchgeknallten grünen Gewerkschaftsfunktionär“ stempelt, der doch – oh Graus – so frech ist und versucht, „die Verbändemacht zu stärken und den Bedeutungsverlust der Gewerkschaften aufzuhalten“. Offensichtlich mangelt es den Angehörigen des Öffentlichen Dienstes an der alleruntertänigsten Dienstbotengesinnung, was für den Generalsekretär der „Partei der Besserverdienen-

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den“ natürlich besonders ärgerlich ist (denn „der Pöbel hat zu parieren!“). Daher sein ehrlich empfundener Zorn. Wie die Weltsicht des Herrn Niebel beschaffen ist, enthüllt folgende Passage seiner Rede: „Deshalb werden wir – wie die Menschen in der ostelbischen Metall- und Elektroindustrie, die sich nicht von der IG Metall haben vergewaltigen lassen und erfolgreich gegen die Einführung der 35-Stunden-Woche gekämpft haben – standhaft bleiben.“ D.h. im Klartext: Die Menschen freuen sich, wenn sie fürs gleiche Geld länger arbeiten, und sie fühlen sich „vergewaltigt“, wenn ihre Arbeitzeit verkürzt werden soll. Demnächst petitionieren sie noch beim Arbeitgeberverband und bitten inständig darum, dass man es ihnen erlaube, doch endlich länger zu arbeiten. Ich glaube allerdings, selbst der alleruntertänigste Dienstbote des Herrn Niebel dürfte nicht so selbstlos sein.

Wie Diebe in der Nacht Der Bundestag berät über Münteferings Arbeitslosen-Stasi Ein anstrengender Arbeitstag ging am 11. Mai 2006 im Plenarsaal des Deutschen Bundestages seinem Ende entgegen. Nach 20.00 Uhr war Phoenix nicht mehr auf Sendung, und die Pressetribünen leerten sich. Gewissermaßen unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelte das Parlament eine als „Optimierung von Hartz IV“ bezeichnete Vorlage, welche den Druck auf Millionen Langzeitarbeitslose verschärfen und aus diesem Personenkreis weitere 1,2 Milliarden Euro herauspressen soll. Der späte Zeitpunkt war gut gewählt, denn so blieb es der Fernsehgemeinde und einem Großteil der Journalisten erspart, die Schamesröte im Gesicht der anwesenden Sozialdemokraten zu besichtigen (sofern man dort überhaupt noch so was wie Scham empfindet). Sichtlich verlegen eröffnete der SPD-Abgeordnete Rolf Stöckel die Debatte („Wir freuen uns nicht über alles, was in diesem Gesetzentwurf steht. Wie könnte es anders sein?“). Er hatte es auch nicht leicht, denn tags zuvor war der würdige Nachfolger des unsäglichen Wolfgang Clement, der Sozialdarwinist Franz Müntefering (immer noch SPD), mit seiner These „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ verbal entgleist. Getreu der Maxime „wenn etwas schief geht, dann haben immer andere die Schuld“ lamentierte Herr Stöckel vor allem über das angebliche Versagen der Länder („Die Sparorgie der schwarzgelben Landesre-

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gierung in Nordrhein-Westfalen“), der Kommunen („Abwälzen von Personalund Unterkunftskosten auf den Bund“) und der Bundesagentur für Arbeit (Diese versuche „möglichst schnell die so genannten Betreuungskunden – schwer vermittelbare und unqualifizierte Betroffene – aus ihrem Verantwortungsbereich loszuwerden.“). Dass die gesamte Hartz-IV-Gesetzgebung ein einziges Desaster darstellt, kam ihm natürlich nicht in den Sinn. Und war es Hilflosigkeit oder offener Zynismus? Dieser Abgeordnete besaß doch tatsächlich die Unverschämtheit – anders kann man es nicht formulieren -, bei der Verteidigung dieses Gesetzentwurfes auch noch die Langzeitarbeitslosen als Leidtragende für sich zu vereinnahmen. Bezogen auf seine o.g. Kritikpunkte kündigte er tatsächlich an: „Wir Sozialdemokraten werden gemeinsam mit den Betroffenen dagegen Sturm laufen.“ Soviel Chuzpe macht mich sprachlos! Aber Herr Stöckel mag versichert sein: Wenn es irgendwann einen „Sturmlauf“ der „Betroffenen“ geben sollte, dann wird dieser sich auch gegen seine Partei richten. Nachdem Herr Stöckel seinen peinlichen Auftritt beendet hatte, erklomm mit Herrn Brauksiepe von der CDU die personifizierte neoliberale Frechheit das Rednerpodium. Mit stolz geschwellter Brust zählte er die Summen auf, welche die Große Koalition in der kurzen Zeit ihrer Existenz schon aus den Langzeitarbeitslosen herausgepresst habe und weiter herauszupressen gedenke. „Wir haben uns Einsparungen in Höhe von 3,8 Milliarden Euro bezogen auf ein Jahr vorgenommen, die zum wesentlichen Teil bereits durch das SGB-IIÄnderungsgesetz auf den Weg gebracht worden sind“, wozu jetzt zusätzlich noch „1,2 Milliarden allein beim Bund und mehrere Hundert Millionen Euro bei den Bundesländern“ hinzukommen würden. Insgesamt sind ca. 5 Milliarden Euro ja auch ein schöner Batzen Geld. Aber anstatt ehrlich darauf zu verweisen, dass die Bundesregierung dieses Geld dringend als Manövriermasse zur Senkung der Unternehmenssteuern braucht, inszenierte Herr Brauksiepe die typische neoliberale „Neiddebatte“ gegen die da „ganz unten“, indem er wie üblich die Langzeitarbeitslosen implizit unter Generalverdacht stellte. Da waren sie wieder, die unvermeidlichen „Menschen (nicht die Herren Ackermann und Esser. F.G.), „die täglich frühmorgens aufstehen, zur Arbeit gehen und (sofern sie nicht im Mini-Job oder sonst prekär beschäftigt sind. F.G.) mit ihren Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen die Leistungen finanzieren, die die bekommen sollen, die in diesem Land der Hilfe bedürfen.“ Ohne jede nähere empirische Beweisführung und rein denunziatorisch fabulierte Herr Brauksiepe dann darüber, „dass sich Starke als Schwache“ verkleiden. Angesichts der vielerorts auf valider wissenschaftlicher Basis ermittelten Ergebnisse über die sich ausbreitende Armut in den unteren gesellschaftlichen Regionen enthüllt sich sein hier praktiziertes Gerede von den dort angesiedelten „Starken“ als üble Sozialdemagogie.

