„Wenn wir die Sprache aufgeben, sind wir wie alle anderen“ Eine Welt für sich: Das Gadertal ist eins von zwei ladinischen Tälern Südtirols, seine Bewohner eine Minderheit in der Minderheit. (von Constanze Kindel)

Das Land, das es nicht gibt, ist per Bus zu erreichen, mehrmals täglich. Die enge, kurvenreiche Straße führt mitten hindurch, gleich daneben fällt der Fels steil ab, weit unten rauscht der Fluss. Beinahe fahrgastlos sind die Busse hier oft unterwegs, die Fahrer lenken mit routinierter Schweigsamkeit am Abgrund entlang, den Rosenkranz am Rückspiegel. Gleich hinter St. Lorenzen im Pustertal, beim Gasthof Palfrad, beginnt das Land, dessen Grenze eigentlich eine Sprachscheide ist: Ladinien. Das Gadertal, das sich von hier verästelt durch die Felsen zieht, ist eins von fünf Dolomitentälern rund um das Sella-Massiv, in denen sich in aller Abgeschiedenheit eine uralte Sprache erhalten hat. Entstanden vor 2000 Jahren aus einer Mischung von Rätischem und Volkslatein, unverständlich für Fremde, voller Umlautschnörkel und schlängelnder Sibilantenbögen, in jedem Tal ein wenig anders. Auf ladinisch heißt das Gadertal Badia. Nach dem ersten Weltkrieg fiel es mit den vier anderen Tälern von Österreich an Italien, sie wurden aufgeteilt, obwohl sie zusammengehörten wie die Finger einer Hand: Ampezzo und Buchenstein zur Provinz Belluno, Fassa zur Provinz Trient, Badia und Ghërdeina, das Grödner Tal, zur Provinz Bozen. Seitdem sind Südtirols Ladiner eine Minderheit in der Minderheit. Auf dem Sellajoch demonstrierten 1946 Tausende gegen die Willkür der Dreiteilung, für ein wiedervereintes Ladinien. Vergeblich. Die Nachbarn nahmen die kaum 18.000 Südtiroler Ladiner lange nicht für voll, den einen galten sie als „Krautwalsche“, die anderen betrachteten die ladinische Sprache als italienischen Dialekt. Erst 1951 wurden die Ladiner der Provinz Bozen als eigene Sprachgruppe anerkannt. Seitdem hat sich vieles verändert, und im ladinischen Kulturinstitut „Micurà de Rü“ in St. Martin in Thurn im Gadertal machen sie sich Sorgen um die Zukunft, um die Sprache, die Kultur, die Menschen. 1

Giovanni Mischi sitzt in seinem Büro im ersten Stock des Instituts und blickt ernst durch seine schmalrandige Brille: „In den letzten 50 Jahren hat sich hier mehr verändert als in den Jahrhunderten davor“, sagt der Sprachwissenschaftler. Landschaften formen die Menschen, die in ihnen leben. Die Felswände der Dolomiten sind schroffer und zackenreicher und gleichzeitig heller und feinspitziger als die anderen Berge der Alpen. Die Ladiner, sagt Giovanni Mischi, sind verschlossen, weil sie Bergbewohner sind, sind bei allem Gemeinschaftssinn große Individualisten, dabei sensibel, künstlerisch veranlagt, sehr musikalisch. Die Umwälzungen der letzten Jahrzehnte habe sich tief ins Gewebe der Gesellschaft gefressen, viele vertragen, ertragen die Veränderungen nicht. Wohl deshalb haben die Ladiner in Badia die höchste Selbstmordrate in ganz Italien, glaubt Mischi, die Statistiken verraten darüber nichts. Giovanni Mischi will die Menschen retten, in dem er ihre Sprache rettet, ihre Identität bewahrt. Das Kulturinstitut haben sie nach dem Gadertaler Geistlichen Nikolaus Bacher, genannt Micurá de Rü, der 1833 erstmals versuchte, eine für alle fünf Täler gültige ladinische Schriftsprache aufzustellen. Bis heute gibt es keine einheitliche ladinische Hochsprache, zu viele Empfindlichkeiten, meint Mischi, viele wollen nicht einsehen, dass die gemeinsame Dachsprache nicht einebnet, sondern stützt. Zehn, zwanzig Jahre brauche die Einigung wohl noch, aber sie wird kommen, weil sie kommen muss. „Wenn wir die Sprache aufgeben, sind wir wie alle anderen“, sagt Giovanni Mischi und schlägt mit einem Ruck das kiloschwere Wörterbuch auf, das er erarbeitet hat, Deutsch-Gadertalerisch, bei N wie Nacktbadestrand, spona por désnüs, und Nadeldrucker, stampanta

