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Kämpfer im Spiel – Gewinner im Job Computerspiele machen einsam und aggressiv, so ein verbreitetes Vorurteil. Namhafte Wissenschaftler sehen das anders: Erfolgreiche Gamer stellen mit ihren Fähigkeiten die künftige Wirtschaftselite. Text: Balz Ruchti und Peter Johannes Meier; Fotos: Tomas Wüthrich

W

er wissen will, wie Unternehmen in zehn Jahren geführt werden, muss sich Online-Spiele anschauen. Das ist kein Werbespruch aus der Game-Industrie, sondern die Erkenntnis von Kommunikationsforschern der Stanford-Universität in Kalifornien. Byron Reeves und sein Team analysierten, wie sich weltweit tätige Unternehmen entwickeln, und haben für sie die künftigen Führungskräfte entdeckt: erfolgreiche Online-Gamer. Das Spielen im Netz macht keineswegs dumm, einsam oder gar aggressiv – im Gegenteil: Es ist karriere- und wirtschaftsfördernd, so das Fazit der Studie «Virtuelle Welten – echte Führer». Laut den Forschern werden sich Unternehmen künftig noch mehr aufgliedern und über alle Kontinente hinweg vernetzen. Dadurch müssten immer mehr Auf­ gaben virtuell koordiniert und ausgeführt werden – ohne dass darunter Zwischenmenschliches leiden darf. Der Manager, der mit Powerpoint-Präsentationen im Köfferchen Flugzeuge besteigt und seinen Mailverkehr an die Sekretärin delegiert, wird hier zweifellos an Grenzen stossen. Was Führungskräften künftig abverlangt wird, lernen junge Gamer heute in ihrer Frei­zeit. Den Teilnehmern grosser OnlineRollenspiele, sogenannter Massively Multiplayer Online Role-Playing Games (MMORPGs), stellen sich Aufgaben, die sie – wie Manager – alleine nicht mehr lösen können. «World of Warcraft» ist ein solches Spiel, das derzeit zwölf Millionen Nutzer weltweit vereint. Führer dirigieren Gruppen von Spielern, sogenannte Gilden, auf gemeinsamen Missionen. Wer sich hier als Leader halten oder aufsteigen kann, beweist Führungs­talent. Bei einer Umfrage unter IBM-Managern mit Game-Erfahrung gab fast die Hälfte an, dass das Spielen

ihre Führungsqualitäten verbessert habe, schreibt die «Harvard Business Review» 2008. Was macht Online-Gildenleader zu besseren Managern? Andres Schaffhauser ist Gildenleader. Auf dem Bildschirm vor ihm tobt ein sense­ schwingendes Skelett und schleudert Blitze gegen seine Angreifer. Die Finger des 23Jährigen tanzen über die Tastatur, an den Seiten und an der Unterkante des Bildschirms blinken und leuchten Dialogfelder und Anzeigeleisten. Sie informieren ihn über die Verfassung seiner Mitstreiter.

Die Druidin beim Kündigungsgespräch Im richtigen Leben arbeitet Schaffhauser als Systemadministrator bei einem Kaffeehändler, doch in «World of Warcraft» ist er seit sechs Jahren Obilée, eine Druidin. «Die Figur ist sehr naturverbunden, das entspricht mir», sagt er. Obilée kann sich in verschiedene Tiere verwandeln, in einen Bären oder einen Vogel zum Beispiel. «Wäh­ rend eines Angriffs bin ich aber meistens ein Baum – der hat eine Heilfunktion», sagt Andres Schaffhauser. In dieser Gestalt kann er seine Getreuen mit Lebensenergie versorgen. «Vertrauen ist entscheidend», findet Schaffhauser und scannt mit schnellen Blicken die Anzeigefelder. Jeder Spieler muss seinen Part erfüllen – macht der Lockvogel zu wenig oder ist einer zu ungestüm, wendet sich das böse Skelett womöglich den ungeschützten Gildenmitgliedern zu – und dann ist Sense.