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Die lustlos vor sich hin plätschernde Debatte wurde etwas lebhafter, als die Abgeordnete Katja Kipping von den LINKEN das Wort ergriff. In ihrem kritischen Beitrag beschäftigte sich diese vor allem mit der geplanten Beweislastumkehr bei eheähnlichen Gemeinschaften – womit die Große Koalition die für sie unangenehme Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts unterlaufen will und der damit verbundenen Einrichtung einer „flächendeckenden Arbeitslosenpolizei“ (FDP-Niebel). Unter Rückgriff auf den niederträchtigen „ClementReport“ führte Katja Kipping aus: „Einige Sozialspitzel gingen sogar in die Schlafzimmer, um zu schauen, wie groß die Kuhle im Bett ist, um nachzuweisen, dass man dort doch zu zweit geschlafen hat. Ich meine, im Schlafzimmer hat der Staat nichts zu suchen“. Daraufhin kamen aus den Reihen von CDU und FDP zwei entlarvende Zwischenrufe: Der Abgeordnete Karl Addicks (FDP) bemerkte: „Das haben sie (also die Sozialspitzel! F.G.) von der Stasi gelernt“ - und der CDU-Abgeordnete Stefan Müller ergänzte: „Wie war das denn in der DDR?“ Wenn diese beiden Zwischenrufe sprachlogisch überhaupt einen Sinn abgeben, dann gehen die Herren Addicks (FDP) und Müller (CDU) offensichtlich davon aus, dass sich die „flächendeckende Arbeitslosenpolizei“ des Herrn Niebel an den Methoden der untergegangenen DDR-Stasi orientieren soll. Wenn es gegen die Arbeitslosen geht, dann lautet die Parole der bürgerlichen Parteien: Von der Stasi lernen, heißt siegen lernen! Aber was wird nur Frau Birthler dazu sagen? Die beabsichtigte Rechtlosstellung nicht allein lebender Alg-II-Empfänger durch Beweislastumkehr (denn innerhalb angeblich eheähnlicher Gemeinschaften gibt es keine einklagbaren Rechtsansprüche!), die Erfindung von bis dato mir wenigstens - als Rechtsbegriff völlig unbekannten „Lebenswirtschaftsgemeinschaften“ (SPD-Stöckel), die Umwandlung von „Bedarfsgemeinschaften“ in vormoderne Zwangskollektive und die Errichtung einer Arbeitslosen-Stasi, die den Betroffenen bis in die Schlafzimmer nachschnüffeln soll, machte es unabweisbar, dass der Deutsche Bundestag dieses Thema nur zu später Stunde und möglichst unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutierte. Tröstlich daran ist, dass die Abgeordneten wenigstens noch soviel Schamgefühl besaßen und bei der Beratung der Vorlage das helle Licht des Tages scheuten.

