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Friedrich-Ebert-Stiftung
Werkstatt Soziale Demokratie
sommeruniversität
Werkstatt Soziale Demokratie
Dokumentation der Veranstaltung Sommeruniversität 12.–16. Juli 2010
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sommeruniversität
IMPRESSUM ISBN: 978-3-86872- 470-7 Herausgeber:
Friedrich-Ebert-Stiftung Abteilung Gesellschaftspolitische Information Godesberger Allee 149 53175 Bonn
Redaktion:
Dr. Klaus-Jürgen Scherer, Jochen Reeh-Schall
Fotos:
Joachim Liebe, dpa Picture Alliance
Gestaltung:
Pellens Kommunikationsdesign GmbH, Bonn
Druck:
Media-Print Informationstechnologie GmbH, Paderborn
Transkription:
textpool-Berlin Diana Barth
Wir bedanken uns für die Hilfe bei der Erstellung: Ricarda Bier, Dr. Michael Dauderstädt, Anne Kantel, Frederike Schmidt, Wolfgang Wiemer Aus Platzgründen war es leider nicht möglich alle Beiträge der Mitwirkenden der Sommeruniversität abzudrucken. Mitgewirkt haben: Prof. Dr. Hans Bertram, Thomas Bosch, Dr. Susanna Brogi, Ulf Bünermann, Heinz Buschkowsky, Michael Clivot, Prof. Dr. Sebastian Dullien, Prof. Dr. Christoph Ehmann, Prof. Dr. Ulrich Eith, Elke Ferner, MdB, Sigmar Gabriel, MdB, Lars Haferkamp, Susanne Höll, Dr. Christian Ludwig Humborg, Astrid Klug, Janis Klusmann, Daniela Kolbe, MdB, Dr. Esther Lehnert, Matthias Machnig, Caren Marks, MdB, Prof. Dr. Thomas Meyer, Andrea Nahles, MdB, Jürgen Neumeyer, Prof. Dr. Oskar Niedermayer, Jürgen Niemann, Aydan Özoguz, MdB, Prof. Dr. Karin Priester, Jochen Reeh-Schall, Dr. Ernst Dieter Rossmann, MdB, Kerstin Rothe, Dr. Klaus-Jürgen Scherer, Christina Schildmann, Dr. Roland Schmidt, Carsten Schneider, MdB, Olaf Scholz, MdB, Stephan Schweitzer, Dr. Tilman Spengler, Dr. Philipp Steinberg, Jan Strecker, Jens Tartler, Dr. Wolfgang Thierse, MdB, Frank Vollmert, Albrecht von Lucke, Martin-Oliver Weinert, Karsten Wenzlaff, Bernd Westphal
sommeruniversität
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Friedrich-Ebert-Stiftung
Inhalt
Dr. Roland Schmidt Vorwort
4
Sigmar Gabriel Perspektiven der Sozialdemokratie
5
Andrea Nahles Gute Gesellschaft
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Matthias Machnig Die Erneuerung der Sozialdemokratie
21
Astrid Klug Partei 2.0 – Die Erneuerung der SPD zwischen OV-Versammlung und Web-Auftritt
27
Podiumsdiskussion Zukunft der Sozialen Demokratie – Soziale Demokratie der Zukunft
32
Prof. Dr. Thomas Meyer
32
Prof. Dr. Oskar Niedermayer
35
Prof. Dr. Karin Priester
39
Prof. Dr. Ulrich Eith
41
Prof. Dr. Sebastian Dullien Arbeit – Innovation – Umwelt
44
Dr. Wolfgang Thierse Demokratie und Freiheit
49
Bernd Westphal Gut und sicher leben
55
Prof. Dr. Christoph Ehmann Bildung
61
Prof. Dr. Hans Bertram Wandel der Familie
66
Heinz Buschkowsky Integration – Klare Worte zu einer zentralen Zukunftsaufgabe
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Podiumsdiskussion Perspektiven Sozialer Demokratie
77
Susanne Höll
77
Jens Tartler
78
Albrecht von Lucke
79
Lars Haferkamp
82
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sommeruniversität
Vorwort Dr. Roland Schmidt ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der FES
Neue Konzepte und neue Ideen sind daher gefragt, um für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes die Grundwerte der Sozialen Demokratie mit neuem Leben zu füllen. Wir wünschen uns, dass bei diesem Prozess möglichst viele Menschen mitarbeiten. Bei der Sommeruniversität soll es nicht vorrangig um das „Tagesgeschäft“ der aktuellen Politik gehen. Mit den Themenfeldern Arbeit, Umwelt und Innovation, Gut und sicher leben, Familie, Integration, Es ist das Anliegen der Friedrich-Ebert-Stiftung,
Bildung sowie Demokratie und Freiheit sind die
durch politische Bildung die Bürgerinnen und Bür-
zentralen Bereiche benannt, deren Ausgestaltung
ger unseres Landes zur aktiven Teilnahme an poli-
zeigen wird, ob sich unsere Gesellschaft zu einer
tischen Debatten und Entscheidungsprozessen zu
freiheitlichen, gerechten und solidarischen Gesell-
motivieren. Aus diesem Grund veranstalten wir
schaft entwickeln wird oder ob die Schere zwischen
seit dem Jahr 2001 jährlich eine Sommeruniversi-
Arm und Reich, zwischen Oben und Unten aber auch
tät, bei der wir rund 100 ausgewählten Studieren-
zwischen Politik und Gesellschaft weiter aufgeht.
den, jungen WissenschaftlerInnen und BerufseinsteigerInnen eine Woche lang die Möglichkeit
Anspruch der Sommeruniversität ist es, Ideen-
geben, mit PolitikerInnen, hochrangigen Wissen-
schmiede zu sein, bei der kontroverse Diskussionen
schaftlerInnen und JournalistInnen zu debattieren.
und gemeinsame Arbeit an den Konzepten für die Zukunft im Vordergrund stehen. Gemeinsam mit
Im Jahr 2010 hat die Sommeruniversität der Fried-
den Referentinnen und Referenten können die
rich-Ebert-Stiftung nun zum zehnten Mal stattge-
Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Ideen in die
funden. Zehn Jahre Sommeruniversität begründen
Debatten einbringen und politisch Verantwort-
schon eine Tradition. Diese muss man ständig pfle-
lichen präsentieren.
gen und sie mit neuem Leben füllen, um sie zukunftsfähig zu halten.
Diese Broschüre dokumentiert die wichtigsten Vorträge der Sommeruniversität 2010. Die Vielzahl
Unter dem Motto „Werkstatt Soziale Demokratie“
der Beiträge und Ergebnisse macht es leider un-
bot sich daher in diesem Jahr die Gelegenheit, über
möglich, dies vollständig zu tun. Die Auswahl der
die Fragen nachzudenken und zu diskutieren, die
Beiträge soll aber anregen, über die Veranstaltung
für die Entwicklung der Gesellschaft von hoher
hinaus weiterzudiskutieren. Insoweit hoffen wir
Relevanz sind.
auf reges Interesse.
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Perspektiven der Sozialdemokratie Sigmar Gabriel MdB, Vorsitzender der SPD
Wenn ich über „Perspektiven der Sozialdemokratie“ sprechen soll, so deutet das an, dass ich den Blick etwas in die Weite schweifen lassen soll. Ich möchte aber dabei auf dem Boden bleiben, denn wir haben binnen Jahresfrist erlebt, wie sich Perspektiven sehr schnell ändern können: Vor einem Jahr waren wir Regierungspartei. Vor neun Monaten waren wir am Boden und die Schwarzen und Gelben vor einer großen Zukunft. Jetzt herrscht da schon wieder Ernüchterung und die ersten politischen Nachrufe werden geschrieben. Die FDP kratzt an der 5-Prozent-Hürde und einzelne Um-
gesorgt, dass die Finanzmärkte nicht zusammen
fragen sehen uns sogar vor der Union. Das alles
gebrochen sind. Und das hat zur Folge, dass es ein-
geht schnell und es ist besser, mit beiden Beinen
fach weiter ging: Die großen Banken haben die
auf dem Boden zu bleiben als sich allzu schnellen
Krise zu gewinnbringender Arrondierung genutzt.
Hoffnungen hinzugeben.
Sie verdienen schon wieder blendend mit den gleichen Casino-Spielen wie zuvor. Weltweit haben
Das Gleiche gilt übrigens auch im Großen. Als im
die Vermögen schon längst wieder den Stand vor
Herbst 2008 der Rauch des großen Schocks sich
der Krise erreicht.
langsam verzog, während immer noch weitere Nachbeben die Finanzwelt erzittern ließen, da
Nur die Zeche haben sie geprellt. Die Zeche für die
schien mit einem Schlag auch die neoliberale
Krise müssen andere zahlen: Reich und Arm sind in
Hegemonie, die weltumspannende Macht dieser
der und durch die Krise noch weiter auseinander
Idee über Staaten und über die Köpfe der Menschen
gedriftet. Und auch politisch profitieren – und das
gebrochen zu sein: Der Markt kann nicht alles
nicht nur in Deutschland – nicht die Linken, son-
richten, er richtet sich selbst. Das dachten viele.
dern eher die Parteien, die dem Neoliberalismus das Wort reden.
Und es wuchsen große Träume und Hoffnungen von der Renaissance linker Werte, von der Wieder-
Doch gleichzeitig wachsen auch Misstrauen und
geburt linker Gesellschaftsmodelle, von der Stär-
Ernüchterung.
kung und neuen Durchsetzungsmacht linker Politik. Einhalten und weltweite Neubesinnung, das
Umfragen zeigen, dass das Vertrauen in Politik,
schien greifbar.
Wirtschaft und Medien sinkt. Viele Menschen in Deutschland haben den Eindruck, dass sich „die da
Aber auch diese Perspektive änderte sich schnell.
oben“ von der Lebenswirklichkeit der Mehrheit der
Die internationale Staatengemeinschaft hat dafür
Menschen im Land weit entfernt, ja vollständig
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sommeruniversität
abgekoppelt haben. Und ich sage Euch: Dieses
die größte Herausforderung für die Neuformulie-
Urteil trifft auch uns, leider auch die Sozialdemo-
rung linker Politik:
kratie. Wir müssen denjenigen Menschen, die den EinDieser Prozess hat zwei Seiten, die sich gegenläufig
druck haben, dass Politik Entscheidungen vollkom-
verstärken! Denn auch mangelndes Interesse für
men abgekoppelt von ihrer Lebenswirklichkeit
politische Debatten und geringeres Engagement
fällt, wieder eine Stimme und neue Hoffnung ge-
bei Parteien und politischen Initiativen vergrößert
ben. Das Gegenteil tun Liberale und Konservative
den Graben.
in ihrem Umgang mit den Folgen der Wirtschaftsund Finanzkrise. Das ist ein Musterbeispiel, wie man
Dass dieser Graben dennoch nicht unüberwindlich
Politik und Bevölkerung noch stärker entfremdet.
ist, hat die Kandidatur von Joachim Gauck für das Amt des Bundespräsidenten gezeigt. Sie hat ein
Immer mehr Menschen sehen mit wachsender
ungeahntes und unerwartet starkes Echo gebracht.
Sorge, dass die Verluste der unverantwortlichen
Und es haben sich viele Menschen engagiert, die
Zockerei an den Finanzmärkten der Allgemeinheit
sich sonst für Politik eher nicht begeistern lassen.
aufgebürdet werden. Viele empfinden es als regelrechte Ausplünderung des Gemeinwesens, wenn
Aber diese Erfahrung hat dennoch die Analyse be-
die Risiken sozialisiert und die Gewinne privatisiert
stätigt, dass die Politik ein erhebliches Bindungs-
werden. Und immer mehr Bürgerinnen und Bürger
problem in die Gesellschaft hat. Und das ist auch
erfahren die Folgen der ungleichen Verteilung der Krisenlasten am eigenen Leibe. Wer in Deutschland von einem durchschnittlichen Einkommen lebt, muss sich schon seit langem einschränken. Jeder spürt das: Es wird schwieriger, die Raten für das Haus zu bezahlen. Der Urlaub bleibt auf der Strecke. Man muss sich ganz schön strecken, um den Kinder die Chance auf Bildung geben zu können: Gebühren für den Kindergarten, die Lernmittelfreiheit ist abgeschafft, dafür gibt’s Studiengebühren. Manchmal hilft nur noch ein Zweitjob neben der Arbeit. Es bleibt immer weniger. Das Sparpaket, mit dem die schwarz-gelbe Bundesregierung die Bremsspuren, die die Krise im Haushalt eingefurcht hat, beheben will, bürdet gerade den eigentlichen Leistungsträgern, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nun auch die Last dieser Krisenfolgen auf. Dieses Sparpaket ist eine Kampfansage an die Menschen in Deutschland! Die Einschnitte in den Sozialbereich, die Maßnahmen, die die einfachen Menschen treffen, sind handfest, die werden mit aller Sicherheit knallhart durchgezogen werden. Die Sparbeiträge der Wirt-
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schaft dagegen sind nichts weiter als Luftbuchungen und Absichtserklärungen. Die Erfahrung zeigt: Die Bundesregierung wird sich mit Lobbyisten und großzügigen Spendern nicht anlegen. Nur an die Schwächsten der Gesellschaft trauen die sich heran. Dieses sogenannte Sparprogramm verletzt bei den meisten Deutschen ihr Gefühl für Fairness. Und genau das entfremdet die Menschen im Land immer stärker von „der Politik“. Die Bürgerinnen und Bürger unterscheiden dabei immer weniger nach „rechts“ und „links“. Wir Sozialdemokraten werden mit in Haftung genommen – sicher auch ein Stück weit zu Recht, denn wir haben ja schließlich 11 Jahre regiert. Immer stärker unterscheiden die Menschen aber zwischen „oben“ und „unten“. sie ihre Heimat bei den Grünen. Wir sollten zu Unsere Perspektive muss dabei viel stärker als in
dieser linksliberalen Partei anschlussfähig bleiben
den letzten Jahren wieder die Perspektive von un-
und alles dafür tun, dass es ihnen schwer fällt, zur
ten werden. Wenn wir bei den Menschen sind,
CDU zu gehen. Das ist eine ganz normale politische
ihnen – wie gesagt – Stimme und Hoffnung geben,
Option der GRÜNEN. Rot-Grün ist eben doch kein
werden wir auch wieder neues Vertrauen gewinnen.
Generationenprojekt. Aber die SPD muss dafür sorgen, dass die Gemeinsamkeiten von Sozial-
Und diese Perspektive ist der angestammte Blick-
demokratie und GRÜNEN größer sind, dass eine
winkel der Sozialdemokratie:
gemeinsame Basis erhalten bleibt. Die Zeit der Großen Koalition hat uns voneinander entfernt –
Linke Politik hat doch von jeher den Anspruch, die
es gab aber auch Erfahrungen aus der gemeinsamen
gesellschaftlichen Verhältnisse und ganz direkt die
Regierungszeit, die ähnliches bewirkt haben. Wir
Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern.
sollten uns daher um Partnerschaft auf Augenhöhe
Das ist die Erwartung an linke Politik, das ist die Auf-
bemühen.
gabe der SPD. Es gibt große Zukunftsfragen: Wie schaffen wir es, Ich will an dieser Stelle auch etwas zu den GRÜNEN
einer wachsenden Weltbevölkerung die Chance
sagen: Die GRÜNEN sind die zweite liberale Partei
zur Industrialisierung zu geben, ohne die natür-
in unserem Parteiensystem. Die Bürgerrechtsorien-
lichen Lebensgrundlagen zu ruinieren? Wie schaf-
tierten, das aufgeklärte Bürgertum, die kritischen
fen wir es Globalisierung und demokratische Wil-
Intellektuellen, diejenigen, die am sozialen Aus-
lensbildung zusammenzubringen? Ich glaube, dass
gleich, aber auch an Bildung und Aufstieg orien-
SPD und GRÜNE die einzigen Parteien sind, die
tiert sind, waren in den 60ern und 70ern klassische
dafür ein Arsenal an Antworten haben, und dazu
Wählerschichten der FDP. Die FDP hat sich um
gibt es dabei große Überschneidungen. Das ist der
diese Gruppen nicht mehr gekümmert, auch wir
inhaltliche Grund, warum ich glaube, dass SPD
haben das nicht ausreichend getan. Jetzt haben
und GRÜNE zusammen regieren sollen.
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sommeruniversität
Die Bedingungen für gestaltende Politik haben sich
Dabei stellen sich der Sozialdemokratie vier Rich-
in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch ver-
tungsfragen.
ändert. Und die Krise der Finanzmärkte hat den finanziellen Spielraum für das Machbare weiter
Die erste Richtungsfrage lautet: Wer bestimmt die
eingeengt. Die gigantisch gewachsene Verschul-
Regeln, die Ökonomie oder die Politik?
dung der meisten Staaten lässt wenig Verteilungsspielraum, lässt wenig Geld übrig für eine Politik,
Wir müssen wieder politische Gestaltungsmacht
die Aufstieg, Teilhabe und Chancengleichheit
gewinnen. Wir müssen den umfassenden Primat
fördern will.
der Demokratie durchsetzen. Wir müssen eine Einbettung des Kapitalismus in eine freie, gerechte
Das ist die Herkulesaufgabe, vor der wir stehen:
und menschliche Gesellschaft erreichen. Anders
Wir müssen angesichts dieser Wirklichkeit poli-
als durch demokratische Gegenmacht wird es nicht
tische Konzepte formulieren, eben diese Realität zu
zu schaffen sein, den Finanzkapitalismus mit
verändern und diesen Zustand zu überwinden.
seinen zerstörerischen Tendenzen zu bändigen. Anders können wir aber auch die anderen großen
Lebensverhältnisse zu bessern und Zukunft zu ge-
Herausforderungen nicht bewältigen: Die Folgen
stalten: Das ist – politiktheoretisch gesprochen –
von Klimawandel und Bevölkerungsentwicklung,
unsere progressive Aufgabe. Liberale und Konservati-
den Zugang zu den natürlichen Ressourcen oder
ve haben demgegenüber jeden Gestaltungswillen
die Sicherung einer friedlichen Weltordnung – all
aufgegeben. Sie wollen die in den letzten Jahren ex-
das lässt sich gerecht und dauerhaft nur demo-
plosiv gewachsenen Schulden allein durch Kür-
kratisch aushandeln und verlässlich regeln.
zungen bei den Sozialausgaben begleichen. Das ist ungerecht. Aber nicht allein das. Es ist angesichts
Marktfundamentalismus hat sich als große Gefahr
immer kürzerer Abstände zwischen ökonomischen
für Arbeit, für Wirtschaft und erst recht für die
Krisen zudem weder nachhaltig noch erfolgver-
Demokratie erwiesen. Nicht die Politik setzt die
sprechend. Soziale Errungenschaften dagegen zu
Rahmenbedingungen, sondern eine globalisierte
verteidigen, die wir erkämpft haben und die für die
und entfesselte Weltwirtschaft. Die Krise war keine
Menschen Sicherheit angesichts der großen Le-
Folge individueller Exzesse. Die Manager haben
bensrisiken bieten und die Solidarität mit den
nichts anderes gemacht, als die Möglichkeiten des
Schwachen verlässlich organisieren – darin haben
Finanzkapitalismus innerhalb der gesetzlichen
wir als Sozialdemokratie auch eine konservative
Grundlagen zu nutzen.
Aufgabe. Ich sage darum: Wir brauchen neue – und zwar Allerdings sind soziale Gerechtigkeit und faire Teil-
demokratisch bestimmte – Spielregeln, die so etwas
habe – auch das will ich klar sagen – nicht allein
in Zukunft verhindern! Damit muss Schluss sein!
durch den Eingriff des Staates zu schaffen. Eine solche Sicht wäre paternalistisch. Starrer Etatismus
Die zweite Richtungsfrage ist die nach einer ge-
bekommt auf die Dauer nicht die demokratische
rechten Verteilung: Wollen wir Wohlstand und
Unterstützung, die wir brauchen, um uns gegen
Chancen für viele oder nur für wenige?
wirtschaftlich starke und politisch mächtige Minderheitsinteressen durchzusetzen. Wir wollen uns
Die Ungleichheit zwischen arm und reich ist in
nicht damit zufrieden geben, auf eine halbwegs
Deutschland gewachsen. Die Lohnquote ist so
faire Weise staatliches Handeln an Zwänge anzu-
niedrig wie nie zuvor, die Zahl von Menschen, die
passen. Wir müssen aus der Perspektive der Bürger-
in prekären Verhältnissen leben, wächst. Nicht erst
innen und Bürger und gemeinsam mit ihnen Ant-
die Krise setzt die alte Verteilungsfrage zugespitzt
worten auf die Herausforderungen von Globali-
wieder auf die Tagesordnung. Wir müssen den
sierung, Klimawandel, wachsender Ungleichheit
gesellschaftlichen Konsens in Deutschland wieder
und wiederkehrenden Wirtschaftskrisen finden.
herstellen, dass bei der Finanzierung unserer Ge-
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Friedrich-Ebert-Stiftung
sellschaft und der staatlichen Aufgaben breite
Im letzten Wahlkampf habe ich oft gehört, dass die
Schultern mehr tragen müssen als schwache. Das
Bürgerinnen und Bürger von der Finanzkrise ver-
hat gar nichts mit Sozialneid zu tun: Starke Un-
unsichert seien und deshalb konservativ wählen
gleichheit gefährdet den gesellschaftlichen Zusam-
würden. So kam es dann ja auch. Heute sind die
menhalt. Zu große Ungleichheit schränkt die Frei-
meisten jedoch enttäuscht, weil sie bei Angela
heit vieler Menschen ein. Und sie hemmt wirt-
Merkel vorsichtige konservative Politik auf Sicht
schaftliches Wachstum.
erwartet haben. Was kam, war weder bewahrend noch gab es ein Gefühl von Sicherheit. Im Gegen-
Eine faire Umverteilung setzt allerdings nicht
teil: Es sehen doch alle, dass dieses Land zum Spiel-
gleich staatliche Transferleistungen voraus: An-
ball von Spekulanten an anonymen Finanzmärk-
ständige Löhne für gute Arbeit. Löhne, die den
ten zu werden droht. Wenn Menschen sich nur
Menschen, die sich Mühe geben, ihr Auskommen
noch als Spielball sehen, verlieren sie das Zutrauen,
sichern, das entspricht dem Gerechtigkeitssinn der
ihr Leben selbst gestalten zu können. Und sie ver-
meisten Menschen im Land viel mehr. Dafür
lieren die Bereitschaft, Verantwortung zu über-
braucht es das Engagement der Arbeitnehmerinnen
nehmen.
und Arbeitnehmer für starke Gewerkschaften. Und auch das bringt mehr Demokratie in die Wirtschaft!
Unsicherheit herrscht bei unseren Bürgerinnen und Bürgern aber schon viel länger. Schon vor der
Die dritte Richtungsfrage ist deshalb die nach dem
Krise haben sich viele Menschen überfordert ge-
Engagement der Bürgerinnen und Bürger, nach
fühlt von schnellem Wandel. Das ist für mich nicht
dem Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält.
Ausdruck eines tiefsitzenden Konservatismus. Das ist vielmehr das Bedürfnis, nicht machtloses Ob-
Für Linke heißt das „Solidarität“. Der Sozialstaat ist
jekt zu sein. Das ist ein Sehnen nach Sicherheit, die
die größte zivilisatorische Errungenschaft moder-
aus dem Vertrauen in die eigene Kraft entsteht, aus
ner Gesellschaften. Das Prinzip ist einfach, aber
der Gewissheit, sein Leben im Griff, die eigene
revolutionär: Wer unverschuldet in Not gerät, er-
Zukunft selbst in der Hand zu haben.
fährt die Solidarität der Gemeinschaft. Das bedingt gleichzeitig, dass die Menschen sich anstrengen.
Wir hatten uns als Regierungspartei deshalb vorge-
Denn nur, wenn sich alle anstrengen, können die,
nommen, Sicherheit im Wandel zu stiften. Das
die Hilfe brauchen, auch Hilfe kriegen.
sollte ein Gefühl von Sicherheit sein, gestiftet von festen Leitplanken und solidarischen Sicherungen.
Daran schließt sich die vierte Richtungsfrage an:
Wenn ich ehrlich bin, dann ist uns das nicht im-
Lohnt sich Anstrengung? Wer bekommt die Chance
mer gelungen. Wir haben nicht verhindern kön-
sich aus eigener Kraft zu entfalten, den Zugang zu
nen, dass immer mehr Menschen zu Armutslöhnen
Aufstieg?
arbeiten müssen. Wir haben das Auseinanderdriften von Einkommen und Vermögen nicht stoppen
Da geht es vor allem um Bildung. Unser Land tut
können.
dafür – trotz aller Bildungsgipfel – zu wenig. Wollte Deutschland auch nur die durchschnittlichen Aus-
Wo führt das alles hin? Das war ein durchgängiges
gaben der OECD-Staaten für Bildung erreichen,
Thema bei vielen Gesprächen, die ich mit Men-
bräuchten wir jedes Jahr über 20 Milliarden Euro
schen in den letzten Jahren geführt habe. Ob auf
mehr. Wir hängen uns da selber ab. Gerade die letzte
dem SPD-Fest in der Pfalz, beim Wahlkampf in
Woche hat gezeigt, wie Schwarz-Gelb Bildungschan-
Dortmund oder beim Ortsvereinstreffen in meinem
cen nimmt: Die BAföG-Erhöhung wird gestrichen,
Wahlkreis.
stattdessen werden Stipendien eingerichtet ohne jeden sozialen Chancenausgleich!
Vieles, was unser Land stark – und ich füge hinzu: stabil – gemacht hat, gilt heute nicht mehr. Be-
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sommeruniversität
schleunigung von Wandel, unübersichtliche Ver-
Sie erleben, dass Menschen mit unsicheren Situa-
antwortlichkeiten für Entscheidungen, die wach-
tionen zu kämpfen haben, die sich vor einigen Jah-
sende Entfernung zwischen denen, die entscheiden
ren keine Gedanken über wirtschaftliche Probleme
und denen, die davon betroffen sind: das unter-
machen mussten. Oft höre ich dann den Satz: „Da
gräbt mittlerweile die Grundfesten unserer sozialen
ist was aus dem Lot, da stimmt was nicht mehr in
Ordnung. Denn Ordnung basiert auf der Bereit-
Deutschland!“ Und das sind ja nicht bloß einzelne
schaft aller Menschen, sich an Regeln zu halten
Erfahrungen. Viele, die lernen, dass Anstrengung
und Verantwortung zu übernehmen. Für sich und
für sich und für die eigenen Kinder nicht mehr
andere. Das tun sie wie im Fußball dann, wenn
ausreicht, strengen sich vielleicht weniger an. Sie
diese Regeln für alle gleichermaßen gelten. Daran
schicken ihre Kinder nicht an die Universität oder
glauben immer weniger. Das merkt jeder, der auf-
drängen sie nicht in der Pubertät zur ordentlichen
merksam zuhört. Und immer weniger wissen,
Berufsausbildung.
welche Regeln eigentlich gelten. Einige Beispiele dafür:
Wenn die Kinder in die Schule kommen, fehlt es oft schon daran, dass die überhaupt ausreichend
Mehr Sorgen als die eigene Zukunft machen vielen
Deutsch können. Und das betrifft inzwischen auch
Menschen die Aussichten ihrer Kinder und Enkel.
die deutschen Kinder, nicht nur die Ausländer!
Eine ganze Nachkriegsgeneration hat mal als Be-
Und Jahr für Jahr entlassen die Schulen ungefähr
gründung für die eigene harte Arbeit den Satz ge-
70.000 junge Menschen ohne einen Abschluss ins
sagt: „Meine Kinder sollen es einmal besser haben.“
Leben. An den Hochschulen in Deutschland bre-
Ich muss zugeben, dass mich dieser Satz in meiner
chen mehr als ein Viertel aller Studierenden ihr
Jugend eher genervt hat. Seit ich selbst Vater bin,
Studium ohne Abschluss ab. Und diejenigen, die
verstehe ich ihn besser. Und ich sehe bei vielen,
einen Abschluss schaffen, finden – gleich ob nach
dass die Hoffnung darin nicht mehr funktioniert.
der Lehre oder nach der Uni – oft wieder nur schwer
Man muss ja schon froh sein, wenn die eigenen
den Einstieg in den Beruf. Denn oft müssen sie
Kinder einen vernünftigen Einstieg schaffen. Viele
sich, jahrelang mit schlecht bezahlten Praktika und
Eltern – oder Großeltern – strengen sich auch heu-
gleichzeitigen Nebenjobs durchschlagen oder sich
te an, dem Sohn das High-School-Jahr in Amerika
von einem befristeten Vertrag zum nächsten han-
zu finanzieren. Sie sparen bei sich selbst, um der
geln.
Tochter den Sprachkurs in Frankreich zu bezahlen. Und dann müssen sie erleben, wie das exzellent
Ich will nicht, dass das so weitergeht! Ich will, dass
ausgebildete Kind das dritte unbezahlte Praktikum
mehr Menschen sich ausreichend sicher fühlen,
in Brüssel absolviert und immer noch nicht fest
um überhaupt Kinder zu planen. Dafür sollten
angestellt ist.
jeder und jede in dieser Gesellschaft erwarten kön-
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Friedrich-Ebert-Stiftung
nen, aus eigener Kraft ein Leben in einigermaßen
Bürger von einer neuen sozialen Ordnung abhängt.
geordneten Bahnen führen zu können.
Das heißt: von dem Schaffen einer Welt, in der Menschen sich zurechtfinden können. Das schafft
Was ist denn notwendig dafür, dass es unseren Kin-
ein Gefühl von Sicherheit.
dern einmal besser gehen kann? Fleiß und Anstrengung, sagen die Konservativen. Das ist richtig, aber
Ich finde, dieses Land sollte allen, die sich anstren-
ich weiß auch, dass das nicht reicht.
gen, etwas aus sich oder ihren Kindern zu machen,
Die jungen Menschen, die sich heute und in Zu-
dabei die beste Unterstützung geben. Dazu gehört
kunft in dieser Welt zurechtfinden sollen, brauchen
kostenfreie Bildung bis zum ersten Abschluss. Dazu
eine gute Erziehung. Sie müssen unter sich wan-
gehören gute Kindergärten und Schulen. Dazu ge-
delnden Bedingungen klar kommen. Deshalb brau-
hört eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplät-
chen sie Optimismus, um immer wieder neu lernen
zen in Berufen mit Zukunft. Dazu gehört mehr
zu wollen. Sie müssen mit Sprache und Technik
berufliche Weiterbildung. Dazu gehören auch gute
umgehen können, dafür benötigen sie eine gute
Hochschulen. Ich weiß, das kostet viel Geld. Aber
Ausbildung.
investieren wir das Geld nicht, wird es noch viel teurer. Die Bertelsmann-Stiftung hat ausgerechnet,
Individuelle Anstrengung und die Unterstützung
dass sich die Folgekosten unzureichender Bil-
in der Familie trägt dann Früchte, wenn die Bedin-
dungspolitik für Deutschland über die nächsten
gungen für den Einstieg gut sind. Das ist eine Auf-
80 Jahre auf mehr als 2,8 Billionen Euro summie-
gabe der Politik.
ren könnten.
Stattdessen sind für viele in dieser Gesellschaft
Das heißt für Sozialdemokraten: Das ist eine Auf-
Einstieg und Aufstieg blockiert. In der politischen
gabe, die die ganze Gesellschaft schultern muss.
Diskussion hat sich eine merkwürdige Logik breit
Starke Schultern tragen dabei mehr als schwache.
gemacht: Man spricht davon, dass Menschen An-
Wir haben im Bundestagswahlkampf dafür gewor-
reize für Anstrengung brauchen. Schaut man dann
ben, dass Steuern auf höchste Einkommen und
hin, was mit Anreiz gemeint ist, dann ist das die
große Vermögen erhöht werden, um Geld für gute
Drohung mit Sanktionen. Nicht gute Arbeit ist der
Bildung aufzubringen. Das halte ich weiter für den
Anreiz, sondern jede zumutbare Arbeit. Zu jedem
besseren Weg.
noch so unanständigen Lohn. Es muss genau umgekehrt sein in einer neuen sozialen Ordnung!
Es gibt aber noch weitere Bereiche, wo uns soziale Ordnung verloren gegangen ist: Inzwischen be-
Selbstkritisch muss ich als Sozialdemokrat sagen,
kommt man für anständige Arbeit und Anstren-
dass wir dieses Scheunentor für Missbrauch mit
gung längst nicht immer auch einen fairen Lohn.
geöffnet haben. Das führt zu einer Gesellschaft, die
Mehr als eine Million Menschen sind inzwischen
Sicherheiten nimmt, weil sie Unsicherheit als
trotz Vollzeitstellen auf Geld vom Staat angewie-
Triebfeder für Leistung nutzen will. Ich sage Euch:
sen. Das ist schlicht ein Skandal! Leistung und
Das löst Angst aus und keinen Motivationsschub!
Gegenleistung stimmen nicht mehr. Lange hat ge-
Immer mehr Menschen in unserem Land leben in
golten: Wer für seinen Lebensunterhalt arbeitet,
Unsicherheit über ihre Zukunft und in der Sorge,
kann von seiner Arbeit auch einigermaßen leben.
dass sie von Abstieg bedroht sind. Ihnen müssen wir
Immer mehr arbeiten für Niedriglöhne, die kaum
neue Sicherheit geben. Wer den Rücken frei hat,
oder gar nicht zum Leben reichen.
kann nach vorne schauen und Leistung bringen. Das ist ungerecht, und es ist zum Schaden des Ich will nicht Vergangenes wiederherstellen. Unsere
ganzen Landes! Denn der Grundsatz, für Anstren-
Welt ist nicht mehr dieselbe wie in den 70er Jah-
gung auch angemessen entlohnt zu werden, bildet
ren. Aber ich weiß auch, dass der Ertrag von Fleiß
den Kern einer Leistungsgesellschaft. Doch die Ent-
und Einsatzbereitschaft unserer Bürgerinnen und
wicklung in Deutschland geht in eine ganz andere
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sommeruniversität
Richtung: Seit 1995 ist Deutschland bei der Ent-
Tariflöhne unter 6 Euro ausgehandelt haben, um
wicklung der Löhne das Schlusslicht in Europa.
Mindestlöhne zu unterlaufen, haben diese Markt-
Gleichzeitig sind die Einkommen aus Vermögen
liberalen die Tarifbindung als Lohnfindungsme-
und aus Spekulation durch die Decke gegangen.
thode wieder entdeckt und führen sie nun gegen
Leiharbeit, sachgrundlose Befristungen und immer
gesetzliche Mindestlöhne ins Feld. Zudem hat in
neue Formen flexibler Beschäftigung setzen Betrof-
jüngster Zeit ein Urteil des Bundesarbeitsgerichtes
fene wie Stammbeschäftigte unter Druck. Allein-
die ordnende Wirkung von Tarifverträgen weiter
erziehende, Frauen nach der Babypause, Ältere
ausgehöhlt. Der Grundsatz „Ein Betrieb – ein Tarif-
oder junge Leute ohne Abschluss kriegen keine
vertrag“ gilt nicht mehr. Das untergräbt Solidarität,
Chance auf ordentliche Arbeit. Viel zu wenige
fördert Rosinenpickerei in den Betrieben und wird
schaffen es noch, bis zum normalen Rentenalter
weiter zur Spaltung von Belegschaften führen.
im Beruf zu bleiben. Nur jeder vierte der über 60-Jährigen ist noch in Beschäftigung!
Aber wenn Deutschland weiter sozialen Frieden und eine kräftige Binnennachfrage haben will,
Eine neue soziale Ordnung muss zuerst eine ge-
müssen wir rasch dafür sorgen, dass es wieder eine
rechte Ordnung sein. Das heißt vor allem: Wer sich
einheitliche Tarifordnung gibt. Die ist ein zentraler
anstrengt für sich und seine Familie, der sollte
Baustein einer neuen sozialen Ordnung.
mehr haben als das Nötigste. Darauf müssen wir unsere Politik ausrichten: dass dies wieder gilt. Das
Zu wirtschaftlicher Vernunft gehört etwas, das
ist mein Verständnis von Konservatismus: Etwas,
sogar in unserem Grundgesetz festgeschrieben ist.
das zum Nutzen aller funktioniert hat, nicht ein-
In der Großen Koalition von 1966 bis 1969 reagier-
seitig zu verändern.
te der sozialdemokratische Wirtschaftsminister Karl Schiller auf die erste Wirtschaftskrise der
Deshalb ist die Einführung von Mindestlöhnen,
Bundes-republik mit einer wirtschaftspolitischen
von denen man auch leben kann, zuerst einmal ein
Strategie, die zur Verabschiedung des Stabilitäts-
Gebot der Gerechtigkeit. Mindestlöhne sollen da-
und Wachstumsgesetzes führte. Schillers Strategie
bei nicht zur Richtgröße für Durchschnittslöhne
orientierte sich an dem, was „Magisches Viereck“
werden. In vielen Branchen hat man inzwischen
getauft wurde. Sie basiert auf Preisniveaustabilität,
den Eindruck, dass das die Richtung ist, in die Ar-
einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirt-
beitgeber die Löhne drücken wollen. Für die Moti-
schaftlichem Gleichgewicht bei angemessenem
vation der arbeitenden Bevölkerung sind existenz-
und stetigem Wirtschaftswachstum. Diese vier Ori-
sichernden Löhne wichtig. Mehr Geld für mehr
entierungspunkte dienen dem im Grundgesetz
Leistung entspricht einem weit verbreiteten All-
(Art. 109 Abs. 2 GG) verankerten Staatsziel des
tagsempfinden von Gerechtigkeit. Es ist aber auch
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.
volkswirtschaftlich dringend geboten, die Lohnquote in Deutschland zu heben. Sie war im letzten
Heute würde man es als ein nachhaltiges Modell
Jahr in Deutschland so niedrig wie nie zuvor. Und
von wirtschaftlicher Entwicklung bezeichnen. Und
mit dem Absinken der Lohnquote hat sich auch
ein nachhaltiger Umgang mit den natürlichen
das Wachstumstempo in unserem Land verlang-
Ressourcen sollte darum heute auch diese vier
samt. Dabei gilt immer noch: Autos kaufen keine
Orientierungspunkte ergänzen. Dieses Modell be-
Autos! So einfach sind volkswirtschaftliche Wahr-
rücksichtigt ökonomische, politische und mensch-
heiten manchmal.
liche Entwicklungskriterien. Und es berücksichtigt unausgesprochen, dass Arbeit, ein hohes Beschäf-
Die Lohnentwicklung in Deutschland basierte lange
tigungsniveau, die beste Voraussetzung für Gerech-
Zeit auf einer festgefügten Tarifordnung. Die zu
tigkeit ist.
beseitigen war bis vor wenigen Jahren Top-Priorität von Marktliberalen in CDU / CSU und FDP. Erst,
Diese Zeiten sind lange vorbei. Wir haben uns in
seit allerlei dubiose sogenannte Gewerkschaften
den letzten beiden Jahrzehnten daran gewöhnt,
13
Friedrich-Ebert-Stiftung
wirtschaftliche Entwicklung und soziale Gerechtig-
versichert ist. Angesichts der steigenden Kranken-
keit als Spannungsverhältnis zu betrachten. Viele
kassenkosten fragen sich viele Menschen heute, ob
betrachten es als Gegensatz, oder zumindest doch
sie wirklich noch ausreichend geschützt sind, wenn
als eine Hierarchie. Diese Hierarchie wird gerne in
sie krank werden. Fast alle jungen Menschen zwei-
dem Satz zusammengefasst, dass erst erwirtschaftet
feln, ob ihre Rente später zum Leben reicht. Die-
werden müsse, was man hernach verteilen könne.
jenigen, die es könnten, helfen immer weniger mit,
Das ist ja nicht falsch. Diese Logik basiert aber auf
die Steuerlast tragen Arbeitnehmerinnen und
der falschen Annahme, dass soziale Gerechtigkeit
Arbeitnehmer, kleine Selbständige und Handwer-
ein kostspieliges Extra ist, das die wirtschaftliche
ker. Und in der Folge zerbröckeln Straßen und
Entwicklung bremst. Wenn man es sich leistet,
Schulgebäude, werden Sporthallen und Biblio-
muss man zuerst die harten Gesetze der reinen
theken geschlossen, weil die Stadt kein Geld mehr
Marktwirtschaft befolgen, um Werte zu schaffen.
hat. Die Zahl von Polizisten wird wegen der knappen öffentlichen Kassen verkleinert, obwohl das
Soziale Gerechtigkeit ist in einer solchen Logik nur
subjektive Sicherheitsempfinden der meisten Men-
noch ein Abfallprodukt der Marktwirtschaft. Sie ist
schen sich nicht gerade verbessert hat.
weder moralisch geboten noch erforderlich für das Funktionieren von Märkten oder Gesellschaften.