a aodles. Wenn die Sprache weiterleben soll, muss sie das Gewicht der Jahre tragen, das Neue einschließen. Und so sitzt Giovanni Mischi in seinem Büro und bastelt. Erfindet Wörter wie ciuciastuep, Staubsauger, und crazacil, Wolkenkratzer, und versucht, sie in das Korsett einer Sprache einzupassen, in der sie seltsam fremd erscheinen. Die dafür wörterbuchabsatzweise Ausdrücke kennt für verschiedenste Arten des Kirchenglockenläutens und für Tätigkeiten, wie es sie nur hier gibt, wie 2

siè coa, auf den Alpwiesen Gras für das erste Heulager mähen. Giovanni Mischi kämpft für die ladinische Sprache, seine Arbeit ist ihm Lebensaufgabe. Es gibt Leute, die halten ihn für einen Eiferer, zu strebsam, zu beflissen; es kümmert ihn nicht. „Es ist Glück zu wissen, was man will“, sagt er und malt mit einem Bleistift Schleifen auf die dreisprachige Gemeindesitzungsordnung. Eine Errungenschaft, wohl die bisher größte von allen, nennt er das Gesetz, mit dem Ladinisch 1988 Amtssprache wurde für Grödner und Gadertal. Alle Verwaltungstexte müssen seitdem neben Italienisch und Deutsch auch in Ladinisch abgefasst werden, und seit die Beamten eine Sonderzulage dafür bekommen, sind auch sie zufrieden mit der neuen Dreisprachigkeit. Seit ein paar Jahren gibt es ein ladinisches Museum in St. Martin, oben im Schloss, dem Ciastel de Tor, ein paar hundert Meter die Straße hinauf thront es über dem Ort. Zu Füßen der Burg führt die Straße in das kleine Campilltal, ladinisch Lungiarü, das „Tal entlang dem Bach“. Das 20. Jahrhundert kam mit reichlich Verspätung nach Lungiarü, die Straße in den gleichnamigen Hauptort gibt es erst seit 1968, bis ans Ende des Tals wurde sie erst vor zwanzig Jahren ausgebaut, als Giovanni Mischi gerade sein Studium ins Innsbruck begonnen hatte. Zwei Jahre später kam die Telefonleitung. Giovanni Mischi ist hier geboren, am Ende des Tals, wo sich zwei Handvoll Häuser an einen steilen Sonnenhang klammern: die Viles Miscì und Seres. Ladinische Weiler, aus der Zeit gefallen, bestehend aus einem halben Dutzend Paarhöfe, jedes Wohnhaus lehnt sich an einen Stall mit Holzstadel. Wie wohlgehütete Geheimnisse drängen sich die sonnenverbrannten Häuser eng aneinander, rund um einen kleinen Platz mit Brunnen, Viehtränke und Backofen. Jede Vila ist eine verwinkelt-verwunschene Welt für sich, aus Wegen, Durchgängen, kleinen Gärten, eine Trutzburg gegen den Wandel der Zeit. Die dunkel-hölzernen Viles, die aussehen wie vor 100 Jahren und deren Anfänge so alt sind wie die ladinische Sprache selbst, stehen für ein anderes Lebensmodell, sagt Giovanni Mischi, für eine Zeit, in der Gemeinschaft das höchste Gut war, in der 3

man soviel produzierte, wie man zum Leben brauchte. Nach dem Tod des Vaters hat er hier mit seiner Frau Maria den Bergbauernhof seiner Familie übernommen, aber seine beste Erbschaft, sagt er, sei sein Studium. Weitsichtig sei es vom Vater gewesen, ihn studieren zu schicken, der meinte, der Hof bleibt dir sowieso. In den Viles stehen inzwischen viele Häuser leer, vor allem die jungen Leute ziehen weg, der Arbeit wegen. Hier, auf 1400 Metern Höhe, dulden die Höfe keine Maschinen zum Mähen. Von der Landwirtschaft allein kann niemand mehr leben, das weiß Mischì, aber dem Tourismus trauen? Er will sie hier nicht haben, die Blechlawinen, die sich oben in Alta Badia durchs Tal schieben, die neuen herausgeputzten Alpenhäuser, die die alten mit ihrer Patina von Jahrhunderten ersetzen. Agritourismo, Urlaub auf dem Bauernhof, das wäre vielleicht etwas, wie bei Familie Clara in Seres. Rosalia und Nando vermieten Zimmer und Ferienwohnungen auf ihrem Hof Lüch de Vanc’ nahe den Viles. Hinterm Gartenzaun beginnt der Naturpark Puez-Geisler, und im Gästebuch der Internetseite schreiben Städter sehnsüchtig vom Wiederkommen, wenn die Krokusse blühen. Agritourismo, das wäre vielleicht etwas, aber immer öfter kommen Industrielle aus München und Mailand, die viel Geld für Grundstücke und Häuser bezahlen. „Die Heimat wird wegverkauft, Stück für Stück“, sagt Mischi, und dann legt er die Stirn in Falten und den Kopf schräg und horcht den eigenen Worten nach, als fürchte er, sie könnten gewogen und für zu schwer befunden werden. Giovanni Mischi hat Angst vor der Versuchung. In Corvara ist die Versuchung längst angekommen. Corvara in Alta Badia mit seinen barcaférestaurantgesäumten Straßen, Corvara, wo das Tal weit wird und der Fluss schmal und die Hotels „Villa Resi“ und „Villa Alaska“ heißen und die Frühstückspensionen „Angelika“ oder „Alpenrose“, ist eine Erfolgsgeschichte. Früher ein abgeschiedenes Bergdorf, heute ein Wintersport-Zentrum mit einem Spitzenplatz unter allen Südtiroler Kommunen: knapp 500 Übernachtungen pro Einwohner im Jahr. Corvara hat ein Netz von Liften und Seilbahnen über die Berge ringsum geworfen, vor dem Tourismusverein weht ein 4