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«World of Warcraft»-Spieler lernen laut der kalifornischen Studie gelassener mit Risiken und Fehlern umzugehen und verstreute, sich ständig verändernde Informationen zu einem Gesamtbild zusammenzu­ fügen. Um Missionen zu erfüllen, sind sie auf Mitstreiter angewiesen. «Am Anfang tat ich mich mit einem Gnomen zusammen, der mir irgendwo über den Weg gelau­fen kam», sagt Schaffhauser. Heute führt er eine zehnköpfige Gilde. «Als Leader muss man seinen Mitstreitern auf gute Art und Weise Rückmeldungen geben – kritisieren, ohne sie zu verärgern oder zu kränken.» Schaffhauser musste einem Uneinsichtigen schon mal erklären, dass es für ihn und die Gilde besser ist, wenn er sich andere Gefährten sucht – ein Probelauf für das heikle Kündigungsgespräch im realen Leben. Erfolgreiche Gamer erwerben Sozialkompetenz und Führungsfähigkeiten, indem sie Mitspieler dazu bringen, gemeinsam ein Ziel über längere Zeit zu verfolgen. Das ist die Erkenntnis von Daniel Süss, Medien­psychologe an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. «Solche Spieler holen sich zudem schnell Hilfe aus einem grossen Netzwerk, zapfen also Expertenwissen an.» Fähigkeiten, die auch im realen Berufsleben wertvoll seien.

Ego-Shooter im Visier Dass Videospiele karrierefördernd sein sollen, ist eine eher junge Erkenntnis. Bisher sahen Eltern, Pädagogen und Politiker in ihnen vor allem eine unheilvolle Kraft, die die Jugendlichen ins Verderben reisst. Besonders das Genre der Ego-Shooter – in den Medien besser bekannt als «Killerspiele» – sind den Jugendschützern ein Dorn im Auge. Ego- oder First-PersonShooter (FPS) sind Spiele, die die Handlung vollständig aus der Perspektive des Kämpfers zeigen. Je nach gewählter Waffe

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Andres Schaffhauser, 23, «World of Warcraft»:   «Während eines Angriffs bin ich meistens ein Baum – der hat eine Heilfunktion.» weist ein Sturm­gewehr, eine Panzerfaust oder ein Messer den Weg ins Getümmel. Aus Leo Spiegels Zimmer dringt regelmässig das Rattern von Serienfeuer. Leo ist Gymnasiast, eben 17 geworden, und spielt die neuste Version von «Battle­field: Bad Company 2». Auf seinem Bildschirm befinden sich zwei Armeen im Häuserkampf. Leo lässt den Lauf der Waffe über das Spielfeld schwenken, Freund und Feind hasten von Deckung zu Deckung, nicht alle erreichen ihr Ziel. Das Spiel hat alles, was das Genre ausmacht: Waffen, ­Tote und Explosionen. Entsprechend tolerierten Leos Eltern den Häuserkampf im Zimmer ihres Sohnes erst nach ausführlichen Diskussio­ nen und festgelegten Regeln. Diese Auseinandersetzung ist auch auf politischer Ebene notwendig. Nationalund Ständerat fordern ein Verbot von besonders brutalen Spielen, der Bundesrat muss ein entsprechendes Gesetz ausarbeiten. Wie dies für weltweit vernetzte OnlineSpiele umgesetzt werden soll, ist unklar. Am wirksamsten wäre ein griffiger Jugendschutz mit klaren Altersbeschränkungen.