Die Liste ließe sich fortsetzen. Ich glaube zwar, dass
Ich halte das für falsch! Soziale Gerechtigkeit ist
die Verwaltung in Deutschland nicht so schlecht
moralisch geboten, und sie trägt dazu bei, dass kapi-
ist, wie sie immer gemacht wird. Wir haben große
talistische Gesellschaften langfristig besser funktio-
Fortschritte gemacht bei der Steigerung der Effizienz
nieren. Dass das nicht nur Theorie ist, dafür bietet
der Verwaltung. Der öffentliche Dienst ist kleiner
Skandinavien beeindruckende Beispiele.
geworden, anders als in fast allen anderen europä-
Eine gute Bildungspolitik und ein funktionierender Ordnungsrahmen für unsere Wirtschaft: Das setzt einen Staat voraus, der so stark ist, dass er die Erwartungen von Menschen erfüllen kann. So stark, dass er seine Bürger schützen kann. So stark, dass er Chancengleichheit herstellen kann. Wir haben zwanzig Jahre lang einer marktradikalen Rhetorik gelauscht, die alles schlecht gemacht hat, was vom Staat kommt. Seine Einnahmen wurden ausgehöhlt und seine Dienstleistungen zur teuren Ware gemacht. Selbst, als in den letzten beiden Jahren ein privatwirtschaftlich geführtes Unternehmen nach dem anderen beim Staat anklopfte und um seine Rettung bat, haben das die liberalen Medien begleitet mit Warnungen vor der Ausweitung der Staatstätigkeit. Und jetzt geht Schwarz-Gelb daran, den Staat weiter auszuhöhlen, um die Kosten der Krise zu decken. Für den Bürger sind das abstrakte Debatten. Seine Perspektive ist eine andere: Da muss man 5 Wochen auf einen Arzttermin warten, sitzt schon 2 Stunden im Wartezimmer, dann kommt einer rein und ist nach 5 Minuten dran, weil er privat
14
sommeruniversität
ischen Ländern. Aber das, was ich immer wieder zu
Es wird nicht leicht sein, die Bürger und Bürger-
hören kriege, ist der Unmut der Leute über man-
innen von der Effizienz, Zielgenauigkeit und auch
gelnde Verlässlichkeit unseres Staates.
der Gerechtigkeit staatlicher Entscheidungsvorgänge und der Verlässlichkeit sozialer Sicherungen
Zu einer neuen sozialen Ordnung gehört deshalb
zu überzeugen.
für mich ein Staat, der die Balance hält zwischen Verlässlichkeit und effizienter Verwendung von
Wir können damit beginnen, dass wir die Flick-
Steuermitteln.
schusterei im Sozialstaat beenden. Unsere schwarzgelbe Regierung tut allerdings gerade das Gegenteil.
Verlässlichkeit des Staates beginnt damit, die Men-
Wenn Philipp Rösler heute etwa eine schlichte
schen wieder von der Integrität der politischen
Beitragserhöhung, die Beerdigung der solidarischen
Institutionen zu überzeugen. Das ist ein großes
Finanzierung und den Einstieg in eine Kopfpau-
Thema mit vielen Facetten. Es geht um Vertrauen
schale zum Reinwachsen als großen Wurf bezeich-
in Staat und Politik. Ich will hier nur einige Stich-
net, dann fühlen die Bürger sich offenkundig ver-
worte nennen: Das Werben um Vertrauen beginnt
albert. Das sagen uns die Umfragen. Und sie sagen
damit, dass Parteien – und besonders die SPD – sich
uns, dass das Vertrauen in die Krankenversicherung
gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen öff-
weiter schwindet durch solche Flickschusterei. Weil
nen statt in Hinterzimmern unter sich zu bleiben.
der schwarz-gelben Regierung aber der Mut gefehlt
Politik muss zuallererst nachvollziehbar sein. Das
hat, die Kosten im Gesundheitswesen zu senken,
ist sie am ehesten dann, wenn sie mit Bürgern und
sehen die Bürgerinnen und Bürger sich alleinge-
Bürgerinnen entwickelt wird und nicht von Spe-
lassen mit den wachsenden Ausgaben für Ärzte-
zialisten. Auch für Regierungen und Verwaltungen
gehälter und Pharmaprodukte.
gilt, dass sie ihre Entscheidungen nicht nur gegenüber Spezialisten begründen müssen. Das heißt, sie
Das erzeugt eben kein Vertrauen, sondern Zu-
müssen ihre Gründe auch kommunizieren. Das ist
kunftsangst. Statt eine Formel zu finden, mit der
mehr als die Bürgerinnen und Bürger mit Bro-
die Einnahmen gedeckt und die Ausgaben ge-
schüren nur zu informieren.
deckelt werden können, hat Rösler einen zynischen Weg gewählt. Das wird die Unzufriedenheit mit öffentlichen Leistungen weiter erhöhen. Man könnte meinen, die ewig staatskritische FDP mache das mit Absicht. Sozialdemokraten sollten für sich den Anspruch erheben, dass sie ihre Politik auf langfristige Wirkung anlegen. Ich will hier nicht in die Details unserer Vorstellungen einer solidarischen Bürgerversicherung oder einer armutsfesten Rentenversicherung einsteigen. Ich will auch nicht ausführlich über eine aufstiegsorientierte, integrierende Bildungspolitik sprechen. Das sind Themen, die es verdienen, ausführlich behandelt zu werden. Mir ist wichtig, auf eine grundlegende Orientierung für Sozialdemokraten hinzuweisen: fortschrittliche Politik sollte auf langfristige Wirkung angelegt sein. Sie sollte das Ziel haben, Bereiche grundlegend so zu ordnen, dass die Bürgerinnen und Bürger sich darin orientieren können. Ein Mindestmaß an
15
Friedrich-Ebert-Stiftung
Sicherheit und Planbarkeit ist eine wichtige Voraus-
Die Sozialdemokratie muss für sie die Stimme er-
setzung für ein freies, selbstbestimmtes Leben.
heben und ihnen neue Hoffnung schaffen. Willy Brandt hat einmal gesagt: „Eine Sozialdemokratie,
Genossinnen und Genossen, liebe Freunde, die
die nicht die Aussicht auf eine lohnende und ge-
Perspektive der Sozialdemokratie ist seit fast
sicherte Zukunft vermittelte, wäre ein Widerspruch
150 Jahren die Idee der Freiheit. Freiheit braucht
in sich.“ Das bleibt der Erfahrungsschatz, aber
Sicherheit. Sicherheit vor Not, Unterdrückung und
auch die Perspektive der deutschen Sozialdemo-
Verfolgung. Daraus kommt die Freiheit, aus sei-
kratie.
nem Leben etwas machen zu können. Derzeit überwiegt der Erfahrungsschatz, das als Immer mehr Menschen in unserem Land leben in
letzte Bemerkung. Früher hatte die SPD eine Million
Unsicherheit über ihre Zukunft und in der Sorge,
Mitglieder, mehrheitlich in den berufsaktiven Jahr-
dass sie von Abstieg bedroht sind. Ihnen müssen
gängen: Die waren in den Betrieben und Unterneh-
wir neue Sicherheit geben. Wer den Rücken frei hat,
men, im öffentlichen Dienst, im Sportverein, die
kann nach vorne schauen und Leistung bringen.
waren Stadtkommandant der Feuerwehr. Das hat die Kampagnenfähigkeit der SPD ausgemacht. Wir
Immer mehr Menschen sehen schwarz für ihre
sind heute etwas mehr als die Hälfte – und immer-
Zukunft, fühlen sich bedroht von ständig stei-
hin gewinnen wir wieder mehr Mitglieder als aus-
genden Anforderungen, glauben nicht an ihre
treten – unsere Mitglieder sind aber mehrheitlich
Chance, bis zur Rente arbeiten zu können. Ihnen
nicht mehr in den berufsaktiven Jahrgängen: Sie
müssen wir diese Chance schaffen, auch Aufstieg
sind jetzt im Altenverband der Feuerwehr, ehema-
ermöglichen. Wem der Weg frei gemacht wird, der
lige Betriebsräte, statt Vorsitzende sind sie Ehren-
kann weiter gehen, der kommt voran.
vorsitzende im Sportverein. Das heißt: Wir müssen über die Kampagnenfähigkeit der Partei nachden-
Immer mehr Menschen haben sich innerlich ver-
ken. Die SPD muss daran arbeiten, auch ordnungs-
abschiedet, bleiben außen vor. Wir müssen dafür
politisch ein anderes Gesicht zu bekommen. Da
sorgen, dass keiner zurückbleibt, dass alle immer
können wir viel lernen, gerade von Bewegungen
wieder die Chance auf Teilhabe bekommen. Wenn
und Verbänden, wie zum Beispiel Umweltorgani-
alle „an Bord“ bleiben, wenn niemand ausge-
sationen. Dieser Reformprozess hat gerade erst be-
schlossen wird oder zurückbleibt, dann entsteht
gonnen und ich würde mich freuen, wenn mög-
Verantwortung und Solidarität.
lichst viele von Euch dabei mitmachen würden.
16
sommeruniversität
Gute Gesellschaft Andrea Nahles MdB, ist Generalsekretärin der SPD
rung war, zeigt sie sich nun wieder durch das Treiben der Spekulanten. Einzelne können durch ihr rücksichtsloses, ausschließlich gewinnorientiertes Streben ganze Volkswirtschaften bedrohen. Sie können Milliarden scheffeln, wenn nur genug Menschen arbeitslos und arm geworden sind. Da wird zum Beispiel die älteste Demokratie der Welt, ein Mitglied der europäischen Gemeinschaft, durch Spekulanten an den Rand des Abgrunds getrieben. Zugespitzt kann man sagen: mit GriechenZu allen Zeiten neigen Menschen dazu, ihre aktuelle
land wurde eine europäische Demokratie zur Ware.
Situation als besonders bedrohlich oder negativ zu
Klar, die Griechen haben Fehler gemacht. Also
sehen. Das ist im Jahr 2010 auch nicht anders.
selbst Schuld?
Doch so berechtigt die Befürchtungen sind – aktuell
Aber wer hat selbst schuld? Die Arbeitnehmer oder
hervorgerufen durch die Turbulenzen auf den
etwa die Rentner? Nein, natürlich nicht. Und doch
Finanzmärkten – wollen wir mal die Kirche im Dorf
sind das diejenigen, die in erster Linie leiden müs-
lassen. Früher war es auch nicht immer besser. Zum
sen. Und die Spekulanten, die auf die Probleme des
Teil sogar erheblich schlechter.
Landes gewettet und sie damit potenziert haben, reiben sich die Hände.
Nehmen wir zum Beispiel die seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer stärker werdende Industrialisie-
Es wäre übertrieben zu sagen, dass unsere Demo-
rung. Mit Arbeitszeiten von 13 bis 15 Stunden,
kratie vor der Finanzwelt kapituliert hat, aber wir
Sechs-Tage-Woche, Kinderarbeit. Das war, als der
stehen ihrer Gewalt bislang relativ tatenlos gegen-
Markt noch völlig ungezügelt war. Denn der Markt
über. Die Argumente, alles weiter laufen zu lassen
allein richtet es eben nicht. Er richtet sich stattdes-
wie bisher, lauten immer wieder: „Es gibt keine
sen nach den Gewinninteressen Einzelner.
Alternative“. Und: „Änderungen können wir nicht im Alleingang machen.“
Doch dann haben gesellschaftliche Kräfte wie die Kirchen und die Gewerkschaften im Bunde mit der
Eigentlich sind viele ganz einsichtig und sagen, ja,
Politik die Verhältnisse Stück für Stück verbessert.
ja, der Markt muss gezügelt werden. Aber wenn es dann um konkrete Maßnahmen geht, wie die Finanz-
Das sage ich nicht, um die heutigen Probleme weg-
transaktionssteuer, dann zucken viele zurück. Ist ja
zuwischen oder klein zu reden. Sondern ich will
auch was dran, dass Alleingänge häufig wirkungs-
damit sagen: es kann auch besser werden. Politik
los sind. Wir dürfen nicht mit dem Kopf durch die
kann gesellschaftliche Zustände positiv verändern.
Wand. Aber aufgeben dürfen wir auch nicht.
Erst recht zusammen mit Verbündeten. Deshalb haben wir von der SPD zusammen mit der So offensichtlich wie die zerstörerische Kraft des
österreichischen SPÖ eine europäische Bürgerini-
ungezügelten Marktes im Laufe der Industrialisie-
tiative auf den Weg gebracht, um die Menschen in
17
Friedrich-Ebert-Stiftung
Europa für die Unterstützung der Finanztransaktionssteuer zu mobilisieren. Das wird nicht einfach: wir brauchen neun Länder die mitmachen und eine Million Unterschriften. Aber sinnvoll ist die Bürgerinitiative auf jeden Fall – und wenn sie nur dazu beiträgt, das europäische Bewusstsein zu entwickeln und das Bündnis derjenigen zu stärken, die eine gute Gesellschaft für alle wollen. Helfen werden zum Beispiel die Gewerkschaften und das sage ich nicht nur, weil der IG-BCE Vertreter Bernd Westphal heute hier ist. Michael Sommer hat ja bereits signalisiert, dass die deutschen Gewerkschaften auf jeden Fall mit an Bord sind. Unsere Antwort auf die ungezügelten Kräfte des freien Marktes muss vom Ziel her gedacht werden. Vom Ziel einer Guten Gesellschaft. Für uns Sozial-
Das Gerede von Chancengleichheit und damit
demokraten bedeutet das, wie wir es im ersten Ab-
Selbstbestimmung ist eine Mär.
satz des Hamburger Programms formuliert haben: „...für eine freie, gerechte und solidarische Gesell-
Wenn wir ehrlich sind, sehen wir, dass unsere
schaft. Für die Gleichberechtigung und Selbstbe-
Gesellschaft sich immer stärker auseinander ent-
stimmung aller Menschen“.
wickelt, in verschiedenen Vierteln und verschiedenen Schichten. Das kriegen wir nicht mehr richtig
„Selbstbestimmung“ ist dabei für mich die zentrale
zusammen und das zehrt an unserer demokra-
Frage für die Sozialdemokratie in den nächsten
tischen Kultur und bedroht sie.
Jahren. Die Möglichkeit eines jeden, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ist der Kern einer guten
Wie gehen wir als SPD nun damit um? Sagen wir
Gesellschaft. So haben es auch der britische Labour-
den Betroffenen: Wir versorgen Euch. Oder sagen
Abgeordnete Jon Cruddas und ich in unserem ge-
wir lieber: Wir schaffen die Bedingungen dafür und
meinsamen Papier zur „Good Society“ formuliert.
helfen Euch, dass Ihr Euer Leben wirklich selbst in
Selbstbestimmung beinhaltet das Recht jedes Ein-
die Hand nehmen könnt. Wolfgang Thierse, der
zelnen, einen ganz individuellen Lebensweg zu
vor mir gesprochen hat, bezeichnet das so schön
verfolgen. Und nicht einen Lebensweg, der auf-
mit: Autor des eigenen Lebens werden.
grund der Abstammung oder der sozialen Lage vorgegeben ist.
Wir müssen eine Demokratie fördern, in der die Leute sich was zutrauen. Die Kandidatur von
Aber das ist leider alles andere als selbstverständ-
Joachim Gauck hat ja gezeigt, wie viele Leute sich
lich. Wer zum Beispiel in der falschen Straße auf-
für Politik begeistern. Gleichzeitig waren viele die-
wächst, hat weniger Chancen auf Bildung, Gesund-
ser Leute distanziert zu den Parteien, die ihn nomi-
heit und Job als andere.
niert haben.
18
sommeruniversität
Dennoch haben wir von Gaucks Kandidatur pro-
und Mitwirkung zulassen, dann können wir uns
fitiert, weil wir etwas getan haben, was wir öfters
dadurch sehr bereichern. Unsere Anfänge diesbe-
tun sollten: politisches Engagement anderer zu
züglich sind sehr ermutigend. Ich kann guten Ge-
ermöglichen. Und das, ohne sie zu dominieren.
wissens sagen: Wir haben einen echten Erneue-
Dafür hat uns das Umfeld von Joachim Gauck bei
rungsprozess begonnen. Einen tief greifenden Pro-
der Bundespräsidentenwahl gelobt. Und das, ob-
zess der Kulturveränderung in der Partei.
wohl darunter viele Leute mit gehörigem Misstrauen gegenüber Parteien waren.
Seit der Bundestagswahl haben wir mehrere hervorragende Aktionen entfaltet. Ich denke an die
Wir müssen viel mehr als bisher, engagierte Leute
parteiinterne Debatte über den Afghanistan-Ein-
fördern, ohne sie zu vereinnahmen. In der Vergan-
satz. Und die Mitwirkung an der 120 Kilometer
genheit haben wir manche Leute zu schnell ein-
langen Menschenkette gegen Atomkraft. Und die
kassiert. Kaum waren sie da, schwupps, haben wir
öffentliche Kampagne gegen die Einführung einer
sie schon zu Ortsvereinsvorsitzenden gemacht.
Kopfpauschale, mit der wir schon 135.000 Unter-
Das finden manche gut, aber manche schreckt es
stützer gewonnen haben. Und die aufwendige Be-
auch ab.
fragung von Ortsvereinen und Unterbezirken. Und natürlich die Dachkampagne „Zukunftswerkstatt
Worin wir auch besser werden müssen – und damit
faires Deutschland“.
haben wir ja mit unseren Zukunftswerkstätten angefangen: Die Bedürfnisse der Menschen besser
Neu an dieser Kampagne sind nicht die sechs The-
wahrzunehmen, aufzunehmen und einzubinden
men, die wir unter diesem Dach behandeln, darun-
in unsere Politik. Manches Mal haben wir in der
ter zum Beispiel Bildung und Integration. Neu ist
Vergangenheit zu oberlehrerhaft agiert. Es war da
der Ansatz, mit dem wir zu Ergebnissen kommen
so ein Ton: Ja, warum versteht ihr das denn nicht,
wollen. Wir bilden nicht einfach Kommissionen
das ist doch der einzig richtige Weg. Unzeitge-
mit den üblichen Verdächtigen, die Kraft ihrer
mäßer kann Kommunikation nicht sein. Das ist
eigenen Wassersuppe kluge Vorschläge aufschrei-
total out. Und das haben wir bei dem Wahlergeb-
ben. Stattdessen sind alle Partei-Mitglieder sowie
nis mit 23 % auch gemerkt.
alle Bürgerinnen und Bürger aufgerufen, sich an den Zukunftswerkstätten zu beteiligen und sie
Engagement für eine gute Gesellschaft findet ja
maßgeblich zu beeinflussen.
bei weitem nicht nur in Parteien statt. Ich sehe Menschen, die Lesepaten für lernschwache Kinder
Wir sind eben nicht die Partei, die die Weisheit mit
sind. Und Menschen, die sich bei den Tafeln enga-
Löffeln gefressen hat. Wir wollen ausprobieren.
gieren. Und ich registriere neue Formen von
Wir sind eine lernende Partei, die Menschen in
Community Organizing, Flash-Mob-Veranstaltun-
ihrer Unterschiedlichkeit nicht nur respektiert,
gen, Fishbowl-Diskussionen. Daneben sehe ich
sondern sie als Bereicherung empfindet.
eine Partei, die lange nicht in der Lage war, diese Formen des Engagements zu integrieren.
Das alles darf natürlich kein Selbstzweck sein, sondern ist einem gesellschaftlichen Ziel untergeord-
Standard war doch oft: Drei Redner, die so lange
net: dem Ziel der guten Gesellschaft. Dafür brauchen
reden, bis alle erschöpft sind. Möglichst drei Män-
wir meines Erachtens eine neue soziale Ordnung.
ner. Doch die Zeiten sind vorbei, wo wir die Menschen von vorne beschallen können. Wir müssen
Was bedeutet das? Ich hatte eingangs über die
sie stattdessen einbeziehen.
Finanzmärkte und zügelloses Spekulantentum gesprochen. Das Problem kriegen wir ja nicht da-
Und das ist nicht nur eine Methodenhuberei oder
durch gelöst, dass wir an die Moral der Spekulanten
eine Fassadenstreichaktion. Ich bin fest davon
appellieren. Sondern wir müssen uns daran orien-
überzeugt: wenn wir eine andere Kommunikation
tieren, was den Menschen nutzt. Den Menschen
19
Friedrich-Ebert-Stiftung
wohlgemerkt, nicht den Gewinninteressen. Und
allein nicht ausreicht. Wenn die Arbeitszeiten
um im Sinne der Menschen zu agieren, brauchen
einem die Luft zum Atmen nehmen, wird man
wir Regeln.
auch mit Geld nicht glücklich. Das gilt sowohl für Niedriglöhner als auch für Gutverdienende.
Mit neuer sozialer Ordnung meine ich aber nicht nur, Gewinninteressen in Gemeinwohlinteresse
Neue soziale Ordnung heißt für mich deshalb auch,
umzuwandeln. Sondern darum, in allen Bereichen
über den Wohlstandsbegriff zu reden. Von außen
zu prüfen, was den Menschen wirklich am meis-
werden wir vielfach so wahrgenommen, dass wir
ten nutzt. Wie können sie selbstbestimmt leben?
uns vor allem für mehr materiellen Wohlstand für
Was schafft eine faire und gute Gesellschaft?
alle einsetzen, für eine größere Verteilungsgerechtigkeit und für mehr Geld für die Armen. Das ist
Da geht es dann zum Beispiel auch um den deut-
auch wichtig.
schen Föderalismus. Denn man muss sich doch fragen, ob unsere zersplitterte Bildungspolitik wirk-
Aber wenn wir über die gute Gesellschaft reden,
lich möglichst vielen Leuten ein selbstbestimmtes
fragt sich, ob dieser Wohlstandsbegriff nicht zu eng
Leben ermöglicht und damit in Ordnung ist.
ist. Denn es gibt ja noch was anderes, was Leben lebenswert macht und was ich für zentral halte: ge-
Oder nehmen wir die zunehmende Zahl von be-
nügend Zeit für Partner, für Kinder, für Freunde für
fristeten Arbeitsverträgen. Wie können wir das da-
sich selbst. Denn das ist Mangelware geworden.
mit in Einklang bringen, dass unsere Gesellschaft
Also braucht die SPD auch eine Zeitdebatte, in der
über Kinderarmut jammert? Denn wer einen be-
es um Arbeits- und Lebenszeit geht, die für ein
fristeten Vertrag hat, kann nicht so frei entschei-
selbstbestimmtes Leben nötig ist.
den, eine Familie zu gründen, wie jemand mit einer Lebensanstellung. Wenn inzwischen mehr als jeder
Denken wir zum Beispiel an die immer größer
zweite neu abgeschlossene Vertrag befristet ist,
werdende Zahl der Alleinerziehenden. Gerade die
nimmt das den Menschen stärker die Möglichkeit
brauchen mehr Zeit, um Job und Familie unter
zum selbstbestimmten Leben als ein paar Euro
einen Hut zu bringen oder für Jobsuche und Wei-
mehr oder weniger.
terbildung. Damit beschäftigt sich gerade auch die „Zukunftswerkstatt Familie“ unter Leitung von
Das ist natürlich kein Plädoyer für Niedriglöhne.
Manuela Schwesig. Oder denken wir an die Schicht-,
Aber wir müssen feststellen, dass ein Mindestlohn
Nacht- und Feiertagsarbeiter. Deren Anteil ist in-
20
sommeruniversität
zwischen auf 51% aller Beschäftigten gestiegen.
Ich hoffe, dass es viele Menschen spannend finden,
Das wirkt sich natürlich auf das Verhältnis zu Fa-
an unserem Veränderungsprozess teilzunehmen.
milie und Freunden aus und spielt deshalb auch
Als ich Ende der 80er Jahre in die SPD eingetreten
eine Rolle bei der Frage nach einer Guten Gesell-
bin, gab es eine ähnliche Aufbruchstimmung. Es
schaft.
hat mir damals wie heute sehr viel Spaß gemacht, daran mitzuarbeiten.
Im übrigen haben die Zeitprobleme noch eine weitere Konsequenz, die mir wichtig ist. Da eine Gute
Ich bitte daher alle, die wie wir eine Gute Gesell-
Gesellschaft und gute Politik für mich zusammen-
schaft wollen, sich uns genau anzugucken, uns
gehören, ist auch das politische Engagement der
eine Chance zu geben und dann mitzutun.
Menschen ein wichtiger Faktor. Aber für dieses Engagement muss man nun mal Zeit haben.
Je mehr Leute mitmachen, je mehr sich einbringen, desto größer ist unsere Chance, bald wieder
Wir tun manchmal so, als ob der klassische Ange-
verantwortlich zu wirken. Die jüngsten Umfragen
stellte Freitagmittag Feierabend macht und dann
geben uns diesbezüglich Hoffnung. Und es passt
in seiner Freizeit halt bei der SPD mitmacht und
ins Bild, dass morgen Hannelore Kraft Minister-
gleichzeitig auch noch bei der ehrenamtlichen
präsidentin von Nordrhein-Westfalen wird. Aber
Feuerwehr. Doch das trifft nicht mehr die Alltags-
davon dürfen wir uns nicht einlullen lassen. Wir
situation der Leute. Und auch das ist ein Punkt, um
hatten lange Zeit große Probleme mit uns selbst
den es in den Zukunftswerkstätten geht.
und sind immer noch nicht über den Berg. Deshalb macht mit!
21
Friedrich-Ebert-Stiftung
Die Erneuerung der Sozialdemokratie Matthias Machnig ist Minister für Wirtschaft, Arbeit und Technologie in Thüringen
Vor 14 Tagen war ich auf einer Veranstaltung einer holländischen Stiftung, die für die PVDA arbeitet. Dort haben sich Sozialdemokraten aus ganz Europa getroffen – aus Spanien, aus Frankreich, aus Schweden, aus Holland, aus Großbritannien. Die Veranstaltung trug den bezeichnenden Titel: The ideological renewal of the social democrats in Europe. Ich habe dort Begriffe gehört, wie die „ideologische Erneuerung der Sozialdemokratie“, die über lange Jahre verpönt waren. Wer New Democrat und New Labour war, wer Neue Mitte war, der war qua Definition nicht ideologisch. Und jetzt beginnt die Sozialdemokratie interessanterweise eine Debatte
schaftspolitischen Fragen sei der Unterschied zwi-
über die ideologische Erneuerung der europäischen
schen rechts und links, zwischen Konservativen
Sozialdemokratie, weil offensichtlich etwas sehr
und Sozialdemokraten nicht so groß. Deswegen
Fundamentales passiert ist. Es gibt nur noch ein
müssen wir uns sehr grundlegend die Entwicklung
großes Land in Europa, Spanien, das von Sozial-
unserer Partei anschauen, und zwar auf fünf Fel-
demokraten regiert wird. In allen anderen Ländern
dern. Wir haben uns mit fünf Krisensymptome
gibt es konservative Mehrheiten. Daraus müssen
auseinander zu setzen:
Konsequenzen gezogen werden auch für uns in Deutschland. Wir mussten zur Kenntnis nehmen,
Erstens, ich glaube, es gibt so etwas wie eine ideo-
dass wir 1998 20,9 Millionen Stimmen errungen
logische Krise der Sozialdemokratie. Denn auf das,
hatten, im Jahr 2009 hat die Sozialdemokratie nur
was sich in den letzten Jahren als Finanzkapitalis-
noch 10 Millionen Stimmen mobilisieren können,
mus etablierte, hat bislang noch keine umfassende
es kam also de facto zu einer Halbierung unserer
Antwort, auch keine ökonomische, von Seiten der
Wählerschaft. Das ist ein sehr tiefgreifender Ein-
SPD hervorgebracht. Die Antwort kann nicht ein-
schnitt.
fach lauten: Zurück zu Keynes, back to the roots. Sondern wir müssen heute komplexe Antworten
An dieser Tagung in Amsterdam hat auch Anthony
geben. Das Zentrum einer neuen Mehrheit wird
Giddens, der Vordenker des Dritten Weges, teil-
sich um die Frage kümmern müssen: Wie sieht
genommen. Ich habe selten ein solches Referat ge-
eigentlich eine ökonomische Entwicklung aus, die
hört, wo jemand mit seinem eigenen Kinde, dem
Wachstum, Sicherheit und Verteilungsgerechtig-
Dritten Weg, vor allem wie er in Großbritannien
keit in den nächsten Jahren sicherstellen kann?
praktiziert wurde, abrechnet und eine Erneuerung
Daran müssen wir arbeiten.
der Sozialdemokratie fordert. Man muss selbstkritisch sagen: Dieser Dritte Weg hat zu einer De-
Zweitens, ich glaube, dass wir eine kulturelle Krise
politisierung geführt. Er hat dazu geführt, dass wir
der sozialdemokratischen Parteien in Europa erle-
in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, in
ben. Wer zu Veranstaltungen der SPD kommt, wird
fundamentalen, auch ökonomischen und gesell-
feststellen, unsere Veranstaltungen sind in vielen
22
sommeruniversität
Teilen überaltert. Wir haben die Bindung zu be-
en, im Übrigen auch die GRÜNEN und die CDU,
stimmten wichtigen meinungsbildenden, stilprä-
bilden vielleicht die Sozialstruktur der 80er Jahre
genden oder intellektuellen Milieus nicht in der
ab, nicht aber die Sozialstruktur zu Beginn des
Form aufrechterhalten, wie das notwendig wäre,
21. Jahrhunderts. Dazu müssten etwa Migrantin-
wenn man wieder mehrheitsfähig werden will.
nen und Migranten ein stärkeres Gewicht in unse-
Deshalb müssen wir uns um die kulturelle Aus-
rer Partei einnehmen. Diese Frage hat eine weitere
strahlung und auch um die Einbindung von be-
Konsequenz: Wer die Sozialstruktur des 21. Jahr-
stimmten intellektuellen und kulturellen Berei-
hunderts in seiner Mitgliedschaft nicht abbilden
chen kümmern.
kann, der verfügt auch nicht mehr über alle programmatischen und intellektuellen Bestände, die
Drittens, ich glaube, wir müssen uns auch mit un-
man braucht, um die Antworten geben zu können,
serer programmatischen Krise beschäftigen. Was
die man für morgen und übermorgen geben muss.
waren Dritte Wege und was war die Neue Mitte? Sie
Auch deswegen brauchen wir eine organisatorische
waren der Versuch, ökonomische Liberalisierung
Erneuerung.
mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden. Ich werde gleich zeigen, zu welchen Fehlentwicklungen dies
Auch wenn es richtig war, dass die SPD in den 50er,
in zentralen Feldern geführt hat. Deswegen müs-
und dann auch wieder in den 90er Jahren, den Weg
sen wir auch neu über unsere Programmatik nach-
in die Mitte gegangen ist um mehrheitsfähig zu
denken, die beiden Elemente aber bleiben wichtig:
werden, muss sie jetzt eine andere Konsequenz
Die alte Formel von Innovation und Gerechtigkeit
ziehen. Zunächst vielleicht eine Bemerkung zur
war nicht nur ein Wahlkampfslogan, sondern sie
Mitte: Es gibt keine politische Mitte. Das Gerede
war und ist im Kern die Mehrheitsformel der So-
über die politische Mitte ist nichts anderes als eine
zialdemokratie. Ökonomische Kompetenz gepaart
Rede darüber, dass ich ausschließen will oder für
mit sozialer Verantwortung und sozialer Sicher-
mich definieren will, wer im Zentrum der gesell-
heit, das müssen wir neu organisieren.
schaftlichen Meinungsbildung steht. Und klar ist doch: Die Mitte eines Willy Brandt Anfang der
Viertens, ich glaube, wir haben eine organisato-
70er Jahre war eine andere Mitte als die von Konrad
rische Krise. Wir dürfen die Augen nicht davor
Adenauer. Und die Mitte von Gerhard Schröder
verschließen, dass die SPD nach wie vor dramatisch
und Joschka Fischer war eine völlig andere Mitte
an Mitgliedern verliert. Die SPD hat, freundlich
als die von Angela Merkel und Guido Westerwelle.
gesagt, ein größeres demografisches Problem als
Und deswegen gibt es nicht die eine Mitte, sondern
die Rentenversicherung. Und das will schon etwas
die Mitte ist immer eine Debatte über die Deu-
heißen. Damit stellt sich die Aufgabe: Wie können
tungshoheit in der Gesellschaft. Die Aufgabe der
wir die Partei eigentlich in den nächsten Jahren
deutschen Sozialdemokratie ist, die Deutungsho-
organisatorisch auf neue Füße stellen? Wenn es uns
heit von links bis in die Mitte zu gewinnen, um
nicht gelingt, das über Mitglieder zu entwickeln,
darüber Mehrheiten zu ermöglichen. Deswegen
wie gelingt es uns dann? Wir müssen darüber nach-
mein Appell: Lasst uns weniger über Mitte, sondern
denken, was ich vor ein paar Jahren einmal unter
über unsere Themen reden. Wenn wir unsere The-
dem Stichwort Netzwerkpartei genannt habe:
men überzeugend transportieren, besetzen wir die
Wenn die Leute nicht Mitglieder werden wollen,
Mitte und gewinnen neue Mehrheiten. Das ist der
wie können wir trotzdem Netzwerke zu den Kom-
Weg, statt auf eine nebulöse Mitte zu schauen, die
petenzträgern in der Gesellschaft aufbauen? Eine
real nicht existiert. Wir müssen uns statt auf Mitte-
Volkspartei ist ja Volkspartei nicht nur deswegen,
Fragen auf Richtungsfragen konzentrieren. Was
weil sie diesen Anspruch hat oder behauptet, pro-
sind die Richtungsfragen, die in den nächsten Jah-
grammatisch die gesamte Bandbreite von Politik
ren auf der politischen Tagesordnung stehen, die
abzubilden. Volkspartei ist man dann, wenn man
die Sozialdemokratie beantworten muss? Dazu will
auch in seiner Mitgliedschaft die Sozialstruktur zu
ich einiges sagen.
Beginn des 21. Jahrhunderts abbildet. Alle Partei-
23
Friedrich-Ebert-Stiftung
Es geht um die ökonomische Richtungsfrage, etwa:
eine, wie ich finde, dramatische Zahl – 50 Prozent
Wieviel Markt im Staat brauchen wir eigentlich?
aller Neueinstellungen befristete Arbeitsverträge.
Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat eines sehr
Dies hat natürlich lebensbiografisch erhebliche
deutlich gemacht, was wir als Marktfundamenta-
Konsequenzen, z. B. junge, insbesondere gutaus-
lismus erlebt haben, hat sich gerade selber ad
gebildete Frauen heiraten spät und bekommen spät
absurdum geführt. Ich empfehle jedem das Buch
Kinder oder eher gar nicht. Und dies ist mit einer
„The myth of rational market theory“. Dieses Buch
zweiten Entwicklung gepaart. Die Flexibilisierung
zeichnet eine über einhundertjährige Geschichte
der Arbeitsmärkte hat dazu geführt, dass das Lohn-
nach, wie Ökonomen den Nachweis geführt ha-
niveau in Deutschland dramatisch rückläufig ist.
ben, dass Märkte, insbesondere Finanzmärkte,
Wir sind das einzige Land in Europa, das zwischen
ideale Märkte sind. Gerade Finanzmärkte würden
2000 und 2008 0,8 Prozent Reallohnverluste hat
dazu führen, dass es eine vernünftige Preisentwick-
hinnehmen müssen, während andere Länder zwei-
lung und optimale Preise gibt, und die Finanzmärk-
stellige Reallohngewinne hatten. Damit stellt sich die
te würden immer zu einer Balance, zu einem Aus-
Frage: Wie können wir ein neues System der Ver-
gleich neigen. Die Finanzkrise hat uns gezeigt: Die-
bindung von Flexibilität mit Sicherheit und Bere-
ses hat nicht stattgefunden. Und das stellt eine
chenbarkeit und Ordnung auf den Arbeitsmärkten
Frage in den Raum: Was brauchen wir eigentlich an
wiederherstellen? Das ist eine Schlüsselaufgabe, nicht
gesellschaftlicher Regulierung in zentralen Feldern
nur ökonomisch, sondern auch gesellschaftspoli-
im Finanzmarkt und in anderen Sektoren und wo
tisch. Sonst laufen wir in eine Entwicklung hinein, in
können wir wirklich auf Märkte setzen? Was sind
der normale biografische Muster und bestimmte
Rahmenbedingungen für Märkte? Das wird eine
Familienformen immer weniger möglich sind.
Schlüsselauseinandersetzung der nächsten Jahre sein. Und nur, wenn wir darauf wirklich überzeugende Antworten geben können – und überzeugend heißt nicht nur, dass die Leute sie draußen verstehen, sondern die am Ende des Tages auch umsetzbar sind in Regierungsverantwortung – wird uns diese gelingen. Die zweite Richtungsfrage: Wie ist es eigentlich um das Thema der Flexibilität und Sicherheit in modernen Gesellschaften bestellt? Das will ich am Beispiel der Arbeitsmärkte in Deutschland beleuchten. Wir haben mit 40 Millionen Beschäftigten einen Höchststand in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erreicht. Allerdings haben wir inzwischen eine Entwicklung, dass etwa 10 Millionen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen leben und arbeiten müssen: Zeitarbeit, Leiharbeit, Ein-EuroJobs, befristete Beschäftigungsverhältnisse usw. Das Versprechen dieser Form von Kapitalismus war: Höhere Flexibilität schafft mehr Wachstum, Beschäftigung und sie schafft mehr Autonomie bei denjenigen, die auf diese Flexibilität zurückgreifen. Die Wahrheit ist eine andere. Wir haben über die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte erlebt, dass es mehr Unsicherheit gibt, gerade für junge Leute, für die „Generation Praktikum“. In diesem Jahr sind –
24
sommeruniversität
Das dritte große Thema lautet: Wie schaffen wir in
Die vierte Frage, auch eine ökonomische Frage:
den nächsten Jahren Verteilungsgerechtigkeit?