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Wolfgang Clement ist ein unanständiger Mensch! Eigentlich gehören die Begriffe „Anstand“ und „unanständig“ als politische Kategorien dem populistischen Vokabular an. In ihrem sowohl diffusen als auch emotionalen Aussagegehalt spiegeln sie vorpolitische Einstellungen wider, die politisch weder verhandelbar noch abstimmungsfähig sind. Vorrangig werden sie in demagogischen Ausgrenzungsdiskursen gegen Minderheiten verwendet, wo die selbstgerecht „Anständigen“ als homogenes „Volk“ gegen die angeblich „Unanständigen“ effektvoll in Stellung gebracht werden. Wenn gleichwohl in diesen Zeilen der noch amtierende Bundeswirtschaftsminister Clement als „unanständiger Mensch“ bezeichnet wird, so deshalb, weil dieser zum Abschluss seiner unrühmlichen Tätigkeit in einem als „Report“ bezeichneten Machwerk seines Hauses unter dem Titel "Vorrang für die Anständigen - Gegen Missbrauch, Abzocke und Selbstbedienung im Sozialstaat" auf die altbewährte populistische Ausgrenzungsrhetorik zurückgreift, um sein politisches Versagen vor der Öffentlichkeit zu kaschieren. Ohne belastbare empirische Daten reihen die 33 Seiten des vorliegenden Elaborats ein Anekdötchen an das andere, um den Leser in einen Zustand der Empörung zu versetzen. Dem Vernehmen nach waren die seriösen Beamten der Presseabteilung des zuständigen Ministeriums zu anständig, um diesen „Report“ zu verfassen, so dass Herr Clement auf eine Schmierenjournalistin zurückgreifen musste. Aber bekanntlich ist auf dem freien Markt ja alles käuflich - und literarische Schmutzfinken stehen immer bereit, wenn man ihnen genug bezahlt. Es ist unanständig, wenn Herr Clement für das Desaster seiner „Arbeitsmarktreformen“ die Langzeitarbeitslosen als eine der schwächsten gesellschaftlichen Gruppen verantwortlich macht – eine Gruppe, die über kein Konfliktpotential verfügt, und die sich folglich dagegen nicht wehren kann. Es war Herr Clement, der darauf schwor, die Hartz-Reformen „eins zu eins umzusetzen“ und dabei seinen fachkundigen Beamtenapparat souverän beiseite schob. In Tag- und Nachtschichten unter ganz engen Zeitvorgaben wurde damals die Hartz-IVGesetzgebung als rein politischer Willensakt durchgesetzt. Damit trägt ausschließlich der politische Entscheidungsträger die Verantwortung für alle Fehlplanungen und Fehlrechnungen, die dieses mit „heißer Nadel“ zusammengeschusterte Werk mit sich brachte. Die Methode des „Haltet den Dieb“ ist hier so offensichtlich, dass wohl nur der Pöbel der Besserverdienenden auf das populistische Geschwätz von Wolfgang Clement hereinfallen kann.

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Es ist unanständig, wenn Herr Clement in seiner Minderheitenhetze mit völlig willkürlich gegriffenen Daten hantiert. Gestern waren es noch 10 % „Abzocker“, heute sind es schon 20 %. Allein ihre Verdoppelung in wenigen Tagen zeigt den durch und durch unseriösen Umgang mit Zahlen, die jeweils so gesetzt werden, wie es gerade dem Propagandainteresse des Wolfgang Clement entspricht. Es ist unanständig, wenn die schamlose Person, welche im Auftrag des Bundeswirtschaftsministers diesen „Report“ zusammenschmierte, genüsslich in die Intimsphäre anderer Menschen eindringt und dabei auch noch pornographische Phantasien bedient. Denn wie anders soll man den Bericht über den „nackten Mann auf dem Balkon“ werten, der vom Prüfdienst (beim Sex?) überrascht wurde. An anderer Stelle wird sogar die „Kuhle im Ehebett“ erwähnt. Demnächst werden Clements Beischlafpolizisten wohl noch das Bett auf Spermaflecke untersuchen, um eine eheähnliche Lebensgemeinschaft nachzuweisen. Die pornographischen Phantasien haben der von Clement beauftragten Schmierenjournalistin offensichtlich den Blick dafür getrübt, dass die „eheähnlichen Lebensgemeinschaften“ mit den dazugehörenden Unterhaltsverpflichtungen vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochen eng ausgelegt worden sind, was nun den ARGE’n vor Gericht eine Niederlage nach der anderen einträgt. Weder der „nackte Mann auf dem Balkon“ noch die „Kuhle im Ehebett“ – ja nicht einmal dort vorhandene Spermaflecken – können allein für sich eine „eheähnliche Lebensgemeinschaft“ konstituieren. Aber derartige juristische Feinheiten tangieren das populistische Verhetzungsinteresse des Bundeswirtschaftsministers und den pornographischen Voyeurismus seiner Skribentin nicht im Geringsten. Es ist unanständig, wenn in diesem „Report“ in einer dehumanisierenden Sprache von Menschen als „Parasiten“ gesprochen wird. Parasiten sind Ungeziefer und werden in der Regel vernichtet. In diesen menschenverachtenden Kontext gehören auch die Berichte über die „Essensreste und Urinflecken auf dem Teppich“ und andere Verwahrlosungserscheinungen, welche Ekelgefühle gegenüber den Betroffenen erwecken sollen und zusammen mit der ParasitenMetapher das entsprechende Vorurteilsgemisch ergeben, um weitere „Maßnahmen“ gegen diese Bevölkerungsgruppe zu legitimieren. Gerade vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte ist dieser Vergleich unverzeihlich! Diese infame Ausdrucksweise teilt uns wohl etwas von dem Geiste mit, der Wolfgang Clement beseelte, als er die Hartz-IV-Gesetze dem Bundestag vorlegte. Ohne Mandat und ohne Amt wird Wolfgang Clement demnächst in der ihm gebührenden Schande seine Pension verzehren. Es drängt sich jedoch der Ein-

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druck auf, dass der neue Arbeitsminister Franz Müntefering das elende Machwerk seines Vorgängers zu nutzen versucht, um weitere Schikanen gegen Langzeitarbeitslose durchzusetzen. Es gibt da ja einige abenteuerliche Vorschläge, die zu gravierenden Grundrechtseinschränkungen bei den Betroffenen führen werden und den Weg vom sozialen Rechtsstaat in den autoritären Fürsorgestaat breit öffnen. Hoffen wir, dass wir nicht eines Tages sagen müssen: Auch Franz Müntefering ist ein unanständiger Mensch.