Was weiss man überhaupt über die Wirkung brutaler Spiele auf Jugendliche? Laut Medienpsychologe Süss gibt es keinen Beleg dafür, dass Jugendliche, die im echten Leben gewalttätig sind, überdurchschnittlich oft gewaltdarstellende Games spielen. «Jugendliche, die sich bereits in gewalt­ tätigen Peergroups bewegen, also zum Beispiel Prügeleien an Fussballevents suchen, bewerten echte Gewalt aber eher positiv, wenn sie zusätzlich auch solche Games spielen. Diese haben unter Risiko­bedin­ gungen einen enthemmenden Effekt.» Anders gesagt: Jugendliche, die nicht auffallend aggressiv sind – das kann man durch Persönlichkeitstests feststellen –,werden es auch nicht, wenn sie brutale Games spielen. «Mir geht es um das Mannschaftsspiel, nicht um die Gewalt», sagt «Battlefield»Spieler Leo. Es gäbe auch Spiele, die weitaus blutrünstiger sind, in denen der Protagonist als Serienkiller oder Amokläufer unterwegs ist: «Aber solche Games sagen mir nichts.» In «Battlefield» führt Leo einen eigenen Clan: den Advanced Tactical Squad.

Zweimal die Woche trifft er sich mit seinen Kumpels online zum Training. Während in anderen Ego-Shoo­tern die Punkte vor allem durch «Kills», also Treffer zu erspielen seien, würden in «Battlefield» eroberte «Flags» belohnt, also das Einnehmen von Zielobjekten. Das geht natürlich nicht ganz ohne Schiessen, «aber es ist auch Strategie gefragt», sagt Leo. Die Spieler können einander aufmuni­tionieren und Verwundete versorgen, damit diese schnell wieder einsatzfähig sind.

«Am besten spielen Eltern einmal mit» Derzeit sorgt die neuste Version des Spiels «Medal of Honor» für Diskussionen, dessen Schauplatz der Krieg in Afghanistan ist. Hohe Wellen schlug das Game vor allem, weil der Spieler auch die Sicht der Taliban einnehmen und gegen US-Truppen kämpfen kann. Wenn staatliche Verbote von Spielen heute kaum möglich sind: Sollten Eltern gewisse Spiele aus moralischen Überlegungen verbannen? «Natürlich ist es legitim, ein Spiel aus einer Werthaltung heraus



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Leo Spiegel, 17, «Battlefield, Bad Company 2»:   «Mir geht es um das Mannschaftsspiel, nicht um die Gewalt.» zurückzuweisen», sagt Daniel Süss. Zum Beispiel wenn darin ein Geschlecht oder eine Bevölkerungsgruppe systematisch diskriminiert werde. «Das heisst aber nicht, dass solche Spiele die individuelle Aggressivität oder Gewalttätigkeit von Jugendlichen fördern würden.» Wichtig sei, dass sich Eltern selber mit den Spielen ihrer Kinder auseinandersetzten. «Am besten spielen sie selber einmal mit. Nur so werden sie auch ernst genommen, wenn sie ein Spiel kritisieren.» Leo spielt «vielleicht ein bis zwei Stunden am Tag», dafür sitze er kaum vor dem TV. «Battlefield» ist nicht sein einziges Hobby. Wenn er neben der Schule Zeit findet, beschäftigt er sich mit Webdesign. Für seinen Clan hat er eine eigene Website gemacht, darüber koordiniert er Spiel- und Trainingstermine. Gamer bezeichnen ihr Hobby selbst­ bewusst als «E-Sport» und haben sich in internationalen Ligen zusammengeschlossen. Dazu gehören nicht nur Ego-Shooter, sondern auch Sportspiele wie Fussball oder Skirennen. In den obersten Ligen sponsern

Hersteller Siegprämien in der Höhe von mehreren tausend Franken. Davon sind Leo und seine Squad weit entfernt, doch auch sie nehmen ihr Hobby ernst: Die einzelnen Begegnungen werden in Nach­ besprechungen analysiert. Gamen könne zwar jeder lernen, «aber ohne Training kann man in der Liga nicht bestehen».