Wie sieht eine moderne und intelligente Industrie-
Auch das ist ein interessanter Begriff. In den Jahren
politik aus, die in der Lage ist, den ökologischen
der Neuen Mitte oder der Dritten Wege war das
Umbaubedarf, den wir in unserer Gesellschaft
Thema Verteilung ein Nicht-Thema. Gerade die
haben, in den nächsten Jahren zu realisieren? Das
Wirtschafts- und Finanzkrise hat die Frage der Ver-
will ich am Beispiel des Energiesektors beleuch-
teilungspolitik wieder auf die Tagesordnung ge-
ten. Wir haben weltweit 1,8 Milliarden Menschen,
setzt, denn wir stehen schlicht und ergreifend vor
die überhaupt noch gar keinen Zugang haben zu
der Frage: Wer zahlt in den nächsten Jahren die
Energie. Bis zum Jahr 2030 wird der Energiebedarf
Zeche, die zu entrichten ist für das, was auf den
weltweit um 50 Prozent anwachsen. Das heißt, die
Finanzmärkten passiert ist?. Denn wir sind mit-
Auseinandersetzung um die Energieversorgung
nichten durch durch die ökonomische Krise. Wir
wird größer. Wir sind mit der Notwendigkeit kon-
haben nach wie vor gewaltige Abschreibungsnot-
frontiert, dass wir unser Klima schützen müssen.
wendigkeiten etwa im Bankensektor. Wir haben
Gewaltige CO2 -Reduktionen sind in den nächsten
enorme Hilfsleistungen von Seiten der öffentlichen
Jahren notwendig. Allein Deutschland muss bis
Hand auf den Weg gebracht. Die Frage ist: Wer
zum Jahre 2020 seine CO2 -Emissionen im Ver-
kommt für diese Hilfsleistungen eigentlich auf?
gleich zu 1990 um 40 Prozent reduzieren. Bis zum
Wie muss Vermögen in den nächsten Jahren be-
Jahr 2050, wenn man das Zwei-Grad-Ziel, also eine
steuert werden? Ich will hier nur eine Zahl nennen:
Erderwärmung nur zwei Grad über vorindustriel-
Deutschland hat im internationalen Vergleich die
lem Niveau, erreichen will, brauchen wir eine Re-
geringste Vermögensbesteuerung entwickelter Län-
duktion zwischen 80 und 95 Prozent. Im Jahr 2050
der. Nur 0,9 Prozent unserer Steuereinnahmen
muss Deutschland ein Industriestaat sein, der de
kommen aus Erbschaften, Vermögen und Ähnli-
facto ohne CO2 -Emissionen auskommt. Das heißt,
chem. Im OECD-Durchschnitt sind es 2,1 Prozent,
wir müssen uns jetzt auf den Weg machen, eine
in Großbritannien 3,1 und in den USA über vier
dritte industrielle Revolution auf den Weg zu brin-
Prozent. Das heißt, Deutschland ist einen histo-
gen, die in der Lage ist, industrielle Produktion, die
rischen Sonderweg gegangen in der Besteuerung
nach wie vor notwendig ist, mit hoher Energie-,
von Vermögen und Spitzeneinkünften. Das gehört
Ressourcen- und CO2 -Effizienz zu verbinden. Das
auch zum Korrekturbedarf unserer Politik. Wir brau-
bedeutet einen kompletten Umbau unseres Ener-
chen in den nächsten Jahren wieder eine Debatte
giesektors hin zu den erneuerbaren Energien sowie
darüber, wie eine Steuerpolitik aussieht, die Perso-
eine völlig neue Form von Mobilität, etwa in Form
nen, die breitere Schultern haben, stärker beteiligt.
von Elektromobilität, völlig neue Infrastrukturen,
25
Friedrich-Ebert-Stiftung
etwa im Bereich intelligenter Netze, die in der Lage
reagieren. Und in der Situation hat sich die Sozial-
sind, flexibel Strom zu steuern, unterschiedliche
demokratie erfreulich erholt. Der Erneuerungs-
Energieträger, erneuerbare oder auch, für einen
prozess der SPD muss konsequent fortgesetzt wer-
Übergangszeitraum, fossile Energieträger. Dazu
den, und zwar anhand der fünf Themen, die ich
braucht man eine intelligente Industriepolitik,
vorhin genannt habe.
denn Märkte alleine werden dies nicht können. Wir brauchen unterschiedliche Elemente, von der
Sigmar Gabriel hat mit seiner Rede auf dem
Besteuerung über Markteinführungsprogramme
Dresdner Parteitag 2009 die Katharsis der SPD auf
bis hin zu Forschungs- und Entwicklungsinvesti-
offener Bühne vollzogen. Das war ein historisch
tionen, um diesen Weg zu gehen.
notwendiger Selbstreinigungsprozess, den er für die gesamte Partei gemacht hat. Zweitens ist auf
Eine letzte Richtungsfrage: Wie sieht eigentlich
den Weg gebracht worden, dass wir seit vielen
außenpolitisch ein neuer Multilateralismus auch
Jahren zum ersten Mal wieder eine Parteiführung
global aus? Und wie kommen wir zu einem fairen
so besetzt haben, dass unterschiedliche politische
Interessenausgleich zwischen entwickelten und
Strömungen in ihr vorhanden sind. Drittens haben
nicht entwickelten Ländern? Dabei ist klar: Die
wir begonnen, uns programmatisch zu öffnen beim
Entwicklungsländer werden nur bereit sein, zum
Thema Afghanistan, beim Thema Arbeitsmarkt,
Beispiel ein ambitioniertes Klimaschutzabkommen
wir tun das beim Thema Rente. Das heißt, wir kor-
zu unterschreiben, wenn wir die größeren CO2 -Re-
rigieren, was falsch war in unserer eigenen Regie-
duktionen machen. Sie befürchten, wenn sie paral-
rungsverantwortung. Denn für die SPD muss der
lel mit uns CO2 reduzieren müssen, ihre ökono-
Grundsatz gelten: Auch die Reformen, die wir ge-
mische Entwicklung nicht fortsetzen zu können.
macht haben, müssen sich an der Frage messen, ob
Deswegen ist es an den Industrieländern, erste
und welchen Beitrag sie zur Lösung gesellschaft-
Schritte zu tun. Das nenne ich einen neuen Multi-
licher Probleme geleistet haben. Wenn sie keinen
lateralismus. Es muss gelingen, im internationalen
geleistet haben, dann sind sie zu korrigieren. Das
Kontext zu solchen Vereinbarungen zu kommen,
ist das Prinzip Aufklärung, das auch im Hinblick
um dort dieser größten zivilisatorischen Herausfor-
auf die eigene programmatische Entwicklung und
derung in den nächsten Jahren zu begegnen.
Regierungsverantwortung erfolgen muss. Diesen Weg müssen wir gehen.
Das sind eine Reihe von Richtungsfragen, die auch Richtungsantworten brauchen. Das heißt, wir
Deswegen ist es richtig, jetzt im Bereich der Arbeits-
müssen als Sozialdemokratie wieder sagen, was ist.
marktpolitik, der Steuerpolitik und der ökonomi-
Denn nur wer sagt, was ist, kann auch antworten,
schen Entwicklung bis zum Parteitag im Jahr 2011
was notwendig ist. Und zwar nicht nur heute, mor-
eine programmatische Grundlage zu schaffen, auf
gen und übermorgen, sondern sehr prinzipiell. Das
deren Basis wir dann in die Auseinandersetzung in
muss der Weg sein, den wir gehen.
den nächsten Jahren gehen können. Das ist auch deswegen wichtig, weil wir einen zweiten Fehler
Die SPD steht im Sommer 2010 in den Umfragen
der vergangenen Jahre nicht wiederholen dürfen.
wieder gut da. Das Capital hat dieser Tage Füh-
Wir haben uns zu lange über das Verhältnis zu an-
rungskräfte befragt aus der Wirtschaft. Und danach
deren definiert, zum Beispiel zur Linkspartei oder
sind 92 Prozent der Menschen mit der Arbeit von
zu anderen Parteien. Was wir schaffen müssen in
Schwarz-Gelb unzufrieden. Doch dürfen wir nicht
den nächsten Jahren ist, dass die ihr Verhältnis zu
schon wieder anfangen, selbstzufrieden zu sein,
uns definieren müssen und nicht wir zu denen.
sondern müssen uns darüber im Klaren sein: Noch
Denn selbstverständlich wird das organisierende,
leben wir davon, dass wir gerade die schlechteste
das intellektuelle, das programmatische Zentrum
Bundesregierung seit Bestehen der Bundesrepublik
einer neuen Reformkoalition, mit wie viel Farben
Deutschland erleben. Eine Selbstfindungsgruppe,
sie am Ende auch immer besetzt sein mag, die deut-
die nicht in der Lage ist, politisch angemessen zu
sche Sozialdemokratie sein. Das heißt, wir müssen
26
sommeruniversität
die politische, die intellektuelle und die ökonomi-
wieder zu einem selbstverständlichen Bestandteil
sche Debatte als Sozialdemokraten dominieren.
sozialdemokratischer Programmatik und Überle-
Und andere müssen sich dann zu uns, zu unserem
gungen zu machen. Und zwar selbstbewusst und
Programm, zu unseren Vorstellungen definieren –
nicht ängstlich, weil andere ähnliches diskutieren.
nicht umgekehrt.
Wenn uns gelingt, die Öffnung fortzusetzen, die Regierungsverantwortung ernst zu nehmen und da
Dazu gehört auch, dass die SPD wieder lernt, sich
aufklärerisch zu wirken, wo es Korrekturbedarf gibt,
ihre Programmatik – und die hat eine Geschichte
wenn es dann weiter gelingt, unsere programma-
von mehr als 140 Jahren – in vollem Umfang er-
tische Öffnung in den Bereichen, die ich genannt
neut anzueignen. Es darf kein Verbot von bestimm-
habe, auf den Weg zu bringen, dann bin ich guter
ten programmatischen Überlegungen geben, nur
Dinge, dass wir sehr viel schneller zurückkommen
weil es eine andere Partei gibt, die vielleicht ähn-
werden, als sich das manche noch vor einem hal-
liches diskutiert. Diese Fragen haben schon immer
ben oder Dreiviertel-Jahr gedacht haben. Denn die
zu uns gehört, waren schon immer Bestandteil un-
Herausforderungen der nächsten Jahre, und die
serer Politik. Deswegen plädiere ich dafür, unsere
Antworten, die man geben kann, sind eher Ant-
Geschichte, unsere Programmatik, unsere Erfah-
worten aus dem Portfolio einer Sozialdemokra-
rung aus 140 Jahren ernst zu nehmen und diese
tischen Partei, als aus dem Portfolio von Herrn Westerwelle und Frau Merkel. Ich will mit einem Satz von Erhard Eppler enden, der in einem fulminanten Beitrag in einem Buch von Berthold Huber einen wichtigen Leitsatz geschrieben hat: „Wo alles zur Ware am Markt wird, verliert die Politik ihren Gegenstand. Sie wird im wahrsten Sinne des Wortes gegenstandslos.“ Ich glaube, dass Erhard Eppler Recht hat und daher muss die SPD sich auf den Weg machen und wieder die Partei werden, die in der Lage ist, intellektuell, programmatisch und kulturell die Notwendigkeit von Innovation und Gerechtigkeit aufzunehmen Sie muß in der Lage sein, die Richtungsfragen, die in den nächsten Jahren in der gesellschaftlichen Debatte auftreten, nicht nur zu verstehen, sondern darauf auch Antworten zu geben. Und sie muss einem Grundsatz folgen: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Deswegen glaube ich, wir sollten uns treu bleiben, und uns gerade deswegen ändern.
27
Friedrich-Ebert-Stiftung
Partei 2.0 – Die Erneuerung der SPD zwischen OV-Versammlung und Web-Auftritt Astrid Klug ist Bundesgeschäftsführerin der SPD
Ich freue mich, heute mit euch über das Thema SPD im Erneuerungsprozess zu diskutieren. Die SPD hat sich mit dem Parteitag in Dresden auf den Weg der programmatischen und organisationspolitischen Erneuerung gemacht. Die Bereiche der programatischen Erneuerung habt Ihr mit Sigmar Gabriel und Andrea Nahles bereits ausführlich diskutiert. Die SPD hat einige Hausaufgaben zu erledigen, als Konsequenz aus dem schlechten Wahlergebnis, das ja kein Zufall der Geschichte war oder ein Versehen der Wählerinnen und Wähler. Die Wählerinnen und Wähler haben sehr bewusst so entschieden, wie sie entschieden haben. Und des-
SPD führen, und zwar als grundlegende Debatte
halb kann man nach so einer Wahl nicht einfach
über die Zukunft der gesetzlichen Altersvorsorge.
zur Tagesordnung übergehen, sondern muss sehr
Das geht übrigens nicht abgekoppelt von der Zu-
selbstkritisch analysieren: Woran hat es gelegen?
kunft der Arbeit und des Arbeitsmarktes.
Warum haben die Wähler die SPD so abgestraft? Was hat die SPD als Regierungspartei schlecht ver-
Aber nur Aufräumarbeiten alleine werden nicht
mittelt oder falsch gemacht? Was muss überdacht
ausreichen, um die SPD wieder inhaltlich attraktiv
und gegebenenfalls auch korrigiert werden? Diese
zu machen. Erlaubt mir jedoch eine Bemerkung an
selbstkritische Analyse haben wir in den Monaten
dieser Stelle: Niemand braucht sich für die Regie-
nach der Bundestagswahl gemacht und sind jetzt
rungszeit der SPD zu schämen, erst recht nicht im
dabei, insbesondere zu zwei Themenschwerpunk-
Vergleich zu denen, die jetzt regieren. Und das be-
ten, Korrekturen einzuleiten und uns programma-
ziehe ich sowohl auf die Inhalte als auch auf die Art
tisch weiterzuentwickeln.
und Weise, wie sie regieren oder eben auch nicht regieren. Die sind mehr damit beschäftigt, sich un-
Dies gilt zum einen für den Bereich der Arbeits-
tereinander zu streiten, statt wirklich Antworten
marktpolitik. Hierzu gibt es eine Neupositionie-
auf aktuelle Herausforderungen zu geben.
rung des Parteivorstandes, die unter der Überschrift „Fairness auf dem Arbeitsmarkt“ auch ein Schwer-
Wenn man die Regierungspolitik der letzten elf
punkt des ausserordentlichen Parteitages im Sep-
Jahre der SPD vergleicht mit dem, was Schwarz-
tember sein wird. Der zweite Bereich ist der Kom-
Gelb jetzt im ersten Jahr so abliefert, können Sozial-
plex Altersversorgung. Die Anhebung des gesetz-
demokratinnen und Sozialdemokraten nach wie
lichen Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre
vor sehr selbstbewusst auf die Regierungsjahre zu-
war eine der umstrittensten Enscheidungen der
rückblicken. Und auch stolz darauf sein, was ihre
Großen Koalition. Noch immer wird in der SPD
Vertreterinnen und Vertreter, was die SPD auch als
heftig gerungen, wie wir die Herausforderungen
Partei gerade in Krisensituationen – und davon gab
des demografischen Wandels sozial gerecht gestal-
es in diesen Jahren ja doch einige – geleistet hat
ten. Diese Debatte wollen wir mit der gesamten
und auf den Weg gebracht hat.
28
sommeruniversität
Für die Zukunft wird die SPD neben den eigenen
Zukunftswerkstätten eingerichtet zu den sechs
Aufräumarbeiten und der oppositionellen Kritik an
Themen, die die SPD nach der Wahl als entschei-
Schwarzgelb jedoch darauf angewiesen sein, dass es
dende
ihr gelingt, wieder eine Vision für die Zukunft dieser
hat: Wirtschaft, Arbeit und Umwelt; Soziales; Fami-
Gesellschaft zu entwerfen. Und zwar eine Vision,
lie; Bildung; Integration; Demokratie und Freiheit.
bei der die Themen Gerechtigkeit, Solidarität, Fair-
Das wisst Ihr bereits, denn Ihr habt in den letzten
ness im Mittelpunkt stehen. Dabei müssen wir
Tagen selbst solche Zukunftswerkstätten hier
auch Themen aufgreifen, die die SPD in den letzten
durchgespielt und dabei eigene Ideen entwickelt zu
Jahren offensichtlich zu wenig aufgegriffen hat,
diesen sechs Themen. Und ich bin schon sehr ge-
mit denen aber politische Probleme und auch
spannt auf die Ergebniss Eurer Debatte. Die Ergeb-
Ängste der Menschen verbunden sind. Also zum
nisse werden ja festgehalten. Und wir wollen Eure
Beispiel: Wie funktioniert unsere Demokratie? Wa-
Ergebnisse, Eure Anregungen, Eure Ideen, Anmer-
rum beteiligen sich immer weniger Leute an demo-
kungen, die Ihr entwickelt habt, auch einspeisen in
kratischen Prozessen bis hin zu Wahlen? Wie schaf-
den Zukunftswerkstattprozess der SPD.
Zukunftsherausforderungen
identifiziert
fen wir es, das Primat der Politik wieder zurückzuerobern und nicht permanent einzuknicken vor
Diese Zukunftswerkstätten sind keine neuen Gre-
ökonomischen Interessen, vor einer globalisierten
mien, die wir geschaffen haben. Sie sollen nicht
Ökonomie? Wie schaffen wir es, wieder als Politik
nur Papiere vorlegen, über die am Ende Parteitags-
starke Antworten zu geben auf Sorgen und Nöte
delegierte abstimmen. Es geht vielmehr um einen
und Ängste von Menschen? Das sind Themen, um
Prozess der Meinungsbildung und Mitgestaltung
die wir uns wieder neu und ganz grundsätzlich
von öffentlichen Debatten. Und mit diesen Zu-
kümmern müssen als SPD. Und es gibt andere The-
kunftswerkstätten wollen wir auch die SPD öffnen.
men, bei denen wir programmatisch schon sehr
Denn auch das war ein Ergebnis der Analyse der
gut aufgestellt sind, aber unsere Vorstellungen bes-
Bundestagswahl: Die SPD ist nicht mehr breit ge-
ser vermitteln und mit der SPD ein Bild, eine Ant-
nug aufgestellt und verankert in der Gesellschaft.
wort, eine Botschaft und auch Gesichter verbinden
Deshalb sind uns viele Zielgruppen in den letzten
müssen. Das gilt vor allem für die Themen Familie,
Jahren verloren gegangen. Und deshalb fehlen Ver-
Bildung und auch das Thema Integration.
treter dieser gesellschaftlichen Gruppen im aktiven Parteileben.
Die
Zukunftswerkstätten
arbeiten
Und all diese Themen haben wir jetzt aufgegriffen
daher auch mit neuen Veranstaltungs- und Dialog-
in einem neuen Prozess, den wir „Zukunftswerk-
formaten. Und sie diskutieren vor allem auch mit
statt Faires Deutschland“ nennen. Wir haben sechs
Zielgruppen außerhalb der SPD, mit Experten außer-
29
Friedrich-Ebert-Stiftung
halb der SPD, mit Betroffenen unserer Politik. Wir
ten in die Fläche tragen wollen. Denn der Zukunfts-
wollen die SPD wieder stärker für den Alltag der
werkstatt-Prozess wird nur dann wirklich erfolg-
Menschen öffnen: deren Sorgen, Ängste, Nöte,
reich gewesen sein, wenn es gelingt, diese Idee in
Wünsche, Vorstellungen, Erwartungen an Politik.
die Gliederungen der Partei zu tragen. Nicht nur
Und wir wollen über die Zukunftswerkstätten auch
der Parteivorstand, sondern auch die SPD vor Ort
wieder bündnisfähiger werden für wichtige Partner
soll ihren Beitrag für die Zukunftswerkstätten brin-
in der Gesellschaft, um am Ende daraus auch Mehr-
gen und ihrerseits Öffnung der Partei, Debatte, Dis-
heiten für unsere politischen Vorstellungen zu er-
kussion wagen. Also nicht nur Closed Shop, im
zielen. Das ist uns in den letzten Monaten bereits
eigenen Saft schmoren, sondern wirklich Aufsau-
gelungen, zum Beispiel beim Thema Atomkraft.
gen von Alltagserfahrungen und Sorgen. Und des-
Die SPD war ein tragender Teil der großen Men-
halb diskutieren bei den Bürgerkonferenzen Poli-
schenkette im April, bei der 150.000 Leute bundes-
tiker und Politikerinnen der SPD mit Bürgerinnen
weit auf der Straße waren, um gegen die verlängerte
und Bürgern über die Frage: Was ist fair?
Laufzeit von Atomkraftwerken zu demonstrieren. Die SPD war dabei ein starker Bündnispartner in
Also nach der Frage „Ist das fair?“ kommt die Frage
einem breiten gesellschaftlichen Bündnis. Und sol-
„Was ist fair?“ Was gehört zu einer fairen Gesell-
che Bündnisse wollen wir wieder stärker eingehen
schaft? Wie muss eine faire Gesellschaft aussehen?
und auch mit Leben füllen.
Und dann werden wir auswerten müssen. Und für uns als SPD ein Programm anbieten, dass die Über-
Der Prozess „Zukunftswerkstatt faires Deutschland“
schrift tragen soll und verdient tragen soll: „Das ist
wird begleitet von einer Dachkampagne. Wir haben
fair!“ Soweit zum inhaltliche Erneuerungsprozess
jetzt parallel zur Fußball-WM eine Postkarten-
der SPD, der nicht intern stattfindet, sondern der
aktion gestartet. Wir greifen die Diskussion „Faires
sehr eng vernetzt, verzahnt, verlinkt wird mit der
Deutschland“ auf in drei Schritten. Mit dieser Post-
Gesellschaft.
kartenaktion haben wir eine Frage gestellt bezogen auf ganz konkrete Alltagssituationen von Men-
Der zweite Teil unseres Reformprozesses widmet
schen, in einer sprachlichen und gestalterischen
sich der Organisation der SPD. Wir brauchen eine
Anlehnung an den Fußball: bezogen auf die Situa-
Parteireform, denn zu starken Inhalten gehört im-
tion von Leiharbeitern mit dem Begriff „Auswechs-
mer eine starke Organisation, um daraus politische
lung“, bezogen auf die Situation von Alleinerzie-
Praxis werden zu lassen. Nur wenn die SPD als Par-
henden mit dem Begriff „Abseits“, bezogen auf die
tei, als Organisation auch funktioniert, wir viele
Situation von Schülern, die, weil die Eltern sich die
Mitglieder haben, viele Mitstreiterinnen und Mit-
Nachhilfe nicht leisten können, vom „Abstieg“ be-
streiter, Multiplikatoren vor Ort, die sich nicht von
droht sind. So wollen wir mit Menschen außerhalb
der Bundes-SPD absetzen, sondern sich als Teil
der SPD über die Frage „Was gehört zu einer fairen
einer gemeinsamen Bewegung empfinden und da-
Gesellschaft?“ ins Gespräch zu kommen. Und über
für auch vor Ort werben, dafür vor Ort auf die Stra-
diese Postkarten, die überall in Kneipen und dort,
ße gehen, neue Leute für die SPD werben und auch
wo Public Viewing stattgefunden hat, verteilt wur-
als Organisation kampagnenfähig sind, nur dann
den, in einer Auflage von zwei Millionen Stück,
wird es gelingen, Politik aktiv zu gestalten. Also
den Leuten auch die Gelegenheit zu geben, uns ein
nicht nur theoretisch alles besser zu wissen, son-
Feedback zu geben. Wenn das, was auf der Postkarte
dern es praktisch besser zu machen. Das ist der
dargestellt ist, ganz offensichtlich nicht fair ist:
Anspruch, den wir als SPD an uns haben.
Was ist stattdessen fair? Und diesen Rücklauf, den integrieren wir auch in diesen Zukunftswerkstatt-
Wir wollen es uns nicht in der Opposition bequem
Prozess.
einrichten, wie das andere tun, die Politik explizit nur für die Opposition machen, weil das schön, be-
Im September starten wir mit sogenannten Bürger-
quem und einfach ist, weil man nicht in die Verle-
konferenzen, mit denen wir die Zukunftswerkstät-
genheit kommt, das, was man Leuten versprochen
30
sommeruniversität
hat, auch wirklich einlösen zu müssen. Das ist
kussionen, in unserer Arbeit vor Ort nicht mehr
nicht unser Weg. Wir wollen Politik gestalten. Wir
ausreichend statt. Die Gruppe, die immer stärker
wollen die Gesellschaft verändern, weiterentwi-
zugenommen hat in der SPD, das ist die Gruppe
ckeln, besser machen, fairer machen, gerechter ma-
der über 60-Jährigen, von denen jeder Einzelne
chen, nachhaltiger machen. Und dafür muss man
ganz wichtig ist für die SPD, als Erfahrene und viel-
Mehrheiten gewinnen. Und Mehrheiten kann man
fach als Träger der Arbeit vor Ort. Denn diejenigen,
nur mit einer starken Organisation gewinnen. Da-
die viel Zeit zur Verfügung stellen für ihr partei-
mit das gelingt, muss die SPD auch als Organisa-
politisches Engagement, das sind sehr oft die über
tion besser und attraktiver werden. Und deshalb
60-Jährigen und die unter 35-Jährigen. Das heißt,
kann in der SPD nicht alles so bleiben, wie es ist.
sie werden alle gebraucht. Aber ohne eine adäquate Erhöhung des Anteiles der 35- bis 60-Jährigen in
Warum das so wichtig ist, will ich an zwei Beispie-
der SPD wird es nicht gehen. Und da müssen wir
len deutlich machen. Die SPD – das ist ja ein offenes
Hirnschmalz und Kreativität einsetzen, um als Or-
Geheimnis – hat in den letzten Jahrzehnten viele
ganisation für diese Gruppe attraktiv zu sein, so,
Mitglieder verloren. Wir hatten mal zur stärksten
dass sie ihr Berufsleben, dass sie ihr Familienleben
Zeit in den 70er Jahren über eine Million Mitglie-
mit parteipolitischem Engagement auch verbinden
der, zu Willys Zeiten, viele sind damals eingetreten.
können. Dass ihre Themen bei uns stattfinden.
Wir haben in den letzten Jahren viele Mitglieder
Dass sie bei uns auch mitmachen können, wenn
verloren. Aber nicht nur, wie viele denken, durch
sie nicht jeden Monat zu einer Sitzung kommen,
Agenda 2010 und Rentendebatte. Das war auch ein
sondern nur temporär an Projekten mitarbeiten
Grund, weshalb viele ausgetreten sind. Aber dieser
wollen. Dass sie sich auch eingeladen fühlen, in
Prozess des Mitgliederschwundes, der hat deutlich
der SPD mit wenig Zeit einen Beitrag zu leisten und
früher, nämlich Anfang der 90er Jahre, angefan-
auch Einfluss zu nehmen auf die Politik der SPD.
gen. Schon damals hat die SPD fast 200 000 Mit-
Da haben wir Nachholbedarf. Und das ist eines der
glieder verloren. Inzwischen haben wir uns im Ver-
Themen, das auch im Mittelpunkt unseres Partei-
gleich zu den 70er Jahren fast halbiert. Das ist ein
reformprozesses stehen wird.
Mengenproblem, an dem wir arbeiten müssen, weil die SPD nicht mehr überall vor Ort funktionierende
Es wird wichtig sein, dass wir auch jüngere Leute
Strukturen hat, die SPD auch durch die Wahlen, die
wieder besser erreichen. Ich erzähle immer gerne
wir in den letzten Jahren verloren haben, insbeson-
das Beispiel aus meiner Arbeit vor Ort. Ich komme
dere die Bundestagswahl, auch nicht mehr überall
aus dem Saarland. Im letzten Bundestagswahl-
vor Ort wirklich ein Gesicht hat, weil viele Man-
kampf haben ganz viele junge Leute – und hier sind
datsträger und mit ihnen Strukturen verloren ge-
sicher auch einige, die das erlebt haben – unglaub-
gangen sind, nicht überall mehr Anlaufstellen vor-
lich engagiert im Wahlkampf mitgemacht, über
handen sind. Neben diesen Quantitätsproblemen
Wochen ihre ganze Freizeit investiert. Oft junge
ergeben sich daraus auch weitere, vor allem die Al-
Leute, die vorher gar keine Berührungspunkte zur
tersverteilung innerhalb der SPD. Wir haben zwei
SPD hatten und dann Lust bekommen haben, sich
Gruppen, die in den letzten 20 Jahren systematisch
politisch zu engagieren. Denen haben wir aber
kleiner geworden sind in ihrem Anteil an der Ge-
nachher keine ausreichenden Angebote vor Ort in
samtmitgliedschaft: die jüngeren Mitglieder bis 35
der klassischen Ortsvereinsstruktur machen kön-
und die 35- bis 60-Jährigen. Letztere sind allerdings
nen, in denen sie sich gut aufgehoben gefühlt hät-
die berufsaktiven Jahrgänge und diejenigen, die in
ten. Und da stellt sich die Frage: Wie schaffen wir
Familienphasen stehen. Das sind die, die sich sehr
es, junge Leute, neue Leute in die SPD zu integrie-
oft vor Ort auch in Vereinen engagieren, die in
ren, in die klassischen Strukturen? Was müssen
Betriebsräten engagiert sind. Und wenn deren An-
gegebenenfalls auch Zusatzangebote sein, die wir
teil immer geringer wird in der SPD, dann fehlt uns
neuen Leuten, jungen Leuten machen, damit sie
ganz bestimmtes, sehr wichtiges Alltagswissen.
auch eine Aufgabe außerhalb der klassischen Struk-
Und bestimmte Themen finden in unseren Dis-
turen in der SPD haben? Wie schaffen wir es, sie
31
Friedrich-Ebert-Stiftung
dort abzuholen, wo sie sich bewegen? Und junge
Relaunch geben dieser Website. Wir werden auf der
Leute bewegen sich eben heute sehr oft zum Bei-
Website die aktuellen Angebote auf www.spd.de und
spiel im Internet, in sozialen Netzwerken, wo die
www.meinespd.net zusammenführen und für alle
SPD bisher noch keine echten Gesprächs- und
Interessierten öffnen. Dieser Relaunch ist nicht der
Debattenangebote macht. Auch das ein Thema,
x-te Layoutwechsel, sondern wir wollen eine De-
mit dem wir uns intensiv beschäftigen werden.
battenplattform abbilden und den Zugang allen ermöglichen. Auch denen, die noch nicht Mitglied
Also geht es um die Frage: Öffnung, Integration
der SPD sind. Wir wollen aus dieser Website ein
neuer Leute, bessere Kampagnenfähigkeit. Es geht
Nachrichtenportal machen. Wir wollen weg von
um die Fragen: Wie sorgen wir für einen optimalen
einem reinen Sendeformat. Wir wollen Angebote
Ressourceneinsatz, der sich an ganz konkreten poli-
zur Vernetzung und zum gemeinsamen Kam-
tischen Zielen orientiert? Und wie organisieren wir
pagnenmachen bieten. Wir haben im Frühjahr
einen attraktiven innerparteilichen Meinungsbil-
sehr positive Erfahrungen gemacht mit einer Kam-
dungsprozess, also Meinungsbildung von unten
pagne im Internet gegen die Einführung einer
nach oben? Was sind dafür die richtigen Instru-
Kopfpauschale im Gesundheitswesen. Das war ein
mente? Wir haben unseren Parteireformprozess
erster Auftakt, und das wollen wir ausbauen mit
nicht gestartet mit einer Debatte am grünen oder
dieser neuen Website. Und wir wollen diese Web-
am roten Tisch im Willy-Brandt-Haus, um die SPD
site verzahnen mit den sozialen Netzwerken. Wir
irgendwie neu zu erfinden. Sondern wir haben ge-
wollen auf dieser Website nicht nur den Parteivor-
sagt: Wir wollen erst mal wissen, wie die SPD vor
stand, den Parteivorsitzenden, die Generalsekre-
Ort tickt? Was sind dort die Meinungen, die Erwar-
tärin mit ihrer Meinung abbilden, sondern wir
tungen an die Bundes-SPD?
wollen diese Website zu einer Website machen, die die SPD in ihrer Vielfalt der vorhandenen Meinun-
Deshalb haben wir den Parteireformprozess gestar-
gen und Gesichtern abbildet. Sie soll also deutlich
tet mit einer Befragung aller SPD-Ortsvereine. Zum
interaktiver werden und sie soll auch Zusatzange-
ersten Mal in der Geschichte der SPD wurden alle
bote für die SPD vor Ort liefern, um ihre eigene
Ortsvereine gefragt zu unterschiedlichen inhalt-
Website aufzupeppen, inhaltlicher zu machen,
lichen Themen, die im Mittelpunkt unserer Arbeit
konkreter zu machen dialogischer zu machen und
stehen sollen. Zu strukturellen Fragen, zu organisa-
auch sichtbar zu machen, was in der SPD alles
torischen. Das ist der Auftakt für den Parteireform-
stattfindet.
prozess. Aus dieser Befragung kristallisieren wir die Debatten, die konkreten Handlungsfelder, über die
Das sind die Ziele, die wir uns gesetzt haben mit
wir uns in sogenannten Werkstattgesprächen aus-
dieser Website. Und das ist ein Thema, das ich gerne
tauschen mit unseren Mitgliedern, mit unseren
mit euch diskutieren möchte, weil ich denke, dass
Hauptamtlichen, aber auch mit Experten außerhalb
viele von Euch im Internet unterwegs sind und
der SPD, um diese Partei zu erneuern, zu moder-
sowohl die Chancen dieses Mediums sehen, aber
nisieren und attraktiver zu machen.
ganz sicher auch die Risiken, die damit verbunden sind. In der SPD, auch das war ein Ergebnis der
Ein letztes Thema, das ich gerne ansprechen möch-
Ortsvereinsbefragung, gibt es sehr wohl eine große
te, ist das Thema Internet. Und da hoffe ich sehr
Skepsis, was Internet- und Mailkommunikation
auch auf die Debatte mit Euch und mit Ihnen be-
angeht. Es gibt die Sorge der Informationsüber-
züglich der Erwartungshaltung: Was muss eine mo-
häufung. Und die Sorge, dass zu viel über Internet
derne, attraktive Partei heute an Angeboten im
stattfindet und diejenigen, die dort nicht präsent
Internet machen, um inhaltlich zu informieren,
sind, am Ende von Informationsprozessen abge-
um über Themen zu diskutieren, um Meinungsbil-
schnitten werden. Wir wollen den richtigen Mittel-
dung zu organisieren, um kampagnenfähig zu sein?
weg, das wird das große Kunststück sein. Und dazu
Wir sind gerade dabei, unsere Website www.spd.de zu
interessiert mich Eure Meinung, Eure Ideen und
erneuern. Es wird zum Parteitag im September einen
Anregungen.
32
sommeruniversität
Podium: Zukunft der Sozialen Demokratie – Soziale Demokratie der Zukunft Prof. Dr. Thomas Meyer Chefredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte
körpern wollen, zu finden? Der erste Grund ist eine diffus gewordene Identität. Es ist lange Zeit nicht klar gewesen, und vielleicht auch sehr vielen heute nicht klar, für was die sozialdemokratischen Parteien im Unterschied zu anderen, die zum Teil sozialdemokratische Themen übernommen haben, stehen. Die Sozialdemokratie hat in der Praxis die sozialdemokratischen Themen und Ideen nicht immer glaubwürdig verkörpert. Vertrauensverlust ist der zweite Grund. Oft wurden Dinge gemacht, die aus den Programmen heraus nicht begründet waren. Dritter Grund: Die Transformation des ParteienIm Moment erleben wir ein eigenartiges Dilemma –
systems. Überall in Europa entstehen Linksparteien
in gewisser Weise weltweit, in der Bundesrepublik
und es gibt nach links gerückte Parteien der rech-
jedenfalls, und in den meisten europäischen Län-
ten Mitte, die den Platz einengen für sozialdemo-
dern. Wir haben das, was man einen sozialdemo-
kratische Parteien. Eine fehlende Machtperspektive
kratischen Moment nennen könnte. Eine Situation,
bei der letzten Bundestagswahl – und bis heute
die eigentlich nach sozialdemokratischen Lösun-
eigentlich immer noch – stellt den vierten Grund
gen und Antworten ruft: Finanzmarktkrise, Krise
für die missliche Lage der Sozialdemokratie dar.
der Märkte, Klimakrise. Wir haben, was die Umfra-
Wie eigentlich, mit wem und auf welche Weise
gen anbetrifft, überall in den europäischen Län-
würden denn diese sozialdemokratischen Parteien,
dern und auch anderswo in der Welt immer große
wenn sie könnten, regieren? Wer sind ihre Bünd-
Mehrheiten für die Ziele sozialer Demokratie, so-
nispartner?
zialer Teilhabe, sozialer Sicherheit. Wir haben aber in unseren Ländern hier fast überall eine Situation,
Aus diesen vier Punkten lassen sich ein paar
die die sozialdemokratischen Parteien in der Defen-
Schlussfolgerungen ableiten. Die SPD hat über
sive, zum Teil sogar regelrecht in Not sieht. In der
zehn Jahre an einem Grundsatzprogramm gear-
deutschen Sozialdemokratie ist jetzt gerade ein
beitet und die Substanz dieses Programms war auf
Schritt geglückt, wieder herauszukommen, in die
alle Fälle besser als die Praxis und das Bild, das die
Offensive zu gehen. Aber diese Notsituation, wie
Partei in der Öffentlichkeit abgegeben hat. Das
sie die letzten Bundestagswahlen signalisiert hatte,
Programm ist aber nie diskutiert worden. Es hat nie
ist noch nicht ganz vorbei.
eine Debatte gegeben, die diese zehn Jahre intensivster Diskussion auch mit der Gesellschaft ge-
Unter den Gründen dafür möchte ich vier nennen,
nutzt hätte. Ich glaube, es kommt für die Erneue-
die man bedenken sollte, bevor man die Frage be-
rung der SPD als der Partei, die soziale Demokratie
antwortet: Welche Lösungen, welche Strategien in-
zu verkörpern beansprucht, die soziale Demokratie
haltlicher, politischer Art sind geboten, um eine
realisieren, weitertreiben will, in der Zukunft in der
Zukunft für soziale Demokratie, vor allen Dingen
Bundesrepublik auf zwei Projekte an, die schon
auch für die Parteien, die soziale Demokratie ver-
begonnen worden sind, von denen aber noch
33
Friedrich-Ebert-Stiftung
nicht klar ist, wie erfolgreich sie sein werden. Das
mit sich bringen, vor allem auch eine Entlegitimie-
eine ist eine fassbare politische Identität, die in den
rung der Demokratie. Ein innerliches Aussteigen
Kernbereichen der Bedürfnisse, Befürchtungen,
vieler, ist ein zentrales Problem. Die Antwort der
Ängste und der Hoffnungen der Bürger glaubwür-
Sozialdemokratie müsste sein, Strategien der sozia-
dige Antworten gibt. Das andere Projekt ist eine
len Sicherheit und Gleichheit zu schaffen.
glaubwürdige Machtperspektive. Wie, mit wem kann das Projekt umgesetzt werden, wenn die Un-
Ausgehend von diesen beiden Kombinationsbe-
terstützung in Wahlen ausreichend ist? Ich glaube,
griffen, könnte das, worum es heute geht, unter die
der Kernpunkt für soziale Demokratie ist von An-
Begriffe „Sicherheit und Fortschritt“ gebracht wer-
fang an immer gewesen – und das ist etwas von
den. Soziale Sicherheit sollte nicht als Hindernis,
dem, was in Vergessenheit geraten ist – die Idee der
sondern als Bedingung des Fortschritts gesehen
sozialen Bürgerschaft in die Praxis zu übersetzen.
werden. Es ist ein neoliberales Vorurteil zu glauben,
Es gibt soziale und wirtschaftliche Grundrechte
Menschen in sozialer Sicherheit würden faul und
eines jeden Bürgers, einer jeden Bürgerin. Diese
träge und die Innovation schlafe ein. Eher umge-
verbürgen in erster Linie soziale Sicherheit und
kehrt lassen sich Menschen oft mehr auf riskante
Teilhabe als Bürgerrecht, nicht als Almosen oder
Engagements ein, wenn sie wissen, die Grund-
Gnadenakt des Staates oder privater Akteure.
sicherheit für sie als Menschen und Bürger ist gewährleistet. Dazu gehören natürlich solche
Diese Idee einer sozialen Bürgerschaft, Social
Dinge wie Mindestlöhne, Rentensicherheit, bes-
Citizenship, ist das, was Sozialdemokratie aus-
serer Schutz bei Arbeitslosigkeit und eine faire
macht und was die soziale Demokratie von ande-
Krankenversicherung. Dazu gehört, dass die soziale
ren Tendenzen am deutlichsten unterscheidet.