vielfarbiger Fahnenstrauß, im Schaukasten hängt der Wetterbericht in englisch und international, mit lachenden Sonnen- und dickbackigen Wolkengesichtern. Im Sommer wie im Winter kommen die Touristen nach Corvara, zum Motorrad, Mountainbike, Ski fahren, manchmal nur, um sich aus dem Reisebusfenster an der grandiosen Dolomitenumrahmung satt zu sehen. Sylvester Stallone drehte hier seinen Actionfilm „Cliffhanger“, weil die Berge hier soviel majestätischer waren als die im Drehbuch vorgesehenen Rocky Mountains. Aus Corvara muss niemand weggehen. „Im Tourismus gibt es immer viel zu tun“, sagt Sylvia Willeit, die an der Grundschule von Corvara im Klassenzimmer mit Dolomitenblick unterrichtet. Einmal in der Woche steht für ihre zweite Klasse „Interlinguistica“ auf dem Stundenplan, integrierter Sprachunterricht, Deutsch, Italienisch und Ladinisch in einer Stunde. Die Idee hatte ein Schweizer Professor, „weil er es so faszinierend fand, dass wir alle drei Sprachen unterrichten.“ Ab der zweiten Klasse gilt das paritätische Unterrichtsprinzip, eine Hälfte der Wochenstunden wird in Italienisch, die andere in Deutsch unterrichtet. Für Ladinisch bleiben zwei Wochenstunden in der Grundschule, in den höheren Schulen eine. Aber wenn nach dem Läuten die Türen der Klassenzimmer aufgehen, ist es da, das Ladin. Sylvia Willeit fährt nach Schulschluss durch das ganze Gadertal zurück nach Hause nach Pfarre Enneberg, auf ladinisch La Pli di Mareo, ein winziges Dorf mit barocker Pfarrkirche in einem kleinen Seitental. Dort leben ihre Eltern, die sie auch mit 29 Jahren noch siezt, weil es Tradition ist hier, dort lebt ihre ganze Familie, bis auf einen ihrer Brüder, der nach seinem Wirtschaftstudium in Österreich und Amerika bei einer Bank in Wien arbeitet. „Er hat es geschafft, als Ladiner“, sagt Sylvia, sehr stolz und kein bisschen sehnsüchtig. Für sie kam es nie in Frage, wegzugehen aus ihrem Dorf, wo zu den Umzügen an Kirchenfeiertagen auch die Jungen noch kommen, nicht in Tracht, aber auch nicht in Jeans. „In Corvara“, sagt Sylvia, „in Corvara machen sie das doch nur noch für die Touristen, die kommen und alles filmen.“ Aus Corvara führt die Straße hinaus über den Berg ins Nachbartal Gröden. Enrosadüra nennen sie es 5

auf ladinisch, wenn die Abendsonne den Dolomiten die Röte in die bleichen Spitzen treibt. Im letzten Tageslicht kann man sie gerade noch lesen, die Worte, die ein Unbekannter an die zweite Kehre des Grödner Jochs geschrieben hat. Ein Satz nur: „Ne sté a vene tia tera, tia vita“ – verkaufe nicht dein Land, dein Leben. Oben am Ciastel de Tor in St. Martin haben sie ihn vor dem Museumseingang in den Steinboden gemeißelt. In allen fünf ladinischen Sprachen.

Kontakt Constanze Kindel [email protected]

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