«Es ist ja nur ein Spiel» Etwa ein Viertel der Jugendlichen spielen regelmässig und intensiv. Die anderen sind sehr massvoll in Spielen unterwegs. Das Durchschnittsalter aller Gamer liegt heute bei etwa 30 Jahren. Die Intensität ist aber bei Zwölfjährigen am höchsten und nimmt dann kontinuierlich ab. Für Leo ist das Gamen ein Zeitvertreib von vielen; sonst spielt er Tennis oder trifft Freunde. «Das würde ich wegen des Gamens nie vernachlässigen.» Leo ist der nette Junge von nebenan. Echte Waffen interessieren ihn nicht, und den Militärdienst könnte er sich am ehesten als Sanitäter vorstellen. Aber warum verbringt er so viel Zeit im virtuellen Krieg? «Gute Frage», sagt

Leo und überlegt. Dann zuckt er mit den Schultern: «Es ist ja nur ein Spiel.» Diese Erklärung liess die Forschung bis vor kurzem nicht gelten. Dass Videospiele überhaupt so in Verruf geraten sind, ist eine Art Naturgesetz. Menschen befürchteten zu allen Zeiten, dass Gewaltdarstel­ lungen Jugendliche verderben könnten: Römische Denker fürchteten den schlechten Einfluss der Gladiatoren, im Mittelalter waren der katholischen Kirche die Ritterkämpfe ein Dorn im Auge. Mit jedem neu aufkommenden Me­dium wurde die Diskus­ sion neu entfacht: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es der Film, in den Sechzigern das Fernsehen und in den Neunzigern das Internet. Lange sei auch Game-Forschung auf die Frage reduziert worden, ob Spielen gewalttätig mache, kritisiert Süss. «Dieser Ansatz greift zu kurz. Es ist ähnlich, wie wenn behauptet würde, Pfadfinder förderten eine Militarisierung, weil sie Uniformen tragen und Mutproben im Wald durchführen.» Oft gehe es mehr um ideologische und dogmatische Positionen, die von Poli-



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Viel Arbeit: So entsteht ein Computerspiel Ein Game hat viele Schöpfer: Immer mehr

Teuer werden die Spiele aber auch, weil der

­Menschensind daran beteiligt, zunehmend komplexere digitale Welten zu erschaffen; Spielproduzenten sind Auftraggeber für eine Vielzahl von Berufen wie Grafikdesigner, Drehbuchautoren, Komponisten, Musiker und Sprecher. Steht einmal die Programmierung der GameMechanik, verleihen Künstler dem Spiel ­seineaudiovisuelle Gestalt – und dabei wird auch mal geklotzt: Für die Geräuschkulisse in aufwendigen Produktionen kommen ­ganzeOrchester zum Einsatz, für Fantasieklänge legen Soundtüftler Tonspur um Tonspur übereinander.

Teufel oft im Detail steckt: Wenn die Testspieler Fehler ausmachen, müssen die Programmierer über die Scriptzeilen – wieder und wieder. Das macht den Zeit- und Kostenaufwand oft unberechenbar. Von der Idee bis zur Markteinführung können Jahre vergehen. Die Kosten für ein neu­ lanciertes Spiel bewegen sich schnell einmal im zweistelligen Millionenbereich.

Level-Designer entwickeln Level und Missionen.

Spezialprogramme

Drehbuchschreiber erfinden eine Geschichte und Charaktere.

3 Produktion

2 Kosten Der Designer stellt dem Geschäftsführer das Konzept vor.

1 Konzept Ein ComputerspielDesigner hat eine Idee für ein neues Spiel.

Das Kernteam entwickelt ein Konzept.

Ein Kostenplan wird entwickelt.

ie r Sp e n ei ng ) u l k ate wic E n t r Mon (vie quelle: EA; Infografik: golden section graphics; Bearbeitung: beobachter/dr

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Game-Designer skizzieren das Spielkonzept und die Steuerung.

te n ) Ko s c k ate n e o c h ei M (zw

6 Fertiges Produkt

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5 Herstellung

Handbuch

4 Testversion Testspieler prüfen die Software auf Herz und Nieren.

Coverentwurf Presswerk

Virtuelle Umgebungen

Figuren und Objekte

Marketing und Werbung

Fehler werden den Entwicklern gemeldet.