Demokratie als Partei Strukturen, die ganz eindeu-
Durchzubuchstabieren, was sie in der heutigen
tig gegen den Anspruch sozialer Demokratie ver-
Situation bedeutet, ist die eigentliche Hauptauf-
stoßen, thematisiert und etwas dagegen setzt, näm-
gabe der programmatischen Erneuerung. Wir
lich eine Politik der Gleichheit der Möglichkeiten,
leben in einem Zeitalter, das durch zwei Dinge ge-
also ein faire Gesellschaft.
kennzeichnet ist: Sich verschärfende Unsicherheit und sich verschärfende Ungleichheit. Das Unsi-
Zur sozialen Demokratie gehört auch die Rehabi-
cherheitsbewusstsein bei einer wachsenden Zahl
litation des Staates. Rechte kann nur der Staat ga-
von Bürgerinnen und Bürgern bis weit in die Mit-
rantieren. Wenn der Kern sozialer Demokratie die
telschichten hinein nimmt zu. Und das Empfin-
soziale Bürgerschaft ist, und die soziale Bürgerschaft
den, dass die Ungleichheiten, die in unseren
auf sozialen Rechten, auf Schutzrechten, auf Teil-
Gesellschaften eingekehrt sind, zu Ausschlüssen
haberechten basiert, dann ist ganz klar: Wie viel
relativ großer Gruppen aus der Gesellschaft füh-
auch immer die Zivilgesellschaft zu leisten vermag
ren, kann eine Reihe schwerwiegender Probleme
und was auch immer Märkte können, Rechte und
34
sommeruniversität
gleiche Chancen garantieren, kann nur der Staat.
sich begeben hatte, fortgesetzt und wäre wahr-
Dementsprechend brauchen wir auch eine Steuer-
scheinlich noch weiterhin dezimiert worden, ohne
politik, die dem Staat das entspechende Handeln
eine Reihe ihrer wichtigsten Vorhaben verwirk-
erlaubt.
lichen zu können. Also muss sie eine Perspektive eröffnen jenseits dieser Optionen. Als realisierbare
Zur sozialen Demokratie gehört auch eine Regula-
Perspektive erscheint eine Mitte-Links-Zusammen-
tion der Märkte. Wir haben in Deutschland schritt-
arbeit mit den GRÜNEN, die sich verlässlich links
weise eine Aufwertung der Rolle der Märkte und
orientieren. In der Linkspartei selbst gibt es sehr
eine Abwertung der Strukturen sozialer Einbettung
viele verschiedene Gruppierungen, und es gibt eine
und politischer Regulation erlebt. Sigmar Gabriel
Richtungsspaltung. Es gibt dort aber viele wichtige
findet in seinem Buch „Links neu denken“ eine in-
Akteure, wie man ja auf Landesebene sieht und
teressante Grundformel für die inhaltliche poli-
auch auf Bundesebene im Bundestag, die für eine
tische Ausrichtung der SPD in diesem Punkt. Er
Mitte-Links-Kooperation offen sind, die die Teile
formuliert einen ökonomisch-sozialen New Deal,
des linken Parteiprogramms in den Vordergrund
eine Verklammerung von ökologischen Nachhaltig-
stellen, die eine solche Kooperation ermöglichen.
keitsfragen, wirtschaftlichen Fortschrittsstrategien
Es gibt natürlich auch andere, die sagen: Als Pro-
und sozialer Gerechtigkeit und Teilhabe. Diese drei
testpartei bewirken wir mehr und kriegen auch mehr
Bereiche innerlich zu verbinden ist die Grundfor-
Stimmen. Eine solche Mitte-Links-Kooperation ist
mel einer Politik der sozialen Demokratie, die man
natürlich nichts, was man einfach nur aufgreifen
konkret durchdeklinieren kann. Das gibt es in dem
kann. Das muss man erst entwerfen, konstruieren,
Programm auch schon. Es muss klar werden, dass
aufbauen. Dazu gehören kulturelle Voraussetzun-
die Sozialdemokratie dies kann, weil sie eben nicht
gen, Dialoge, Gespräche, gesellschaftliche Koope-
wie die CDU oder wie andere politische Kräfte
rationen, so dass in der Gesellschaft sichtbar wird:
hauptsächlich dem Markt verschworen ist, weil sie
das geht.
nicht nur das ökologische Thema in den Vordergrund stellt, sondern gleichzeitig auch die sozialen
Diese Option zu erarbeiten – man kann sie nicht
und die wirtschaftlichen Aspekte mitdenkt, weil sie
einfach nur aufgreifen oder abgreifen – halte ich
eben soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Ent-
für eine realistische Alternative. Die Sozialdemo-
wicklung und ökologische Nachhaltigkeit inner-
kratie braucht zunächst eine fassbare Programm-
lich verknüpfen kann und auch muss, weil es auch
identität mit Ideen, die klar und mehrheitsfähig
ihrer Anhängerschaft, ihren Mitgliedern sozial ent-
sind, und praktischen Schlussfolgerungen aus ih-
spricht.
nen, die sich auf die tatsächlichen Lebensbedürfnisse der Menschen beziehen – angefangen vom
Zum zweiten Teil: Was ist die Machtstrategie? Ich
gesicherten Grundeinkommen bis Renten- und
denke, die Wahlniederlage der SPD hatte viel damit
Krankenversicherung und gleiche Chancen. Die
zu tun, dass die SPD nicht zeigen konnte, wie sie,
Idee einer fairen Gesellschaft. Sie braucht dann
wenn sie eine große Unterstützung bekäme, eine
eine machtpolitische Option, von der die Wähler
Regierung bilden könnte. Wenn sie das mit der FDP
glauben und wissen können: Wenn die Mehrheit
gemacht hätte, hätte sie in der Substanz ihre Politik
reicht, sind diese Gruppierungen in der Lage, das
fallen lassen können. Wenn sie das mit der CDU
auch zusammen zu realisieren.
gemacht hätte, hätte sie das Siechtum, in das sie
35
Friedrich-Ebert-Stiftung
Prof. Dr. Oskar Niedermayer leitet das Otto-Stammer-Zentrum der Freien Universität Berlin
Als Parteienforscher interessiere ich mich für die Zukunftsfähigkeit der Sozialdemokratie. Dafür müssen wir vier Aspekte diskutieren: den personellen Aspekt, den koalitionsstrategischen Aspekt, den inhaltlichen Aspekt und den organisatorischen Aspekt. Ich will mich im Folgenden nur auf die ersten drei konzentrieren. Zunächst zum personellen Aspekt. Die SPD braucht personelle Kontinuität, damit die Bürger Zeit bekommen, mit ihr ein Gesicht zu verbinden. Sie braucht eine intensive Diskussion um die Sache, keinen Streit um und zwischen Personen. Damit
Wettbewerbs berücksichtigen. Das heißt, sie muss
die Wahrscheinlichkeit innerparteilicher Personal-
in ihr Kalkül miteinbeziehen, dass wir es mit hoher
querelen gering bleibt, braucht die SPD eine aus-
Wahrscheinlichkeit weiterhin mit einem Fünf-Par-
gewogene Führungsstruktur, bei der sich keine
teien-System und einer hohen Wählervolatilität zu
relevante Gruppierung übergangen fühlt. Für
tun haben werden. Das bedeutet zum einen, dass
unterschiedliche inhaltliche Kompetenzbereiche
die traditionellen Zweier-Koalitionen mit einer
braucht sie jeweils Personen, die diese Kompeten-
größeren und einer kleineren Partei in Zukunft
zen in der Kommunikation mit den Medien und
zwar nicht ausgeschlossen sind, aber eben nicht
Wählern verkörpern und damit auch Identifika-
mit Sicherheit mit ihnen gerechnet werden darf,
tionsmöglichkeiten schaffen. Gleichzeitig muss
sodass sich die SPD eben auch auf Dreier-Koalitio-
frühzeitig genug innerparteilich klar sein und den
nen einstellen muss. Und zum anderen bedeutet
Wählern kommuniziert werden, wer die SPD als
dies, dass zukünftige Wahlausgänge mit einem ho-
Spitzenkandidat in die Auseinandersetzung mit der
hen Unsicherheitsfaktor behaftet sind, sodass die
Kanzlerin führt. Das bedeutet nicht, dass es eine
gegenwärtigen Verhältnisse, auch das gegenwärtige
Ämterkumulation von Partei- und Fraktionsvorsitz
Hoch von Rot-Grün, keinerlei Schlussfolgerungen
geben muss. Das bedeutet aber, dass der Kanzler-
bezüglich zukünftiger Mehrheiten erlauben. Unter
kandidat so frühzeitig gekürt werden muss, dass
diesen Bedingungen steht die SPD meiner Meinung
sowohl die Wähler genügend Zeit haben, die Per-
nach vor zwei klaren koalitionsstrategischen Alter-
son mit ihrer neuen Rolle zu identifizieren als auch
nativen. Es wäre theoretisch wünschenswert und
die Partei genügend Zeit hat, um das Image des
schön, wenn große Teile der SPD sich mit Teilen
Kandidaten in den Augen der Wähler sorgfältig zu
der GRÜNEN und Teilen der Linken zu einer Re-
analysieren und gegebenenfalls Imagekorrekturen
formkoalition zusammenfinden könnten. In der
zu versuchen.
Realität heißt es aber, ganz oder gar nicht. Und das bedeutet, es gibt ganz klar zwei sehr unterschied-
Zum koalitionsstrategischen Aspekt: Die SPD muss
liche koalitionsstrategische Alternativen. Entweder
in ihrer koalitionsstrategischen Ausrichtung die ge-
eine eindeutige rot-rot-grüne Lagerstrategie oder
genwärtigen und zukünftig zu erwartenden Ange-
eine Strategie der eigenständigen Profilierung mit
bots- und Nachfragebedingungen des politischen
Rot-Grün-Präferenz.
36
sommeruniversität
Gegen eine rot-rot-grüne Lagerstrategie sprechen
strategie für die nächste Bundestagswahl birgt da-
drei Punkte. Erstens, konflikttheoretische Gegen-
her ein hohes elektorales Risiko, da nur sehr schwer
argumente: Es gibt keine eindimensionale Konflikt-
abzuschätzen ist, wie viele Wähler sich bei einer
struktur im Parteienwettbewerb, sondern drei zen-
solchen Strategie von den Lagerparteien, insbeson-
trale Konfliktlinien in Form von Wertekonflikten
dere der SPD, abwenden. Eine Lagerbildung ist zu-
im ökonomischen, kulturellen und politischen Be-
dem eine Strategie der Minimierung von Koalitions-
reich. Im ökonomischen Sozialstaatskonflikt zwi-
optionen. Je weniger Koalitionsoptionen aber für
schen sozialer Gerechtigkeit und Marktfreiheit
die SPD existieren, desto höher ist der politische
steht eindeutig Rot-Rot-Grün der Union und der
Preis in Form von inhaltlichen Konzessionen, den
FDP gegenüber. Im kulturellen Konflikt zwischen
sie für eine Koalition bezahlen muss, da ihre politi-
libertären und autoritären Wertorientierungen
sche Erpressbarkeit steigt.
oder – abgeschwächt – zwischen Modernisierung und Traditionalismus, ist die FDP aber eher auf der
Drittens, koalitionsstrategische Gegenargumente.
Seite der SPD. Und im politischen Systemkonflikt
Eine Lagerstrategie kann nur funktionieren, wenn
stehen die demokratischen Parteien auf jeden Fall
alle beteiligten Parteien diese Strategie verfolgen.
der NPD gegenüber. Über die Einordnung der
Dagegen spricht jedoch eine Reihe von Gründen.
Linkspartei gibt es hier äußerst unterschiedliche
Betrachten wir zunächst die GRÜNEN, die nicht
Auffassungen. Der politische Systemkonflikt hat
mehr als der geborene Koalitionspartner der SPD
eine ganz andere Qualität als die anderen beiden
anzusehen sind. Sie sind nach einer Landtagswahl
Konfliktlinien, da die Kooperation mit einer als
schon in zwei Fällen lagerübergreifende Koalitio-
nicht demokratisch angesehenen Partei auf grund-
nen eingegangen – Hamburg und Saarland –, und
sätzliche Ablehnung trifft und nicht auf kompro-
sie haben in NRW die Erfahrung gemacht, dass ein
missfähige inhaltliche Differenzen. Aus konflikt-
Offenhalten von Koalitionsoptionen vor der Wahl
theoretischer Sicht lautet somit das Fazit: Wenn
ihnen nicht schadet. Zudem ist ihnen bewusst,
überhaupt, dann ist eine rot-rot-grüne Lagerbil-
dass sie, wenn sie eine strikte Lagerbindung ver-
dung nur bei einseitiger Betonung der ökono-
meiden, im neuen Fünf-Parteien-System eine koali-
mischen Konfliktlinie und bei einer vorherigen Lö-
tionsstrategische Schlüsselstellung einnehmen, weil
sung des Systemkonflikts durch die Linkspartei
sie die einzige Partei sind, die zum einen der Union
möglich. Das heißt, sie muss sich klar von ihrer
in einer möglichen Zweier-Koalition eine zusätzli-
DDR-Vergangenheit lösen und sich stärker als bis-
che Machtoption verschaffen kann und zum ande-
her gegen undemokratische Orientierungen in
ren sind die GRÜNEN die einzige Partei, die für alle
ihren Reihen stellen.
rechnerischen Dreier-Koalitionen gebraucht wird. Und das eröffnet ihr eine deutliche Machtposition.
Zweitens, machtstrategische Gegenargumente. Eine
Sollte Rot-Grün keine Mehrheit erreichen und die
klare Lagerbildung begrenzt das zu erreichende
GRÜNEN vor der Alternative Schwarz-Grün oder
Wählerpotenzial und ist daher nur sinnvoll, wenn
Rot-Rot-Grün stehen, dann kann eine Entschei-
das Wählerpotenzial des linken Lagers eine realisti-
dung der GRÜNEN für die Lageroption nicht mit
sche Mehrheitschance eröffnet. Das war bei den
Sicherheit angenommen werden. Denn die Bildung
Wahlen 1998, 2002 und 2005 auf den ersten Blick
einer Zweier-Koalition ist von der Durchsetzung
gegeben, da die drei Parteien zusammen jeweils
politischer Inhalte und von der Postenverteilung
eine knappe Mehrheit hatten, also 51 – 53 %, 2009
her deutlich lukrativer als eine Dreier-Koalition.
allerdings nur 47 %. Die Wahlergebnisse in der Ver-
Außerdem haben sich die inhaltlichen Differenzen
gangenheit geben jedoch keinerlei Aufschluss über
zur Union durch deren ökonomische Sozialdemo-
die Lagerstärke, da sie nämlich unter der Bedin-
kratisierung und durch die vorsichtige Modernisie-
gung zustanden kamen, dass es kein linkes Lager
rung der CDU auf der kulturellen Konfliktlinie eher
gibt. Denn die SPD hat immer eine Koalition mit
verringert.
der Linkspartei ausgeschlossen. Eine klare Lager-
37
Friedrich-Ebert-Stiftung
Noch schwieriger wird es bei der Linkspartei. Den normativen Aspekt ihrer von vielen Funktionären, Mitgliedern und Wählern der SPD angezweifelten demokratischen Qualität habe ich schon genannt. Zudem bestehen innerhalb der Partei immer noch drei koalitionsstrategische Alternativpositionen: fundamentale Opposition, Koalition mit der SPD nur, wenn diese die zentralen inhaltlichen Positionen der Linkspartei übernimmt und Koalition mit der SPD auch unter deutlichen eigenen inhaltlichen Zugeständnissen. Solange aber die Linkspartei sich nicht eindeutig und belastbar auf die dritte Strategieoption festgelegt hat, ist sie für die SPD kein verlässlicher koalitions- und regierungsfähiger Partner. Aus der Gesamtheit dieser Argumente ergibt sich eine eindeutige Schlussfolgerung: Von einer Lagerbildung als Strategieoption der SPD ist abzusehen. Eine mögliche Alternative liegt meiner Meinung nach in einer Strategie der eigenständigen Profilierung mit Rot-Grün-Präferenz. Diese Strategie verbindet eine klare Präferenz für Rot-Grün mit einer prinzipiellen koalitionsstrategischen Offenheit ge-
zifische inhaltliche Positionen richten, und nicht
genüber allen anderen Parteien. Sie vermeidet da-
auf die jeweilige Partei insgesamt. Die SPD sollte
her gefährliche Vorfestlegungen, ohne in inhaltliche
trotz der Erfahrung in letzter Zeit den Gesprächsfa-
Beliebigkeit auszuarten. Natürlich stellt eine solche
den mit den reformorientierten Kräften innerhalb
Strategie hohe Anforderungen an die Kommunika-
der Linkspartei nicht abreißen lassen. Gleichzeitig
tion mit den Wählern, den Umgang mit den ande-
sind jedoch klare inhaltliche Bedingungen für eine
ren Parteien und die eigene inhaltliche Positionie-
mögliche Kooperation zu setzen. Das heißt, die
rung. Die Wähleransprache sollte unter dem Motto
Linkspartei muss sich inhaltlich mehr bewegen als
stehen: Das Wünschenswerte verdeutlichen, das
die SPD. Im Umgang mit der FDP sollte die SPD
Notwendige akzeptieren. Die Argumentation sollte
Anknüpfungspunkte im soziokulturellen Bereich
lauten: Wählt uns wegen unserer eigenständigen
suchen, zum Beispiel bei den Bürgerrechten, und
und überzeugenden politischen Inhalte und nicht
einen Dialog mit denjenigen Kräften in der FDP
wegen unserer eindeutigen koalitionspolitischen
aufbauen, die die FDP inhaltlich breiter aufstellen
Festlegung. Generell sollte die Wahlkampagne pri-
und von ihrer einseitigen koalitionspolitischen
mär darauf fokussiert sein, warum man die SPD
Festlegung wegführen wollen. Schließlich sollte die
wählen sollte, nicht darauf, warum man eine andere
SPD ein eigenständiges inhaltliches Profil mit An-
Partei nicht wählen sollte. Der Umgang mit den
schlussfähigkeit an unterschiedliche Wählergrup-
anderen Parteien sollte die inhaltlichen Unter-
pen bilden, also auch gegenüber den Randwählern
schiede sehr deutlich machen, ohne aber die Tür
von FDP und Union. Das bedeutet, dass es keinen
für eine mögliche Kooperation zuzuschlagen. Man
inhaltlichen Überbietungswettbewerb mit der Links-
sollte daher viel stärker als früher die Tatsache be-
partei auf der ökonomischen und den GRÜNEN auf
rücksichtigen, dass es bei den drei Konfliktlinien
der kulturellen Konfliktlinie geben sollte. Im öko-
sehr unterschiedlich große Distanzen der anderen
nomischen Bereich sollte dieses Profil den Marken-
Parteien zur SPD gibt. Und deswegen sollte man
kern der Sozialdemokratie, also ihre Sozialkompe-
auch die Negative-Campaigning-Strategie auf spe-
tenz, betonen, ohne die notwendige wirtschafts-
38
sommeruniversität
politische Sekundärkompetenz zu vernachlässigen. Denn in beiden Bereichen haben in der Vergangenheit die Probleme begonnen. Es erscheint fraglich, ob der sozialdemokratische Markenkern den Wählern heute noch optimal über die traditionelle Rhetorik der sozialen Gerechtigkeit vermittelt werden kann. Zum einen hat die SPD hier kein Alleinstellungsmerkmal mehr, seitdem die Linkspartei sich als einzig wahre Partei der sozialen Gerechtigkeit darstellt, und auch die anderen Parteien mit dieser Formel operieren. Zum anderen hat die SPD seit der Agenda 2010 in der öffentlichen Diskussion mit eher marktliberalen Konzepten wie Eigenverantwortung argumentiert, und dadurch bei vielen traditionellen Wählern ein Glaubwürdigkeitsproblem erzeugt. Zu einem neuen Alleinstellungsmerkmal könnte möglicherweise das Konzept der fairen Gesellschaft werden. Dabei geht es nicht darum, den Bedeutungsgehalt des sozialdemokratischen Grundwerts der sozialen Gerechtigkeit umzudefinieren, sondern eine neue Botschaft an die Wähler zu finden, die der SPD im politischen Kommunikationsprozess die Meinungsführerschaft verschafft. Zudem könnte das Konzept der fairen Gesellschaft auch als übergreifende politische Botschaft dienen, mit deren Hilfe die ökonomische mit der kulturellen Profilierung und Positionierung verbunden wird. Denn auch im Bereich wichtiger gesellschaftspolitischer Themenfelder muss die SPD verloren gegangenes Terrain zurückerobern, wenn sie ihre Zukunftsfähigkeit erhalten will.
39
Friedrich-Ebert-Stiftung
Prof. Dr. Karin Priester Professorin (em.) der Universität Münster
Das Konzept der sozialen Demokratie ist die Leitschnur der modernen Sozialdemokratie. Es beruht auf dem Grundsatz „Fördern und Fordern“ durch einen aktivierenden Sozialstaat und das Selbstorganisationspotenzial der Zivilgesellschaft. Diesen Grundsatz „Fördern und Fordern“ halte ich im Kern für richtig, glaube aber, dass das Konzept der sozialen Demokratie zu stark dem Geist der 90er Jahre verhaftet ist. Meine Ausführungen habe ich in zehn Thesen zusammengefasst. Erstens: Die Sozialdemokratie ist europaweit in einer Krise. Die europäische Reform-Linke ist mittelschichtorientiert und konzentriert sich meines Erachtens zu stark auf die sogenannte „Neue Mitte“. Damit begibt sie sich auf ein zu enges Segment und konkurriert hier mit Liberalen, mit GRÜNEN und Christdemokraten oder Konservativen in anderen Ländern, die ja alle wie gebannt auf die Mitte schauen. Diese Mittelschichtorientierung bedeutet im Kern eine Präferenz kultureller und moralischer Themen vor ökonomischen. Soziale Demokratie setzt weiterhin zu sehr auf Moral und moralisches Umdenken. Seit Jahren hören und lesen wir von Nachbarschaftshilfe, Solidarität, Ehrenämtern, Freiwilligkeit, und nicht zuletzt von zu hohen Scheidungsraten als Quellen des Übels. Soziale Risiken werden auf die Familien abgewälzt. Aber die Familie, die die vielen sozialen und pädagogischen Leistungen bringen soll – ich zitiere den Journalisten Heribert Prantl – „diese Familie, die das leisten könnte, ist mangels Förderung nicht mehr vorhanden“. Heute sei nicht mehr nur der Homo Faber, sondern auch der Homo Faber Mobilis gefordert, der vollmobile, grenzenlos flexible, unbeschränkt belastbare Arbeitnehmer. Ist das Konzept der sozialen Demokratie geeignet, hier entgegenzusteuern? Zweitens: Soziale Demokratie ist eine Variante des Liberalismus. Das hat Konsequenzen im Verhältnis von Staat, Markt und Zivilgesellschaft. Soziale Demokratie, so wie ich sie verstehe, folgt zu sehr dem angelsächsischen Modell. Sie setzt zu sehr auf die Selbstheilungskräfte der Zivilgesellschaft und
auf einen abgespeckten Staat, der im Zuge von Governance nur noch moderiert, aber nicht mehr gestaltet. Seit den 70er Jahren wurden große Hoffnungen auf den dritten Sektor gelegt. Er schien eine Antwort auf die Krise den Keynesianismus zu sein, auf dem der europaweite Erfolg der Sozialdemokratie bis dahin beruht hatte. Heute zeigt sich ein ganz anderes Bild: Selbst in den USA wird deutlich, dass sich die Hoffnungen auf Spendenaufkommen und Freiwilligkeit für diesen Sektor nicht erfüllt haben. Im Gegenteil, der dritte Sektor hat heute, ich zitiere, „nur noch Parkplatz- und Abschiebefunktion für Ein-Euro-Jobber“. Drittens: Das Konzept der sozialen Demokratie wendet sich gegen die alte Sozialdemokratie, die Politik gegen die Märkte gemacht hat. Soziale Demokratie fordert dagegen eine Politik mit den Märkten. Ich habe Zweifel, ob diese Forderung heute angesichts der weltweiten Krise der Finanzmärkte noch so uneingeschränkt erhoben werden kann. Eine soziale Demokratie, die diesen Namen verdient, muss in einem ausgewogenen Verhältnis auch eine Politik gegen die Märkte und gegen die vollständige Kommodifizierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen machen. Viertens: Die soziale Demokratie ist ein pragmatisches Konzept. Und das ist im Prinzip auch gut so. Aber der Pragmatismus darf nicht zum Selbstzweck werden. Wo die pragmatische Orientierung auf den Policy Mix oder Steuerungsmix die Oberhand gewinnt, geht zweierlei verloren: der Gegner
40
sommeruniversität
und die Begeisterung. Der Gegner der sozialen Demokratie ist der Libertarismus, das heißt der unein-
zur Arbeit. Wenn heute vor allem in den östlichen Landesteilen ganze Landstriche veröden, weil die
geschränkte Marktliberalismus, und gehört zur gleichen Familie des Liberalismus. Soziale Demo-
Jungen abwandern und nur die Alten und Schwachen zurückbleiben, ist das nicht die Folge der
kratie verengt damit ihren Aktionsradius auf Handlungsspielräume innerhalb des Liberalismus. Jenseits davon ist keine Alternative mehr vorstellbar.
Globalisierung oder finsterer Mächte, die wie die biblische Heuschreckenplage über das Land fallen, sondern es ist die Folge verfehlter Strukturpolitik.
Ich halte das für einen verhängnisvollen Irrtum, ist doch gerade einer der Gründe für die sogenannte
Achtens: Sozial heißt auch, zur Kenntnis zu neh-
Parteien- und zunehmend auch Politikverdrossenheit das, was viele als Alternativlosigkeit empfinden. Weiterhin fehlt die Begeisterung. Was sollte
men, dass die Gesellschaft nicht nur aus der Mitte, und schon gar nicht aus der innovativen, gut gebildeten, leistungsstarken Mitte besteht. „Der Fetisch
uns, was sollte vor allem die Jugend begeistern an einem Projekt, das keine Vision verbreitet, von
der Mitte muss aufgegeben werden“, schreibt Matthias Machnig im letzten Heft der Neuen Gesell-
dem kein Aufbruch zu neuen Ufern ausgeht, das nur noch steuert, aber nicht gestaltet? Ich sehe die Gefahr, dass die soziale Demokratie – oder meinetwe-
schaft Frankfurter Hefte. Diesen Satz unterschreibe ich voll und ganz. Aber er hat auch Konsequenzen. Die politische Landschaft ist heute vielfältiger und
gen auch die Sozialdemokratie – zu einem abgeklärten Konservatismus für die Generation 60+ wird.
pluraler geworden. Wer den sogenannten Fetisch der Mitte aufgibt, muss zugleich neue und weiter gefasste Perspektiven einer Bündnispolitik ins Auge fassen.
Fünftens: Mir erscheint die SPD heute zunehmend als eine Partei, die zunehmend auf die Tugenden und die Weisheiten des Alters setzt, zu wenig auf die Begeisterungsfähigkeit einer Jugend im Aufbruch. Die Zukunft eines Landes ist seine kritische Jugend. Mit einer Selbstverständlichkeit wird in den Medien aber von einer alten politischen Klasse in Berlin gesprochen, die sich durch Abschottung, Ränkespiele und nicht zuletzt durch machtbesessenen Zynismus auszeichne (siehe „Beckmann“ vom 31. Mai 2019). Politik darf aber nicht für die Menschen draußen im Lande, sondern sie muss mit ihnen gemacht werden.
Neuntens: Das Image der Parteien ist heute auf einem Tiefstand. Sie müssen sich modernisieren, aber sie dürfen das nicht um den Preis tun, ihre Wurzeln zu kappen, weil sie dann ihre Identität verlieren. Ich vermute, ein Großteil des Unbehagens mit der Reform-Linken europaweit beruht darauf, dass für viele Menschen diese Identität nicht mehr erkennbar ist. Die Reform-Linke ist heute nicht mehr „innen-geleitet“, nach einem Wort von David Riesman, sondern „außen-geleitet“. Es fehlt ihr das Gefühl dafür, dass ihre historische Daseinsberechtigung auch ihre zukünftige ist. Nämlich
Sechstens: Die europäische Reform-Linke ist bisher nicht wirksam dem Image einer technokratischen Steuerungselite entgegengetreten. Technokraten mögen gute Arbeit leisten, aber sie erreichen nicht
Hoffnungsträger zu sein in einem Bündnis zwischen den unteren Schichten und der Mitte der Gesellschaft.
die Menschen draußen im Lande. Es wird zu wenig mit den Menschen über Inhalte debattiert, zu viel
Zehntens: Wo liegt die Zukunft der sozialen Demokratie? Sie liegt im Mut zu neuen Perspektiven über
dagegen über die richtige Art der Kommunikation. Siebentens: Heute beobachten wir wieder ein wachs-
die Parteiförmigkeit hinaus. Sie liegt in dem Mut, den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie nicht nur als vollflexible Marktteilnehmer Anerkennung
endes Auseinanderklaffen der gesellschaftlichen Gruppen. Die Schere zwischen Arm und Reich ist
verdienen. Der politischen Klasse, darunter auch der SPD, gelingt es immer weniger, über das Tagesge-
weit auseinandergegangen. Die Angst vor dem sozialen Abstieg geht inzwischen auch bis weit in die Mittelschichten hinein. Sozial heißt, die Arbeit
schäft hinaus Hoffnungen – nicht nur in materieller Hinsicht, sondern auch Sinnhaftigkeit – zu wecken. Das ist keine Frage der Moral, sondern eine der Grund-
zu den Menschen tragen und nicht die Menschen
voraussetzungen des sozialen Zusammenhalts.
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Friedrich-Ebert-Stiftung
Prof. Dr. Ulrich Eith Universität Freiburg, ist Geschäftsführer der Arbeitsgruppe Wahlen
Ich sehe im politischen Wettbewerb derzeit Vieles im Wandel und ich möchte es an drei Punkten festmachen. Es gibt zum einen einen Wandel der Rahmenbedingungen des Parteienwettbewerbs ganz grundsätzlicher Art. Zweitens wandelt sich das Parteiensystem und drittens befinden sich auch die Parteien, zumindest die Volksparteien, in einem dramatischen Veränderungsprozess. Zum ersten Punkt: Fast zwei Jahrzehnte lang haben wir eine die Dominanz des neoliberalen Denkens erlebt. Besonders bemerkenswert war, dass es hierzu in den öffentlichen und wissenschaftlichen Dis-
Wahlkampfgestaltung erfordern. Das gewohnte
kussionen so gut wie keine ernsthaften Gegenposi-
Lagerdenken – hier SPD und GRÜNE, dort Union
tionen gab. Inzwischen können wir die Rückkehr
und FDP – mit der daraus resultierenden Polarisie-
der Politik, die Wiederentdeckung des aktiven Staates
rung der Wahlkämpfe ist nur noch eine von meh-
feststellen. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat –
reren sich bietenden Optionen. Neue Koalitions-
zumindest im wirtschaftspolitischen Denken – den
konstellationen über alte Lagergrenzen hinweg –
Paradigmenwechsel entscheidend herbeigeführt.
also sogenannte „Jamaika“- oder „Ampel“- Koali-
Erstmals seit langem sind die Anhänger der reinen
tionen – können nicht mehr von vorneherein
Marktideologie wieder in der Defensive. Und eine
ausgeschlossen werden. Angesichts der knappen
zentrale Konsequenz daraus ist, dass heute auch
Mehrheitsverhältnisse bei den letzten Wahlen und
die verschiedenen Studien zur Verteilungsgerech-
diesern vermehrten Möglichkeiten zur Koalitions-
tigkeit wieder eine angemessene Beachtung finden:
bildung müssen sich die Parteien schon aus eige-
Die sozialen Ungleichheiten sind enorm, die Sche-
nem Machtinteresse verschiedene Optionen offen
ren gehen sogar auseinander. Diese Befunde sind
halten. Für die Wahlkampfstrategie bedeutet das,
keineswegs neu. Sie wurden nur während der Vor-
sehr viel stärker als bislang vor allem die eigenen
herrschaft des alten Paradigmas wirtschaftsliberaler
politischen Überzeugungen und Konzepte in den
bzw. neoliberaler Politik, der Dichotomie von
Vordergrund zu stellen. Die Sozialdemokratie muss
„richtiger“ und „falscher“ Politik ohne jede Alter-
sich hierbei der zentralen Frage nach der Entwick-
native, in der öffentlichen Wahrnehmung eine
lung und dem Verbleib ihrer unterschiedlichen
ganze Zeit lang in den Hintergrund gedrängt. Ich
Wählergruppen stellen. Bis vor kurzem war die
bin davon überzeugt, dass gerade die Veränderun-
Situation einigermaßen stabil. Zu den älteren Tra-
gen im wirtschaftspolitischen Denken der Politik
ditionskompanien in den unteren Mittelschichten,
Felder für eine aktive politische Gestaltung eröff-
zum Teil mit durchaus konservativen bis autoritä-
nen, die für die Sozialdemokratie außerordentlich
reren Einstellungen, haben sich neuere Wähler-
günstig sind.
gruppen in den gehobenen Mittelschichten herausgebildet, häufig geprägt durch Prozesse des Wer-
Und damit komme ich zum zweiten Punkt: zum
tewandels. Diese beiden zentralen Gruppierungen
Parteiensystem. Das sich etablierende Fünf-Partei-
in der sozialdemokratischen Wählerschaft verbin-
en-System ermöglicht neue Koalitionsoptionen,
det als gemeinsamen Kern die Forderung nach
die ihrerseits Veränderungen in den Formen der
sozialer Gerechtigkeit und einem entsprechend
politischen Auseinandersetzung und vor allem der
regulativen Staat. Während erstere staatliche Siche-
42
sommeruniversität
rungssysteme existenziell zur Absicherung der
zur Linkspartei abgewandert. Die Union erlebt heute
eigenen Lebensrisiken benötigen, dominieren bei
Vergleichbares. Auch dort stößt der unter Merkel
letzteren die normativen Grundüberzeugungen, in
eingeleitete Modernisierungsprozess im gesell-
einer Gesellschaft leben zu wollen, in der soziale
schaftspolitischen Bereich – v.a. Ausbau der Klein-
Gerechtigkeit ein bestimmendes Moment darstellt.
kinderbetreuung und Akzeptanz der Integrations-
Verloren gegangen in der Ära der Schröder-Regie-
bemühungen – bei traditionellen, konservativen
rung sind vor allem Teile der Traditionswähler aus
Wählergruppen auf erbitterten Widerstand. Beide
den unteren Mittelschichten. Aus Protest gegen
Volksparteien haben enorme Mühen, inhaltliche
den Agenda-Kurs der sozialdemokratisch geführten
Akzentverschiebungen und programmatische Wei-
Bundesregierung haben sie sich zunehmend der
terentwicklungen ihrem breiten Wählerspektrum
Wahl enthalten, sind kurzfristig zu Union gewech-
erfolgreich zu vermitteln.
selt oder aber haben bei der Linkspartei eine neue politische Heimat gefunden. Wir beobachten hier
Was kann man daraus lernen? Zunächst geht es um
eine Reihe unterschiedlicher Bewegungen, die alle
den Status als Volkspartei und ein angemessenes
als Optionen im neuen Parteiensystem berücksich-
Verständnis dieses Parteientyps. Volkspartei heißt
tigt werden müssen.
nicht, dass alle gesellschaftlichen Gruppen und Schichten repräsentativ innerparteilich abgebildet
Heute steht die SPD – und damit komme ich zum
werden müssen. Und Volkspartei heißt demnach
dritten Punkt der Veränderungen – vor der Frage,
auch nicht, dass sich zwei existierende Volkspartei-
wie sie die „kleinen Leute“ in der Wählerschaft, die
en fast zwangsläufig immer ähnlicher werden müs-
unter Schröder teils verloren gegangen sind, wieder
sen. Notwendig für SPD und Union ist vielmehr
zurückgewinnen kann. Gelingt dies nicht, steht
ein programmatischer Rahmen, der jeweils auf
der SPD möglicherweise die Entwicklung zu einer
etwa die Hälfte bis zwei Drittel des politischen
Partei der linken Intellektuellen bevor, wie man es
Spektrums abzielt. So ergeben sich zum einen Schnitt-
in Frankreich auch bei der PS beobachten kann. Es
mengen zwischen den Volksparteien in der Wähler-
geht somit ganz konkret um den Status der SPD als
ansprache – die sogenannte „politische Mitte“ –,
Volkspartei. Und verbunden damit ist zentral die
zum andern bleibt aber auch genügend Raum, um
Frage nach dem Umgang mit der Linkspartei.
sich vom politischen Gegner ausreichend abgrenzen zu können. Unverzichtbar sind klar erkennbare
In beiden Volksparteien kann man zeitversetzt sehr
und identifizierbare Markenkerne. Und nur wenn
ähnliche Entwicklungen beobachten. Ein von der
Politik polarisiert, wenn es um die einzuschlagende
Parteispitze angeschobener Modernisierungspro-
politische Richtung intensive Auseinandersetzun-
zess findet bei traditionelleren Wählergruppen in
gen gibt, dann bleiben Wählerbindungen stabil,
der eigenen Partei mehr Ablehnung als Zustim-
dann haben die Wählerinnen und Wähler der
mung, zumal diese inhaltlichen Kurswechsel in-
Regierungs- und gerade auch der Oppositionspar-
nerparteilich auch keineswegs ausreichend kom-
teien allen Grund, sich politisch mit Engagement
muniziert und diskutiert werden. Bei der SPD hat
einzusetzen und bei der nächsten Wahl erneut die
es Schröder nicht vermocht, seine Agenda-Politik
Mehrheits- und Machtfrage zu stellen.
hinreichend mit dem Wert der sozialen Gerechtigkeit zu verknüpfen. Schlimmer noch, das Beharren
Was heißt das nun für die SPD? Meiner Meinung
auf dem für Sozialdemokraten identitätsstiftenden
nach ist die SPD gut beraten, am Kernbegriff der
Bezugspunkt „soziale Gerechtigkeit“ wurde geradezu
sozialen Gerechtigkeit festzuhalten, gerade auch
als falsche oder auch gestrige Politik abgetan, als
mit Blick auf die Verluste in den unteren Mittel-
wenn es in Demokratien objektive Maßstäbe für
schichten. Dies ist das zentrale Anliegen, was Ge-
richtige Wirtschafts- und Sozialpolitik gäbe. Inzwi-
nerationen von Wählern mit der SPD verbinden
schen hat sich die SPD im Westen de facto gespal-
und verbunden haben. Die Sozialdemokratie muss
ten, Teile der Wähler- und auch Mitgliedschaft sind
als solche erkennbar bleiben, als Anwältin der
43
Friedrich-Ebert-Stiftung
kleinen Leute. Ohne eine breite Zustimmung in den unteren Mittelschichten verliert die SPD ihren Statusals Volkspartei. Die Positionierung zwischen Union und Linkspartei erfordert allerdings eine doppelte Abgrenzung. Von der Union trennt die Sozialdemokraten die Überzeugung, dass staatliche Maßnahmen der Umverteilung und des Ausgleichs eine Grundvoraussetzung auf dem Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit sind. Gegenüber der Linkspartei muss deutlich werden, dass die eigenen politischen Vorstellungen und Konzepte für die Praxis taugen und eben nicht auf populistischen oder utopischen Maximalforderungen beruhen. Die Kunst der sozialdemokratischen Politikformulierung wird darin bestehen, diese Grundprinzipien immer wieder neu an aktuellen politischen Themen in der Öffentlichkeit deutlich werden zu lassen. Mit Blick auf die nächsten Wahlen kann man der SPD neben einer Konzentration auf die eigenen Stärken vor allem ein Moment der Gelassenheit im Umgang mit dem politischen Gegner anraten. Es ist genau die Strategie, mit der die Union bei der letzten Bundestagswahl erfolgreich war. Frau Merkel ist jeder politischen Auseinandersetzung aus dem Weg gegangen und hat die SPD in die schwierige Situation manövriert, ihre potenziellen – zum Teil frustrierten – Anhänger ohne eine intensive politi-
zeit alle Chancen, sich auf die eigenen Stärken zu
sche Polarisierung, ohne einen Angriffspunkt zur
besinnen, die inhaltlichen Positionen und Alterna-
Wahlabgabe mobilisieren zu müssen. Diese Demo-
tiven zu schärfen und herauszustellen, anstelle der
bilisierungsstrategie kann nun, angesichts der massi-
Union durch ideologisierte Auseinandersetzungen
ven Kritik innerhalb der Union an Merkels Führungs-
einen willkommenen Angriffspunkt zur Ablenkung
kurs, der SPD zugute kommen. So hat die SPD der-
von den eigenen Schwierigkeiten zu bieten.