Das Oberlandesgericht Stuttgart sanktioniert soziale Apartheid Vor einigen Jahren herrschte im deutschen Blätterwald große Aufregung, als ein Gericht feststellte, dass die Anwesenheit behinderter Menschen während einer Ferienreise den Urlaubsgenuss beeinträchtige, und dem Kläger darauf hin eine Entschädigung zusprach. Zu Recht empörte sich damals die Öffentlichkeit über die richterliche Bestätigung diskriminierender Vorurteile gegenüber einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Als jetzt am 28. Dezember 2006 das Oberlandesgericht Stuttgart bezogen auf Langzeitarbeitslose und sozial Schwache eine ähnliche Entscheidung traf, wurde dies jedoch weitgehend gleichgültig hingenommen. Offensichtlich ist die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich bereits soweit vorangeschritten, dass das allgemeine Bewusstsein die damit verbundenen Ausgrenzungen und Stigmatisierungen nicht mehr als Skandal empfindet. Der obsiegende Kläger vor dem Oberlandesgericht Stuttgart hatte Büroräume „mit exklusivem Ambiente“ sowie „in außergewöhnlicher Lage“ gesucht und angemietet. Da er sich wohl zu den „Leistungsträgern“ zählt, war es für ihn wichtig, nicht mit der misera plebs in Berührung zu kommen. Die Voraussetzungen schienen günstig: in dem Bürohaus logierten eine Versicherungsgruppe, eine Steuerberater- und Wirtschaftsprüferkanzlei (wo sich der Pöbel bestimmt nicht einfindet) und eine Arztpraxis (wahrscheinlich ohne Kassenzulassung und ausschließlich für Privatpatienten). „Der Zugang zum Gebäude war nur mit einer Codekarte oder durch Anmeldung über die Sprechanlage möglich.“ Allerdings wird ständische Exklusivität heutzutage nicht mehr durch Brauch und Sitte gewährleistet (insofern leben wir doch noch in modernen Zeiten). Sie hat vielmehr in einer Marktwirtschaft ihren Preis. Sie muss käuflich erworben werden. Deshalb war der Kläger bereit, hierfür einen Mietzins zu entrichten, der

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„über dem Höchstsatz des örtlichen Mietspiegels für Gewerbeobjekte“ lag. Insgesamt erinnert das beschriebene Arrangement an Zukunftserwartungen, die davon ausgehen, dass sich die Besserverdienenden zunehmend in eigens für sie errichteten und von Sicherheitsdiensten bewachten Ghettos niederlassen werden, welche dem Rest der Bevölkerung versperrt bleiben (gewissermaßen ein kapitalistisches „Wandlitz“). Aber die Besserverdiener-Idylle in Stuttgart sollte nicht lange anhalten. Denn in dem Bürohaus „mit exklusivem Ambiente und in außergewöhnlicher Lage“ eröffnete die „Bundesagentur für Arbeit“ eine Dependance (wahrscheinlich ist hier die zuständige ARGE gemeint – aber solche feinen Unterschiede interessierten die Richter wohl nicht), und damit zog die bisher so sorgsam ferngehaltene soziale Realität in das Refugium der „höheren Stände“ ein. Im Schlepptau der „Hartz-IV-Abteilung“ – so das Gericht in seiner etwas unpräzisen Diktion – kam auch eine „Suchtberatungsstelle“ (Junkies im Gehege der Besserverdienenden – oh Graus!!) und eine „Schuldnerberatung“ (und so was in der Nähe einer Wirtschaftsprüferkanzlei!! Hatten die Verantwortlichen denn überhaupt kein Taktgefühl?). Man war plötzlich nicht mehr „unter sich“. Nun „verkehrten dort bis zu 500 Besucher.“ Angesichts des Personenandrangs konnte „die Zugangskontrolle diesen Besucherverkehr nicht mehr bewältigen“, was dazu führte, dass das eigentliche Signum des „exklusiven Ambiente“ – die Sprechanlage samt Codekarte – außer Funktion gesetzt werden musste. Jetzt steht die Eingangstür ständig offen, und Krethi und Plethi können sich in den eigentlich für sie gesperrten Heiligen Hallen ungestört herumtreiben. In seiner Pressemitteilung referiert das Oberlandesgericht Stuttgart einfühlsam den Kummer des Klägers, dass wegen „der fehlenden Zugangskontrolle“ nun „unangemeldete Besucher der Behörde auch vor den Büros und Praxen erscheinen und sich auch in der Tiefgarage aufhalten“. Der unbefangene Leser muss fast den Eindruck gewinnen, hier fände eine Invasion der Barbaren statt. Nun befinden sich die Richter am Oberlandesgericht und der Kläger in einer vergleichbaren ständischen Lage. Als Angehörige der höchsten Besoldungsgruppe haben erstere es wohl auch nicht so gerne, wenn sich in den von ihnen bewohnten Villenvororten das arbeitslose „Gesocks“ herumtreibt. Entsprechend verständnisvoll war denn auch die Begründung des Urteils, das auf eine 15%ige Mietminderung hinauslief: „Die Mietsache sei mängelbehaftet.“ Zumal „der Betrieb einer Zugangskontrolle sei vertraglich geschuldet“ (s.o. der Hinweis auf deren symbolische Bedeutung). Außerdem meinte das Oberlandesgericht, dass „auch in qualitativer Hinsicht der Besucherverkehr zumindest den durchschnittlichen Anforderungen gerecht werden müsse“. In einer Salvatorischen Klausel gesteht das OLG zwar zu, dass „ein erheblicher Teil der Besu-