Musik und Geräusche Sprecher verleihen den Figuren eine Stimme.

Community Manager

Outsourcing Manager

Marketing Manager

Producer

Creative Director

Designer

Geschäftsführer

e h a s te) p s a n kt i o 6 Mon u d P ro bis 1 (10

Art Director

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Programmierer und Grafiker erschaffen das Spiel am Computer.

Sound Designer

Benutzeroberfläche

g, ng llun e t s u n g i e fe r u te) r e H e r b u s l na W n d A i Mo u we (z

Development Manager

Programmierer

So viele Arbeitskräfte kann ein Spiel erfordern

Game-/Story-/Map-Designer

2D-/3D-/Spezialeffekt-Designer

Spezialisten zur Qualitätssicherung



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Bendix Freutel, 41, «Second Life»: «Ego-Shooter interessieren mich nicht mehr.   Ich habe kei­ne Lust, eine von Designern vorbereite­te Sto­ry nachzuspielen.» tikern und Medien gern aufgegriffen würden, weil sie Aufmerksamkeit schaffen. In den Vereinigten Staaten sind Gewaltverbrechen von Jugendlichen in den letzten Jahren zurückgegangen, während die Videospielverkäufe explodierten. In der Schweiz sind Jugendstraftaten im vergangenen Jahrzehnt insgesamt relativ stabil geblieben. Allerdings haben Körperverletzungen und Drohungen an Stellenwert gewonnen. Ob die Zunahme bei Gewalttaten auf vermehrte Anzeigen oder eine gewalttätigere Jugend zurückzuführen ist, dar­ über zanken sich Politiker und Experten. Tatsache ist, dass zwei Promille der minderjährigen Wohnbevölkerung wegen Gewaltdelikten verurteilt wird. Gäbe es einen allgemeinen ursächli­chen Zusammenhang zwischen Action-Spielen und Gewaltbereitschaft, müsste ­die­se Zahl höher sein.

Lerneffekte für den Alltag Damit Aggressionen in konkretes Handeln umgesetzt werden, müssten Spiele die Grund­festen der Persönlichkeit verändern. Kognitive Lerneffekte hingegen greifen viel

einfacher. In einer Studie der ­University of Rochester zeigten Vielspieler von ActionGames in Tests kürzere Reaktionszeiten, ohne dass dabei Fehler häufiger wurden. Sie sind also nicht einfach schiessfreudiger, sondern verarbeiten visuelle Informatio­ nen schneller. Ausserdem trainieren die Spiele die Hand-Augen-Koordination und das räumliche Vorstellungsvermögen. Der amerikanische Psychologe Christopher J. Ferguson stellt in einer aktuel­len Studie fest, dass Action-Games sogar beim Stressabbau helfen können, und es gibt Resultate, die darauf hinweisen, dass sie bei den Spielern Selbstwertgefühl und psychisches Wohlbefinden steigern. Videogames haben zudem die wertvolle Eigenschaft, Inhalte auch einem schwer erreichbaren Zielpublikum zu vermitteln. Das Spiel «Re-Mission» wurde für krebskranke Kinder entwickelt. Roxxi, ein weiblicher Nano-Roboter, fliegt durch die Blutbahn eines Patienten und bekämpft mit verschie­denen Waffen Krebszellen und Infektionen. Roxxis Munition ist ein Krebs­ medi­kament, das nur zur Verfügung steht,

wenn der Patient seine Medikamente regelmässig einnimmt. Von der Dramaturgie und der Programmierung her ist «Re-Mission» eigentlich ein Ballerspiel. Es hilft kranken Kindern aber, zu verstehen, was in ihrem Körper vorgeht: ein Krieg gegen den Krebs. Die Einsatzmöglichkeiten in der Medizin sind vielfältig: Es gibt Spiele für Diabetiker, Asthmatiker und zur Behandlung von muskulär bedingtem Bettnässen.