44
sommeruniversität
Arbeit – Innovation – Umwelt Prof. Dr. Sebastian Dullien Professor für Allgemeine Volkswirtschaftslehre an der HTW Berlin
Arbeit – Innovation – Umwelt ist ein breites Thema.
in Massenarbeitslosigkeit oder Langzeitarbeitslosig-
Es soll hier ein kleiner Ausschnitt skizziert werden,
keit. Hinzu kommt die hohe Sockelarbeitslosigkeit
wie nämlich Arbeit (gute Arbeit/ schlechte Arbeit)
und eine Konzentration auf einzelne gesellschaftli-
mit der Finanzkrise zusammenhängt, wie das Ganze
che Gruppen. Beide Faktoren führen zu individuel-
mit der ökologischen Frage zusammenhängt und
len als auch gesellschaftlichen Schwierigkeiten.
welche wichtige Rolle Innovation in diesem Zu-
Individuell, weil Arbeitslose kein Einkommen be-
sammenhang spielt.1
ziehen. Das Arbeitslosengeld umfasst weit weniger, als in einem vernünftig entlohnten Job verdient
Erste These ist, dass eine zentrale Herausforderung
würde. Ein Abrutschen ins Prekariat, folglich in
sozialdemokratischer Politik darin besteht, für gute
Armut, ist durchaus wahrscheinlich.
Arbeit zu sorgen und Krisen in Arbeit und Umwelt zu vermeiden. Denn nur so kann kontinuierlich
Gesellschaftlich gehen durch eine lange Arbeits-
wachsender Wohlstand für nahezu alle Menschen
losigkeit sowohl technische als auch soziale Fähig-
in unserer Gesellschaft gewährleistet werden.
keiten verloren. Jemand mit veralteten Qualifikationen ist heute nicht mehr sinnvoll einzusetzen.
Zweite These ist, dass so etwas mittel- und lang-
Darüber hinaus sind oft grundlegende Fähigkeiten
fristig nur über Innovationen erfolgen kann, wel-
zum Arbeiten wie beispielsweise Pünktlichkeit oder
che nicht allein aus der Privatwirtschaft kommen
regelmäßiges Aufstehen verloren gegangen. Das
werden, sondern wofür staatliche Interventionen
wirtschaftliche Problem besteht darin, dass, wenn
notwendig sind. Existenzielle Krisen im Bereich
wir eine hohe Sockelarbeitslosigkeit haben, das
von Arbeit und Umwelt wurden in den vergange-
Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft dauer-
nen Jahren nicht erfolgreich verhindert. Ein Grund
haft gedämpft wird. Gerade deshalb muss Arbeits-
hierfür sind die Deregulierungen auf den Finanz-
losigkeit verhindert werden.
märkten. Weniger bekannt sind die Deregulierungen auf den Arbeitsmärkten, die zur jüngsten Krise
Die zweite Gefahr ist die der schlechten Arbeit. Zu
beigetragen haben. Gleichzeitig fehlt auch ein
schlechter Arbeit gehören unter anderem gefährli-
Konzept, wie die Inanspruchnahme der Umwelt
che Arbeit und gesundheitsschädliche Arbeit, aber
stärker reguliert werden kann. Die Bilanz zur Schaf-
auch schlechtbezahlte Arbeit. Schlechte Arbeit muss
fung eines Wohlstandes für alle fällt insgesamt
vermieden werden. In Ostdeutschland werden zum
schlecht aus.
Teil noch immer Stundenlöhne unter vier Euro brutto als Tariflöhne bezahlt. Ein Wachmann in
Was sind also die Herausforderungen für den
Frankfurt / Oder an der Hochschule arbeitete Voll-
Arbeitsmarkt? Zwei wesentliche Punkte stehen im
zeit für 4,60 Euro brutto in der Stunde, was dort
Vordergrund: Erstens, die Vermeidung von Arbeits-
völlig üblich zu sein scheint.
losigkeit und schlechter Arbeit. Der Verlust des Arbeitsplatzes ist nicht grundsätzlich eine Katastro-
In den vergangenen Jahren konnte man beim Ab-
phe. Gibt es genügend andere freie Arbeitsplätze,
bau der Arbeitslosigkeit bereits einen Fortschritt
ist er kein Problem. Das Problem besteht vielmehr
verzeichnen. Trotz Wirtschafts- und Finanzkrise ist
1 Vgl. Dullien, Sebastian u.a.: Der gute Kapitalismus, Bielefeld 2009.
45
Friedrich-Ebert-Stiftung
die Arbeitslosigkeit in Deutschland nicht besonders gestiegen und zuletzt sogar gefallen. Dieses Jahr dürfte sie wahrscheinlich sogar unter die Drei-Millionen-Marke fallen. Die Konjunkturpakete, aber auch das Kurzarbeitergeld, haben zentral dazu beigetragen, dass die Arbeitslosigkeit in der jüngsten Krise nicht weiter gestiegen ist. Andere Länder sind weniger glimpflich davongekommen. Überlegungen zu einer guten Gesellschaft mit einem stabilen Wachstumspfad können sich nicht nur auf Deutschland beziehen, sondern müssen sowohl europäische als auch transatlantische Partner, wie die USA, einbeziehen. Auch die Schwellen- und Entwicklungsländer müssen berücksichtigt werden. In all diesen Ländern hat die Wirtschaftskrise viel größere Spuren am Arbeitsmarkt hinterlassen. In den USA liegt die Arbeitslosigkeit derzeit bei mehr als zehn Prozent, während die soziale Absicherung dort sehr gering ist. In Spanien hat sich bei ähnlich schlechter sozialer Absicherung die Arbeitslosigkeit auf knapp 20 Prozent verdoppelt. In Deutschland kann ein Fortschritt im Abbau der Arbeitslosigkeit verzeichnet werden. Der Rückschritt in den vergangenen zehn Jahren besteht in der Verbreitung der schlechten Arbeit. Je nach Schätzung arbeiten inzwischen vier bis acht Millionen Deutsche – das sind zehn bis 20 Prozent der Vollzeit-Erwerbstätigen – im Niedriglohnsektor. Der Niedriglohnsektor ist definiert mit einer Grenze bis zu 7,50 Euro oder zehn Euro pro Stunde (je nach Studie). Die untersten 25 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland haben 2006 einen
kommen werden. Es ist allerdings auch ein gesamt-
durchschnittlichen Stundenlohn von 6,88 Euro ge-
wirtschaftliches Problem. Die Prekarisierung ist
habt. Das ist nominal gerechnet kein Zuwachs,
einer der Faktoren, der auch zur Weltwirtschafts-
denn der Stundenlohn lag schon 1995 bei 6,84
krise beigetragen hat.2 Sicherlich: Ein zentraler
Euro. Die Inflation einbezogen ist das sogar ein
Punkt war die Unterregulierung der Finanzmärkte.
Reallohnverlust von fast 14 Prozent in zehn Jahren.
Das Schattenbankensystem war zentral für diese Krise. Einer der Gründe war mit Sicherheit die feh-
Problem der schlechten Arbeit ist, dass jemand
lende Regulierung des US-Hypothekenmarktes, wo
trotz Arbeit arm sein kann. Ein Abrutschen ins
Produkte wie „Zero Amortization Loans“ oder „Nega-
sogenannte Prekariat ist wahrscheinlich. Es besteht
tive Amortization Loans“ verkauft worden sind.
infolgedessen der Zwang zu langen Wochenar-
Die monatliche Hypothekenrate hat nicht einmal
beitszeiten, um ein Auskommen zu finden. Hinzu
die Zinsen abgedeckt. All diese Hypotheken hätten
kommt eine generelle Perspektivlosigkeit, weil viele
in einem regulierten System nicht vergeben wer-
Menschen aus diesem Sektor nicht wieder heraus-
den dürfen. Die Regulierung von Hypotheken-Ge-
2 Vgl. Dullien, u.a.: Der gute Kapitalismus, Bielefeld 2009.
46
sommeruniversität
sellschaften war Aufgabe der Bundesstaaten, auf
Die US-Regierung und die US-Notenbank war auf
Bundesebene wurden diese Institutionen nicht ge-
ein Kreditwachstum angewiesen, um eine steigende
luiert. Im Ergebnis regulierten viele der US-Staaten
Nachfrage aufrecht zu erhalten. International ver-
de facto diesen Sektor gar nicht. Hinzu kommen
schärft wurde die Lage durch Deutschland, China
die Überschuldungen von Privathaushalten, die in
und Japan. Die Kreditinstrumente der USA lagen
der Folge zu nicht bedienten Hypotheken und
dort zwar nicht vor, allerdings schlechte Arbeit. Sie
Zwangsversteigerungen geführt haben und damit
verhinderte ein ausreichendes Nachfragewachs-
zu weiteren Problemen im Bankensektor. Durch
tum. Nehmen wir das Beispiel Deutschland: Im
die Verbriefung dieser Hypotheken, das Tranchie-
vergangenen Jahrzehnt konnte ein Wirtschaft-
ren und Verkaufen weltweit, ist diese Krise auf den
wachstum durch Exporte verzeichnet werden,
Rest der Welt übergesprungen.
erkennbar an Leistungsbilanzüberschüssen. Dies wird mittlerweile als „globales Ungleichgewicht“
Wo besteht hier der Zusammenhang zur schlech-
und als Problem in der Weltwirtschaft wahrge-
ten Arbeit? Warum hat das US-Finanzministerium
nommen. Hintergrund ist, dass seit 2001 die Real-
eine Verbreitung der Kredite und den US-Haus-
löhne nicht mehr gestiegen sind und eine wach-
preisboom zugelassen?
sende Binnennachfrage fehlte. Ähnliche Entwicklungen – in unterschiedlichem Ausmaß und mit
Durch Zulassung neuer Produkte und des Kredit-
unterschiedlichen Ursachen – in Japan und in
wachstums konnten die Folgen der schlechten
China führten dazu, dass dort nicht ausreichend
Arbeit sowohl in den USA als auch weltweit über-
zur globalen Nachfrage beigetragen werden konnte
deckt werden. Im Kapitalismus ist ein krisenfreies
oder wollte. Nach 2001 / 2002 entstand so ein Nach-
Wachstum nur möglich, wenn ein kontinuierliches
fragemangel. Dies stellte US-Regierung und Noten-
Nachfragewachstum vorliegt. Die Nachfrage nach
bank vor die Wahl zwischen Wachstum im US-Sub-
Gütern und Dienstleistungen muss kontinuierlich
prime-Hypothekenmarkt oder einen Anstieg der
steigen, andernfalls entsteht ein Absatzproblem.
Arbeitslosigkeit. Eine Entscheidung für das Wachstum am Kreditmarkt hat die Folgen der schlechten
Eine steigende Nachfrage darf aber nicht mit über-
Arbeit überdeckt und hat überdies zur jüngsten Krise
mäßiger Verschuldung einzelner Sektoren einher-
geführt. Die nächste Stufe der Krise, die Staatsschul-
gehen, weil diese Sektoren in der Folge ab irgend-
dungskrise, entfaltet sich gerade erst. Die Verwer-
einem Punkt nicht mehr konsumieren könnten
fungen in der Eurozone sind noch nicht vorbei.
und den wirtschaftlichen Kreislauf in eine Krise stürzen würden. Folglich müsste dieses Nachfrage-
Aus der Wirtschaftskrise gewonnene Erkenntnisse
wachstum aus den Privathaushalten kommen und
zeigen, dass gesellschaftliche Ungleichheit durch
durch steigende Einkommen gedeckt sein, um eine
schlechte Arbeit kein marginales Problem ist, son-
Schuldenkrise zu vermeiden.
dern schnell zum Stabilitätsproblem der (Welt-) Wirtschaft werden kann.
Wenn schlechte Arbeit ein Ausmaß wie in den USA oder in Deutschland annimmt, wird sie zum
Das steht in krassem Gegensatz zu dem, was viele
gesamtwirtschaftlichen Problem. Dann können
Ökonomen über Jahre behauptet haben: Da hieß
Haushalte keine wachsende Konsumnachfrage ge-
es, mehr Ungleichheit müsse in Kauf genommen
nerieren. Im Durchschnitt sind die Löhne zwar
werden, um Wirtschaftswachstum zu erzielen.
gestiegen, allerdings konnten überwiegend reiche
Gesamtwirtschaftlich wird diese Ungleichheit, in
Bevölkerungsteile Lohnzuwächse verbuchen, wäh-
Form eines großen Niedriglohnsektors und diver-
rend die unteren 50 Prozent keine Reallohnzu-
gierender Löhne, jedoch zu einem elementaren
wächse erfahren haben. Normalerweise kommt
Problem.
aber über wohlhabende Haushalte nicht das notwendige Nachfragewachstum zustande, weil diese
Für ein nachhaltiges Wachstum ist mehr Vertei-
einen größeren Anteil ihres Einkommens sparen.
lungsgleichheit notwendig. Die Instrumente liegen
47
Friedrich-Ebert-Stiftung
bereits auf dem Tisch: Gesetzliche Mindestlöhne
ökologische. Der Umstieg auf ökologisch herge-
würden die größten Exzesse im Niedriglohnsektor
stellte Produkte bedeutet rechnerisch einen Anstieg
wahrscheinlich unterbinden. Überdies müssten Ta-
des Bruttoinlandsproduktes. Beispielsweise kostet
rifverträge wieder häufiger allgemeinverbindlich
ein Auto, welches drei Liter auf 100 km verbraucht,
werden. Überlegenswert wäre auch, unter Berück-
mehr als eines, welches zehn Liter auf 100 km ver-
sichtigung des Grundgesetzes, eine Zwangsmit-
braucht, weil es günstiger gefahren werden kann
gliedschaft für Unternehmen in Arbeitgeberverbän-
und weniger Ressourcen verbraucht. Damit ist das
den. Schließlich müssten auch die Löhne wieder
Drei-Liter-Auto das werthaltigere Auto. Wenn nun
langfristig mit dem Produktivitätswachstum zu-
alle neuen Autos durch moderne Drei-Liter-Autos
nehmen. Trotzdem ist allein mit diesen Instrumen-
ersetzt würden, wäre das aufgrund der Qualitäts-
ten eine ungleiche Einkommensentwicklung nicht
verbesserung ein im BIP gemessenes Wirtschafts-
gänzlich zu beheben. Es muss auch über ein pro-
wachstum.
gressiveres Steuersystem nachgedacht werden. Das Bruttoinlandsprodukt kann aber auch über die An diese Debatte schließt sich die Frage des Wachs-
Beschäftigung von (Langzeit-) Arbeitslosen ohne
tums ohne ökologische Schwierigkeiten an. 2009
zusätzlichen Ressourcenverbrauch erhöht werden.
ist der Kohlendioxidausstoß weltweit gesunken.
Wenn Jobs, wie beispielsweise Altenbetreuung aus-
Diese Tatsache legt den Schluss nahe, dass künftig
gebaut und aus Steuermitteln finanziert werden, ist
weniger und nicht immer mehr produziert werden
das ebenso eine Erhöhung des Bruttoinlandspro-
sollte, damit der Kohlendioxidausstoß auf niedri-
duktes und eine Erhöhung des Wohlstandes. In
gem Niveau bleibt. Eine weitere verbreitete These
diesem Szenario hätten ältere Menschen, die mög-
ist, dass nicht auf dauerhaftes Wirtschaftswachs-
licherweise vorher vernachlässigt worden sind,
tum gesetzt werden darf, um eine wachsende Um-
mehr Freizeitgestaltung und ein erfüllteres Leben.
weltzerstörung zu vermeiden. Ein Nullwachstum
Das ist eine Verbesserung des Wohlstands, des
oder Schrumpfung müsse akzeptiert werden.
Bruttoinlandsprodukts und ökologisch völlig unproblematisch.
Wirtschaftswachstum ist aber mitnichten immer nur ein Mehr von den immer gleichen Produkten
In Krisen, wenn Menschen Arbeitsplätze verlieren,
wie Autos oder DVD-Player. In das Bruttoinlands-
steht die Umwelt sicher nicht oben auf der Agenda.
produkt gehen Werte der Produktion ein. Neben
Aber mit steigendem Einkommen wächst der
der Quantität eines Produktes ist die Qualität von
Wunsch nach einer intakten Umwelt. Umwelt-
Interesse. Eine Qualitätsverbesserung hat einen
schädliche Produkte werden durch ressourcenscho-
Anstieg des Bruttoinlandsproduktes zur Folge. Was
nende und umweltverträgliche ausgetauscht. Bei-
bedeutet das aber für die Ökologie? Ökologische
spielsweise haben fast alle Autos in Deutschland
Produkte sind werthaltiger und teurer als nicht-
mittlerweile Katalysatoren, wie auch Kraftwerke
48
sommeruniversität
entsprechende Filteranlagen haben. Mit steigendem Einkommen entsteht eher die Bereitschaft in
werden. Hier können staatliche Eingriffe einen vorhersehbaren Anstieg der Energiepreise unterstüt-
nachhaltige Produkte zu investieren als das mit der Hälfte des Einkommens der Fall wäre.
zen. Die Idee der Ökosteuer neu aufgenommen, könnte einen kalkulierbaren Preisanstieg fördern. Eine Möglichkeit wäre eine Besteuerung, die eine
Tatsächlich ist die Energieintensität in den vergangenen Jahrzehnten in den Industrieländern kon-
Untergrenze für den Ölpreis bei 100 Dollar einzieht. Investoren wüssten folglich, womit sie rech-
tinuierlich zurückgegangen. 1973 hat Schweden einen CO2-Ausstoß von fast 90 Millionen Tonnen pro Jahr gehabt. Zuletzt vor der Krise waren weniger
nen können. Innovationen müssten darüber hinaus, zum Beispiel über Forschungsförderung, auch direkt gefördert werden. In Deutschland, mit einer
als 50 Millionen Tonnen Tonnen. Gleichzeitig hat sich die Wirtschaftsleistung Schwedens verdoppelt.
Steuer- und Abgabenquote, die besonders für hohe Einkommen und Vermögen unter dem EU-Schnitt
Dort wird mit deutlich weniger Ressourcen fast doppelt so viel wie in den 70er Jahren produziert.
liegt, ist durchaus Spielraum vorhanden. Darüber hinaus können über das Energieeinspeisegesetz Innovationen und Investitionen gefördert werden.
Um zu erklären, wie dieser Prozess möglich ist, bezieht sich die Volkswirtschaftslehre auf die „Schumpeterianische Wachstumstheorie“, laut der dauerhaftes Wirtschaftswachstum trotz begrenzter Ressourcen möglich ist. Dieser Theoriestrang geht
Derzeit ist Deutschland führend in der Solar- und Windenergie, was ohne das Energieeinspeisegesetz nicht der Fall wäre.
davon aus, dass in den Produktionsprozess eingeführte Ressourcen zunehmend durch Wissen und technologisches „Know-how“ ersetzt werden. Derzeit werden Dinge mit viel weniger Ressourcenaufwand produziert als 30 Jahre zuvor, weil das
Produktion eine Voraussetzung für ein dauerhaft nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Damit schließt sich der Kreis: Um gute Arbeit zu gewährleisten, ist Wirtschaftswachstum notwendig. Gleichzeitig ist langfristig stabiles Wirtschaftswachstum nur mit
Wissen um effizientere Ressourcennutzung vorangeschritten ist. Ebenfalls entscheidend ist das Wissen darum, wie recycelt werden kann. Die Produktion von Wissen in diesen Modellen verbraucht weniger physikalische Ressourcen. Sie brauchen
guter Arbeit möglich. Ebenso gehört dazu ein ressourcenschonendes, ökologisches Wirtschaften, um die wirtschaftlichen Grundlagen nicht zu zerstören.
Humankapital, um Wissen zu produzieren, aber kein Öl und Stahl. Auf diesem Weg kann dauerhaft Wirtschaftswachstum und ökologische Nachhal-
tige Richtung versäumt worden. Oft galt, dass steigende Ungleichheit Voraussetzung sei, Arbeitsmarktkrisen verhindern. Ebenso galt, dass Ökologie
tigkeit vereint werden.
und Ökonomie ohnehin zwei gegenläufige Ziele seien. Im Zuge der Wirtschaftskrise wurden ökolo-
Damit sind Innovationen neuer Produkte und Produktionsprozesse zentral für die ökologische Nachhaltigkeit. Die Erfahrung der letzten Jahre lässt zweifeln, ob der Markt allein Innovationsent-
gische Aspekte schließlich zugunsten anderer beiseite geschoben. Es ist aber Aufgabe sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik, Konzepte zu entwickeln, die diese Rahmenbedingungen zusammenbringen
wicklung fördern kann. In 2008 hatte Öl zeitweise
und einen ökologisch verträglichen, wirtschaftli-
einen Preis von mehr als 150 Dollar. Dieser Preis sollte eigentlich sehr viele Innovationen und Investitionen in erneuerbare Energien auslösen. Der Ölpreis ist später allerdings wieder auf 30 Dol-
chen Fortschritt der Gesellschaft beinhalten.
lar gefallen. Die Planungssicherheit für Investoren
die Planwirtschaft, aber durchaus für einen starken
und Forschung ist damit relativ niedrig. Schwankungen auf dem Ölmarkt, die durch bestimmte Finanzinstrumente verstärkt werden, verhindern,
Staat, der wirtschaftliche Richtungen vorgeben sollte. Diesen Vorteil sollte die Sozialdemokratie nutzen. Nicht nur für die eigene Partei, sondern für
dass Innovationen und Investition vorangetrieben
die ganze Gesellschaft.
Neben guter Arbeit ist eine ökologisch nachhaltige
In der Vergangenheit sind viele Schritte in die rich-
Die Sozialdemokratie ist sehr gut aufgestellt, um diese Aufgabe anzugehen. Historisch war sie gegen
49
Friedrich-Ebert-Stiftung
Demokratie und Freiheit Dr. Wolfgang Thierse Vize-Präsident des Deutschen Bundestages
Was war da im vergangenen Monat eigentlich los? – Joachim Gauck war Präsidentschaftskandidat und eine Menge Menschen waren begeistert. Sehr viele junge Leute haben sich plötzlich engagiert, keineswegs nur Mitglieder der SPD. Einer der Anführer der Gauck-Fans bei Facebook ist Mitglied der FDP. War da der engagierte demokratische Aufbruch, den sich Viele wünschen, oder im Gegenteil: sogar eine klammheimliche Absage an die Parteiendemokratie? Was wäre gewesen, wenn die Kanzlerin in einer Art Geistesblitz die Chance gesehen hätte, die in dem Vorschlag von Trittin und Gabriel gelegen hat, nämlich in einer Situation kurzzeitiger
thie zunehmen, gar überwiegen. Dafür mag es sehr
Erschütterung einen gemeinsamen Kandidaten zu
verschiedene Gründe geben. An der Oberfläche zu-
finden? Wenn da einem gemeinsamen Kandidaten
nächst Fehler und Fehlverhalten von Politikern.
auch noch fast alle in der Bundesversammlung
Jedem fallen irgendwelche Beispiele ein. Schon
zugestimmt hätten – ob es auch dann diese Auf-
etwas tiefer geht die regelmäßige Enttäuschung der
bruchstimmung gegeben hätte? Diese Begeisterung
Wähler gegenüber vermeintlich oder tatsächlich
für einen Kandidaten, der ausdrücklich keiner Par-
nicht eingehaltenen Wahlversprechen. Regelmäßig
tei angehört, der sich als konservativ, liberal und
sind die Bürger nach der Wahl ernüchtert und ent-
links bezeichnet, sich so abhebt vor der dann als
täuscht gegenüber dem, was sie vorher an Erwar-
Negativfolie erscheinenden Parteiendemokratie, ist
tungen investiert – oder auch nicht investiert –
offensichtlich nur zu begreifen vor dem Hinter-
haben. Mir scheint das diesmal bei Schwarz-Gelb
grund einer grassierenden, schon selbstverständ-
besonders dramatisch zu sein. Dass eine große
lich gewordenen, durch Umfragen bestätigten Ver-
Regierungsmehrheit bereits nach einem Dreivier-
drossenheit. Einer Parteienverdrossenheit offen-
teljahr in Meinungsumfragen abgeschlagen ist, ist
sichtlich, einer Politikerverdrossenheit wahrschein-
in dieser Drastik neu. Tendenziell aber war es fast
lich. Doch – da bin ich nicht ganz so sicher – ist es
immer so. Mir geht es hier nur um die emotionale
auch eine Demokratieverdrossenheit? Daran möch-
Grundsituation, die immer wiederkehrt. Franz
te ich gerne zweifeln, obwohl die sinkenden Wahl-
Müntefering hat sie vor ein paar Jahren drastisch
beteiligungen zunächst zu bestätigen scheinen,
verletzt mit seiner Bemerkung: es gehe doch gar
dass immer weniger Menschen Vertrauen in unsere
nicht anders, als dass Parteien nach der Wahl ihre
Demokratie setzen. Aber tun sie das, weil sie die
Versprechen nicht einhalten. Gemeint hat er, dass
Demokratie für selbstverständlich halten, für lang-
Wahlprogramme stets die Ziele einer Partei und
weilig, oder weil sie sie für nicht sonderlich ent-
nicht die einer Koalitionsregierung wiedergeben.
scheidungsfähig halten, also enttäuscht sind?
Da in Deutschland die Wähler aber regelmäßig dafür sorgen, dass es Koalitionen gibt, sind anschlie-
Jedenfalls leben wir in einer Situation, wo gegen-
ßend Kompromisse nötig, die gern als Abstriche
über Demokratie, tatsächlicher Politik und den
von Wahlversprechen interpretiert werden. So wird
demokratischen Parteien Skepsis, Ablehnung, Apa-
die Enttäuschung vorprogrammiert. Weshalb man
50
sommeruniversität
übrigens sprachlich im Wahlkampf immer darauf
es dramatisiert die demokratische Politik, die als
achten soll, dass man nicht sagt „wir werden“, son-
solche langweiliger ist. Die Sitzungen, Gremien,
dern „wir wollen“. Das ist ein feiner aber wichtiger
Entscheidungen, die sich hinziehen, wirkten, wenn
Unterschied. Meistens verordnen die Wähler Koali-
ich dasselbe im Fernsehen gesehen habe, viel inte-
tionskompromisse. Zugleich aber gelten Kompro-
ressanter. Donnerwetter, dachte ich, war das span-
misse – obwohl Wesenselement von Demokratie – in
nend, das habe ich gar nicht bemerkt, als ich dabei
Deutschland als „faul“. Also: Verdrossen macht die
war. Das Medium Fernsehen verzerrt auch demo-
regelmäßige Enttäuschung des Überschwangs von
kratische Abläufe, dramatisiert, personalisiert und
Erwartungen, die für die Demokratie typisch ist.
trägt so zu einem falschen Verhältnis zu wirklicher Politik bei. Es erzeugt die Suggestion des Dabei-
Eine weitere Ursache liegt bei den Medien, die sel-
seins. Eine geradezu fatale Suggestion, die gewisser-
ber gewissermaßen Ungeduld produzieren, Perso-
maßen ein Demokratieersatz ist. So werden – un-
nalisierung und Zuspitzung betreiben, eigentlich
freiwillig, durch das Wesen des Mediums – Unge-
sogar eine Verzerrung der wirklichen demokrati-
duld und Enttäuschung erzeugt.
schen Politik. Ich werde nie vergessen – eine kleine persönliche Erinnerung, wenn Sie erlauben – als
Aber noch bin ich an der Oberfläche. Eine der
ich in der bundesdeutschen Politik ankam als ehe-
Grundursachen für Verdruss, Ungeduld, Unzufrie-
maliger DDR-Bürger, der sie nur via Fernsehen ver-
denheit liegt in dem fundamentalen Missverhält-
folgen konnte, war ich oftmals erstaunt, dass Poli-
nis zwischen dem Tempo und der Reichweite öko-
tiker, die ich aus dem Fernsehen kannte, viel klei-
nomischer Prozesse und Entscheidungen einerseits,
ner, viel normaler, viel grauer sind, als sie im Fern-
und der Langsamkeit und Begrenztheit demokra-
sehen erscheinen. Das Fernsehen monumentalisiert,
tischer, politischer Prozesse und Entscheidungen andererseits. Mir ist das richtig brutal aufgegangen, als es vor Jahren um die Übernahme der Aktienmehrheit von Mannesmann durch Vodafone ging. Vor unseren Augen fand ein Machtkampf statt. Nach ein paar Monaten war er entschieden, es ging um eine Bilanzsumme von mehreren zehn Milliarden Euro und um das Schicksal von mehreren Zehntausend Arbeitnehmern. So schnell können ökonomische Prozesse und Entscheidungen sein, egal wie folgenreich sie sind. Aktuell die Bankenund Finanzmarktkrise: Dramatische Entwicklungen innerhalb von Tagen, Wochen, wenigen Monaten. Zwar hat die Politik relativ schnell reagiert. Der Bundestag hat in geradezu abenteuerlichem Tempo Notmaßnahmen auf den Weg gebracht – als nachsorgende Feuerwehr. Aber Entscheidungen, wie wir künftig solche Krisen verhindern, sind seit Jahren nicht getroffen. Das wird noch weitergehen, ganz mühselig, und ein positives Ende ist höchst ungewiss. Die Menschen nehmen diese Diskrepanz zwischen dem Tempo und der Reichweite ökonomischer Prozesse und Entscheidungen einerseits, und der Langsamkeit und Begrenztheit demokratischer Politik und ihrer Entscheidungen andererseits durchaus
51
Friedrich-Ebert-Stiftung
wahr. Das erzeugt ein dramatisches Ausmaß an Unzufriedenheit. Und es entsteht ein durchaus begründbarer abgrundtiefer Zweifel daran, dass demokratische Politik wirklich etwas ausrichten kann. Die eigentliche Frage lautet: Wer hat das Primat – die Ökonomie oder die demokratische Politik? Und immer mehr Menschen zweifeln daran, dass demokratische Politik tatsächlich das Sagen hat. Und deswegen schwindet das Zutrauen in ihre Akteure. Ich kann diese Frage übersetzen in eine andere, die man ganz konkret und ausführlich diskutieren kann: Was soll der Ökonomie unterworfen wer-
Ein Institutionengefüge und ein Regelwerk, durch
den? Was darf vollends zur Ware werden? Auch
das die Bürger ihre gemeinsamen Angelegenheiten
Sicherheit, Bildung, Gesundheit, Kultur, der Zu-
regeln, Entscheidungen mit Mehrheiten oder durch
gang zu natürlichen Ressourcen? Welche öffent-
Kompromisse treffen, Minderheitenrechte gewähr-
lichen Güter, welche Instrumente der Daseinsvor-
leisten, Machtwechsel ermöglichen. Die kürzest-
sorge sollen und müssen der reinen Renditelogik
mögliche Definition von Demokratie ist Macht auf
entzogen sein oder wieder entzogen werden, damit
Zeit. Die Diktaturen, auch die kommunistischen,
sie verlässlich mit der Orientierung auf das Gemein-
zeichnen sich auch dadurch aus, dass es keine
wohl eingesetzt werden? Das ist die Grundfrage, die
Regeln für Machtwechsel gibt. Keine friedlichen,
sich angesichts der Krise in neuer Schärfe stellt.
fairen Regeln. Entweder Krankheit und Tod oder
Man kann sie so buchstabieren: Worüber hat ein
Putsch – eine andere Möglichkeit gab es selbst in
Gemeindeparlament eigentlich noch zu entschei-
der harmlosen kleinbürgerlichen DDR nicht. Ich
den, wenn alles privatisiert ist? Wenn sie noch
wünsche mir immer, dass man darüber eine Komö-
nicht einmal mehr Gemeindebetriebe hat, die
die schreibt: Wie ist die DDR, wie ist die SED-
öffentliche Güter vorhalten? In welchem Ausmaß
Führung ihren allmächtigen Walter Ulbricht los-
darf Bildung, darf Zugang zu Kultur abhängig sein
geworden? Und wie hat sie ihn anschließend vor
vom privaten Geldbeutel? Und wo hat demokrati-
der Öffentlichkeit versteckt? Also Demokratie ist
sche Politik mindestens für Chancen zu gerechtem
Macht auf Zeit. Sie hat Regeln für einen friedlichen
Zugang zu sorgen? Der Begriff „öffentliche Güter“
Machtwechsel. Sie hat Regeln für die Kontrolle und
meint immer, dass demokratische Politik verant-
die Begrenzung von Macht.
wortlich ist für die Zugänglichkeit zu diesen Gütern. Das heißt nicht, dass alles kostenlos sei. Wir
Demokratie ist ein Institutionengefüge und ein
sind es gewohnt, etwa für Kultur, Eintritt zu zah-
Regelwerk, das auch sozialem Frieden, sozialem Zu-
len. Das ist auch richtig so. Aber wir wissen, dass
sammenhalt dient. Über ihre Funktionsfähigkeit
dieser Eintritt immer nur einen kleinen Teil der
und ihre Zukunftsfähigkeit gibt es viel zu diskutie-
wirklichen Kosten abdeckt. Das hat eine Tradition in
ren. Ich nenne nur Stichworte: Brauchen wir eine
Deutschland, die Reichtum und Vielfalt ermöglicht.
Reform unseres Wahlrechts oder sind wir mit unserer Art des Wahlrechts nicht sehr gut gefahren?
An dieser Stelle ein paar systematische Bemerkun-
Diese Mischung von Erst- und Zweitstimmen, von
gen über Demokratie – durchaus trivialer oder
Direktwahl und Verhältniswahl halte ich für be-
selbstverständlicher Art, aber man muss sie ge-
sonders fair. Fairer als das immer wieder empfoh-
legentlich in Erinnerung rufen. Demokratie ist ja
lene Mehrheitswahlrecht. Helmut Schmidt gehört
zunächst und vor allem ein Institutionengefüge
zu den stoischen Anhängern eines Mehrheits-
und ein Regelwerk, dessen Zweck ganz wesentlich
wahlrechts, weil er sagt: Der entscheidende Sinn
Freiheit ist.
einer Wahl ist, Regierungsfähigkeit zu ermögli-
52
sommeruniversität
Denn in den meisten Bundesländern gibt es solche Instrumente. Und die Beteiligung an Volksentscheiden ist nicht so sensationell groß. Es sind Minderheiten, die sich daran beteiligen, aktive Minderheiten – sehr schätzenswert in einer Demokratie. Aber es ist kein Allheilmittel zur Rettung unserer Demokratie. Und man muss selbst die Instrumente direkter Demokratie vor Missbrauch schützen. Wir müssen neu über die innerparteiliche Demokratie reden, über die Öffnung der Parteien, denen ja gerne ein Geruch des Veralteten unterstellt wird. Wie kann man die Parteien öffnen, ohne diejenigen zu beschädigen, die durch ihr Engagement, durch die Zeit, die Nerven und das Geld, das sie zur Verfügung stellen, die Parteien tragen. Ich bin nicht sicher, ob das, was uns immer wieder mal empfohlen wird, nämlich Vorwahlen zu machen nach amerikanischem Vorbild, ob das nicht irgendwann unsere Parteien zerstören würde. In den USA gibt es nicht Parteien im europäischen Sinn. Das sind Wahlvereine, die ohne ein permanentes Parteileben auskommen. Aber die Frage, wie wir unser Parteileben verändern, die innerparteiliche Demokratie erneuern, eine veränderte Art von Kommunikation ermöglichen, ist weiter offen. Es gibt verchen. Während ich sage: Das Entscheidende, der
schiedene Gründe für unsere Wahlniederlage im
Sinn einer Wahl ist, den Bürgerwillen auf angemes-
Herbst. Einer ist, dass unsere Partei krank geworden
sene Weise darzustellen und zu personalisieren.
ist durch eine Art von – wie soll ich das nennen? –
Daran schließe ich die Frage nach mehr Möglich-
Befehlskommunikation von oben nach unten – für
keiten direkter Demokratie an. So sehr ich Partei-
die es Gründe gibt. Für Regierungsparteien ist es
endemokratie verteidige – und Parteien, gerade
mal unvermeidlich, mal aber auch nur das Nahe-
Volksparteien, haben die unersetzliche Aufgabe,
liegende, eine Entscheidung unter extremem Zeit-
die unterschiedlichen Meinungen und Interessen
und Problemdruck erst nachträglich innerpartei-
der Bürger zu bündeln und gewissermaßen in den
lich durchzusetzen. In der Situation war Gerhard
eigenen Reihen die Konsense, die Kompromisse
Schröder immer, aber die Partei hat darunter ge-
vorzubilden, von denen die Gesellschaft insgesamt
litten. Und deswegen ist die Verlebendigung von
lebt. So sehr ich also den Sinn und die Unersetz-
Kommunikation heute eine unserer Aufgaben.
lichkeit von Parteien verteidige, so sehr bin ich
Dem sollen auch die Zukunftswerkstätten dienen,
dafür, dass die Bürger häufiger direkt Einfluss neh-
die wir in die Wege geleitet haben.
men können auf Politik. Also ich bin für mehr direkte Demokratie, Volksinitiative, Volksbefra-
Das Verhältnis zwischen Parteien und Bürgerinitiati-
gung, Volksentscheid. Aber man muss Regeln fin-
ven ist ein wichtiges Thema. Über Medien habe ich
den, wie diese Instrumente vor Missbrauch ge-
gesprochen, man muss aber noch die Chance der
schützt werden. Ich bin zugleich skeptisch, dass
neuen Medien für unsere Demokratie nennen. Das
das unsere Demokratie und das Engagement in der
ist wahrscheinlich eine große Chance. Politische
Demokratie tatsächlich leidenschaftlich befördert.
