WENN MENSCHEN MIT UND OHNE BEHINDERUNG GEMEINSAM IHREN GLAUBEN LEBEN

SWR2 GLAUBEN FRÖHLICH SOLL ES SEIN WENN MENSCHEN MIT UND OHNE BEHINDERUNG GEMEINSAM IHREN GLAUBEN LEBEN VON ANGELIKA HENSOLT SENDUNG 26.07.2009 /// 1...
Author: Bella Kaiser
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SWR2 GLAUBEN FRÖHLICH SOLL ES SEIN WENN MENSCHEN MIT UND OHNE BEHINDERUNG GEMEINSAM IHREN GLAUBEN LEBEN VON ANGELIKA HENSOLT

SENDUNG 26.07.2009 /// 12.05 UHR

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Für Brigitte Tesche ist heute ein großer Tag: In ihrer Gemeinde, in der evangelischen Kirche in Fellbach-Schmiden, wird Erntebittgottesdienst gefeiert. Die braunen, lang gelockten Haare hat sich die geistig behinderte Frau speziell für diesen Anlass von einer Freundin zu einem Zopf flechten lassen. Brigitte Tesche lächelt, rückt sich schnell noch ein Spängchen zurecht. Die 42-Jährige sitzt auf einer der Bierbänke, die in einer großen Scheune für den besonderen Gottesdienst aufgebaut sind. Sie strahlt übers ganze Gesicht. Eigentlich aber sitzt sie nicht, sondern sie zappelt auf und ab, winkt immer wieder Frauen oder Männern zu, die die Scheune betreten. Brigitte Tesche kennt hier viele Menschen - manche trifft sie sonntags im Gottesdienst oder beim Kirchenbasar, andere kennt sie aus dem Bibelkreis, den sie einmal pro Woche besucht:

Cut 1: „Ich kenne die von der Kirche, in die ich sonntags gehe und die Kleidersammlung, da mache ich auch mit. Und daher kenne ich ja Leutle.“

Brigitte Tesche wohnt in einer Außenwohngruppe der evangelischen Behinderteneinrichtung „Diakonie Stetten“: zusammen mit neun anderen Frauen und Männern lebt sie in dem alten Pfarrhaus, das direkt neben der evangelischen Kirche mitten in Fellbach-Schmieden, einem kleinen Ort in der Nähe von Stuttgart, liegt. Und wenn die geistig behindert Frau den Gottesdienst besuchen möchte, dann geht sie natürlich in die Kirche nebenan, in den regulären Sonntagsgottesdienst. Der Gottesdienstbesuch, sagt sie, und schaut auf einmal ganz ernst, sei ihr wichtig. Seit ihrer Konfirmation gehöre der christliche Glaube zu ihrem Leben dazu:

Cut 2: „Ich habe meinen Glauben im Konfirmandenunterricht kennengelernt. Und Schwester Barbara, so hat die geheißen, die war meine Lehrerin.“

Es ist nicht leicht, Brigitte Tesches Erzählungen zu folgen: Häufig schweift sie ab, in die Geschichte ihrer Konfirmation mischt sie Anekdoten aus ihrer Zeit in unterschiedlichen Behinderteneinrichtungen, sie zitiert Bibelstellen und wiederholt Sätze oder Wörter, die ihr besonders wichtig sind. Die geistige Behinderung sieht man der kleinen, rundlichen Frau wie den meisten anderen Mitgliedern der Außenwohngruppe zwar nicht an, aber im Gespräch wird schnell deutlich, dass die zehn Männer und Frauen eben "anders" sind als die meisten Gemeindemitglieder. Doch davon ließen sich die Schmiedener Protestanten nicht abschrecken, glaubt der Heilerziehungspfleger Detlef Kalweram, der die Außenwohngruppe leitet. Der Erntebittgottesdienst, bei dem Landwirte und Gemeindemitglieder um eine gute Ernte bitten, sei ein gutes Beispiel dafür, dass die behinderten Menschen zur Kirchengemeinde dazugehörten.