Pro Helvetia unterstützt Game-Designer Der Spielemarkt boomt, mit Videogames wird ein Jahresumsatz von zehn Milliarden Dollar erreicht. Immer mehr Menschen sind beteiligt, zunehmend komplexere di­ gitale Welten zu erschaffen; Spielproduzen­ ten sind Auftraggeber für eine Vielzahl von Berufen wie Grafikdesigner, Drehbuchauto­ ren, Komponisten, Musiker und Sprecher. Zurzeit erfährt das Videospiel in der Schweiz seinen kulturellen Ritterschlag: Zu­ sammen mit dem Bundesamt für Kultur, der Musikstiftung Suisa und dem Anima­ tions­filmfestial Fantoche lanciert die Stif­ tung Pro Helvetia im Rahmen des Pro-

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gramms Game Culture eine Ausschreibung für Game-Design. 300 000 Fran­ken Fördergeld stehen für vielversprechende Entwicklungen zur Verfügung. In einer Bestandesaufnahme des ein­ heimischen Game-Schaffens zählt Pro Hel­vetia zehn nennenswerte Entwicklerstudios, von denen aber die meisten weniger als zehn Mitarbeiter beschäftigen. Trotzdem gibt es Betriebe, die inter­ national Beachtung finden, wie die Gen­ fer Firma Pixelux, deren Entwicklungen in grossen Games wie «Star Wars» verwendet werden, oder der ETH-Spin-off Procedural, der eine Software anbietet, die ganze Städte generieren kann. Viele Schweizer Entwickler wan­dern aber in Länder ab, die über eine ausgebaute Spielindustrie verfügen, wie die USA, Japan, Deutschland oder Frank­reich.

Die Grenzen zum Film verschwimmen Der Zürcher Daniel Lutz arbeitet seit Anfang Jahr in Kanada. 2009 hatte er mit in einem der ersten Jahrgänge den Bachelor in Game Design an der Zürcher Hochschule für Gestaltung und Kunst (ZHDK) abgeschlossen. «Aber ­ohne Erfahrung bei einer grossen Firma unterzukommen ist schwierig – keiner wird dich nach Übersee zum Bewerbungs­ gespräch einladen», sagt der 25-Jährige. Deshalb versuchte er sich sechs Monate als Selbständiger und entwickelte zwei iPhone-Spiele. Dann flog er auf eigene Kosten nach Kanada und stellte sich bei der Firma Electronic Arts (EA) vor – und wurde prompt angestellt. EA ist einer der drei weltweit gröss­ten Hersteller von Videogames. Seine Arbeit sei kreativ, den Begriff Künstler würde er aber für sich nicht verwenden, sagt Lutz. Sein Job verlange eher eine Tüftlermentalität: «Ich war ein miserabler Matheschüler, aber heute kann ich mich stundenlang in Algorithmen vertiefen.» Grosse Game-Produktionen kosten mitt­lerweile zig Millionen Franken und stehen punkto Aufwand jenen der Filmindustrie in nichts nach (siehe Grafik Seite 34/35). Zudem vermischen sich die beiden Medien zunehmend: Das Kino stützt seine Handlungen und Darstellungen auf Videospiele und com­ putergenerierte Bildwelten. Ein Beispiel ist der letztjährige Erfolgsfilm «Avatar». In Videospielen dagegen werden die animierten Filmsequenzen immer realistischer, wie das Psychothriller-Spiel «Heavy Rain» zeigt. Am Ende könnte