Kommunikation muss einen bestimmten Grad von
53
Friedrich-Ebert-Stiftung
Verbindlichkeit haben. Sie darf nicht nur sozusa-
68er-Generation hatte sich ganz offensichtlich
gen uferlos und endlos sein. Man muss am Schluss
wesentlich im Paradigma des Politischen definiert,
zu Entscheidungen kommen, für die man einsteht.
hat ihre Erlebnisse und Wahrnehmungen politisch
Das muss man im Internet nicht. Da kann man
interpretiert. Ich habe den Eindruck, dass nach-
endlos und zumeist folgenlos kollektiv palavern.
folgende Generationen sich eher im Paradigma
Aber politische Kommunikation muss zu einem
des Kulturellen definieren. In der Unterscheidung
Ende kommen. Trotzdem, die Chancen der neuen
des musikalischen Geschmacks, des Klamotten-
Medien, Kommunikation zu erweitern, andere
geschmacks, vieles andere. Dass es jedenfalls nicht
Gruppen einzubeziehen, sind wichtig.
mehr selbstverständlich ist, die eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen in einer politischen
Das Institutionengefüge und Regelwerk Demokra-
Sprache zu interpretieren. Das hat abgenommen
tie wäre tot, würde nicht funktionieren, wenn es
und man kann es nicht einfach erzwingen. Son-
nicht gelebt würde. Zur Demokratie gehören be-
dern darum muss man werben. Die Parteien haben
stimmte Einstellungen, ein bestimmtes Verhalten.
verflucht viel zu lernen, und die Jüngeren müssen
Demokratie gibt es nicht ohne demokratische
selber sagen, wie das geht. Nämlich dass sie Erfah-
Tugenden: Sinn für das Gemeinwohl. Solidaritäts-
rungen machen können des Sich-Einmischens, des
bereitschaft, Engagement über das eigene, persön-
Etwas-Bewirkens, dass Diskussionen etwas bewe-
liche, auf sich selbst bezogene, materielle oder
gen. Das wäre, finde ich, die wichtigste Form poli-
ideelle Interesse hinaus. Ohne diese Tugenden geht
tischer Bildung. Wie heißt es bei Oskar Negt: Die
es nicht. Und an dieser Stelle ist dann sichtbar, dass
Demokratie ist die einzige Herrschaftsform, die in
Demokratie die politische Lebensform der Freiheit
ständig neuer Kraftanstrengung immer wieder
ist. Demokratie braucht genügend Menschen, die
gelernt werden muss. Demokratie ist eben nicht
sie wertschätzen und die für sie einstehen, die wis-
einfach da. Man muss etwas wissen über das Regel-
sen, dass Demokratie mehr ist als ökonomischer
werk und über das Institutionengefüge. Man muss
Erfolg und Wohlstand, sondern eben die politische
lernen, sich in ihr zu verhalten, sich in ihr zu be-
Lebensform der Freiheit. Ohne Demokratie würde
währen, selber in einer Sprache das eigene Leben,
Freiheit auch in anderen Bereichen und Dimen-
das eigene Schicksal, die eigenen Wahrnehmungen
sionen der Gesellschaft auf Dauer nicht bestehen.
zu interpretieren, die kommunikativ ist zu anderen, und die demokratiefähig ist.
Ich bin immer wieder gefragt worden: Was tut Ihr, was tut die Politik, damit wir uns für Politik inter-
Zum Schluss muss ich noch ein paar Bemerkungen
essieren und uns in der Politik engagieren? Je öfter
machen zum sozialdemokratischen Grundverständ-
ich gefragt werde, umso ärgerlicher werde ich. Als
nis von Freiheit. Natürlich meinen wir damit vor
sei Politik etwas, was man gewissermaßen auf dem
allem
Silbertablett darbieten und konsumieren kann.
Lebensgestaltung sein können, das ist Freiheit. So
Politik, demokratische Politik bleibt immer mühse-
ist es auch in unserem Hamburger Grundsatzpro-
lig und grau und hässlich, nur gelegentlich strah-
gramm zitiert. Sie kennen das berühmte Zitat von
lend. Meine Lebenserfahrung besagt, dass politi-
Willy Brandt: „Das Wichtigste ist Freiheit.“ Dann
sches Interesse, politische Leidenschaft sich an der
machte er eine ganz kleine Pause und ergänzte:
Erfahrung entzünden, mit etwas nicht einverstan-
„Freiheit von Not und von Abhängigkeit.“ Das ist
den zu sein. Etwa der Erfahrung erlebter Ungerech-
genau das sozialdemokratische Verständnis. Frei-
tigkeit oder erlebter Unfreiheit. Dann fängt man
heit von Not und von Abhängigkeit, damit man
nämlich an zu fragen: Warum ist das so? Wie kann
frei ist für die Autorschaft der eigenen Lebensge-
ich das ändern? Mit wem zusammen kann ich das
staltung. Das ist eben nicht nur ein individualis-
ändern? Das sind die eigentlichen drei politischen
tisches Verständnis von Freiheit. Das ist vor allem
Fragen. Aber was passiert, wenn junge Leute nicht
kein Verständnis von Freiheit, das einen Gegensatz
diese Erfahrung machen oder andere als aktivieren-
aufmacht zu Gerechtigkeit und Solidarität. Denn,
de, politische Folgerungen ziehen? Die sogenannte
um es im Anklang an ein berühmtes Zitat zu sagen:
Selbstbestimmung.
Autor
der
eigenen
54
sommeruniversität
Die Freiheit schafft nicht selbst die Voraussetzung
Was bedeutet das für uns heute? Wer in unserer
dafür, dass man sie genießen kann, sondern für
Gesellschaft macht massenhafte Ungerechtigkeits-,
diese Voraussetzung muss immer wieder neu ge-
Zurücksetzungs-, Benachteiligungserfahrungen? Wer
sorgt werden.
macht Exklusionserfahrungen? Dieselben sozialen Gruppen weisen die größte Distanz zurzeit auf: Vie-
Unsere kürzeste Definition von Gerechtigkeit heißt:
le Bürger ausländischer Herkunft, Arbeitslose und
„gleiche Freiheit“. Gleiche Freiheit für Menschen,
Arme; dann Jugendliche: Immer noch gehen in
die unterschiedliche natürliche und soziale Voraus-
Deutschland anteilig mehr Ältere zur Wahl als jun-
setzungen, Herkünfte, Prägungen haben, die man
ge Leute. Dann gibt es ein Gefälle zwischen West-
nur begrenzt überwinden kann. Deswegen definie-
deutschen und Ostdeutschen. In Ostdeutschland
ren wir Gerechtigkeit als gleiche Freiheit zur Teil-
ist die Demokratie, so sehr sie von einem beträcht-
habe an Bildung, an Arbeit, an sozialer Sicherheit,
lichen Teil der Ostdeutschen ersehnt worden ist,
an Kultur, an Demokratie – an diese fünf wichtigs-
viel prekärer.
ten Dimensionen unseres Zusammenlebens. Die Schlüsselerfahrung der Arbeiterbewegung und des
Über diese Gruppen wollen wir reden in unserer
20. Jahrhunderts ist es, dass massenhafte Unge-
Zukunftswerkstatt. Die Friedrich-Ebert-Stiftung wird
rechtigkeit, massenhafte Erfahrung des Nicht-Teil-
einen Demokratiereport erstellen, der Untersuchun-
haben-Könnens die Demokratie gefährden und
gen zusammenstellt und fragt: Was sagen sie über
zerstören können. Nur so ist zu begreifen, wie es
jene besonderen Gruppen? Wie kann Politik darauf
zum Faschismus gekommen ist. Nur so ist zu be-
antworten? Wie kann die Partei darauf antworten,
greifen, wie es zum Kommunismus gekommen ist.
dass sie einladender wird? Wie können wir zur
Massenhafte Ungerechtigkeitserfahrung, Not, Un-
Demokratie hinführen, zu demokratischem Enga-
terdrückung, Ausbeutung, Zurücksetzung und die
gement? Die Antworten werden nicht leicht fallen.
Zustimmung zur Demokratie schwindet.
Ein kleines Beispiel: Die Berliner SPD hat neulich entschieden, das Wahlalter auf 16 herabzusenken, in der Absicht, junge Leute an die Demokratie heran zu führen. In einer Umfrage war eine Mehrheit dagegen, und zwar nicht nur die Alten, sondern auch die Mehrheit der Jungen. Ich finde das spannend: Die Absenkung des Wahlalters allein reicht offenbar nicht. Diese Gruppen müssen uns besonders interessieren, wenn wir Demokratie vitalisieren wollen, wenn wir unsere Partei anschlussfähiger machen wollen. Es sind die Menschen, für die die SPD und mit denen die SPD doch immer Politik machen wollte. Wenn es Hoffnung gibt, wenn Demokratie als Chance gesehen wird, das eigene Schicksal zu gestalten, sie der Ort ist, wo man der Allgewalt des betriebswirtschaftlichen Denkens, der Renditelogik erfolgreich widerstehen kann, müsste dann die Distanz nicht schwinden? Denn die eigentliche Herausforderung ist die Wiedererringung des Primats demokratischer Politik gegenüber der Ökonomie.
55
Friedrich-Ebert-Stiftung
Gut und sicher leben Bernd Westphal ist Vorstandssekretär der IG Bergbau, Chemie, Energie
Die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) ist eine recht junge Gewerkschaft. Sie ist 1997 aus dem Zusammenschluss der damaligen IG Chemie, Papier, Keramik, der IG Bergbau und Energie und der Gewerkschaft Leder zu einer der großen Gewerkschaften im DGB entstanden. Die lange Tradition der Vorgänger-Gewerkschaften bildet bis heute die Grundlage unserer Wertegemeinschaft. Solidarität, Gerechtigkeit, Freiheit, demokratische Teilhabe, Schutz vor Willkür, Chancengleichheit – sind unsere Werte, die wir im Leitbild der IG BCE formuliert und uns als die Zukunftsgewerkschaft auf die Fahnen geschrieben haben.
Die Bekämpfung von Armut wird ein globales Thema sein, mit dem sich Gewerkschaften auseinanderset-
In einer zunehmend pluralistischer werdenden
zen. Auch Themen wie Energie- und Rohstoffeffi-
Gesellschaft stehen Gewerkschaften vor neuen He-
zienz, Vertrauen in Soziale Marktwirtschaft und
rausforderungen. Die Menschen organisieren und
Demokratie stehen auf der Agenda. Wir haben als
engagieren sich in ganz unterschiedlicher Weise. Es
IG BCE dazu mit den Arbeitgebern einen Dialog
gibt heute mehr als Parteien, Kirche oder Gewerk-
(Wittenberg-Prozess) begonnen, in dem es um neu-
schaften. Temporäres Engagement in Bürgerinitia-
es Vertrauen in Politik und die zukünftige Gestal-
tiven, Selbsthilfegruppen, Verbraucherverbänden
tung der Sozialen Marktwirtschaft geht. Zu einer
oder NGO´s bilden neue Organisationsplattformen
nachhaltigen Entwicklung sortieren wir die Wett-
und Möglichkeiten zum Mitmachen. Darauf müs-
bewerbsfähigkeit der Unternehmen und Innovati-
sen und wollen wir reagieren. Wir waren nie nur
onen ebenso dazu, wie die Sicherheit der Arbeits-
Schutzmacht und Interessenvertreter unserer Mit-
plätze, Klimaschutz, Demografie, gute Arbeit, Bil-
glieder, sondern auch Gestalter und Impulsgeber in
dung oder die Absicherung der Sozialversicherung.
Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. An diesem Alleinstellungsmerkmal der Gewerkschaften wol-
Die Soziale Marktwirtschaft ist für uns weiterhin
len wir anknüpfen und unsere Ideen für die Welt
ein Wirtschaftsmodell, das mit den richtigen
von morgen einbringen.
Instrumenten erfolgreich sein kann. Wir setzen dabei auf Nachhaltigkeit. Die sozialen, wirtschaftli-
Welchen Herausforderungen stehen wir als IG BCE
chen und ökologischen Aspekte müssen gleichbe-
gegenüber? Das Krisenmanagement in der aktuel-
rechtigt ihren Stellenwert haben. Damit ist ein
len Finanz- und Wirtschaftskrise ist trotz Licht am
Ausgleich der Folgen wirtschaftlichen Handelns,
Ende des Konjunkturtunnels notwendig. In vielen
sozialer Frieden, intakte Umwelt, wirtschaftliche
Betrieben sind die Auswirkungen der ungezügelten
Stärke und Wohlstand für alle möglich. Für mich
Finanzspekulationen knallhart angekommen und
als Gewerkschafter gehören Mitbestimmung, Tarif-
leider noch immer bittere Realität.
autonomie und die Sozialversicherung unweigerlich zur sozialen Martwirtschaft dazu.
56
sommeruniversität
nehmenden wirtschaftlichen Globalisierung stehen Standorte weltweit in Konkurrenz. Verglichen mit anderen Ländern war und ist der ökonomische Erfolg Deutschlands nur auf Basis eines verlässlichen Sozialversicherungssystems möglich. Die „sozialen Leitplanken“ haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Leistung motiviert. Für die IG BCE steht der Mensch im Mittelpunkt. Daran muss sich eine Weiterentwicklung orientieren, wenn sie erfolgreich sein soll. Einfache Lohndrückerei, Leiharbeit und prekäre Beschäftigung können kein Maßstab sein. Voraussetzung für eine auch zukünftig erfolgreiche Wirtschaft sind verantwortlich handelnde Unternehmen, die nicht nur Renditeziele im Fokus haben. Bildung/Qualifizierung: Bildung ist aus Sicht der Gewerkschaften eine der wichtigsten Fragen des Da die Sommeruniversität der FES auch „Werkstatt
21. Jahrhunderts. Bildung und Weiterbildung wa-
soziale Demokratie“ ist, müssen die richtigen Ant-
ren schon immer ein klassisches Thema der Ge-
worten auf wichtige Zukunftsfragen entwickelt
werkschaften, weil wir die Chancen sehen, die sich
werden. Diese wären z. B.: Ist diese Soziale Markt-
durch ein gerechtes Bildungs- und Qualifizierungs-
wirtschaft noch ein Zukunftsmodell? Was ist zu
system für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
verändern? Was muss von dieser Sozialen Markt-
ergeben. Die aktuelle Debatte über den Fachkräfte-
wirtschaft erhalten bleiben? Sind Mitbestimmung
mangel unterstreicht den Handlungsbedarf. Die
und Tarifautonomie Modelle, die auch in den
Zeit des Überangebotes von qualifizierten Arbeit-
nächsten 20, 30 Jahren noch taugen und für sozia-
nehmern auf dem Arbeitsmarkt ist vorbei. Mit dem
len Ausgleich sorgen? Welche Rolle spielt der Staat,
Ende der Krise, anziehender Konjunktur, dem
muss er stärker eingreifen? Wie kann die Kreativi-
demografischen Wandel und steigender Produkti-
tät und Innovationskraft der Marktwirtschaft er-
on wird deutlich, dass Unternehmen teilweise
halten werden, ohne der Gesellschaft zu schaden?
schon Schwierigkeiten haben, Stellen zu besetzen.
Mit welchen innovativen, neuen Produkten kön-
Das heißt, Qualifizierung und Bildung von Arbeit-
nen zukünftige globale Herausforderungen, wie
nehmerinnen und Arbeitnehmern ist eine ent-
z. B. die Energieversorgung organisiert werden?
scheidende Investition in die Zukunft.
Wie lassen sich ökonomischer Erfolg, soziale Verantwortung und ökologische Vernunft sinnvoll
Nicht nachvollziebar ist, dass immer noch acht bis
kombinieren? Diese wenigen Fragen können Richt-
zehn Prozent eines Schülerjahrgangs die Schulen
schnur einer politischen Diskussion sein.
ohne Abschluss verlassen und 20 Prozent der Schulabgänger weder richtig lesen noch schreiben kön-
Humanpotenzial: Die Menschen in einem Unter-
nen. Das ist eine Entwicklung, bei der man nicht
nehmen bilden eine der wichtigsten Ressourcen.
einfach zur Tagesordnung übergehen kann. Wir
Sie, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
haben die Verpflichtung das zu ändern. Wir müs-
sind der Schlüssel zu Innovation und Wettbewerbs-
sen in einer modernen Industriegesellschaft dies
fähigkeit. Nur wenn das Humanpotenzial wertge-
vor allen Dingen vor dem Hintergrund der demo-
schätzt wird, lassen sich dauerhaft Arbeit, Wohl-
grafischen Entwicklung, die schon jetzt in den Be-
stand und soziale Gerechtigkeit – nicht nur in
trieben und auf den Arbeitsmärkten sichtbar wird,
Deutschland, sondern in Europa insgesamt – gene-
im Auge behalten. Zahlen von Prognos und der
rieren. Gerade auch vor dem Hintergrund der zu-
Bundesanstalt für Arbeit belegen, dass wir erhebli-
57
Friedrich-Ebert-Stiftung
chen Fachkräftebedarf in den nächsten 20 Jahren
gungssicherung und Qualifizierung statt Arbeits-
bis 2030 haben werden. Wir täten gut daran, uns
platzabbau. Es waren die Sozialdemokraten in der
hier frühzeitig Maßnahmen zu überlegen, wie wir
Regierung, die für Stabilität und Vertrauen in der
dem Rechnung tragen können. Dabei wird es auch
Krise sorgten. Dazu gehört auch die Verlängerung
um Integration und Zuwanderung gehen.
des Kurzarbeitergeldes, das mitgeholfen hat, eine Beschäftigungsbrücke zu bauen, um jetzt besser aus
Demografische Entwicklung: Die deutsche Bevöl-
der Krise zu starten als andere Länder.
kerung wird nicht nur immer älter, sondern auch weniger. Ich glaube, dass unsere Gesellschaft dieses
Mitbestimmung ist ein elementarer Bestandteil un-
Problem zwar oft thematisiert, aber die richtigen
serer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, Vor-
Konzepte noch nicht hat. Wir können uns in den
aussetzung für politische Stabilität. Der soziale
Unternehmen, in den Städten und Ortschaften
Frieden, auch in den Unternehmen, ist Vorausset-
nicht vorstellen, wie das ist, wenn der Anteil der
zung für Innovation. Nur da, wo Beschäftigte sich
Älteren sich fast verdoppelt. Das muss nicht be-
eine einflussreiche Vertretung wählen können, wo
drohlich sein, ist aber eine Herausforderung, der
man sie einbindet in Unternehmensentscheidun-
wir uns gesellschaftlich, arbeitsmarktpolitisch und
gen, kann erfolgreiche Interessenvertretung funk-
sozialpolitisch stellen müssen. Wir haben diesen
tionieren und auch Verantwortung wahrgenom-
demografischen Wandel zu gestalten. Bei den
men werden. Mitbestimmung ist Motor für Leis-
0-19- jährigen wird es in der Zeit von 2000 – 2020
tung, Innovation und Motivation. Sie ist ein pro-
eine Reduzierung um drei Millionen geben. Die
duktiver Faktor und bringt Wettbewerbsvorteile.
Älteren, also ab 50 oder 65, und selbst ab 80 Jahren aufwärts, werden deutlich zunehmen. Auch das ist
Die Weltmeisterschaft ist vorbei, aber vielleicht
ein Thema, das auf der Agenda der Gewerkschaften
noch einmal ein kurzer Ausflug dorthin. Es gab in
steht. Wir haben da nicht unbedingt ein Problem
Dortmund ein Fußball-Idol, Adi Preißler, der gesagt
der Analyse. Die Grunddaten, die den Rahmen bilden, sind bekannt. Es mangelt eher an den richtigen Politikkonzepten und Umsetzungsmaßnahmen. Die Parteien wären gut beraten, wenn sie in den Zukunftsdebatten diese Erkenntnisse mit berücksichtigen und neue Ideen entwickeln würden. Wie das Thema Demografie innovativ gestaltet werden kann, hat die IG BCE mit ihrem Demografie-Tarifvertrag für die chemische Industrie gezeigt. Unterstützend könnten Rahmenbedingungen der Politik wirken, wenn z. B. flexible Übergänge in die Rente geschaffen würden. Standortvorteil Mitbestimmung. Die Mitbestimmung durch Betriebs- und Aufsichtsräte gehört zu den wichtigsten Instrumenten der sozialen Marktwirtschaft. Sie ist die praktizierte Demokratie in Wirtschaft und Gesellschaft. Historisch belegt und im aktuellen Krisenmanagement praktiziert und bewährt, ist die Mitbestimmung ein Standortvorteil. Gewerkschaften und Betriebsräte haben gemeinsam dazu beigetragen, Beschäftigung in der Krise zu sichern. Das hat noch einmal die Bedeutung der Mitbestimmung unterstrichen. Beschäfti-
58
sommeruniversität
hat: „Grau ist alle Theorie, entscheidend ist auf’m
im Betrieb, Erhöhung der Ausbildungsplätze, Alters-
Platz!“ Bezogen auf die Mitbestimmung sagen wir:
versorgung, Qualifizierung oder Übernahme nach
Entscheidend ist im Betrieb! Vor Ort, da wo die
der Ausbildung. Die aktuelle Diskussion über die
Beschäftigten die meiste Zeit ihres Tages verbrin-
Rente mit 67 zeigt, dass die pauschale Heraufset-
gen, muss Mitbestimmung stattfinden. Bei den
zung des Renteneintrittsalters nicht richtig ist.
kürzlich durchgeführten Betriebsratswahlen, die
Differenzierte Lösungswege im Rahmen der tarif-
alle vier Jahre stattfinden, haben wir im Organi-
lichen Ausgestaltung sind mit den richtigen poli-
sationsbereich der IG BCE gute Ergebnisse erzielt.
tischen Regelungen möglich, um unsoziale Ren-
Ich erwähne das deshalb, weil die BR-Wahlen im-
tenkürzungen zu verhindern. Wir werden als IG
mer auch eine Abstimmung über unsere Politik
BCE nicht zur weiteren Skandalisierung des Themas
sind. Wir hatten eine ziemlich hohe Wahlbeteili-
beitragen, aber unsere Anforderungen an Instru-
gung von über 75 Prozent, von der die Politik nur
mente für einen flexiblen Übergang in die Rente
träumen kann. Über 80 Prozent der gewählten Be-
formulieren.
triebsratsmitglieder sind Mitglied der IG BCE, die Betriebsratsvorsitzenden zu 92 Prozent, die stell-
Natürlich wächst der Druck auf Arbeits- und Be-
vertretenden Vorsitzenden zu 85. Über 30 Prozent
schäftigungsbedingungen. Es gibt eine ganze Reihe
sind erstmals als BR gewählt worden. Die Arbeit
von Dingen, wo wir Arbeitsverdichtung verspüren,
eines Betriebsrates ist nicht Bestandteil der Berufs-
wo wir Einschnitte bei Vergütungen haben, wo im
ausbildung und muss natürlich gelernt werden.
Gegenzug zu Job- und Standortgarantien, die ver-
Wir haben gute Seminarangebote, in denen die
handelt werden, auch oft ein Beitrag der Arbeit-
Kolleginnen und Kollegen sich dann auch dement-
nehmerinnen und Arbeitnehmer verlangt wird.
sprechend das Rüstzeug für ihre Aufgaben holen
Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer sind
können.
ein großes Thema, wo wir als IG BCE sagen: Okay, das ist ein Instrument, mit dem man Spitzen ab-
Tarifpolitik gehört zum Kerngeschäft von Gewerk-
decken kann, wir sehen jetzt aber, dass Leiharbeit
schaften. Abgeleitet von Artikel 9 Grundgesetz
zunehmend Einstellungen in Stammbelegschaften
gestalten die Gewerkschaften in Verhandlungen
verhindert. Das werden wir nicht zulassen. Wir
mit den Arbeitgeberverbänden oder Unternehmen
brauchen gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit.
die wesentlichen Rahmenbedingungen der Arbeit. Eine aktuelle Auswertung der Hans-Böckler-Stif-
Die
tung besagt, dass mehr Geld mit Betriebsrat – in
durch Orientierung an Finanzkennzahlen. Betriebs-
Unternehmenssteuerung
erfolgt
zunehmend
untersten Lohngruppen plus 14 Prozent und höhe-
und Aufsichtsräten werden mit Bilanzen, Kosten-
re Verdienstgruppen plus acht Prozent – verdient
rechnungen oder Scorecards Berichte über die
wird, wo bessere tarifliche Schutzregelungen be-
Situation des Unternehmens vorgelegt. Diese tau-
stehen. Natürlich gibt es Angestelltengruppen, die
gen alleine nicht, ein Unternehmen zu steuern
von dem Tarif gar nicht erfasst sind. Aber das, was
oder Aussagen über die Gesamtsituation zu geben.
tarifvertraglich vereinbart wird, hat durchaus Aus-
Wir müssen in der Diskussion über diese betrieb-
strahlungswirkungen auf viele Dinge, auch auf
liche Kennzahlensteuerung klar machen, dass es
Regelungen für hochqualifizierte Angestellte, die
auch andere Kennzahlen gibt, beispielsweise im In-
nicht unter Tarifvertrag fallen. Tarifarbeit im Be-
dex „Gute Arbeit“. Dieser vom DGB entwickelte
trieb wird immer wichtiger, weil wir den Rahmen
Index gibt sehr genau Auskunft über die Arbeits-
in einem Flächentarifvertrag setzen, der dann
welt und die Zufriedenheit der Beschäftigten. Ne-
betrieblich ausgestaltet wird und zunehmend
ben den Finanzkennzahlen sind Erhebungen, z. B.
Bestandteil der Betriebsratsarbeit ist. Die innova-
über die Höhe der Ausbildungszahlen, den Kran-
tive Tarifpolitik der IG BCE ist oft Trendsetter. Da-
kenstand, die Unfallquote, die Motivation der Be-
bei geht es nicht nur um die Entwicklung von Löh-
legschaft, die Aufstiegsmöglichkeiten oder Ange-
nen und Gehältern, sondern z. B. um Instrumente
bote der Aus- und Weiterbildung aber auch die
zur Gestaltung der demografischen Entwicklung
Wertschätzung und respektvoller Umgang wichtige
59
Friedrich-Ebert-Stiftung
Aussagen zur Orientierung. Es geht um nachhaltige
ren. Also Demografie, Fachkräftemangel und
und langfristige Ausrichtung, nicht nur um kurzfris-
Gender-Ansatz sind viele Dinge, die hier eine Rolle
tigen Gewinn.
spielen. Dabei geht es nicht nur um Kinderbetreuung, sondern auch die Betreuung und Pflege von
Ein kurzer Ausflug in die Welt „Gute Arbeit“-Index.
pflegebedürftigen Angehörigen. Eine große Her-
Es gibt vom DGB seit einigen Jahren diesen Index.
ausforderung, vor der Arbeitnehmerinnen und
Ich weiß nicht, ob der schon bekannt ist. Es ist zu-
Arbeitnehmer stehen, wenn z. B. ein Pflegefall im
mindest ein Versuch, den Indizes der Wirtschafts-
unmittelbaren Umfeld auftritt und neben der
welt, dem Konjunkturklima und anderem, etwas
Arbeit organisiert werden muss. Dabei Hilfestel-
entgegen zu setzen und zu fragen: Es ist der Ver-
lung zu leisten und die Palette der Unterstützungs-
such, mit verschiedenen Kriterien, mit Befragun-
maßnahmen zu organisieren sowie flexible Arbeits-
gen in den Unternehmen, herauszufinden, inwie-
zeitmodelle anzubieten, muss auf den Weg gebracht
weit denn Beschäftigte mit ihrer Arbeitswelt zufrie-
werden. Immer noch ein breites Aufgabenfeld, wo
den sind. Es geht um den Anspruch der Beschäftig-
wir bis heute nicht abschließend erfolgreich sind.
ten, der hier formuliert und verbreitet werden soll,
Elternzeit, flexible Arbeitszeiten sind Instrumente,
um ein Prädikat für Arbeitsqualität und ein Kon-
die helfen können, diese Vereinbarkeit besser zu
zept für die Gestaltung der Arbeitswelt. Wenn ich
organisieren. Die Vereinbarkeit von Familie und
ein Bild meiner Beschäftigten in einem Unterneh-
Beruf ist ein Ansporn für Unternehmen, nicht an
men habe, an welchen Dingen sie sich orientieren,
Attraktivität zu verlieren. Ich sagte ja bereits, die
wo sie sich wohlfühlen, worin Defizite liegen, kann
Fachkräfte in Zukunft werden weniger werden.
ich auch dementsprechend gestalten. Was beinhal-
Eine Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung zeigt,
tet dieser Index? Es sind z.B.: gerechte Entlohnung,
in den Betrieben mit Betriebsräten kann man bes-
Teilhabe am Sagen und Haben, Anerkennung, Ar-
sere Bedingungen, was Vereinbarkeit von Beruf
beit – die den Menschen stark und nicht krank
und Familie angeht, vorfinden. Die Kinderbetreu-
macht –, Qualifikationen erwerben, Nutzen aus-
ung im Betrieb ist dort um zwei Prozent höher als
bauen, Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
in anderen Betrieben. Regelungen zur Elternzeit und flexible Arbeitszeitregelungen sind Dinge, die
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist für uns
Bestandteil betrieblicher Vereinbarungen sind.
als IG BCE ein zentrales und wichtiges Thema. Wir haben dazu viele Kampagnen und Diskussionen
Industrie- und Standortpolitik ist ein für uns wich-
angestoßen. Natürlich haben wir auch die erfolg-
tiges Politikfeld. Im Organisationsbereich der In-
reiche Familienpolitik der sozialdemokratisch ge-
dustriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie sind
führten Regierung unterstützt, die viele Dinge an-
viele Branchen zu finden, die von politischen Ent-
gestoßen hat, von denen wir heute noch profitie-
scheidungen abhängig sind. Wir haben ein klares
60
sommeruniversität
Energie- und Industriepolitisches Programm, das
erkannt und sehen in ihrem Engagement natürlich
sich am Gedanken der Nachhaltigkeit orientiert.
auch Vorteile. Es sind Chancen für Unternehmen,
Wir verfolgen gemeinsame Handlungsstrategien
im globalen Wettbewerb eine Belegschaft zu ha-
mit Unternehmen, Betriebsräten und Verbänden
ben, die weltoffen ist, die durch ihre unterschied-
für eine nachhaltige Industriepolitik. Wir brauchen
lichen kulturellen Herkünfte ein erweitertes Poten-
einen Ausgleich zwischen ökologischen, sozialen
zial besitzt. Und dies ist nicht nur eine Bereicher-
und wirtschaftlichen Interessen. Dabei geht es uns
ung für die Wirtschaft, sondern für unser Land und
nicht um die Ökologisierung oder Verdrängung der
unsere Gesellschaft insgesamt. Es geht auch um
Wirtschaft, sondern um eine nachhaltige Industrie,
eine Antwort – ich sagte es schon – auf den Fach-
deren Produkte der Gesellschaft nutzten. Bei der
kräftemangel, da braucht man intelligentere Lö-
Bewältigung der internationalen Finanz- und Wirt-
sungen als derzeit. Vielleicht noch mal ein kleiner
schaftskrise beispielsweise wird deutlich sichtbar,
Ausflug in die Welt des Fußballs. Namen wie Özil,
dass die Länder, die kaum industriellen Anteil
Cacau, Boateng usw. sind fester Bestandteil unserer
haben, wie Großbritannien, wesentlich schwerer
Nationalmannschaft und zeigen damit, wie positiv
betroffen sind als Deutschland mit einer industriel-
Integration funktionieren kann. Bei allen Defiziten,
len Produktion. Auch zur Bewältigung der zukünf-
die es auch auf Seiten der Migrantinnen und Mig-
tigen Herausforderungen, vom Klimaschutz, Ver-
ranten gibt, werden wir uns auch zukünftig für eine
sorgung mit Rohstoff- und Energieressourcen,
menschenwürdige Integrationspolitik, die auf Teil-
Energieerzeugung, Elektromobilität, Welternäh-
habe und Gleichberechtigung setzt, stark machen.
rung, Bio- und Gentechnologie oder Herstellung neuer Materialien im Bereich der Nanotechnologie,
Als Fazit unterstreiche ich unsere unverrückbaren
ist Industrie notwendig. Innovationen von Fachar-
Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Un-
beitern, Meistern, Technikern und Ingenieuren aus
sere Handlungsmöglichkeiten und Kompetenzen
den Chemielaboren und F+E Abteilungen können
werden wir als IG BCE weiterentwickeln und
Lösungen für zukünftige Herausforderungen lie-
zukünftig noch besser nutzen. Unser Ansporn
fern. Damit entstehen auch für die heimische Wirt-
bleibt, die Entwicklung zu einer gerechteren Ge-
schaft Chancen auf weltweite Zukunftsmärkte.
sellschaft mit zu gestalten. Unser politisches En-
Positiv ist diese Entwicklung auch für die Schaffung
gagement wird sich dabei nach wie vor nicht nur
von Arbeits- und Ausbildungsplätzen und damit für
auf die wichtigen Instrumente wie Tarifautonomie
den Wohlstand in unserem Land. Von daher sind
und Mitbestimmung begrenzen. Bildung wird wei-
wir als IG BCE gemeinsam mit den Betriebsräten da-
terhin ein Schlüsselthema bleiben und auch die
ran interessiert, in der SPD eine wohlverstandene
Balance zwischen Flexibilität und sozialer Sicher-
Industrie- und Standortpolitik zu finden.
heit. Wir werden uns als Gewerkschaften zunehmend in diese Debatte einmischen. Wir sind an
Integration, ein gesellschaftlich wichtiges Thema,
langfristigen Lösungen interessiert. Im Rahmen der
auch für unsere Arbeit in der IG BCE. Eine ganze
gesellschaftlichen Verantwortung müssen auch die
Reihe von Aktivitäten sind dazu bei uns zu finden.
Unternehmen ihrer Rolle gerecht werden.
Z.B. die Aktion der gelben Hand, „Mach meinen Kumpel nicht an!“ – Ein Verein, der hauptsächlich
Es gibt einen schönen Satz von Aristoteles, schon
auch von der damaligen IG Bergbau und Energie
ein bisschen länger her, aber durchaus heute noch
unterstützt wurde. Wir stellen zurzeit den Vorsit-
gültig: „Wir können den Wind nicht ändern, aber wir
zenden des Vereins. Darüber hinaus haben wir mit
können die Segel richtig setzen“. Ich bin davon über-
einigen Arbeitgebern Sozialpartnervereinbarungen
zeugt, dass wir als IG BCE in diesem Sinne die Segel
zur Diversity, zur Vielfalt abgeschlossen. Die Unter-
als Gewerkschaft richtig gesetzt haben und damit
nehmen haben Defizite zum Thema Integration
ganz gut aufgestellt sind, die Zukunft zu gestalten.
61
Friedrich-Ebert-Stiftung
Bildung Prof. Dr. Christoph Ehmann Staatssekretär a.D., Generalsekretär der European University Foundation Campus Europae
Meine These, die ich im Folgenden begründen werde, lautet: Die Leitidee des deutschen Bildungswesens ist: Nicht fördern, sondern ausgrenzen. Das Bildungssystem ist darauf angelegt, dass von Jahr zu Jahr und von Stufe zu Stufe immer mehr Leute ausgegrenzt, von der weiteren Teilnahme ausgeschlossen werden, so dass am Ende eine Pyramide mit einer schmalen Spitze entsteht. Von einer Verwirklichung des „Bürgerrechts auf Bildung“ ist die Republik weit entfernt. „Bildung für alle“ wird nicht einmal angestrebt. Das Bildungssystem dient der Akkumulation von Bildungskapital dort wo
det. Es war nicht nur die Ölkrise 1973 und die ihr
bereits viel Kapital vorhanden ist. Demokraten
folgenden Haushaltsengpässe, an der deren Ver-
waren und sind in der deutschen Bildungspolitik
wirklichung scheiterte. Es war das generelle Ab-
in der radikalen Minderheit.
nehmen des Interesses an der Brandtschen Zielvorgabe: „Mehr Demokratie wagen“, wozu eine grund-
Das fängt beim Kindergarten an. Es gab stets zwei
legende Umstellung des Bildungswesens eine not-
„Kindergärten“. Der eine war eine Kinderbewahr-
wendige Voraussetzung war (und ist). Es dauerte
anstalt für Kinder erwerbstätiger Eltern, vor allem
drei weitere Jahrzehnte bis wieder einige Bundes-
alleinstehender Frauen. Der andere folgte der Idee
länder den gebührenfeien Kindergarten und seine
von Fröbel und anderen, die den Kindergarten
Bildungsaufgabe zum Programm erhoben und zu-
bereits in der 1848er Verfassung verankern und ihn
mindest teilweise realisierten. Dennoch kann von
zum Teil des Bildungsbereichs zu machen versuch-
einer Bedarfsdeckung insbesondere im Westen der
ten. Sie scheiterten. Doch das Bürgertum realisierte
Republik keine Rede sein, wo man sich mit einem
die Idee dennoch für seinen Nachwuchs, ein Bür-
Angebot an drei- bis vierstündigen Halbstagsplät-
gertum, dessen Frauen nicht arbeiten mussten oder
zen die Kindergartenwelt schön rechnet.
durften, das aber von dem Wert der frühkindlichen Förderung durch ausgebildete Pädagogen für die
Diese Halbtagsplätze sind natürlich keine „Bil-
weitere Entwicklung wusste.
dungseinrichtungen“, sondern Verwahrplätze und nichts anderes. Das liegt nicht an den Erzieherin-
In der Bundesrepublik schien es dem Deutschen
nen und Erziehern, sondern an denen, die ihnen
Bildungsrat zwischen 1970 und 1975 zu gelingen,
eine qualifizierte pädagogische Ausbildung ver-
der Vorstellung vom Kindergarten als einer Bil-
wehren aus Angst, sie müssten ihnen dann auch
dungsstätte zum Durchbruch zu verhelfen. Gesetze,
bessere Gehälter zahlen.
die Kindergärten als gebührenfreie Stätten frühkindlicher Bildung definierten, wurden in den Län-
Es gab ein Vorbild, wo man die Kindertagesstätten
dern Nordrhein-Westfalen und Bayern verabschie-
als gebührenfreie Erziehungs- und Bildungseinrich-
62
sommeruniversität
tungen vorfinden konnte. Und zwar mit qualifi-
ten Einkommen zu einer Verminderung der Steuer-
zierten Erzieherinnen, die auch die Lehrberechti-
last um 1800 € oder zur Senkung des monatlichen
gung für die ersten vier Klassen der Grundschule
Belastung um 150 €, im Hamburger Beispiel also
hatten. Nur war das in der ehemaligen DDR. Und
statt 376 € nur 226 €. Folgerichtig belasten die
so etwas durfte im freien Westen nach 1989 auch
Kita-Beiträge nach einer Untersuchung von Kreyen-
nicht in Ansätzen übernommen werden.
feld, Spieß und Wagner die niedrigsten Haushaltseinkommen mit ca 4 %, das höchste Einkommensfünf-
Neben der nicht realisierten Gebührenfreiheit und
tel jedoch nur mit 2,3 %. An dieser Form der schich-
der mangelnden Bezahlung – und damit Qualifi-
tenspezifischen Bildungsförderung wird sich im
zierung – der Erzieherinnen gibt es noch einen drit-
weiteren Verlauf des Bildungsgangs nichts ändern.
ten Grund, warum es mit der Verwirklichung der Idee der frühkindlichen Bildung und Erziehung
Nun zur Schule: Hier gilt es von der einzigen wir-
nicht vorankommt. Die Kindergärten werden zu
kungsvollen Aktion gegen die herrschende Ideologie
einem Grossteil von den beiden Kirchen betrieben.
der Ausgrenzung zu berichten. Ich meine die Ein-
Damit haben die Kirchen das Bestimmungsrecht
führung des Schüler-BaföG durch die sozialliberale
über einen großen Beschäftigungssektor, in dem
Koalition in der Regierungszeit Willy Brandts.
sie ihre besonderen Beschäftigungsbedingungen durchsetzen können wie die Verweigerung von
Auf das Schüler-BAföG hatten alle bedürftigen
starken Betriebsräten, die Zugehörigkeit zur rich-
Schülerinnen und Schüler, die auf eine Vollzeit-
tigen Kirche und eine im Vergleich zum sonstigen
schule, die zur Hochschulreife führte, gingen, ei-
öffentlichen Dienst niedrigere Bezahlung, von der
nen Rechtsanspruch. BaföG erhielten 1975 voll
dann auch noch Kirchensteuern zu entrichten sind.
oder teilweise 43 % aller Schülerinnen und Schüler der genannten Schulformen. Und das wirkte sich
Der Kita-Besuch ist also überwiegend nicht gebüh-
auf die soziale Zusammensetzung der Studenten-
renfrei. Die zu zahlenden Beiträge sind in der Regel
schaft nachhaltig aus. Denn wenn man Schüler-
nach dem Einkommen der Eltern gestaffelt und be-
BaföG erhielt, dann erfüllten die Familien bzw. die
tragen zwischen 25 und – z.B. in Hamburg – 376 €.