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cher dem Durchschnitt der Bevölkerung“ entspräche, „es könne aber auch nicht die Augen davor verschlossen werden, dass sich unter den Besuchern der Hartz-IV-Abteilung, der Suchtberatungsstellen und der Schuldnerberatung ein überdurchschnittlicher Anteil von sozial auffällig gewordenen Personen befindet.“ Wenn die Ungleichheiten innerhalb einer Gesellschaft zunehmen und der Riss zwischen Arm und Reich immer größer wird, dann rücken die sozialen Räume auseinander. Über den Markt vermittelt entsteht so etwas wie eine informelle soziale Apartheid. Dieser Entwicklung hat das Oberlandesgericht Stuttgart nun seinen höchstrichterlichen Segen gegeben. Die Folgen sind absehbar: Unter Hinweis auf „das exklusive Ambiente in außergewöhnlicher Lage“ wird wohl zukünftig die Ansiedlung nicht ganz so vornehmer Nachbarschaften als Mietminderungsgrund anerkannt oder als mängelbehaftete Vertragsausführung bei Häuserverkäufen gerichtlich gerügt werden können. Die Hausbesitzer und Baugesellschaften werden deshalb angesichts der (möglichen) Dauerpräsenz von Arbeitslosen und sozial Schwachen in (oder in der Nähe) ihrer Objekte einen potentiellen Wertverlust des eingesetzten Kapitals befürchten und sich dagegen mit mehr oder weniger subtilen Methoden wehren. Und während sich die Wohnquartiere entmischen und demnächst wohl ganze Stadtteile nur noch mit Sonderausweisen (oder Code-Karten) zugänglich sind, wird der Bundesarbeitsminister Franz Müntefering weiter die Existenz von „Unterschichten“ bestreiten, der SPD-Vorsitzende Kurt Beck die Arbeitslosen zum Friseur schicken und die SPD insgesamt von „Teilhabe“ schwatzen, welche sie durch 1Euro-Jobs und einen ausgebauten Niedriglohnsektor gewährleistet sieht. Ein Jeder bleibe aber dabei „in seinem Stande“ und halte sich nur in den Gebieten auf, die für ihn reserviert sind.

Der Durchmarsch der Hartz-IV-Parteien Drei Wochen nach der Ersten Lesung des „Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende“ und einer kurzen Beratungsfarce in den Ausschüssen traf sich das Bundestagsplenum am 1. Juni, um die weitere Verschärfung von Hartz IV brav abzunicken. Anders als am 11. Mai, wo das Thema in die späten Abendstunden verschoben wurde, traute man sich diesmal, darüber gleich zweimal – in Form einer Aktuellen Stunde und später in der 2. und 3. Lesung – im hellen Tageslicht zu verhandeln.