Action-Games

Unterhaltung für Erwachsene Im Kino sind Actionfilme als Unterhaltung längst akzeptiert. ­Kritisiert werden einzig Machart, Handlung und Darstellung. Ähnlich kann man auch mit ­Action-Games verfahren. Der Game-Redaktor Guido Berger stellt vier spielenswerte Titel vor. Text: Guido Berger Halo Reach Seit es Games gibt, schiessen wir Spieler auf Ausserirdische – so auch in «Halo Reach». Und dennoch ist das Spiel auf­ regend wie beim ersten Mal, als wir einige Pixel zur Explosion gebracht haben. «Halo Reach» führt eindrücklich vor, warum Shooter so erfolgreich sind: eine atemlose Achterbahnfahrt, Adrenalinrausch, bis die Knie flattern. Die erfolgreiche  «Halo»-Reihe führt auch vor, inwieweit sich Games von Filmen unter­scheiden: Es gilt die Design-Maxime «Ort vor Handlung». In der «Halo»-Welt erleben die Spieler alleine oder mit anderen ihre eigene Geschichte, ­die ­eigentlicheErzählung ist nur Schablone. Und diese Welt ist in «Halo» knallbunt, im Gegensatz zu den vielen Grau-Braun-GrünShootern. (Ab 16 Jahren, für Xbox360)

Gears of War 2 «Gears of War» verdichtet sämtliche Shooter­Klischeesin der Figur des Marcus Fenix, der vor lauter Testosteron und Anabolika so breit ist wie hoch. Marcus kämpft mit seinen Kumpeln gegen die ausserirdischen Horden der Locust. Die Geschichte einer echten Männerfreundschaft, Bromance genannt: In einer Welt der Zerstörung zählt nur noch der Freund, mit dem man im Schützengraben liegt und mit dem man auch unter schwerem Beschuss markige Sprüche austauscht. ­«Gearsof War» erlaubt entsprechend das ­kooperativeSpiel: Ein echter Freund kann ­jederzeiteine der sonst vom Computer gesteuerten Figuren übernehmen. «Gears of War» erfand das Kettensägen-Gewehr und betont den Vorteil, aus der Deckung heraus anzugreifen. Es sind weniger die schnellen Reflexe als das taktische Auge gefragt. (Ab 18 Jahren, für Xbox360)

Battlefield: Bad Company 2 Auch BFBC2 legt das Haupt­gewicht nicht auf ­schnelleAction, sondern auf Taktik. Online verbundene Teams kämpfen gegeneinander und versuchen, vorgegebene Ziele zu erreichen, wie etwa das Halten einer Stellung. Spieler wählen aus verschiedenen Rollen aus (zum Beispiel Scharfschütze) und können ausserdem Fahrzeuge wie Panzer oder Hubschrauber steuern. Die Kommunikation zwischen den Spielern ist wichtig, weil ein gut geführtes Team auch eine Übermacht von Gegnern in Schach halten kann. Keine Stellung ist dabei auf Dauer sicher, weil Hauswände zerstört werden können — ein Feature, das vielleicht selbstverständlich klingt, aber in Games nur ganz selten konsequent umgesetzt wird. (Ab 16 Jahren, für Playstation 3, Xbox360 und PC)

Stalker: Call of Pripyat Die «Stalker»-Reihe repräsentiert die «osteuropäische Schule» und glänzt mit düsterer Atmosphäre in einem grossen, frei zu erkundenden Gebiet. Das Spiel ist angesiedelt in der verseuch­ ten Zone nach dem Atomkraftwerk-Unfall von Tschernobyl. Banditen und einsame Abenteurer durchstreifen das sonst verlassene Gebiet, suchen und verkaufen Artefakte oder ver­stecken sich vor dem Gesetz. Und kämpfen gegen grausige Mutanten ums Überleben. Das Spiel aktualisiert den Film «Stalker» (1979) von Andrei Tarkowski, der schon ­sieben Jahre vor dem GAU in Tschernobyl eine Expedition in die Zone beschrieb. (Ab 16 Jahren, für PC) Guido Berger, 37, ist Fachredaktor für neue Medien bei Schweizer Radio DRS. Ausführlichere Informa­ tionen zu den Spielen und weitere Infos finden Sie in seinem Blog: http://guido.posterous.com

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Jugendschutz

Warnungen und Empfehlungen Das Pegi-System (Pan-European Game ­Information)soll Eltern beim Kauf von Computerspielen wichtige Informationen liefern. Piktogramme zeigen an, welche Inhalte im Spiel vorkommen und ab ­welchemAlter diese tolerierbar sind:

Schimpfwörter Im Spiel werden Schimpfwörter verwendet.