Studierenden auch die Voraussetzung, um Studen-
Der letzgenannte Betrag sieht erschreckend aus
ten-BaföG zu erhalten. Die Folge: zwischen 1970
und wird denn auch von der jeweiligen politischen
und 1979 stieg der Anteil der Kinder aus Arbeiter-
Opposition und den üblichen Skandalblättern ent-
familien an den Hochschulen von 7 auf 14 %, wozu
sprechend ausgeschlachtet. Tatsächlich aber wird
jedoch auch die Erhebung einiger Fachschulen zu
niemand mit diesen Höchstbeträgen belastet. Denn
Fachhochschulen beitrug.
Kinderbetreuungskosten können bis zum Betrag von 4000 € im Jahr (335 € im Monat) steuerlich
Und exakt wegen dieses demokratisierenden, Anti-
geltend gemacht werden. Das führt bei den höchs-
Ausgrenzungs-Effekts war die erste Sparmaßnahme
63
Friedrich-Ebert-Stiftung
der christlich-sozialen Koalition 1983 die Abschaf-
nach dem Besuch einer „Förderschule“ – die Be-
fung des Schüler-BaföG. Und heute? Die gleiche
zeichnung steht in umgekehrten Verhältnis zur
Koalition hat ein erfahrungsgemäß die Kinder aus
Wirkung für ihre Besucherinnen und Besucher –
höheren
bevorteilendes
auf dem Ausbildungsmarkt eintrifft, kann sicher
„Begabten-Förderungs-Programm“ beschlossen, währ-
sein, niemals zu einer ernsthaften Bewerberin oder
end die ohnehin nur eher bescheidene Erhöhung
einem ernsthaften Bewerber auf dem Ersten Arbeit-
des BaföG verschoben wurde. Dass bereits der Kin-
markt zu werden. Das heißt aber auch, dass dieser
derfreibetrag mit einer deutlich wirksameren Stär-
Personenkreis während der Schulzeit und der Aus-
kung der höheren Einkommen angehoben worden
bildung in besonderen Programmen in den öffent-
war als das Kindergeld für die „unteren“ Schichten,
lichen Kassen ein Vielfaches der Kosten von „Nor-
soll der Vollständigkeit halber nicht unerwähnt
maljugendlichen“ verursacht. Ganz zu schweigen
bleiben.
davon, dass sie in der Regel auch danach von Sozial-
Einkommensschichten
leistungen des Staates leben müssen. Die politiObwohl die Wiedereinführung des Schüler-BaföG
schen Mehrheiten lassen sich diese dauerhafte Aus-
in seiner ursprünglichen Form ohne Zweifel ein er-
grenzung von 15 bis 20 Prozent eines Altersjahr-
heblicher Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit
gang also durchaus etwas kosten.
wäre, liegen die eigentlichen Ausgrenzungsaktionen jedoch in der üblichen Schulpädagogik selbst.
Eine nur für wenige Familien bedeutsame, aber für
Die überwiegend praktizierte Schulpädagogik – und
die Ideologie der Kostenverteilung im deutschen
auf ihr basierend die Organisation des Schulwesens –
Bildungswesen signifikante Regelung soll noch er-
hängt der Vorstellung an, dass Unterricht dann am
wähnt werden: Die steuerliche Geltendmachung
effektivste gestaltet werden kann, wenn die Lehr-
von Kosten für den Besuch von Privatschulen. Sie
person eine lern- und leistungshomogene Klasse
werden ganz überwiegend von den Kirchen betrie-
vor sich habe. Das erscheint vor allem für einen
ben. Diese verlangen zwischen 50 und 150 € mo-
lehrerzentrierten Frontalunterricht nachvollzieh-
natliches Schulgeld, also 600 bis 1800 € pro Jahr.
bar, wie er außerhalb der Grundschule die Regel ist.
Diese Beträge können zu 30 Prozent bei der jährlichen Steuerklärung geltend gemacht werden, also
Um diese „Homogenität“ zu erreichen, werden mit
mit 200 bis 600 € die Steuergesetzgebung sieht je-
Hilfe von Schulreifetests bereits die 5- und 6- Jähri-
doch vor, dass bis zu 5.000 € geltend gemacht wer-
gen sortiert. Da das offensichtlich zur Homogeni-
den können, was erst bei einem jährlichen Schul-
sierung noch nicht reicht, wird das Sitzenbleiben
geld von 16.700 € – oder 1.400 € erreicht wird. Das
auch in der Grundschule für angemessen erachtet
führt dann zu einer Steuererleichterung von
Einige Schüler, und wenige Schülerinnen, werden
2.250 €. Im Verhältnis zu den 16.700 € Schulgeld
schon in dieser Bildungsphase zur „Förderschule“
ein Klacks. Aber es zeigt die „Nehmerqualitäten“
abgeschoben. Selbstverständlich soll die Zuweisung
des gehobenen Mittelstands – und seiner politi-
zu den drei – mit der Förderschule mittlerweile vier
schen Interessenvertreter.
– Gliedern der Sekundarstufe I der letztlich entscheidende Schritt zur Herstellung der Leistungs-
Zur Hochschule. In den meisten Ländern in Europa
und Lernhomogenität getan werden. Hier kommt
treibt man den Anteil der Hochschulzugangsbe-
nun zu dem üblichen Mittel des Sitzenbleibens
rechtigten deutlich in die Höhe. Für Frankreich
noch die „Abstufung“ in die nächst „niedrigere“
und England gelten 80 Prozent eines Altersjahr-
Schulform hinzu.
gangs als Ziel. In Frankreich war man 2008 bereits bei 72 Prozent, in England bei 69 Prozent. In
Infolge dieser Aktionen werden von Jahr zu Jahr
Deutschland wird unter Einbeziehung der Fach-
und von Stufe zu Stufe immer mehr Schülerinnen
hochschulreife die Zahl 50 angestrebt.
und Schüler ausgesiebt, abgeschoben und ausgegrenzt. Wer nach mehrmaligem Sitzenbleiben die
80 Prozent sind nur zu erreichen, wenn gezielt die
Hauptschule nach der 7. Klasse verlässt oder gar
„Ausschöpfung der Begabungsreserven“ betrieben
64
sommeruniversität
wird. Dass dies schon in der Schule nicht geschieht,
maßen gefördert. Gleiche Förderung von Unglei-
habe ich bereits dargestellt. Der Wille zur „Aus-
chem aber ist der Garant für die Stabilisierung der
schöpfung der Begabungsreserven“ müsste auch in
sozialen Ungleichheit.
einer gezielten Förderung der (noch) „bildungsfernen“ Schichten durch den Staat sichtbar werden.
Dass dort, wo viel ist, noch mehr hinkommt, gilt
Da der Hochschulbesuch nach allen zur Verfügung
nicht nur für die Ansammlungen von Hundekot.
stehenden Daten positiv mit dem Familienein-
Es gilt auch für die Weiterbildungs-Förderung. Es
kommen korreliert, hieße das, den Kindern aus
nehmen diejenigen an Weiterbildung teil, die be-
einkommensschwächeren Familien bzw. den Fami-
reits in den vorlaufenden Bildungsphasen reich-
lien stärkere Förderung zukommen zu lassen als
liche öffentliche Förderung erfahren haben. An der
den einkommensstärkeren Familien.
allgemeinen Weiterbildung nehmen 62 Prozent der Hochschulabsolventen teil. Von denen ohne
Das ist in den anderen euopäischen Ländern auch
Schulabschluss sind es nur 15 Prozent. In der be-
der Fall, zumindest dort, wo überhaupt an eine
ruflichen Weiterbildung ist die Teilnahme zudem
Studienförderung gedacht wird. Nicht so in
noch von der Stellung in der Hierarchie der Unter-
Deutschland. Schwarzenberger u.a. haben in der
nehmen abhängig und zwar insbesondere dann,
bei
Untersuchung
wenn es um die Kostenübernahme geht. Es gibt
„Public / private funding of higher education: a
zwar eine Reihe von Betriebsvereinbarungen, die
social balance“ nachgewiesen, dass in Deutschland
Betriebsräte in Großbetrieben durchgesetzt haben
und nur dort, Studierende bzw. ihre Familien un-
und die auch Facharbeitern und An- und Unge-
abhängig vom Einkommen die fast auf den Euro
lernten die Gelegenheit zur Teilnahme an betrieb-
gleichen staatlichen Zuwendungen erhalten, nur
lich finanzierter Weiterbildung öffnen. Aber falls
aus unterschiedlichen Ministerien: Die einen erhal-
diese Weiterbildung nicht von direktem betrieb-
ten BaföG, die anderen profitieren von höheren
lichen Nutzen ist, wird in der Regel verlangt, dass
Kinderfreibeträgen und sonstigen steuerlichen Ver-
die Beschäftigten einen Teil ihrer Freizeit ein-
günstigungen. Das Ergebnis: Es gibt keine beson-
bringen müssen, während Weiterbildung für Füh-
dere, auf den Ausgleich von Benachteiligungen ge-
rungskräfte sehr häufig einen gratifikatorischen
richtete staatliche Förderung für Studierende. Alle
Charakter hat und frei von solchen Eigenleistun-
Studierenden und ihre Familien werden gleicher-
gen bleibt.
der
HIS-GmbH
erschienen
65
Friedrich-Ebert-Stiftung
Auch hier lohnt sich ein weiterer Blick ins Steuerrecht. Weiterbildungskosten sind als Werbungskosten steuerlich absetzbar mit der Folge, dass diejenigen, die auf Grund der früher bereits erfahrenen höheren staatlichen Förderung des Schul- und Hochschulbesuchs ein höheres Gehalt beziehen und damit auch einen höheren Grenzsteuersatz haben, von den geltend gemachten Weiterbildungskosten eine niedrigere steuerlche Belastung bzw. eine höhere Steuerrückerstattung erwarten können als die niedriger besoldeten Kollegen. In Zahlen ausgedrückt: Ein 3.000 € teurer Sprachkurs belastet den gutverdienenden Chef (mit einen Grenzsteuersatz von 45 Prozent) effektiv mit 1.650 €, die Sekretärin mit einem Grenzsteuersatz von 30 Prozent jedoch mit 2.100 €. Auch in der Weiterbildung passt die Finanzierungspraxis zu der herrschenden Ideologie Diese hat, vertreten durch die Bundeswissenschafts-
Wer Bildungsteilnahme unter dem Stichwort
ministerin, seit kurzem einer alten Parole zu neuer
„Aufstieg“ propagiert und organisiert, betreibt die
Aufmerksamkeit verholfen: „Aufstieg durch Bil-
Ausgrenzung der großen Zahl der Nicht-Aufsteiger.
dung“. Die Parole verwendeten im 19. Jahrhun-
Denn anders als „Bildung für alle“ ist „Aufstieg für
dert ebenso wie in den frühen 60er Jahren auch
alle“ ein Widerspruch in sich
Sozialdemokraten und Gewerkschafter, bis sie, nicht zuletzt dank Ralf Dahrendorfs Schrift „Bür-
Demokratisierung des Bildungssystems heißt des-
gerrecht auf Bildung“ erkannten, dass sich unter
halb zuvörderst, das Denken in Ausgrenzungskate-
dieser Parole die Forderung nach Bildung für alle
gorien aufzugeben, die Menschen als Individuen
nicht realisieren ließ. Denn „Aufstieg“ heißt immer
zu begreifen und ihre je eigenen Begabungen, In-
auch Aussonderung und Ausgrenzung der Nicht-
teressen und Fähigkeiten zu fördern und sie nicht
Aufsteiger. Wolf Biermann hat dies in einem Ge-
in pseudo-homogenen Lerngruppen zu pressen.
dicht über Fritz Cremers Skulptur „Der Aufsteiger“
Wie das zu machen ist, kann man in den Ländern
so ausgedrückt:
um Deutschland herum lernen. Und bei der finanziellen Förderung hat die Förderung endlich bei
Wohin steigt dieser denn?
jenen zu erfolgen, die ihrer in besonderer Weise
Du, steigt der auf zu uns? Oder steigt er von uns auf?
bedürfen. Das verlangt Mut, politischen Mut. Der
Geht er uns voran? Oder verlässt er uns?
scheint zur Zeit nicht besonders weit verbreitet zu
Macht er Fortschritte? Oder macht er Karriere?
sein.
66
sommeruniversität
Wandel der Familie Prof. Dr. Hans Bertram Humboldt-Universität zu Berlin , Lehrstuhl für Mikrosoziologie
völlig neue Herausforderung ist. Daraus ist abzuleiten: Was auch immer wir diskutieren, wird es ein Zurück zum klassischen Modell mit der Einheit von Frauen- und Mutterrolle nicht mehr geben. Das muss man akzeptieren, ob man dies ideologisch gut oder schlecht findet. Diese demografische Entwicklung hat zwei einfache Ursachen, nämlich zum einen das verlängerte Leben, zum zweiten – und das ist das Entscheidende – ist heute die Geburt von Kindern sicher. Wer sich Beim Thema Familie stehen wir vor ganz neuen
für ein Kind entscheidet, kann dieses Kind auch
Herausforderungen, die wir zum Teil noch gar
zur Welt bringen und großziehen, während man
nicht begriffen haben, auch wenn der Wandel in
noch Anfang des 20. Jahrhunderts davon ausgehen
der Familienpolitik, der wesentlich durch Renate
musste, dass man, um vier Kinder großzuziehen,
Schmidt eingeleitet wurde, was man immer ver-
im Durchschnitt acht bis neun Geburten hatte.
gisst, bereits einige Antworten auf diese Zukunfts-
Das Erstheiratsalter hat sich historisch nicht be-
fragen gegeben hat.
sonders gewandelt und liegt immer ungefähr bei 28 Jahren. Bei acht bis neun Geburten war die
Als erstes Problem ist die historisch-evolutionäre
Reproduktionszeit 16 bis 18 Jahre. Als Bismarck die
Vorstellung, dass Frauenrolle und Mutterrolle iden-
Alterssicherung einführte, haben nur ungefähr
tisch seien, zum ersten Mal, seit wir in der Ge-
5 Prozent davon profitiert, weil alle anderen schon
schichte zurückblicken können, auseinander ge-
verstorben waren. Wenn das letzte Kind bei einer
brochen. Die Frauen- und Mutterrolle sind im
Reproduktionszeit von 16 Jahren mit Mitte 40 ge-
Lebensverlauf einer Frau heute keine Einheit mehr.
boren wird, dann erlebten die meisten Mütter die
Die Frauen haben auf der einen Seite eine sehr viel
Pubertät ihres letztgeborenen Kindes nicht mehr.
höhere Lebenserwartung, andererseits sind sie,
Daher waren Mutterrolle und Frauenrolle eine
wenn das letztgeborene Kind 15 Jahre alt wird,
Lebenseinheit. Die erste These ist also: Diese Ein-
zwischen 45 und 48 Jahren alt. Als Konsequenz
heit ist zerbrochen, und wir müssen die Mutterrolle
daraus haben sie noch etwa 40 Jahre ihres Lebens
neu definieren.
vor sich, die nicht durch die Mutterrolle ausgefüllt werden. Das ist eine neue historische Entwicklung,
Dazu kommt ein zweites Problem. In den Lebens-
die erst in den letzten ein bis zwei Generationen
treppen, die als Wandschmuck im 19. Jahrhundert
eingesetzt hat. Heute ist es in der jungen Genera-
praktisch in jedem Haushalt hingen, wird die
tion selbstverständlich zu wissen, dass die Mutter-
Lebensrolle der Mutter eigentlich nur zwischen
rolle allenfalls eine begrenzte Phase im Leben einer
dem 30. und 40. Lebensjahr beschrieben, denn die
Frau ist. Hinzu kommt, dass heute 48 Jahre kein
Frau kommt erst wieder zwischen dem 60. und 70.
Alter ist, um zu sagen: „Jetzt ziehe ich mich zurück
Lebensjahr vor, wenn sie den Tod erwartet. Offen-
und warte auf die Enkelkinder“, so dass dies eine
sichtlich hatte die Gesellschaft damals von dieser
67
Friedrich-Ebert-Stiftung
mittleren Lebensphase keine spezifische Vorstel-
vorstellungen nicht vorkam. Auch in Deutschland
lung, was auch gut nachzuvollziehen ist, weil nur
spielte diese Normalfamilie etwa ab dem Geburts-
wenige Frauen das höhere Lebensalter erreichten.
jahrgang der Mütter von 1948 eine nur noch un-
Heute stimmt diese Lebenstreppe nicht mehr. Wer
tergeordnete Rolle. Darin besteht sozusagen eine
jetzt 40 oder 50 Jahre alt ist, hat noch etwa 30 bis
zweite Revolution. Denn die klassische Familien-
40 Jahre zu leben – ein heute geborenes Mädchen
form – Vater und nicht erwerbstätige Mutter – hat
kann zu 50 Prozent davon ausgehen, 100 Jahre alt
sich im Jahr 2007 aus der Sicht der Kinder zwischen
zu werden –, so dass diese Lebenstreppe mit der
0 und 17 Jahren auf 20 Prozent reduziert. Denn nur
Darstellung des Auf- und Absteigens keine sinnvol-
20 Prozent der Kinder zwischen 0 und17 Jahren
le Vorstellung mehr ist. Man sollte eher darüber
leben in dieser Lebensform, während die anderen
nachdenken, ob das Leben nicht tatsächlich wie
Kinder entweder bei Eltern leben, die beide er-
ein Fluss ist mit vielen Windungen, mit Auf und
werbstätig sind, oder bei ihrer alleinerziehenden
Ab, jedoch ohne diese Normalität. Das hört sich
Mutter. Hier haben sich nicht bloß ein paar Prozent
jetzt prosaisch an, hat aber ziemlich harte Kon-
geändert, vielmehr hat sich die Lebenssituation von
sequenzen, denn wir müssen kulturell darüber
Kindern wirklich dramatisch verändert. Die Politik
nachdenken, wie wir unsere Lebensrollen neu ge-
hat
stalten. Das ist eine ganz große Zukunftsheraus-
reagieren, obwohl sich das schon relativ früh ab-
forderung, von der wir noch keine Vorstellung
zeichnete. Spätestens Anfang der 90er Jahre hätte
haben. Sie alle kennen die Diskussion über das
man die Politik ändern müssen, weil sich das ent-
Normal-Arbeitsverhältnis. Wenn die Menschen
spechend entwickelt hatte, aber es wurde auf diese
nun heute 80, 90 oder gar 100 Jahre alt werden,
Veränderungen erst ab 2000 reagiert. Beispielsweise
stellt sich die Frage, ob die Normalität wirklich
tun wir uns heute noch bei der Kinderbetreuung
darin bestehen kann, vom 30. Lebensjahr zum
schwer. Eine der großen politischen Herausforder-
70. Lebensjahr, immer etwa als Beamter im Finanz-
ungen für die Zukunft wird die Ganztagsschule
amt, wenn auch auf unterschiedlichen Hierarchie-
sein. Es müssen andere Formen für den Umgang
stufen, über Steuerfälle nachzudenken. Das heißt,
mit Kindern gefunden werden, denn das klassische
ob ein solche Normalitätsmuster auf Dauer tat-
Modell, das die Fürsorge für Kinder im Wesent-
sächlich den menschlichen Entwicklungsvorstel-
lichen in die Alleinverantwortung der Mütter legte,
lungen entspricht.
funktioniert unter den gegebenen Bedingungen
sich
lange
schwer
getan,
darauf
zu
schlicht und einfach nicht mehr. Das nächste Problem ist die so genannte Normalfamilie, die Talcott Parsons entworfen hat: Der Va-
Darüber hinaus hat sich bei der durchschnittlichen
ter ist außerhalb des Haushalts berufstätig und die
Wochenarbeitszeit aller weiblichen Erwerbstätigen
Mutter kümmert sich zu Hause fürsorgend für die
seit 1973 nur wenig geändert, jedoch geändert hat
Kinder. Doch haben in den USA zu keinem Zeit-
sich ein deutlicher Anstieg der weiblichen Erwerbs-
punkt seit 1940 mehr als 50 Prozent der Kinder in
tätigen in absoluten Zahlen. Dass sich die durch-
dieser Normalfamilie gelebt, die in den Familien-
schnittiche Wochenarbeitszeit nicht erhöht hat,
68
sommeruniversität
hängt damit zusammen, dass in den 70er Jahren
erwirtschaften kann. Solange diese Gender-Diffe-
die Vollzeitarbeit typisch war und heute vielfach
renz zwischen den Einkommen in unserer Gesell-
durch Teilzeitarbeit ersetzt wurde. Das auf den ersten
schaft bestehen, ist nicht davon auszugehen, dass
Blick familien freundliche Ergebnis hat als Kehrseite
die traditionelle Arbeitsteilung in einer Familie
ein Dilemma: Die Teilzeitarbeit hat gleichzeitig
aufgehoben wird.
dazu geführt, dass der Arbeitgeber heute ein hohes Maß an Flexibilität erwartet, so dass die Teilzeitar-
Das stellt sich als eine ganz klare politische Heraus-
beit ein flexibles Zeitgerüst geworden ist. Auch
forderung dar. Um dort etwas zu ändern, muss über
wenn man sich vielleicht freut, abends einkaufen
die unterschiedlichen Einkommen von Männern
zu können, heißt das auch, dass auf der anderen
und Frauen als einem politischen Problem gespro-
Seite der Theke auch jemand steht. Das heißt, die
chen werden, sonst wird sich an dieser Distribution
Flexibilitätserwartungen an die Arbeitnehmer sind
nichts ändern. Aber man mag sich fragen, ob das
deutlich gestiegen. Und die Gewerkschaften haben
wirklich schlimm ist und ob die Frauen so nicht
viel zu lange die Diskussion verpasst, wer eigent-
doch ganz zufrieden sind. Genau diese These, die
lich die Souveränität über die tägliche Zeitver-
lange Zeit der Familienpolitik zugrunde lag, ist
wendung hat, der Arbeitgeber oder der Mitarbeiter.
jedoch nicht aufrechtzuerhalten, und wir brauchen
Beispielsweise ist eine Krankenschwester in der
sowohl wegen der geänderten Lebensläufe als auch
Regel im Turn-Around-Dienst tätig, ein Polizist
wegen der geänderten Beteiligung am Arbeitsmarkt
hingegen im Schichtdienst. Wenn diese beiden
eine strukturelle Änderung in der Genderpolitik
Kinder haben, bekommt man die regelmäßige Be-
wie auch in der Familienpolitik.
treuung der Kinder nicht mehr geregelt. Einer von beiden, wahrscheinlich die Frau, wird die Arbeit
Die ökononomische Basis Deutschland wird sich
aufgeben oder einen 400-Euro-Job nehmen, weil
vermutlich auf lange Zeit von anderen Ländern
das Familienleben sonst nicht koordinierbar ist.
darin unterscheiden, dass es einen starken industriellen Kern gibt mit etwa 30 Prozent in der Indus-
Daraus entsteht eine enorme politische Heraus-
trie Beschäftigten, und das ist ein gewisses Rück-
forderung hinsichtlich der Gender-Gerechtigkeit
grat. Im Vergleich dazu beträgt in den USA die Be-
oder ähnlichem, wie nämlich die Zeitsouveränität
schäftigungsquote in der Industrie nur 10 Prozent,
organisiert wird. Denn darin steckt ein spezifisches
und Präsident Obama denkt jetzt darüber nach, ob
Problem: Pflege oder Care ist in unserer Gesell-
das der richtige Weg war; die vielen Milliarden
schaft aufgrund der historischen Entwicklung der
Dollar für die Automobilindustrie werden auch
familiären Lebensformen weiblich konnotiert, und
damit begründet, dass er die wenigen bestehenden
alles weiblich Konnotierte wird ökonomisch dis-
industriel-len Kerne aufrechterhalten will, um in
kriminiert. Bei der Diskussion, wie sich in dieser
der Beschäftigungsstruktur sicherzustellen, dass
neuen Lebenswelt die Betreuung von Kindern or-
auch die Menschen, die manuell tätig sein wollen
ganisieren lässt, ist völlig klar, wer dann öko-
und können, angemessen zu beschäftigen sind.
nomisch zurücksteckt. Wenn der Mann in einer
Daneben hat sich eine Kommunikationsindustrie
Familie mit drei Kindern – da ist es besonders dras-
entwickelt, die in den 70er Jahren noch niemand
tisch – ungefähr 60 Prozent der gemeinsamen
kannte. Vor 20 Jahren konnte sich niemand vor-
beruflichen Arbeitszeit leistet, erwirtschaftet er
stellen, in einen Laden zu gehen und eine Flatrate
90 Prozent des Familieneinkommens. Das heißt,
zu kaufen, weil man sich nicht vorstellen konnte,
die Frau erarbeitet dann die restlichen 40 Prozent,
dass es so etwas überhaupt gibt. Auch in diesem
erwirtschaftet dabei aber nur 10 Prozent des Ein-
Bereich hat sich etwas völlig verändert. Es gibt
kommens. Wenn nun der Mann zu Hause bleiben
einen dritten völlig veränderten Bereich, nämlich
würde müsste die Frau erheblich mehr arbeiten,
die Freizeit, die selbst wiederum ein Teil der Gü-
um nur das Einkommen zu erwirtschaften, das der
terproduktion geworden ist. Es ist nicht absehbar,
Mann in 60 Prozent der gemeinsamen Arbeitszeit
wie sich diese Bereiche in Zukunft zueinander ver-
69
Friedrich-Ebert-Stiftung
halten, aber die Vorstellung, man könne in der
Verhalten nicht geändert haben: durchschnittlich
ökonomischen Struktur einer Gesellschaft nur auf
1 Kind und 40 Prozent kinderlos, genau wie in den
das eine oder nur auf das andere setzen, ist wohl
70er Jahren, nur gibt es heute mehr Ärztinnen. Ein
hoch problematisch.
ähnliches Muster gilt für Unternehmerinnen.
Die Umstrukturierung all dieser neu entstandenen
Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie unsere Gesell-
Bereiche konnte nur funktionieren, und zwar auch
schaft diesen Wandel in Bezug auf die Familie igno-
in den Kernbereichen der Ökonomie, weil diese
riert hat. Erfreut darüber, mehr Ärztinnen zu ha-
Stellen durch qualifizierte junge Frauen besetzt
ben, hat niemand darüber nachgedacht, dass die
wurden. Wer das zurückdrehen wollte, hätte nur
Muster, um in diesem anspruchsvollen Beruf Kar-
die Möglichkeit, dass wieder alle auf den „Käfer“
riere zu machen, schon in den 70er Jahren dazu
umsteigen, also in die 60er Jahre zurück gehen, was
führten, entweder kinderlos zu bleiben oder nur
aber aus vielerlei Gründen gar nicht machbar ist.
wenige Kinder zu bekommen, weil die beruflichen
Wenn man 1973 in den alten Bundesländern die
Anforderungen das ausgeschlossen haben. Schon
Frauen nach Art der Berufe und Kinderzahl an-
in den 70er Jahren hätte man darüber nachdenken
schaut, hatten damals die Landwirtinnen, die ja
müssen, aber niemand hat darauf reagiert. Und
voll berufstätig waren, im Durchschnitt 2,5 Kinder;
noch heute müssen wir mit aller Vorsicht feststel-
die Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagoginnen
len, dass wir uns immer noch sehr schwer tun
hatten im Durchschnitt 1 Kind, waren aber im-
darüber nachzudenken, wie sich diese Berufsstruk-
merhin zu 50 Prozent kinderlos. Die Ärztinnen und
turen so aufbrechen lassen, damit die Entscheidung
Bankfachfrauen hatten schon 1970 1 Kind und
nicht ein Entweder-Oder ist, sondern Beruf und
waren zu 40 bis 50 Prozent kinderlos. Diese Zahlen
Familie zusammen gelebt werden können.
beziehen sich immer auf die 40- bis 44- jährigen Frauen, und da ist die Wahrscheinlichkeit, noch
Zum einen muss also eine neue Perspektive ent-
Kinder zu bekommen, relativ gering. Mit anderen
wickelt werden, ob denn die verschiedenen Berufs-
Worten war schon in den 70er Jahren in bestimm-
karrieren so organisiert sein müssen, wie sie es
ten Berufen, die heute als „neue“ Berufe bezeichnet
aktuell sind. Zum Zweiten ist die Frage von Gender
werden, eine geringe Kinderzahl oder Kinderlosig-
zu lösen, wie also die Aufgaben zwischen Mann
keit typisch. Beim Vergleich mit der Gegenwart
und Frau verteilt werden.
wird deutlich, dass sich etwa Ärztinnen in ihrem
70
sommeruniversität
In Deutschland herrscht die Vorstellung vor, man
integriert werden kann, sondern auch deswegen,
müsse alles zu Anfang lernen und brauche später
um unser langes Leben anders zu gestalten. Das
nichts mehr zu lernen, weil man dann ja berufs-
wirft die Frage auf, ob unsere Vorstellung, Universi-
tätig ist. Der Vergleich der Weiterbildungszahlen in
täten, Fachhochschulen und Fachschulen seien
Deutschland mit anderen Ländern belegt diese
Erstausbildungseinrichtungen, richtig ist. Im Ge-
Vorstellung, weil offensichtlich die meisten älteren
genteil müssten die Menschen die Möglichkeit ha-
Leute der Meinung sind, nichts mehr lernen zu
ben, im Leben immer wieder neu anzufangen, sich
müssen. Dem soll nun ein Beispiel gegenüber ge-
vielleicht zu spezialisieren oder auch Verknüpfungen
stellt werden, wie das alternativ vorzustellen ist. Vie-
von verschiedenen Bereichen auszufüllen. In ei-
le junge Mädchen verlassen mit 16 oder 17 Jahren
nem europäischen Land wurde vorsichtig damit
die Realschule, um etwas „mit Kindern“ zu ma-
angefangen, nämlich in den Niederlanden, und
chen, gehen auf eine Fachschule und werden Erzie-
zwar mit allen Fehlern. Dort wird versucht, den
herin. Das soll nun nicht grundsätzlich in Frage
Lebenslauf so neu zu organisieren, dass zwischen-
gestellt werden, jedoch durchaus die damit verbun-
durch immer Auszeiten möglich sind, die finanziert
dene Lebensperspektive. Denn eine junge Erzieherin,
werden, und die hinten anzuhängen sind. Ob die-
die nach der Ausbildung fünf oder sechs Jahre gear-
ses Modell gut ist, kann hier nicht beurteilt wer-
beitet hat, kann dann bis zu ihrem 65. Lebensjahr
den, aber es regt unsere Fantasie an, darüber nach-
bis zur Rente Erzieherin bleiben. Das heißt, es muss
zudenken, wie die Zukunft in diesem Punkt eigent-
eine andere Perspektive für eine neue Berufs- und
lich aussehen könnte.
Bildungsorganisation entwickelt werden, in der man beispielsweise ruhig bis zum 25. oder 26. Lebens-
In diesem Zusammenhang ist noch ein zweiter
jahr Erzieherin ist und dann eine Weiterbildung
Punkt wichtig: 1973 war die Frage der ökonomi-
macht, um dann etwa Lehrerin zu werden; nach
schen Ressourcen von Familienhaushalten in unserer
vielleicht zehn Jahren als Lehrerin absolviert man
Gesellschaft völlig anders organisiert als heute.
wieder eine Weiterbildung und wird möglicherweise
Nach den soziologischen Studien von Popitz und
Professorin. Eine zentrale Herausforderung für die
Barth von 1957 war „der Industriearbeiter“ in den
Zukunft scheint darin zu liegen, ob die jetzige
50er Jahren die Spitze der Industrie: Er war jung,
Organisation unserer Berufsstrukturen wirklich als
kräftig und erfahren, zwischen 25 und 35 Jahre alt
sinnvoll anzusehen ist, dass wir davon ausgehen,
und verdiente in Relation zu allen anderen relativ
dass alles zu Beginn gelernt wird und man das dann
viel Geld. Im Gegensatz dazu ist heute in der zwei-
ein Leben lang betreibt.
ten Hälfte des Lebens die ältere Generation eher wohlhabend und die studentische Generation eher
Möglicherweise ist die Neuorganisation der Berufs-
arm. Durch die Veränderung der Arbeitswelt und
struktur nicht nur sinnvoll, damit Care ins Leben
der Karrieremuster haben die jungen Erwachsenen
71
Friedrich-Ebert-Stiftung
heute zu Anfang nicht viel, aber eine relativ hohe Erwartung, mit 50 Jahren recht viel zu verdienen. In den 70er Jahren konnte ein junger Industriearbeiter als Facharbeiter viel Geld verdienen, einen Haushalt gründen und eine Familie unterhalten. Heute sieht das anders aus: Nach dem Examen wird häufig zunächst ein Praktikum absolviert; auch im öffentlichen Dienst bekommt man in der Regel nur einen Zeitvertrag, ohne zu wissen, ob man anschließend übernommen wird. Folglich werden fünf Jahre des Lebens dazu verwandt, einen Partner oder eine Partnerin zu finden, den beruflichen Einstieg zu schaffen und sich ökonomisch einigermaßen zu etablieren. Das lässt sich genau in Zahlen abbilden. Um die gleiche Zahl an Kindern zu bekommen wie die Elterngeneration, muss die heutige Generation der jungen Erwachsenen in der halben Zeit das Doppelte leisten, schlicht und einfach, weil sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so verändert haben. Solange unsere Gesellschaft die ältere Gene-
Und als letzten Punkt sprechen wir bei Care immer
ration privilegiert, wird die junge Generation rela-
über die Frauen, und deswegen soll hier mit den
tiv leer ausgehen. Auch wenn das jetzt hart klingt,
Männern aufgehört werden. Denn was in Deutsch-
stellt sich schon die Frage, ob eine Gesellschaft auf
land im Augenblick wirklich passiert, ist, dass die
Dauer den über 50-Jährigen den größten Teil der
Männer aus der Reproduktion aussteigen. Wenn
Ressourcen überlässt, während die 30- bis 35- Jähri-
man die Zahlen zur Kinderlosigkeit bei den 40- bis
gen sich mit dem knappen Rest begnügen sollen.
44- Jährigen anschauen, ist diese bei den Männern
Auch ich habe keine Lösung für dieses Problem,
um 12 Prozent höher als bei den Frauen. Dies sind
das als Ergebnis der veränderten Karrieremuster
die Männer, die ihre Karriere nicht mehr mit der
entstanden ist.
„Frau an ihrer Seite“ machen, sondern sie allein bewältigen, was offensichtlich gelingt, weil sie sich
Unsere Gesellschaft hat den ökonomischen Wan-
in dieser Männerwelt gut bewähren, aber sie ver-
del relativ erfolgreich bewältigt, nicht aber den
zichten dann auch auf Partnerschaft und Bindung.
Wandel hin zu einer Gesellschaft, in der Care ein
Offensichtlich haben wir in unserer Gesellschaft
zentraler Bestandteil ist. Das heißt, die Fürsorge für
lange geglaubt, Liebe, Beziehung und Partnerschaft
andere bleibt in einer Gesellschaft, die sich ökono-
seien etwas quasi Natürliches. Wir müssen uns aber
misch in der beschriebenen Weise entwickelt, zu-
klar machen, dass schon Friedrich der Große ziem-
nehmend auf der Strecke. Damit ist das gesell-
liche Schwierigkeiten hatte, seine Soldaten aus der
schaftspolitische Problem nicht allein ein familien-
Armee herauszubekommen: Er mußte ihnen dafür
politisches, sondern ein generelles Problem, wie
ein Stück Land geben, mit der Bedingung, dass sie
sich die Fürsorge für andere in der Gesellschaft so
das Land nur bekamen, wenn sie auch eine Frau hat-
organisieren lässt, dass nicht alle Menschen darauf
ten. Ohne heute zu solchen Zwangsmaßnahmen
programmiert sind, nur in diesen Karrieremustern
zu greifen, müssen wir darüber nachdenken, wie
zu denken, zwar zu wissen, dass sich das Einkom-
wir diese Zukunft neu und anders gestalten, weil
men mit 50 Jahren maximiert, jedoch um das für
das Leben unserer Eltern für unsere Zukunft kein
sich zu realisieren, auf alles andere zu verzichten.
Vorbild mehr sein kann.
72
sommeruniversität
Integration – klare Worte zu einer zentralen Zukunftsaufgabe Heinz Buschkowsky Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln
Denn wenn Menschen aus vielen Kulturen aufeinander treffen, entsteht aus deren positiven Elementen die Symbiose einer neuen gesellschaftlichen Kultur, die alle Probleme dieser Welt vergessen lässt.“ Drei Politikströmungen aus völlig unterschiedlichen Blickrichtungen waren sich also in einem einig: „Wir müssen nichts tun“. Und man tat auch nichts. Das Ergebnis sehen wir heute. Dazu folgender Text: „Die schulische Situation der ausländischen Kinder und Jugendlichen ist durch einen unzureichenden Schulbesuch, eine extrem Drei Meinungsströmungen haben dazu geführt,
niedrige Erfolgsquote bereits im Hauptschulbe-
dass in den letzten 50 Jahren in Deutschland eine
reich und eine erhebliche Unterrepräsentation
Integrationspolitik nicht wirklich stattgefunden
ausländischer Schüler an weiterführenden Schulen
hat. Bei denjenigen, die sagten: „Deutschland ist
gekennzeichnet. Beachtlich sind ferner die bei den
kein Einwanderungsland“ hat sich mittlerweile die
ausländischen Eltern bestehenden Hemmnisse, die
Erkenntnis durchgesetzt, dass Deutschland nach
Bedeutung des Schulbesuchs für die Zukunfts-
den USA mit etwa 35 Millionen Migranten die
entwicklung ihrer Kinder richtig einzuschätzen
zweitgrößte Einwanderungsnation der Erde ist. In
und ihnen schulbegleitend die notwendige För-
Deutschland leben rund 16 Millionen Migranten
derung zu vermitteln.“ Könnte aus der FAZ vom
gefolgt von Russland mit 13 Millionen.
letzten Sonntag sein, ist aber ein Ausschnitt aus dem Memorandum des ersten Ausländerbeauftrag-
Hinzu kam die ungewollte, aber gleichwohl un-
ten der Bundesrepublik, Heinz Kühn, aus dem
heilige Allianz zweier politischer Antipoden. „Wir
Jahre 1979. Da wusste man dies schon. Was ist
müssen uns nicht um die „Gastarbeiter“ küm-
mit diesen Erkenntnissen geschehen? Nicht viel.
mern, denn sie gehen sowieso wieder in ihre Hei-
Außer, dass es zu den Themen Migration und In-
mat zurück, wenn sie das Geld für ein Häuschen
tegration inzwischen Bücherwände von Promo-
oder Geschäft zusammen haben“, sagten die einen.
tionsarbeiten, Habilitationen, Denk- und Streit-
Das hat auch sicher bei einigen stattgefunden.
schriften, Büchern und jeden zweiten bis dritten
Doch hat man vor 50 Jahren übersehen, dass Kin-
Tag einen richtungsweisenden Artikel in irgend-
der und Enkelkinder hier bleiben könnten und
einer überregionalen Zeitung gibt. Wenn Sie die
wieder Familien gründen. Die dritte Lebenslüge
Presse zu diesem Thema verfolgen, werden Sie
war: „Wir brauchen da nicht steuernd eingreifen,
feststellen: Sie kommen mit dem Lesen nicht wirk-
weil Integration passiert in einer multikulturellen
lich nach. Es gibt keinen Erkenntnismangel in der
Gesellschaft von allein. Multikulti ist eine bunte
Bundesrepublik Deutschland zu diesem Thema –
Rutschbahn in die Glückseligkeit der Gesellschaft.
es gibt ein Handlungsdefizit.