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Erheblich gefördert wurde der sich hier ausdrückende Mut durch die mediale Claque, welche im Vorfeld der Bundestagssitzung ihr populistisches Hetzpotential entfaltete. So jubilierte SPIEGEL-online in dicker Balkenüberschrift „Hartz-IV-Betrüger sollen büßen“ und kündigte an, dass „zukünftig nicht mehr lange gefackelt werden soll“, um anschließend genüsslich den „Strafkatalog“ herunterzubeten. Der Oberschwadroneur des STERN, Hans-Ulrich Jörges – laut TAZ ein „meinungsstarker, aber faktenschwacher Großjournalist“ -, fabulierte gar davon, dass sich Hartz IV als „komfortabelster Ausbau“ des Sozialstaats „in der deutschen Sozialgeschichte entpuppte.“ Und zu guter Letzt ließ auch noch Sabine Christiansen in ihrer allsonntäglich ausgestrahlten neoliberalen Quasselrunde das Thema "Arm durch Arbeit, reich durch Hartz IV?" diskutieren. Derart aufgemuntert und mit Vorurteilen gefüttert konnten die Abgeordneten der Großen Koalition (assistiert durch ihren Hilfstrupp FDP) in den beiden Debatten ihrer derzeitigen Lieblingsbeschäftigung – der Bekämpfung des angeblichen „Missbrauchs“ bei Hartz IV – nachgehen. Dass sie diese Diskussion ohne empirische Grundlage führten, muss uns nicht weiter verwundern, denn es ist eine sozialpsychologisch gut belegte Tatsache, dass Vorurteile sich einer faktenmäßigen Überprüfung entziehen, und der Ressentimentgeladene letztere sogar als existenzielle Bedrohung empfindet. Wir alle wissen, wenn sich die Kloake ausbreitet, dann fängt es an zu stinken. Dieser Eindruck drängte sich vor allem in den CDU/CSU-Redebeiträgen auf, wo eine übel riechende Mixtur aus expliziten und impliziten Unterstellungen, subtextuellen Andeutungen, naiver Weltfremdheit und „gesundem Volksempfinden“ verbreitet wurde. In mehreren Variationen und vielfach abgewandelt tauchte dabei immer wieder der „wirklich Bedürftige“ auf, der „sich redlich um Arbeit bemüht“, der aber von nicht näher bezeichneten Nutznießern des Systems angeblich „in Misskredit gebracht“ wird - so die CDU-Abgeordnete Ilse Falk. Was ein „wirklich Bedürftiger“ nun „wirklich“ ist - und worin er sich vom „unwirklichen“ unterscheidet -, wurde von Frau Falk in ihrem Debattenbeitrag nicht weiter erläutert. Ihre diesbezüglichen Lamenti blieben völlig vage und verloren sich im allgemeinen moralisierenden Geschwätz. Wenn Abgeordnete ein Gesetz zur „Grundsicherung“ diskutieren, dann müssen wir als Bürger verlangen, dass sie ganz bestimmte Anforderungen erfüllen. Sie dürfen sich nicht an Stammtischsprüchen oder irgendwelchen Ressentiments orientieren. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, in klarer und operationalisierter Form zwischen Bedürftigen und Nichtbedürftigen zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang ließe sich dann über Bedürftigkeit und Nichtbedürftigkeit anhand konkreter Fakten politisch trefflich streiten. Diffuse Wortbildungen wie „wirklich“ vernebeln dagegen alles. Politischer Streit ist jedoch heute innerhalb

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unserer selbsternannten Elite unerwünscht. Es geht ihr nur noch darum – und die Bundestagsdebatte legte dafür beredtes Zeugnis ab -, durch unbewiesene Behauptungen und subtextuell gestreute Verleumdungen die unteren sozialen Segmente gegeneinander auszuspielen sowie innerhalb der sich selbst bedroht fühlenden Mittelschichten die soziale Demontage durch Mobilisierung vorpolitischer Instinkte populistisch abzusichern. Diese Absicht wurde besonders eindrucksvoll in den Ausführungen des CDUAbgeordneten Karl Schiewerling deutlich, der tatsächlich seinen Zuhörern zu suggerieren suchte, dass Firmen geradezu verzweifelt nach Arbeitskräften fahndeten, und nur die sich hartnäckig entziehenden „faulen“ Arbeitslosen würden Vollbeschäftigung verhindern, was ihn zu der Schlussfolgerung veranlasste: „Jeder, der die Möglichkeit hat, sich mit seiner Hände Arbeit den Lebensunterhalt zu verdienen, hat auch die Pflicht dazu, seine Familie damit zu ernähren.“ Dass es jedoch die vielen Arbeitsplätze, die „eine Familie ernähren“, schlicht nicht gibt, spielte in der Suada dieses CDU-Bundestagsabgeordneten keine Rolle. Während seiner Rede verwechselte er offensichtlich das Parlament mit dem heimatlichen Stammtisch. Aber wie oben schon ausgeführt: Vorurteile sind gegenüber der Empirie immun, und am CDU-Stammtisch hat die Vernunft zu schweigen. Infam wurden die Darlegungen von CDU-Schiewerling, als er die materielle Not der Langzeitarbeitslosen in seine Stimmungsmache einbaute. Denn in der Erkenntnis, dass Arbeitsplätze fehlen, die „eine Familie ernähren“, hatte der Bundestag in einem lichten Moment beschlossen, die Zuverdienstmöglichkeiten für ALG-II-Empfänger zu verbessern. Dies geschah auch, um ihnen wenigstens einen Spaltbreit den Kontakt zum Arbeitsmarkt zu öffnen. Aber wenn dann Arbeitslose als korrekte und gesetzestreue Bürger bei der Bundesagentur für Arbeit nachfragen, wie es sich mit diesen Möglichkeiten verhält, dann ist Herrn Schiewerling das auch wieder nicht recht: „Statt aus der Grundsicherung herauskommen zu wollen und auf eigenen Beinen zu stehen (Ja, wie denn? Kennt Herr Schiewerling die Arbeitsmarktdaten nicht? F.G.), verharren einige lieber in der Grundsicherung (woher weiß er das? F.G.) und verdienen ein paar Euro dazu.“ Abgesehen von dem geringen Respekt, den hier ein Abgeordneter der von ihm selbst mit beschlossenen Gesetzgebung bekundet, ist hervorzuheben, dass dieser zu reinen Agitationszwecken ganz bewusst Ursache und Wirkung verwechselt. Die vom Gesetzgeber gewollte und geförderte Bereitschaft von Langzeitarbeitslosen, sich angesichts der prekären Lage auf dem Arbeitsmarkt ganz legal ein paar Euro zu ihrem kärglichen ALG II hinzuzuverdienen, wird von ihm gegen sie ausgespielt – und dies, obwohl gewiss der überwiegende Teil der Betroffenen liebend gern einen Vollerwerbplatz mit einem ausreichenden Einkommen hätte, wenn es sie denn nur gäbe.