Diskriminierung Das Spiel ­enthältDarstellungen von   Diskriminierung.

Drogen Das Spiel zeigt   Drogenkonsum.

Angst Das Spiel ist gruselig und könnte kleine Kinder ängstigen.

Glücksspiel Das Spiel enthält Glücksspiel­elemente.

Online-Game Das Spiel kann  

Daniel Lutz, 25, Game-Entwickler: «Ich war ein   miserabler Matheschüler, aber heute kann ich mich stundenlang in Algorithmen vertiefen.»

online gespielt werden.

Sex Das Spiel zeigt Nacktheit oder stellt sexuelle Handlungen dar.

dereinst der Mitspiel­film stehen – der Unterschied zwischen Zuschauer und Mitspieler ist auf­gehoben.

15 Millionen Spieler in ihrer eigenen Welt Gewalt Das Spiel enthält   Gewaltdarstellungen.

Alter Das Spiel ist für diese ­Altersgruppegeeignet   (ab 3, 7, 12, 16 oder 18 Jahren).

Foto: Benoît Aquin/Agence Vu; illustrationen: pd

Positive Merkmale von Spielen: Ergänzend zu den Pegi-Hinweisen erarbeitet Pro Juventute derzeit eine Orientierungs­ hilfe für Eltern und Lehrer: Geplant ist ­einelaufend aktualisierte Liste von alters­ gerechten Spielen, die Spass machen   und pädagogisch unbedenklich sind. Pro Juventute folgt dabei dem Vorbild einer österreichischen Bundesstelle (Bupp), die eigens dafür geschaffen wurde. Weitere Informationen: www.bupp.at

Für Bendix Freutel ist das bereits Realität, wenn auch nur eine virtuelle. Der 41-Jähri­ ge verbringt täglich Stunden in «Second Life», einer virtuellen Welt, die 15 Millionen regis­trierte Spieler vereint. Deren Avatare kommunizieren, betreiben Handel oder – wie Freu­tel – einen eigenen Club. «Ego-Shooter interessieren mich nicht mehr. Ich habe kei­ne Lust, eine von Designern vorbereite­te Sto­ry nachzuspielen», so Bendix. In «Second Life» kann er sich seine eigene Welt ge­stal­ten, selber bestimmen, mit wem er wozu zusammen sein will. In seinem Club legen DJs auf. Dort trifft er sich mit Freunden. Zurzeit arbeitet Bendix an einem Anima­ tionsfilm, der vollständig in «Second Life» pro­duziert wird. «Meine Tochter durchstreift mit ihrem Avatar rudimentär ausgestaltete Räume. Sie erzählt mir, was sie dar-

in sieht und erlebt. Ich gestalte dann diese Räume nach ihren Vorstellungen aus. Die Idee ist, ein Märchen zu filmen, das der Phantasie ei­nes Kindes entsprungen ist.» So ein Projekt lasse sich in «Second Life» in drei Monaten realisieren, im richtigen Leben würde es Jah­re dauern. «Natürlich wünsch­te ich, das reale Leben wäre so unkompliziert wie ‹Second Life›. Aber ich bin auch so ganz glück­lich», sagt Freutel. Dass er plötzlich einen Füh­rungsjob angeboten bekommt, glaubt er nicht, obwohl: «Meine Fähigkeit ist, mich stunden-, ja monatelang einem Projekt verschreiben zu können. Das könnte auch Arbeitgeber interessieren.» «Solche Online-Spieler sind besonders erfolgsorientiert. Wer viel spielt, will in der Arbeitswelt auch eher einen Leistungs- als einen Fixlohn beziehen», so Psychologe Süss. Falls On­line-Spieler tatsächlich die künftigen Wirtschaftsführer sind, wird sich auch in einem anderen Bereich nicht viel ändern: Es gibt wenige Frauen, die viel Zeit in Strategiespiele investieren. Leadership würde also Männersache bleiben.  n