73
Friedrich-Ebert-Stiftung
Ein nächster Fakt ist: Die Migrantin oder Den Migrant gibt es nicht. Ebenso ist es falsch, dass Migranten einen homogenen Block bilden und sich bestens untereinander verstehen. Natürlich kapseln sich unterschiedliche Kulturkreise und Kulturtechniken voneinander ab. Ich komme aus einem Bezirk, in dem Menschen aus 165 Nationen ihr Zuhause haben. Dort gibt es durchaus unterschiedliche Lebensentwürfe, Lebenswelten und Kulturrituale. Menschen aus dem asiatischen Kulturkreis finden bestimmte Kulturtechniken der Menschen aus dem afrikanischen Bereich nicht unbedingt nachahmenswert. Türken und Araber lieben sich auch nur bedingt. Die Türkei an sich ist bereits ein Vielvölkerstaat, auch dort gibt es ganz verschiedene Temperamente. Zu unterschiedlichen Kulturkreisen
kommen
unterschiedliche
Religiositäten.
Versuchen Sie, orthodoxe und liberale Sichtweisen einer Religion unter einen Hut zu bringen – bereits eine gute Aufgabe. Denken Sie nur an die unterschiedlichen Sichtweisen im Islam zwischen den Sunniten, Schiiten und Aleviten – das sind völlig unterschiedliche Werteordnungen. Bei verschiedenen Religionen wird die Aufgabe dann ausgesprochen sportlich. Ich will mit diesen Beispielen nur verdeutlichen, dass es gerade in einer multiethnischen, von Vielfalt geprägten kulturellen Welt sehr unterschiedliche Mentalitäten und Lebensphilosophien gibt, also nicht alle die gleichen Ideale und damit auch nicht
geht die Schule vor, egal ob die Flugtickets mit Be-
das gleiche Ziel vor Augen haben. Hinzu kommen
ginn der großen Ferien um 40 Prozent anziehen
unterschiedliche Bewusstseinsstände in der Bil-
oder nicht.
dung. Wenn die Eltern, aus welchen Gründen auch immer, niemals die Chance hatten, eine Schule zu
So müssen wir unser Bildungssystem auf eine sehr
besuchen, dann haben sie nicht die gleiche Affini-
stark heterogene Bevölkerung in Bezug auf Religion,
tät zu dem Begriff „Schulpflicht“ wie Menschen,
Kultur und Bildungsstand ausrichten. Das heißt,
die zum Beispiel in einem Internat groß geworden
wir müssen die Menschen mit unterschiedlichen
sind. Sie empfinden unsere Schulpflicht dann als
Ansätzen erreichen. Und da komme ich mit der Über-
unverbindliche Empfehlung. Bei Menschen, die
zeugung nicht weiter, das deutsche Schulsystem sei
aus einem Kulturkreis kommen, in dem es keine
das Beste der Welt, weil es Albert Schweitzer und An-
Zentralinstanzen, keine Polizei oder Justiz gibt,
gela Merkel hervorgebracht hat. Das zeigen schlicht
sondern nur die Familie Schutz und Ernährung bie-
die Fakten:
ten kann, dann gehört es nicht zu ihrer Priorität, dass Kinder morgens zur Schule gehen, wenn die
In Berlin beendeten letztes Jahr 41 Prozent aller
kranke Tante gepflegt werden muss oder es eine an-
Schüler ihre Schulkarriere mit dem Abitur. Bei den
dere problematische Situation in der Familie gibt.
deutschstämmigen Schülern schaffte es jeder Zweite,
Denn die Familie geht bei ihnen vor. Bei uns aber
aber bei den Schülern mit Migrationshintergrund
74
sommeruniversität
nur 21 Prozent, also jeder Fünfte. Das ist die Bil-
Das sind Dinge, auf die Eltern achten können. Vor
dungsrealität in ganz Berlin. In Neukölln erhalten
ein paar Jahren war die Bezirkssiegerin im Vorlesen
28 Prozent aller Kinder in der Grundschule eine
„Deutsch“ mütterlicherseits indischer und väterli-
Gymnasialempfehlung, in Charlottenburg-Wilmers-
cherseits arabischer Abstammung. Die Umgangs-
dorf sind es 54 Prozent. So haben wir zudem ein
sprache zu Hause war englisch, nicht deutsch.
Gefälle der Bildungsaffinität innerhalb der Stadt.
Trotzdem wurde das Mädchen Bezirkssiegerin. Die-
Wenn Sie jetzt konzentriert nach Neukölln schauen,
ses Beispiel beweist, dass es nicht darauf ankommt,
dann ist es so, dass bei uns eben nicht 50 Prozent der
ob Eltern ihren Kindern den Pythagoras vorbeten
deutschstämmigen Schüler das Abitur ablegen,
können. Sie müssen den Kindern nur das sagen,
sondern nur 39 Prozent. Und aus den 21 Prozent
was auch meine Eltern mir erklärt haben: „Du wirst
der Abiturienten mit Migrationshintergrund wer-
ihn wahrscheinlich nie wieder in deinem Leben
den plötzlich 17 Prozent. Es gibt kein Land in Euro-
brauchen, aber lernen musst du ihn trotzdem.
pa, bei dem die Herkunft, der gesellschaftliche
Denn Bildung ist ein Wert an sich, und eben auch
Stand und das Einkommen der Eltern so prägend
lebensbestimmend.“
und bestimmend für die Zukunft der Kinder sind wie in Deutschland.
Bildung ist auch die Voraussetzung, um ein selbstbestimmtes Leben führen und einen eigenen Le-
Auch das ist noch nicht alles: Wenn Sie die Schüler
bensentwurf fertigen zu können. Das funktioniert
mit Migrationshintergrund genauer betrachten,
nicht mit der Überzeugung: „Aber Frau Lehrerin,
werden Sie feststellen, dass die Bildungsorientie-
das Geld kommt doch vom Amt!“ oder der Lebens-
rung sich auch noch nach Kulturkreisen ausdif-
planung: „Ich werde Hartzer“. Die Kinder reden
ferenziert. Asiatische Schülerinnen und Schüler
so, weil sie es nicht anders kennen. Es gibt bei uns
sind überrepräsentiert bei hohen Schulabschlüs-
Stadtlagen, in denen 90 Prozent der Eltern einer
sen, Schülerinnen und Schüler aus dem orienta-
Schule von der Zuzahlung bei den Lernmitteln
lischen Kulturkreis hingegen unterrepräsentiert.
befreit sind. Das heißt, die Kinder kennen kaum
Der Anteil der türkischstämmigen Schüler an allen
noch jemanden, der in einem regelmäßigen Er-
migrantischen beträgt in Neukölln 46 Prozent. An
werbsleben steht. Damit findet die Vorbildwir-
den Abituren der migrantischen Schüler sind die
kung des Erwerbslebens in die Sozialisation der
türkischstämmigen aber nur etwa zur Hälfte ihres
Kinder nicht statt. Kinder sind wie Schwämme, sie
Anteils beteiligt, während zum Beispiel polnisch-
nehmen alles auf. Früher habe ich gesagt, sie sind
stämmige Schüler bei den migrantischen Abituren
wie Staubsauger, sie nehmen auch den Schmutz
weit stärker vertreten sind als es ihrem mengen-
auf, und den meist als Erstes.
mässigen Anteil entspricht. Im Norden Neuköllns verlassen 60 Prozent der Die Botschaft lautet: Es gibt keine Gleichförmig-
Kinder die Schule ohne Schulabschluss oder nur
keit. Es ist eben sehr unterschiedlich, mit welcher
mit dem Hauptschulabschluss. Wie weit sie damit
Hinwendung zur Bildung die Kinder zu Hause er-
heute in der normalen Berufswelt kommen, das
zogen werden. Wobei es nicht erforderlich ist, dass
wissen Sie. Für Berufe wie Industrie-, Versiche-
die Eltern selbst über gleichwertige Schulabschlüsse
rungs- oder Bankkaufmann reichte am Ende mei-
verfügen. Doch sie müssen die Bedeutung der Bil-
ner Schulzeit der Realschulabschluss völlig aus.
dung für die Zukunft der Kinder erkannt haben.
Heute ist das Abitur Pflicht. Wer Industriekauf-
Und sie müssen motivieren und sich darum küm-
mann in einem mittelständischen Unternehmen
mern, also darauf achten, dass Kinder, die um halb
mit 30 bis 40 Mitarbeitern werden will, von dem
zwei aus der Schule kommen, nicht schon um vier-
werden das Abitur und der Leistungskurs Englisch
tel vor zwei vor dem Fernseher mit dem Heimat-
sowie nach Möglichkeit ein einjähriger Aufenthalt
sender sitzen. Oder sie müssen dafür sorgen, dass
im angelsächsischen Raum erwartet. Wenn ich
die Kinder einen Benutzerausweis für die Stadtbü-
dann frage, ob die Latte nicht ein bisschen hoch
cherei haben, sich ein Buch holen und es lesen.
liegt, lautet die Antwort: „Wir machen 85 Prozent
75
Friedrich-Ebert-Stiftung
unseres Umsatzes rund um die Welt. Jeder, der bei uns ein Telefon abhebt, muss in der Lage sein, mit dem Kunden vielleicht aus Singapur zu kommunizieren. Die Welt hat sich verändert, der Kunde von nebenan ist bei uns die Ausnahme.“ Dieses Beispiel macht deutlich, dass man mit SchrauberMentalität heute nicht mehr weit kommt. Die heutige Arbeitswelt verlangt intelligente und kreative Menschen für innovative Arbeitsplätze. Das heißt, wir müssen die Menschen mit dem notwendigen Wissen ausstatten und so für das Arbeitsleben fit machen. Aber das ist im bisherigen System nicht so einfach. 90 Prozent aller Kunden im Jobcenter Neukölln unter 25 Jahre sind objektiv ohne weitere Qualifikation nicht in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Situation ist gleichzeitig
Bildungschancen von Kindern minimiert werden,
die, dass die Geburtenrate der gebärfähigen deut-
ist das System krank. Es ist nicht zu erklären, war-
schen Frau des Bildungsbürgertums zwischen 1,1
um eine Bundesregierung einen Krippenplatz-
und 1,2 liegt. Das reicht nicht! Die hohen Gebur-
Rechtsanspruch für unter 3-Jährige schafft, dafür
tenraten liegen in Stadtvierteln wie Neukölln,
12 Milliarden Euro aufwendet und dann die nächste
Duisburg-Marxloh, Essen-Katernberg, Hamburg-
Bundesregierung unter der gleichen Kanzlerin sagt:
Wilhelmsburg, München-Hasenbergl oder wie im-
„Ich gebe dir 150 Euro im Monat, damit du dein
mer sie heißen. Dort liegt die Humanressource der
Kind zu Hause behältst und nicht in die Krippe
Gesellschaft und genau dort lassen wir die jungen
gibst.“ Das versteht kein Mensch.
Leute alleine. Genau dort produzieren wir lebenslanges Hartz IV, lebenslange Alimentation und Ab-
Wir kommen an das Problem der Bildungsferne
hängigkeit vom Sozialtransfer.
nur ran, wenn wir unser Bildungssystem an Haupt und Gliedern reformieren. Das bedeutet natürlich
Andrea Nahles hat einmal gesagt: Wir müssen die
auch, dass wir investieren müssen. Denn Bildung
Menschen aktivieren, wir dürfen sie nicht durch
kostet Geld. Ich bin sicher, in zehn Jahren wird in
Transferlogiken sedieren. Ich habe mich damals
Deutschland niemand mehr über eine Kindergar-
gewundert, als sie diesen Satz in einem Interview
tenpflicht, man kann es auch „verbindliche Vor-
in der WELT gesagt hat, warum kein Sturm der Ent-
schulerziehung“ nennen, diskutieren. In Berlin,
rüstung durch das Land ging. Ein Beweis für die
völlig unabhängig von Migration oder Nicht-
Bildungsferne. Es hat ihn wohl kaum jemand ver-
Migration, befinden sich bereits 25 Prozent aller
standen.
Kinder vor der Einschulung in einer Therapie. Jedes dritte bis vierte Kind in der Bundesrepublik
Wir müssen - nicht nur in den Bereichen der
Deutschland verlässt die Schule ausbildungsunfä-
Migration – für mehr Bildung sorgen. Die Erzie-
hig. Dazu passt dann auf der anderen Seite dieses
hungsüberforderung von Eltern in Deutschland
Gerede, dass wir keinen zurücklassen dürfen wie
nimmt rapide zu. Bei den Hilfen zur Erziehung
die Faust aufs Auge. Wir lassen ein Viertel bis ein
zahlen die Jugendämter in Deutschland inzwi-
Drittel zurück! Dabei können wir uns das demogra-
schen im Jahr 6,5 Milliarden Euro. Mit einem jähr-
fisch überhaupt nicht leisten. Von zehn jungen
lichen Steigerungsfaktor von 10 Prozent.
Leuten, die wir heute brauchen, damit diese Gesellschaft in Wohlstand überleben kann, kommen
Dort, wo staatliche Alimentation wie zum Beispiel
nur maximal vier tatsächlich im gesellschaftlichen
das Betreuungsgeld dazu führen würde, dass die
System an. Die einen fehlen wegen der Geburten-
76
sommeruniversität
rate, die anderen, weil wir sie lebensuntüchtig aus
das Einfamilienhäuschen, in Unterhaltungselek-
der Schule entlassen, und die Dritten wandern als
tronik und in Suchtverhalten.
auf Kosten der Allgemeinheit ausgebildete Akademiker aus. Wir haben inzwischen eine Jahrgangs-
Die Bundesrepublik Deutschland wendet jährlich
größe in Deutschland von etwa 650.000 Kindern
35 Milliarden Euro für Familienförderung in Form
anstelle der benötigten eine Million. Bei einem
von Kindergeld auf. Wenn man dieses Kindergeld
Viertel Ausbildungsunfähigen bleiben 500.000, die
nur noch zur Hälfte an die Eltern bar auszahlen
ankommen fürs Bruttoinlandsprodukt. 150.000
würde, setzte man 17 Milliarden Euro pro Jahr frei,
wandern aus, bleiben noch 350.000. Und diese
im einfachen Durchschnitt eine Milliarde Euro für
350.000 sollen den Rest ernähren, die eigenen Kin-
jedes Bundesland, um das Bildungssystem zu re-
der satt kriegen und das Sozialsystem finanzieren?
formieren und zu modernisieren. Was meinen Sie,
Wie soll das denn mathematisch gehen?
wie in fünf Jahren das Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland aussehen würde? Ich denke,
Sie sind heute alle mehrsprachig aufgewachsen,
wir würden dem Propagandaziel einer Bildungs-
das ist anders als zu meiner Zeit. Wer kennt die
republik dann tatsächlich näher kommen. Wenn
englische Vokabel für Halbtagsschule? Es gibt sie
wir dann noch die Kompetenz für das Bildungs-
nicht. In ganz Europa kennt kein Land eine Halb-
wesen von den Ländern auf den Bund übertragen,
tagsschule wie wir. Auch wir brauchen ein flächen-
damit es nicht mehr Spielwiese von irgendwelchen
deckendes Ganztagssystem, mit vernünftigem Es-
Parteiarbeitskreisen bei Koalitionsverhandlungen
sen für die Kinder. Und das alles kostet Geld.
nach Landtagswahlen ist, dann könnte sich in dieser Republik tatsächlich etwas verändern.
Als das Finanzsystem der Bundesrepublik Deutschland infolge des großen Erfolges von hasardierenden
Eine letzte Bemerkung zur Migration – was uns
Bankmanagern vor die Wand zu fahren drohte,
fehlt, ist einfach ein bisschen mehr Selbstbewusst-
dauerte es nur wenige Tage, dreistellige Milliarden-
sein, um zu sagen: „Du bist gekommen aus einem
beträge und eine politische Mehrheit für die Än-
fernen Land und hier herzlich willkommen. Wir
derung des Grundgesetzes zur Verstaatlichung der
brauchen dich und deine Kinder! Aber wir haben
Banken zusammenzubekommen. Ich kritisiere diese
hier auch Spielregeln des Zusammenlebens, die für
Entscheidung nicht. Die Begründung war: Es ist
jeden in diesem Land gelten. Also auch für dich.
eine Existenzfrage für die Zukunft unserer Gesell-
Du musst entscheiden, ob unsere Art, miteinander
schaft. Ja, das stimmt. Sind das aber unsere Kinder
zu leben, auch für dich und deine Familie akzetabel
nicht? Wenn es Sinn macht, Schulden zu Lasten
ist. Falls nein, schau, ob du ein Land findest, was
künftiger Generationen für die Zukunft aufzu-
besser zu deinen Lebensvorstellungen passt.“ Wenn
nehmen, dann doch wohl für das Bildungssystem
wir diese Integrationsforderung so deutlich erheben
derjenigen, die sie einmal bezahlen müssen und
und sagen: „Wir verlangen von dir, dass du Teil dieses
nicht für die Banken.
Landes wirst, dass du dich integrierst“ – dann haben wir eigentlich das Gröbste geschafft. Wir müs-
Wir sind das Land in der OECD, das das meiste
sen aber auch wirklich alle mitnehmen! Ich kann
Geld für die Familienförderung ausgibt. Rund drei
Ihnen nur sagen: In der Integrationspolitik müs-
Prozent des Bruttoinlandsproduktes. In der Effek-
sen wir einfach selbstbewusster werden. In Ruhe
tivität liegen wir allerdings an drittletzter Stelle,
lassen ist keine Integrationspolitik. Wir müssen uns
nur Nordkorea und die Slowakei sind noch hinter
auch den Problemen stellen und Lösungen für sie
uns. Das liegt daran, dass andere Länder das Geld
finden. Sonst überlassen wir das Feld denen mit
zielgerichteter ausgeben. Sie investieren in die
den plumpen Parolen. Gerade die gesellschaftliche
Welt der Kinder: In Lehrer, in Schulen, in Klassen-
LINKE ist hier in der Pflicht. Wir müssen vermit-
größen, in Krippen, in Kindergärten. Wir inves-
teln, dass wir in unserem Land nicht alle eine
tieren in das Familienbudget. Wir investieren
gemeinsame Vergangenheit haben, aber eine ge-
damit auch in das Abzahlen der Hypotheken für
meinsame Zukunft haben müssen.
77
Friedrich-Ebert-Stiftung
Podium: Perspektiven Sozialer Demokratie Susanne Höll Korrespondentin im Hauptstadtbüro der „Süddeutschen Zeitung“
Zum Eingang würde ich gern ein paar Anregungen
aller, wirklich aller Gesellschaftsschichten. Denn
im Hinblick auf die Zukunft der SPD geben.
nur das ist aus meiner Sicht ein Beispiel für eine Volkspartei.
Mein erster Ratschlag wäre eine Warnung vor Selbstillusionen. Anlass sind die – jetzt wieder –
Ein vierter Ratschlag gilt dem innerparteilichen
guten Umfragewerte in Richtung 30 Prozent. Das
Umgang. Vor zweieinhalb Jahren hatte ich gele-
ist die Voraussetzung um eine Volkspartei zu sein,
gentlich das Gefühl, ich berichte über eine Ver-
das ist die Voraussetzung sagen zu können: Wir
sammlung rivalisierender Straßengangs. Inzwi-
gehen auf Augenhöhe in die nächsten Wahlkämp-
schen, nach dem Wahlverlust, ist der Umgang
fe, zumindest im Bund. Ich bin aber überzeugt,
lockerer geworden. Man hört sich zu. Ich würde
dass ein Teil dieser gewachsenen Zustimmung
mir wünschen, dass das so bleibt.
eine Reaktion auf die Politik der Bundesregierung, der schwarz-gelben Koalition, ist. Sie spiegelt die
Ein letzter Rat: Ich würde der SPD, ihren Mit-
Schwäche der Koalition wider, nicht die gewon-
gliedern und ihren Politikern ein gesundes Ver-
nene Stärke der SPD.
hältnis zur Macht wünschen. Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen hat mich, bevor sie sich ent-
Die zweite Anregung ergibt sich aus Erfahrungs-
schlossen hatte doch den Versuch der Minder-
werten der letzten Jahrzehnte. Ich würde mir wün-
heitsregierung zu wagen, sehr verunsichert mit
schen, dass die SPD, ihre Politiker und ihre Mit-
Äußerungen, es gehe der SPD in Nordrhein-West-
glieder, mehr Spaß und Interesse an den Themen
falen nicht um die Macht. Das ist so, als würde ein
Wirtschaft und Finanzen gewinnen. Ich glaube,
Bäcker sagen: Ich will zwar Brötchen backen, ver-
dass dieses Thema in seiner ganzen Komplexität –
kaufen will ich sie aber nicht. Ich finde, ein natür-
nicht allein beschränkt auf die Haushaltsaufstel-
liches Verhältnis zur Macht gut, ansonsten braucht
lung oder ein Steuerprogramm – die nächsten
man nicht anzutreten.
Jahre, mutmaßlich auch die nächsten Jahrzehnte der Politik, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und weltweit bestimmen wird. Es war Bill Clinton bzw. dessen sehr interessanter Wahlkampfmanager, der den ersten Wahlkampf von Clinton mit dem Motto „It’s the economy, stupid“ geführt hat. Damit hatte er Erfolg. Eine Volkspartei wie die SPD braucht, um attraktiv zu sein, Politiker, die Unternehmen und Unternehmer nicht von vornherein für zwielichtige Gesellen halten. Die SPD kann Wirtschaft. Dass sie es kann, und dass sie Finanzen kann, hat Steinbrück hervorragend bewiesen. Ich komme zum dritten Ratschlag. Ich würde mir wünschen, dass sich die SPD im wahrsten Sinne des Wortes als bürgerliche Partei, nämlich im Sinne des Citoyen, des Bürgers, begreift. Als Vertretung
78
sommeruniversität
Jens Tartler Redakteur der Tageszeitung „Financial Times Deutschland“
Ich bin gebeten worden, einen Akzent auf das The-
Juniorpartner ist – das haben wir ja auch gesehen
ma Wirtschaft zu setzen und möchte dazu einen
– immer noch kleiner gemacht wird. Gerade unter
kleinen Schritt zurück machen. Herr Steinmeier
dem Stichwort Machtperspektive ist das nicht ver-
hat in den Wahlkampfreden zur letzten Bundes-
lockend. Eine Große Koalition kann keine Option
tagswahl immer gesagt: Es kann doch nicht wahr
sein, auch nicht im Fünf-Parteien-System.
sein, dass diejenigen, deren Ideologie uns das alles eingebrockt hat, auch noch belohnt werden. Also
Zur Positionierung: Ich finde, man sollte die Wirt-
sprich, Union und FDP. Aus sozialdemokratischer
schaftskompetenz nicht aufgeben. Die SPD sollte
Sicht ist es dann aber genauso gekommen. Wie
immer auch um die Mitte kämpfen, um strukturell
kann das sein? Eine Erklärung ist, dass man der
mehrheitsfähig zu sein. Leute wie Helmut Schmidt,
Kanzlerin und der CDU eine höhere Wirtschafts-
ganz früher noch Karl Schiller oder auch Klaus von
kompetenz zugesprochen hat, obwohl Peer Stein-
Dohnanyi, das waren Politiker, die die bürgerliche
brück und Olaf Scholz eigentlich einen hervor-
Mitte angesprochen, ein breiteres Spektrum abge-
ragenden Job gemacht haben – ich denke, einen
deckt und die SPD dann eben auch zur stärksten
besseren als die meisten Unionsminister. Aber
Partei gemacht haben. Die SPD sollte sich auch
diese Kompetenzzuschreibung ist einfach nicht mit
immer als bürgerliche Partei im besten Sinne be-
der SPD nach Hause gegangen, sondern mit Frau
greifen.
Merkel und der CDU. Das hat, glaube ich, auch ein bisschen mit der Regierung Schröder zu tun. Sie
Wer könnte Kanzlerkandidat werden? Normaler-
hat sich, gerade der Staatssekretär Asmussen, sehr
weise sagt man ja immer: Der Parteichef hat den
stark für die Liberalisierung stark gemacht. Des-
ersten Zugriff. Ich meine, dass Sigmar Gabriel ein
wegen kann die SPD jetzt nicht richtig glaub-
hervorragender Redner ist und beim Publikum
würdig attackieren. Ein weiteres Problem ist, dass
besser ankommt als Kurt Beck. Was mir gut gefällt
die SPD in Großen Koalitionen, gerade wenn sie
ist, dass Gabriel eine Art Wirtschaftsbeirat eingerichtet hat. Aber da sind noch zu wenige aus der echten Privatwirtschaft vertreten. Im Hinblick auf die nächste Bundestagswahl sollte man allerdings auch Steinmeier noch nicht abschreiben. Bei allen Umfragen schneidet er im Vergleich zu Merkel sowohl in der allgemeinen Bevölkerung als auch bei SPD-Anhängern immer besser ab als Herr Gabriel. Das könnte daran liegen, dass man letzterem immer noch die Ernsthaftigkeit, das Seriöse ein bisschen abspricht. Vor der Bundestagswahl sollte man einfach nüchtern schauen: Wer hat die besseren Chancen? Und wenn der Befund immer noch so sein sollte, könnte es sein – Gabriel hat das ja neulich im SPIEGEL-Gespräch auch mal angedeutet – dass er dann Steinmeier den Vortritt lässt, so wie es Lafontaine mit Schröder 1998 gemacht hat. Ich finde, darüber sollte man nachdenken.
79
Friedrich-Ebert-Stiftung
Albrecht von Lucke Redakteur der „Blätter für deutsche und internationale Politik“
Kurz einige Überlegungen zur aktuellen Lage der
diese Dekade linker deutungskultureller Hoheit
SPD, bevor ich auf die eigentliche Podiumsfrage
ausgelaufen. Das große Dilemma – und das hat ja
nach der Zukunft der sozialen Demokratie eingehe.
gewissermaßen dann sehr schnell im Zuge von Rot-Grün eingesetzt – ist die Tatsache, dass wir seit
Erstens: Es ist gar keine Frage, dass die Sozialdemo-
1998 einen rasenden Verlust an programmatischer
kratie 1998 vor allem durch den Zweiklang von
Inhaltlichkeit erlebt haben. Wir haben heute keine
Innovation und Gerechtigkeit gewonnen hat. Die
programmatische Unterfütterung der Partei mehr.
Dramatik der Lage der Sozialdemokratie heute be-
Es gab schon keine Debatten um das neue Ham-
steht im Wesentlichen darin, dass sie an beiden
burger Programm von 2007. Es ist ganz wenig in-
Fronten massiv verloren hat. Sie ist sowohl an dem
haltlich innerhalb dieser Sozialdemokratie in den
Punkt Innovation, der natürlich auch mit der
letzten zehn Jahren passiert.
Wirtschaftskompetenz einhergeht, als auch an dem Punkt der Gerechtigkeit mittlerweile weit weg von
Zweitens: Die Sozialdemokratie muss ungemein
der kulturellen Hegemonie, die die SPD einst aus-
aufpassen, dass sie nicht in fahrlässiger Weise den
machte.
Begriff „bürgerlicher Politik“ abschenkt an CDU
Zudem ist sie in zu große Distanz von der Machtfrage geraten. Allerdings sehe ich momentan eher die Gefahr, dass sich die Partei im Zuge gewisser neuer prozentualer Zuwächse bereits auf Augenhöhe mit der Union wähnt, obwohl dies intellektuell und strategisch in keinster Weise unterfüttert ist. Die Partei ist nach wie vor ideologisch hochgradig entkernt. Es gibt keinerlei klares Profil dieser Sozialdemokratie. Da gibt es einzelne Leuchttürme, die versuchen, wieder ein Programm zu zimmern, die versuchen, dieser Partei wieder ein ideologisches Gerüst zu geben. Es ist ein ganz großes Bedürfnis innerhalb dieser Partei da, dass so etwas wie die Rekrutierung einer neuen Parteiintelligenz stattfindet. Nach dem Ende der Dominanz der 68er müssen nun endlich jüngere Leute in den Reihen der Partei die Debatten führen. Die 70er, 80er und 90er Jahre mit ihren harten Auseinandersetzungen waren Folge einer grundsätzlichen Politisierung nach 1968, die der Linken im Lande die kulturelle Deutungshoheit über zwanzig, dreißig Jahre eingetragen hat. Diese Deutungshoheit hat 1998 zum Sieg bei den Bundestagswahlen geführt. Damit ist aber gleichermaßen auch
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sommeruniversität
und FDP, unter Verkennung der Tatsache, dass es
Bereitschaft, Gesellschaft als Gemeinanstrengung
sich bei dem Begriff des Bürgerlichen um einen
zu begreifen? Inwieweit begreift man (soviel zum
politisch grundierten Begriff handelt: der des
Bürgerlichkeitsbegriff), die Gesellschaft als ein ge-
Citoyens, des politisch mündigen, aktiven Bürgers.
samtgesellschaftlich bürgerliches Unternehmen –
Das muss natürlich die Konnotation des Bürger-
also als ein Unternehmen im politischen Sinne –,
begriffs der Sozialdemokratie sein, die sich eigent-
an dem alle teilhaben, an dem aber ein politischer
lich spätestens seit Godesberg als Volkspartei be-
Mehrwert, ein gesamtgesellschaftlicher Mehrwert
griffen hat, und damit explizit quasi als den Inbe-
erzeugt wird, für den man auch Individualinteres-
griff der Partei aller Bürger. Und das übrigens mehr
sen, sogar die der eigenen Kinder, hintanstellt?
noch als nur in politischer Hinsicht. Damit meine
Hier stellt sich die soziale Frage in einem weit mehr
ich die soziale Grundierung dieser Frage. Es wäre
als nur umverteilungspolitischen Sinne. Sie stellt
ein großes Problem, wenn die SPD nicht wieder
sich auch anhand der Frage von Teilhabe an der
Anstalten machte, auch in diese soziale Schich-
Gesellschaft. Hier zeigt sich: Soziale Demokratie
tung des Bürgerlichen stärker vorzudringen. Man
und soziale Frage sind in hohem Maße relevant
muss dezidiert versuchen, auch unternehmerische
und von großer Bedeutung, und werden in einem
Schichten anzusprechen. Es gilt, beide Konnota-
Maße thematisiert werden müssen, wie es lange
tionen von Bürgerlichkeit, vom Citoyen bis zum
Zeit sträflich vernachlässigt wurde.
ökonomisch grundierten Bürger, im Auge zu behalten und sich eben in dem Punkt nicht abzugren-
Die Demokratiefrage (als den zweiten Aspekt der
zen. In diesem Sinne plädiere ich sehr dafür, und
sozialen Demokratie) halte ich für genauso rele-
das war die grundsätzliche Ansprache von Sigmar
vant. Viele Autoren – vor allem natürlich Colin
Gabriel direkt nach der Wahlniederlage, hier so
Crouch, der englische Politwissenschaftler – haben
etwas wie neue kulturelle Deutungshoheit, kultu-
mittlerweile sehr treffend die Analyse einer Post-
relle Hegemonie, auf dem sehr harten Wege der
demokratie getroffen. Das bedeutet, dass wir längst
konkreten Auseinandersetzung mit den Bürgern
in Zeiten leben, in denen die demokratische Zu-
wieder zu erobern.
stimmung und die Teilhabe an der Gesellschaft dramatisch zurückgehen, wo in elitärer Weise
Doch jetzt zu den Perspektiven sozialer Demokra-
durch Lobbying-Strukturen, aber auch durch Spin
tie: Wir leben in einer sozialen Demokratie, das ist
Doctors in den Parteien, eine Unterminierung der
qua Grundgesetz determiniert. Wir haben einen
Demokratie stattgefunden hat. Und diese Form des
Rechtsstaat, wir haben eine Demokratie, wir haben
Ausstiegs aus der Demokratie ist meines Erachtens
eine parlamentarische Demokratie, wir haben eine
auch in der Thematisierung der Causa Gauck auf-
sozial-staatlich grundierte „soziale Demokratie“.
geworfen gewesen. Denn das Phänomen Joachim
Das steht alles im Grundgesetz und das ist nach
Gauck, dessen ungeheurer Erfolg als vermeintlich
wie vor der Fall. Wir können aber – und das macht
unabhängiger, parteiunabhängiger Präsidentenkan-
die Dramatik aus – in diesem Jahr enorme Ero-
didat, war, so sehr das ein Coup der Sozialdemo-
sionsprozesse an beiden Flanken beobachten.
kratie nach innen gewesen sein mag, auch ein Ausdruck einer absolut massiven Parteien- und
Wir erleben erstens dramatische Erosionsprozesse
darüber hinausgehenden auch Demokratiever-
im Sozialen. In zwei Tagen findet in Hamburg die
drossenheit.
große Abstimmung zur Frage der Schulerziehung, zur Einrichtung der allgemeinen sechsjährigen
Damit bin ich bei meinem eigentlichen, entschei-
Grundschule, statt. Das ist in seiner Auswirkung
denden Punkt: „Soziale Demokratie“ stellt gewisser-
eine so relevante Abstimmung, weil die Frage auf-
maßen (noch) den Ist-Zustand der Bundesrepublik
geworfen ist: Gibt es eine weiterhin existierende
dar, beziehungsweise das, was das Grundgesetz
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Friedrich-Ebert-Stiftung
verlangt. Es reicht jedoch für die SPD nicht aus,
tert werden. Vor zwei Jahren habe ich hier mit
diesem gefährdeten und doch zu verbessernden
Franziska Drohsel diskutiert. Damals schlug ich ihr
Ist-Zustand programmatisch nur mit dem Satz „Die
vor, sich einmal auch mit John Rawls zu beschäfti-
Sozialdemokratie will soziale Demokratie“ zu be-
gen. Seine Grundidee ist Gerechtigkeit als Fairness.
gegnen. Das ist zwar gut gemeint, aber nicht gut
Das ist etwas, was hochgradig aktuell ist. Weil John
gemacht. Und es enthebt nicht der Notwendigkeit,
Rawls einerseits immer dafür plädiert hat, Umver-
sich wieder programmatisch grundsätzlicher zu
teilung aus den gesellschaftlichen Zugewinnen zu
entwerfen und neu zu denken, also eine klare Vor-
fordern, Umverteilung also als Notwendigkeit zu
stellung von guter Gesellschaft und gutem Leben
begreifen – etwas, was klar sozialdemokratisch ist –
zu entwickeln.
und andererseits den Fairnessbegriff auch an die Gerechtigkeit zu koppeln. Ich fände das eine große
Wenn Sigmar Gabriel in jüngsten Überlegungen
Herausforderung für die Jusos und für die Ebert-
eine faire Gesellschaft propagiert, finde ich das
Stiftung. Deshalb mein Vorschlag: Macht einen
durchaus überlegenswert. Es ist ein Versuch, Öko-
Kongress zur Theorie der Gerechtigkeit. Daran
nomie und Ökologie zu verbinden. Ich glaube, es
kann die ganze Partei ihren Gerechtigkeitssinn
muss bloß in vielen Punkten inhaltlich unterfüt-
durchaus schärfen.
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sommeruniversität
Lars Haferkamp Redakteur des „Vorwärts“
Ich will zu Beginn die Wahlniederlage der SPD bzw.
Weitere Gründe für die Krise der Partei: Es gab 2009
die Wahlniederlagen der SPD aus dem Jahre 2009
eine Unversöhnlichkeit in der SPD, die Ausdruck
noch mal in Erinnerung rufen. Es gab ja nicht nur
einer bis heute fortdauernden inneren Spaltung ist.
die eine große Wahlniederlage bei der Bundestags-
Und diese innere Spaltung macht sich zum einen
wahl mit 23 Prozent, sondern es gab vorher eine
fest an der Agenda 2010. Eine andere Konfliktlinie
noch dramatischere Wahlniederlage bei der Euro-
in der SPD ist der Umgang mit der Linkspartei. Das
pawahl mit 20 Prozent. Diese beiden Wahlnieder-
hat Konsequenzen für ihre Machtperspektive.
lagen waren für die SPD auf eine Art und Weise dramatisch, demoralisierend und demütigend, wie
Etwas Positives, was die Perspektiven der SPD an-
es kein Ereignis in den letzten 50 Jahren war. Und
geht: Die SPD hat einen Vorteil gegenüber ihren
ich glaube, dass diese Wahlniederlage auch viel
politischen Mitbewerbern GRÜNE und Linke. Sie
von dem erklären kann, was hier zur Sprache ge-
ist immer noch so stark, dass sie den Spitzenkan-
bracht worden ist. Das Verhältnis der SPD zur
didaten stellen kann. Sie kann einen Kanzler- und
Macht ist eine entscheidende Frage, wenn die So-
einen Ministerpräsidenten-Kandidaten stellen. Das
zial-demokratie wieder eine Perspektive haben soll
ist in der heutigen Zeit, wo die Parteienbindung
in Deutschland.
immer mehr abnimmt, wo die Persönlichkeit des Spitzenkandidaten immer mehr entscheidet, ein
Nur hat die SPD im letzten Jahr eine ganz trauma-
ganz kardinales Kriterium. Wir erleben ja beispiels-
tische Lernerfahrung gemacht. Wir haben bisher
weise beim Verteidigungsminister zu Guttenberg
immer geglaubt, gutes Regieren zahlt sich aus. Die
eine Sympathiewelle, die durch seine inhaltlichen
ganze Presse hat die sozialdemokratische Krisen-
Ausführungen überhaupt nicht gedeckt ist. Wenn
politik, die Bewältigung der schwersten Wirt-
ein Politiker telegen und sympathisch wirkt, gut
schaftskrise im letzten halben Jahrhundert gelobt.
reden kann, eine nette Frau hat, dann kommt er in
Und das Ergebnis für die SPD war kein Stimmen-
unserer Mediengesellschaft ganz wunderbar an, die
gewinn, nicht mal eine Stagnation, sondern es war
politischen Inhalte spielen dabei eine sehr unter-
ein Absturz in einer Dramatik, die nach den bis-
geordnete Rolle. Das ist natürlich auch Ausdruck
herigen Regeln des Parteiensystems eigentlich nur
der gegenwärtigen politischen Kultur in diesem
zu erklären wären, wenn die Spitzenleute einer
Land. Ich glaube, das wäre vor 20 oder 30 Jahren
Partei in Skandale verwickelt sind, wie wir sie etwa
in Deutschland so nicht möglich gewesen.
in der Barschel-Affäre in Schleswig-Holstein erlebt haben. Wenn aber eine Partei gute Regierungspoli-
Ein Wort noch zu den aktuellen Umfragen. Es wur-
tik macht, was ihr auch von allen bescheinigt wird,
de gesagt, dass die SPD in den Umfragen gut liegt.
und dann das schlechteste Ergebnis ihrer Ge-
Ich sehe das ein bisschen anders. Angesichts der
schichte erfährt, ist ein gebrochenes Verhältnis zur
Tatsache, dass die CDU eine Performance hinlegt,
Macht, glaube ich, die zwingende Folge. Die SPD
die kaum noch zu unterbieten ist und trotzdem
ist nach der letzten Bundestagswahl in einer Art
immer noch stärkste Partei ist, finde ich die Um-
Schockstarre gelähmt gewesen, aus die sie in die-
fragen alles andere als ermutigend für die SPD.
sem Jahr Stück für Stück erwacht.
Meine persönliche Erklärung ist, dass die SPD nach
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Friedrich-Ebert-Stiftung
elf Jahren in der Regierung beim Wähler noch
Regierung, können also auch viel stärker vom
nicht als Oppositionspartei ankommt. Das ist
Oppositionseffekt profitieren. Deshalb ist meine
natürlich anders als bei ihren Mitkonkurrenten auf
Prognose: Je länger die SPD in der Opposition ist,
der Linken. Die Linkspartei hat nie regiert. Sie kann
umso größer ist ihre Chance, sich zu konsolidie-
also vollkommen vom Oppositionseffekt profi-
ren, je größer ist die Chance, wieder stärkste Partei
tieren. Die GRÜNEN sind fünf Jahre raus aus der
zu werden.
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sommeruniversität
ISBN 978 - 3 - 86872 - 470 -7
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