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Es war der Fraktionsvorsitzende der LINKEN, Oskar Lafontaine, welcher der vor ihm sitzenden Ignorantenschar die eigentlich auch ihr bekannten Zusammenhänge erläutern musste: „Ein amerikanischer Nobelpreisträger, Bob Solow, hat einmal gesagt, die Hartz-Gesetze hätten vielleicht dann einen Sinn gehabt, wenn zuerst die Konjunktur in Gang gekommen und massiv neue Arbeitsplätze entstanden wären und anschließend diese Politik ins Werk gesetzt worden wäre. Er hat gesagt, es sei ein Grundfehler, Druck auf die Arbeitslosen auszuüben, bevor überhaupt neue Arbeitsplätze geschaffen worden seien. Dies gilt nach wie vor: Die Arbeitsplätze fehlen in weiten Bereichen unserer Gesellschaft; aber der Druck auf die Arbeitslosen wird immer weiter verschärft.“ Auf diese durchaus „systemimmanente“ Kritik wusste die Bundestagsmehrheit nichts zu antworten. Nur ein paar unqualifizierte Zwischenrufe störten das laute Schweigen. Nach einigen Krokodilstränen über die „wirklich“ Bedürftigen (wir kennen dies ja schon von Frau Falk), wandte sich CDU-Schiewerling dem von ihm empirisch nicht näher nachgewiesenen Teil jener Arbeitslosen zu, „die sich in der Grundsicherung einrichten wollen und ziemlich anreizresistent sind. Ihnen wollen wir mit den nun zu beschließenden Sanktionen auf die Sprünge helfen.“ Der Begriff „anreizresistent“ hat es wirklich in sich! Denn in ihm verbindet sich die reduktionistisch-menschenverachtende Anthropologie der neoklassischen Volkswirtschaftslehre, welche die Menschen nur noch als mittels „Anreize“ zu dressierende „Pawlowsche Hunde“ betrachtet, mit den erziehungsdiktatorischen Implikationen des autoritären Fürsorgestaats, der die Hungerpeitsche schwingt, um die Menschen gefügig zu machen. Da ist kein Raum mehr für die rechtlichpolitische Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger, da wird die Vorstellung vom Menschen als „Zweck an sich, der niemals ausschließlich Mittel zum Zweck sein darf“ (Kant) als antiquiertes Ideologem beiseite gelegt. Da ist auch für eine christlich abgeleitete Menschenwürde kein Platz mehr. Übrig bleibt nur noch das als „Freiheit“ getarnte sozialdarwinistische „Rattenrennen nach unten“. Es verdient festgehalten zu werden, dass sich zu solchen Tönen ein aufgrund seiner Parteizugehörigkeit wohl subjektiv als „Christ“ verstehender Politiker hergab. Wie tief ist doch die Christlich-Demokratische Union seit den Tagen eines Jakob Kaiser, Hans Katzer sowie zuletzt Norbert Blüm und Heiner Geißler gesunken. Während die CDU/CSU-Abgeordneten in ihren Debattenbeiträgen noch einigermaßen nachvollziehbar das „gesunde Volksempfinden“ aufrührten und dabei die Vorurteile des Stammtisches bedienten, so war es den Sozialdemokraten vorbehalten, die Beweislastumkehr bei eheähnlichen Gemeinschaften in einer

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Weise zu rechtfertigen, dass man sich unwillkürlich fragen muss, ob sie bei diesem traurigen Gegenstand ein parlamentarisches Possenspiel abziehen wollten. Ich rekapituliere: Das Bundesverfassungsgericht hat für die Anrechenbarkeit von Einkommen bei unverheirateten Paaren äußerst strenge Maßstäbe gesetzt. Denn es gibt innerhalb solcher Beziehungen keine einklagbaren Unterhaltsansprüche, und das Bundesverfassungsgericht wollte eine daraus resultierende eventuelle „Rechtlosstellung“ von Hilfebedürftigen als mit der Rechtsordnung unvereinbar vermeiden. Dies versetzte die ARGE’n bei den Bemühungen, möglichst viele angebliche Lebenspartner haftbar zu machen, regelmäßig vor den Sozialgerichten in Beweisnot. Eine juristische „Klatsche“ nach der anderen ließ die diesbezüglichen Bestimmungen des SGB II in vielen Fällen zur reinen Makulatur werden (die teilweise sarkastischen Urteilsbegründungen des Sozialgerichts Düsseldorf sind in diesem Zusammenhang recht amüsant zu lesen). Die Hartz-IV-Parteien verfielen daher auf die rechtsstaatlich anrüchige Idee, die Beweisnot von den ARGE’n auf die Arbeitslosen zu verlagern. Dabei nahmen sie billigend in Kauf, dass Hilfebedürftige zukünftig „rechtlos“ gestellt werden, da „vermutete“ innere Einstellungen äußerst schwierig bis unmöglich zu widerlegen sind, was den Intentionen des Bundesverfassungsgerichts strikt zuwiderläuft. In der Debatte erfrechten sich nun die Sozialdemokraten, die eindeutige Rechtsverschlechterung und potentielle „Rechtlosstellung“ von Hilfebedürftigen in vermuteten eheähnlichen Beziehungen als soziale Errungenschaft herauszustreichen. So meinte der Parlamentarische Staatssekretär Franz Thönnes, dass die Beweislastumkehr „eher zum Vorteil der Betroffenen“ ausschlage. Es war aber vor allem die angebliche Frontfrau der SPD-„Linken“, Andrea Nahles, die gleich in mehreren Beiträgen in einem geradezu atemberaubenden Zynismus hier die parlamentarische Drecksarbeit für Franz Müntefering erledigte. Ihr Auftritt diente wohl der öffentlichen Buße. Schließlich hatte sie sich angemaßt, gegen den Willen ihres damaligen Parteivorsitzenden zur Generalsekretärin aufzusteigen. Der moralische Bankrott der SPD-„Linken“ hört sich so an: „Deswegen stehe ich klipp und klar dazu, die Beweislastumkehr einzuführen; das heißt, wir wollen bundeseinheitlich klären, was eine Bedarfsgemeinschaft ist. ... Die Betroffenen bekommen eine klarere Rechtsgrundlage. ... Ich meine, dass wir mehr Rechtssicherheit schaffen und eine bundeseinheitliche Regelung einführen sollten. Das würde keine Verschlechterung, sondern eine Verbesserung für die Menschen bedeuten.“ Aber mit diesen Ausführungen war das flagellantische Auftreten der Andrea Nahles, die es unternahm, auf von ihr früher eingenommene Positionen zu speien, noch nicht vorbei. Aus dem Mittelalter wissen wir ja, dass Flagellanten im „Bußrausch“ nur schwer zu stoppen sind. Gegenüber Klaus Ernst von der WASG hob sie hervor, dass „gerade durch die Beweislastumkehr die von Ihnen nicht ganz zu Unrecht kritisierten so genann-

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ten Schnüffelaktionen verhinder(t) werden. (Ja, wo denn? Die ARGE’n sollen doch flächendeckend einen Schnüffeldienst einrichten, dessen Arbeit durch die Beweislastumkehr erheblich erleichtert wird. Hier lügt Frau Nahles! F.G.) Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass es sich hier um eine Verbesserung der Rechtslage für die Betroffenen handelt und nicht um eine Verschlechterung.“ Nun sitzen allerdings seit 2005 die LINKEN im Bundestag, so dass die dort von den Hartz-IV-Parteien verbreiteten Lügen nicht mehr unwidersprochen ins Land gehen können. Klaus Ernst machte denn auch dem Plenum schnell klar, dass die von Frau Nahles behauptete „Verbesserung der Rechtslage für die Betroffenen“ vor allem darin besteht, dass dieselben die „Vermutung“ der ARGE’n in der Regel nur noch durch Auflösungen von Wohngemeinschaften „widerlegen“ können. „Diese Umkehr der Beweislast führt dazu, dass jemand, der mit einem anderen in einer Wohngemeinschaft lebt, künftig nachweisen muss, dass er nicht für ihn einsteht und sich nicht solidarisch mit ihm verhält. Das führt dazu, dass Leute in solchen Gemeinschaften künftig ausziehen werden müssen, wenn in ihrer Gemeinschaft ein Arbeitslosengeld-II-Empfänger wohnt. Das ist Ihre Politik und das ist Unfug, Frau Nahles.“ Darauf wussten die Sozialdemokraten nichts mehr zu erwidern. Man darf wohl gespannt sein, wie die Justiz auf ein parlamentarisches Bubenstück reagieren wird, wo im Wege der einfachen Gesetzgebung die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgehebelt werden soll. Insgesamt war dies der zweite Versuch, an der Hartz-IV-Gesetzgebung herumzudoktern. Es wird wohl nicht der letzte sein. Hierzu meinte der FDPAbgeordnete Kolb spöttisch: „Das regt natürlich schon die Phantasie an, was uns auf dem Weg von >Hartz IV – das Gesetz< über >Hartz IV – die Änderung< und >Hartz IV – die Fortentwicklung< bis irgendwann zu >Hartz IV – die finale Optimierung< noch alles erwarten wird.“ Recht hat er, der Herr Kolb! Aber wir wissen auch, was die FDP unter einer „finalen Optimierung“ von Hartz IV versteht: Es ist das Arbeitshaus des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in das die Arbeitslosen zwangsweise einzuliefern sind.

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Impressum: Eigendruck Bremen April 2007 V.i.S.d.P.: Friedhelm Grützner

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Danksagung An dieser Stelle bedanke ich mich ganz herzlich bei meinem Parteifreund Helmut Weber, der die Idee zu dieser Zusammenstellung hatte, und der auch die technischen Vorarbeiten erledigte. Ebenfalls bedanke ich mich bei unserem Bundestagsabgeordneten Axel Troost (DIE LINKE), welcher das Erscheinen der Broschüre materiell möglich machte.

ALTERNATIVE POLITIK?

SOWAS SOWAS GEHT!