Cut 3: „Sie sind Teil der Kirchengemeinde und das empfinden sie auch, wenn sie da sind. Und dass sie dann heute auch noch spontan im Chor mitgesungen haben, war natürlich für die auch eine ganze tolle Sache. Und wenn sie jetzt gleich anfangen mit unserer Mithilfe hier bei der Hocketse dann kommen alle vorbei und sagen: Gut, dass Du das machst, gut

das ihr dabei seid. Und dann kommen sie irgendwie ganz anders da raus, dann sind sie gestärkt.“

Cut 4: Lied

Brigitte Tesche hat im Chor mitgesungen - und sie freut sich sichtlich über das Lob des Pfarrers am Ende des Erntebittgottesdienstes:

Cut 5: „Ein herzliches Dank an unsere Außenwohngruppe der Diakonie Stetten, die ja gestern auch beim Aufbau mit dabei war und sich schnell bereit erkklärt hat, mit musikalisch zu wirken“

Auch Conny Maier und Thorsten Kowalski, die neben Brigitte Tesche auf der Bank sitzen, schauen bei den Worten des Pfarrers stolz in die Runde. Der Gottesdienst in der großen Scheune am Ortsrand von Schmieden, versichern die beiden Mitglieder der Außenwohngruppe, habe ihnen sehr gefallen:

Cut 6: „Da sieht man viele Leute, mit denen man reden kann oder auch nicht. Dass wir singen durften, das hat mir sehr gut gefallen. Die Predigt hat mir gut gefallen, konnte man gut hören, ja. Und das hier Sitzen ist auch schön. Gut war’s, ich geh gerne in die Kirche.“

Bernd Friedrich ist seit vier Jahren Pfarrer in der evangelischen Gemeinde FellbachSchmieden. Einen extra Gottesdienst für Menschen mit Behinderung und einen für Menschen ohne Behinderung gibt es hier nicht. Alle feiern zusammen, sagt der evangelische Theologe und ist davon überzeugt, dass der „normale“ Gottesdienst die Mitglieder der Außenwohngruppe ebenso anspricht wie alle andere Gemeindemitglieder auch:

Cut 7: „Bei normalen Gottesdiensten hier ist natürlich der Adressat die landwirtschaftliche Bevölkerung, die Verbraucher, die Bauern, Landwirte und so weiter. Aber man kann ja anders arbeiten, gell, mit Gerüchen, mit Fühlen, mit Begreifen, mit Blumen und Dingen, die auf dem Felde wachsen, dass diese Dinge anschaulich werden. Es gibt natürlich auch

Wahrheiten, die in der Theologie natürlich auch gepredigt werden, die schwerer zu vermitteln sind: Rechtfertigung und solche Dinge Aber ich meine schon, dass wir da einiges vermitteln können.“ Auf das „Wie“ kommt es an, ist Friedrich überzeugt. Die Gottesdienste in Schmieden sollen deshalb nicht nur den Intellekt, sondern alle Sinne ansprechen: Die große Scheune ist mit Sträußen aus Blumen und Getreide geschmückt, im Gebälk zwitschern die Schwalben und der Altar ist auf einem Heuwagen aufgebaut. Das Thema der Predigt - Gottes Schöpfung und seine Gaben - können die Gemeindemitglieder auf diese Weise vor Ort besichtigen und erleben. Die Predigt habe ihr gut gefallen, sagt Brigitte Tesche nach dem Gottesdienst und fasst die für sie wichtigsten Aussagen des Pfarrers noch einmal zusammen:

Cut 8: „Was es in der Erde, das ist ja auch nicht selbstverständlich, dass da Blumen wachsen. Also der Gott hat das wirklich gemacht: Regen und Sonne und Wind.“

Dann aber hat die geistig behinderte Frau keine Zeit mehr für Gespräche: Die Arbeit ruft. Zusammen mit den anderen Mitgliedern der Außenwohngruppe ist sie beim Gemeindefest nach dem Gottesdienst verantwortlich für das schmutzige Geschirr. Und schon ein paar Minuten später steht sie - mit einer Schürze bekleidet - am Waschbecken und schrubbt die ersten Teller:

Cut 9: „Jetzt habe ich keine Zeit,. Jetzt muss ich schaffen. Das Amt machen wir in der Kirchengemeinde freiwillig. Ich habe schon viele Leute gehört: Ohne Außenwohngruppe könnten wir uns das gar nicht mehr vorstellen. Also, das heißt schon was.“

Jeder bringt sich ein mit seinen Fähigkeiten - dieses Prinzip versuchen die Mitglieder der evangelischen Kirchengemeinde umzusetzen: Die Männer aus der Gemeinde haben die Tische und Bänke für den Gottesdienst aufgebaut, einige Frauen haben die Scheune geschmückt, mehrere Ehrenamtliche verkaufen nach dem Gottesdienst Weißwurst, Bier und Wein und die behinderten Männer und Frauen spülen oder sammeln wie Thorsten Kowalski

das Geschirr ein. Mit einem breiten Lächeln schiebt sich der kleine Mann durch die Tische durch:

Cut 10: ATMO

Helga Kessler steht zusammen mit ihrem Mann in der Schlange an der Kasse und wartet auf ihre Bestellung. Sie ist Mitglied der evangelischen Kirchengemeinde und kennt Brigitte Tesche und die anderen aus der Außenwohngruppe gut:

Cut 11: „Sie sind sehr offen, gehen manchmal leichter als wie, sozusagen gesunde Menschen, auf andere zu. Und ich denke, es hilft sehr viel, um bestimmte Schwellenängste abzubauen, die man hat, wenn man nicht täglich mit behinderten Menschen Umgang hat.“

Das Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung, von Alten und Jungen, von Gesunden und Kranken, davon ist die Erzieherin überzeugt, macht das Gemeindeleben vielfältig und abwechslungsreich. Aber Kessler räumt auch ein: Nicht immer sei es leicht, Brücken zwischen unterschiedlichen Menschen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen zu bauen:

Cut 12: „Es kann schon sein, dass es für manche Probleme gebe, wenn jetzt ein schwerer Behinderter sich nicht so still am Gottesdienst beteiligt, sondern seine eigene Ausdrucksweise hat, könnte ich mir schon vorstellen, dass es da an manchen Stellen schon Unverständnis und Probleme geben könnte. Aber es liegt ja dann auch am gegenseitigen Wollen. Insbesondere dass wir diese Dinge auch mit Verständnis begleiten und manchmal einen langen Atem haben, um manches auch wachsen zu lassen. Dann wird’s schon gut werden.“

In der evangelischen Kirchengemeinde in Fellbach-Schmieden ist das Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung in den letzten Jahren gewachsen - das lässt sich im Erntebittgottesdienst, aber auch im regulären Sonntagsgottesdienst sowie in den Gruppen und Kreisen der Gemeinde erleben. Doch in vielen Kirchengemeinden sei es noch lange nicht die

Regel, dass Menschen mit Behinderung selbstverständlich ins Gemeindeleben einbezogen würden , glaubt die evangelische Pfarrerin Mirja Küenzlen:

Cut 13: „Ich würde sagen, dass immer noch der Ist-Zustand ist, dass die meisten Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht beheimatet fühlen in unseren Kirchengemeinden, weil das Angebot nicht barrierefrei ist für sie. Die Gottesdienste sind sehr wortzentriert und auch die anderen Angebote haben ja eher so die gut bürgerliche Mittelschicht im Blick.“

Immer mehr Kirchengemeinden aber müssen sich darauf einstellen, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung dazu gehören und Teil haben möchten. Denn die Behindertenarbeit hat sich verändert: Die Menschen leben nicht mehr wie früher in großen Einrichtungen am Rande der Stadt, sondern viele Behinderte wollen ein selbstbestimmtes Leben in einer eigenen Wohnung oder in einer Wohngruppe führen - mitten im Ort und damit auch mitten in der Kirchengemeinde. Inklusion heißt das Fachwort, das diese Entwicklung beschreibt:

Cut 14: „Das Wort Inklusion ist ja im Deutschen nach wie vor nicht besonders bekannt und auch nicht leicht zu übersetzen. Inklusion bedeutet einfach: Alle gehören dazu. Ne Gemeindearbeit, die sich als eine Gemeindearbeit für alle versteht, hat auch diese Menschen im Blick, die sonst eher angegrenzt sind.“

Und damit sei Inklusion weit mehr als Integration, erklärt Mirja Küenzlen, die für die beiden evangelischen Kirchen in Baden und Württemberg und ihre Diakonien ein Praxisbuch zur inklusiven Arbeit in Diakonie und Gemeinde zusammengestellt hat:

Cut 15: „Integration heißt, die Gruppe, die sich selbst als normal definiert sagt: Wir holen die anderen, die nicht normal sind, die irgendwie anders sind, rein und wir integrieren die. Das heißt aber auch, dass die, die irgendwie anders sind, sich an die Gruppengesetze und an die Norm anzupassen haben., Inklusion geht ganz anders an die Sache ran, indem man sagt: Inklusion heißt, alle gehören dazu, niemand wird integriert und jeder, jede darf so sein wie er ist und das ist in Ordnung.“

Jeder darf so sein, wie er ist. Und jeder ist ein Kind Gottes, heißt es im Johannesevangelium. Überhaupt gebe es in der Bibel zahlreiche Beweise dafür, dass Inklusion - Teilhabe - ein urchristliches Anliegen sei, meint Pfarrerin Küenzlen:

Cut 16: „Dieses im Gallaterbrief: Es ist jetzt nicht mehr Herr und Saklve, Mann und Frau, Grieche und Jude, sondern wir sind alle eins in Christus. Die wunderbaren Stellen im Korintherbrief, dass der Körper aus vielen gliedern besteht und die Hand braucht den Kopf und andersrum. Und so ist auch die Gemeinde zu verstehen, dessen Haupt Christus ist. Ich finde das eine ganze wunderbare Grundlegung, die wir da haben.“

In der Praxis aber sieht es in vielen christlichen Gemeinden anders aus. Das hat Mirja Küenzlen, die selbst eine kleine Tochter mit Down-Syndrom hat, oft erfahren. So sah der evangelische Kindergarten, in dem sie Clara anmelden wollte, keine Möglichkeit, dem Kind und seinen speziellen Bedürfnissen gerecht zu werden. Den Kindergottesdienst könne sie zwar besuchen - allerdings nur, wenn die Eltern die Tochter begleiteten. Und dass sich die Mitarbeiter auf die Bedürfnisse des behinderten Mädchen einstellen, hat Küenzlen auch dort noch nicht erlebt. Ausgrenzung und Ablehnung - das gehöre bei vielen Menschen mit Behinderung zum Alltag:

Cut 17: „Menschen mit Behinderung haben eine großer Erfahrung darin, diese Ausgrenzungserfahrungen wegzustecken oder für sich andere Wege zu finden. Da gibt es ganz unterschiedliche Bewältigungsmechanismen. Aber, sicherlich, denke ich, ist es, wenn man es in der Kirche erlebt, noch mal besonders schmerzhaft. Weil man sich doch da eigentlich so angenommen fühlen möchte, wie man ist. Das ist ja die Grundbotschaft des Evangeliums überhaupt: Dass Gott uns so ins Leben gerufen hat, wie wir sind, dass wir bei ihm so angenommen sind.“

Inklusion ist nicht nur eine Möglichkeit, die eigene, christliche Nächstenliebe unter Beweis zu stellen und sich auf diese Weise den Schwachen, den Ausgestoßenen zuzuwenden, wie es Jesus in den biblischen Geschichten immer wieder getan hat. Inklusion, betont Küenzlen, sei

keine Einbahnstraße, bei der die gesunden, vermeintlich "normalen" Gemeindemitglieder den behinderten Menschen etwas Gutes tun. Für die Pfarrerin ist Inklusion ein Geben und Nehmen, von dem beide Seiten profitieren können:

Cut 18: „Oft ist grade der Glaube und die Spiritualität von Menschen mit einer geistigen Behinderung so innig und so fröhlich, dass ich da schon ganz viel mitgenommen habe und gemerkt habe, Mensch, Du musst Dir gar nicht so den Kopf machen.“

Ein Beispiel, wie Menschen mit Behinderung ihre Spiritualität erleben: Harald Schmid ist geistig behindert, er wohnt und arbeitet in einer Behinderteneinrichtung in Ludwigsburg und spielt außerdem Klavier und Keyboard in der Brenz-Band, einer Band, die sich als Botschafter für Menschen mit Behinderung versteht und mit dem Unesco-Friedenspreis ausgezeichnet wurde. In einem Text hat sich der behinderte Musiker mit seiner christlichen Spiritualität auseinander gesetzt. Auf einem Fachtag zum Thema Inklusion, an dem Menschen mit und ohne Behinderung teilgenommen haben, hat er ihn dem Publikum vorgelesen:

Cut 19: „ Ich bin ein geistvoller Menschen. Spiritualität ist Geist. Mozart war ein geistvoller Menschen. Deswegen spiele ich Mozart auf dem Keyboard in der Brenzband. Mozart hat die schönste Musik gemacht. Da lacht mein Geist. Mozart ist mein Freund. Der Geist von Jesus lebt in mir. In der Kirche lese ich manchmal die Bibeltexte, dann bin ich ein bisschen wie Jesus. Auf der Bühne siele ich Mozart, dann bin ich ein bisschen Mozart. Am liebsten würde ich heißen: Harald Jesus Amadeus Schmid .“

Texte wie diese, davon ist Mirja Küenzlen überzeugt, ermöglichten auch Menschen ohne geistige Behinderung, einen neuen, einen unverstellten Blick auf den eigenen Glauben. Sie sprechen Wahrheiten an, die sich den meisten Christen über den Intellekt allein wohl nie erschließen würden, sagt die Theologin. Behinderte Menschen, das ist ihre Botschaft, leben und erleben Spiritualität und ihre Erfahrungen und Einsichten können eine Bereicherung für die Kirchengemeinde sein. Fragt man die Menschen mit geistiger Behinderung, was sie sich vom Gottesdienst, vom spirituellen Leben erhoffen, lernt man schnell, dass sich ihre Bedürfnisse gar nicht so sehr von dem unterscheiden, was sich wohl die meisten

Gemeindemitglieder wünschen. Diese drei geistig behinderten Männern fassen ihr Anforderungen an den Gottesdienst so zusammen:

Cut 20: „Zu einem guten Gottesdienst gehört für mich eine gewisse Gemeinsamkeit, eine gewisse Freunde, ein guter Gottesdienst ist für mich ein Stück Familie. / Dass er für den Glauben da ist, mit Versen oder mit Fürbitten vorlesen. / Also, ich geh ab und zu in die Kirche in den Gottesdienst und höre immer so gerne das Orgelvorspiel und das Orgelnachspiel, wenn der Gottesdienst vorbei ist.“

Doch wenn Menschen mit und ohne Behinderung miteinander Gottesdienst feiern - bleibt da nicht einer von beiden auf der Strecke? Werden die Behinderten nicht überfordert und die Nicht-Behinderten unterfordert? Wird das Ganze nicht entweder zu intellektuell oder zu kindisch? Unsinn, sagt Mirja Küenzlen:

Cut 21: „Ich denke auch nicht, dass der Anspruch, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung an jedem Punkt im Gottesdienst alles verstehen müssen. Das tun so genannte Nicht-Behinderte ja auch nicht, sondern ich nehme mir im Gottesdienst ja ganz bestimmte Sachen mit nach Hause.“

Und in erster Linie geht es den Menschen mit Behinderung darum, im Gottesdienst und in der Kirchengemeinde Gemeinschaft mit Menschen ohne Handicap zu erleben, betonen diese beiden geistig behinderten Männer:

Cut 22: „Ich finde, behinderte gehören genauso integriert. Jeder Mensch hat Gaben von Gott gekriegt um ihn zu loben und zu preisen. Der eine spielt Gitarre, der andere singt gut. Selbst Leute mit Behinderungen hat Gott Gaben gegeben. / Ich feiere gerne mit den gesunden Menschen, weil’s einfach mir Spaß macht und da hat man was davon, wenn die auch dabei sind. Da bringt das bisschen Leben rein und natürlich die Fröhlichkeit dazu.“

Inklusion bedeutet nicht, dass alle immer das gleiche machen müssen: Ein geistig Behinderter muss nicht den gleichen theologischen Fachvortrag besuchen wie ein emeritierter Soziologieprofessor. Ein Maschinenbauer hat vielleicht weniger Lust am gemeinsamen Tanzen als eine Kinderkrankenschwester und in der Strickgruppe für Senioren fühlt sich eine junge Mutter wohl weniger angesprochen. Nicht nur Menschen mit und ohne Behinderung, sondern auch alte und junge Menschen, Singles oder Allein erziehende wünschen sich in ihrer Kirchengemeinde Angebote, die speziell auf sie zugeschnitten sind und Gruppen und Kreise, in denen ihre Themen zur Sprache kommen:

Cut 23: „Es gibt ja unterschiedliche Interessen und es wird in so einer Gemeinde auch unterschiedliche Gruppierungen geben. Aber mein Traum wäre es, dass in so einer Gemeinde trotzdem Begegnung zwischen einzelnen Gruppen stattfindet, wirkliche Begegnung. Und dass es wirklich normal ist, verschieden zu sein.“

In der Gesellschaft insgesamt, aber auch in den meisten Kirchengemeinden, beäugen sich die unterschiedlichen Gruppen eher misstrauisch und wissen oft nicht, wie sie miteinander umgehen sollen. Darf ich einen geistig Behinderten, der im Gottesdienst laut ist, auffordern, etwas leiser zu sein? Solche und ähnliche Fragen tauchen auch in der Kirchengemeinde von Mirja Küenzlen immer wieder auf:

Cut 24: „Darf man was dazu sagen oder muss man Menschen mit Behinderung mit Samthandschuhen anfassen und nur freundlich sein. Das ist jetzt grade bei uns in der Gemeinde so ein Lernprozess, wie’s einfach ist, normal miteinander zu sein.“

Normal miteinander umgehen - das lernen die Schülerinnen und Schüler der Torwiesenschule in Stuttgart jeden Tag aufs Neue: In die Einrichtung der Diakonie Stetten gehen Kinder mit und ohne Behinderung. Es gibt zwar keine gemeinsamen Klassen, aber regelmäßig haben die Kinder miteinander Unterricht und auch im Schulalltag gibt es viele Berührungspunkte. Der erste ist morgens früh um neun: Vor der ersten Schulstunde kommen die Kinder jeden Tag zur Andacht zusammen:

Cut 25: ATMO

Einige der Kinder sitzen im Rollstuhl und müssen geschoben werden, andere brauchen Hilfe, um ihren Platz zu finden. Manche der Kinder rennen in den großen Raum, in dem vorne ein Altar aufgebaut ist, manche bleiben erstmal eine Weile an der Türe stehen und mischen sich nur zögernd unter die anderen Kinder. Etwa ein Drittel der insgesamt 80 Grundschüler ist behindert. Einige sind schwer mehrfach behindert, ein Mädchen kann weder sprechen noch selbstständig atmen und braucht die ganze Zeit über eine Betreuerin an ihrer Seite, viele der Schüler haben Down-Syndrom, manche sind körperlich und geistig beeinträchtigt:

Cut 26: „Schön, jetzt sind alle da. Ich wünsche euch allen einen guten Morgen!“

Schulleiterin Martina Hess, die die Andacht hält, begleitet ihre Worte mit den passenden Gebärden - so fällt es vielen Kindern leichter, zu verstehen, was sie sagt. Ein Pfarrer, der seine Predigt hält und dazu die passenden Gebärden macht? In den allermeisten Kirchengemeinden ist das noch immer undenkbar. In der Torwiesenschule gehört das Gebärden zu jeder Kommunikation dazu: Zum Sprechen, zum beten, zum Sinn. Die Torwiesenschule ist eine inklusive Schule - die gemeinsame Andacht ist Teil des Schulkonzept, erklärt die Schulleiterin:

Cut 27: ATMO

Während die Schulleiterin die heutige Geschichte erzählt - sie handelt von Abraham und Sara - bezieht sie die Kinder immer wieder mit ein: sie dürfen sich mit Abraham gemeinsam auf den Weg in die neue Heimat machen, sie dürfen mit ihm und seiner Frau die Ankunft feiern und vor Freude tanzen:

Cut 28: ATMO

Und dann hüpfen behinderte und nicht-behinderte Kinder im Kreis umher - und wenn eines der Kinder aus dem Takt kommt, dann ist das nicht weiter schlimm: Mit einem festen Händedruck sorgt der Kreisnachbar – ein anderes Kind oder eine der Lehrerinnen – rasch dafür, dass niemand zu lange aus der Reihe tanzt. Es gibt kein Geschrei, keine Drängelei und

kein Geschubse, im Mittelpunkt steht der gemeinsame Freudentanz, den die Kinder im Publikum begeistert beklatschen. Behindert oder nicht-Behindert? Das spielt in der Andacht keine Rolle, sagt Martina Hess:

Cut 29: „Wenn ein behindertes Kind mit aufsteht und will mitmachen, da gibt’s keine zurückweisende Reaktion. Das ist ganz selbstverständlich, dass die mitmachen und diese gelebte Gleichwertigkeit so deutlich wird.“

Inklusion, Teilhabe, Gleichberechtigung - das lernen die Kinder in der Torwiesenschule von Anfang an. Sie sehen, dass es unterschiedliche Menschen gibt: Kinder, die schnell rennen können und Kinder, die im Rollstuhl nur schwer hinterherkommen. Kinder, die den Liedtext rasch auswendig lernen und Kinder, die den Liedtext zwar nicht mitsingen können, bei denen die Gebärden dazu aber spielerisch leicht und elegant aussehen. Schüler, die Hilfe brauchen und Schülerinnen, die anderen helfen können. Ein Erkenntnisgewinn, von dem alle profitieren, glaubt die Schulleiterin. Aber sie weiß auch, dass die Gemeinschaft von Kindern mit und ohne Behinderung meist noch die Ausnahme ist. In ihren örtlichen Kirchengemeinden zum Beispiel machen die Kinder wohl andere Erfahrungen, vermutet sie. Bisher fehle es dort oft noch an Gelegenheiten, miteinander in Kontakt zu kommen, sagt sie. Dabei gebe es durchaus Möglichkeiten, Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung in der Kirchengemeinde zusammen zu bringen:

Cut 30: „Ein Andockungspunkt, den ich mir gut vorstellen könnte, ist wenn unsere Schüler ins Konfirmationsalter kommen. Viele Kirchengemeinden sind inzwischen offenerer, auch die behinderten Kirchengemeindemitglieder mit in den Konfirmandenunterricht aufzunehmen oder zumindest an der Konfirmation teilhaben zu lassen. Also ich denke, in dem Alter wäre das dann mal ein guter Anknüpfungspunkt.“

Und wenn die geistig behinderten Kinder aus der Torwiesenschule irgendwann ganz selbstverständlich in ihrer Kirchengemeinde im Konfirmandenunterricht neben den Jungen und Mädchen ohne Behinderung sitzen, gemeinsam mit ihnen beten, singen und diskutieren und am Ende auch zusammen konfirmiert werden, dann wäre das für Martina Hess ein Beweis dafür, dass die inklusive Arbeit ihrer Schule in die Gemeinden hineingewirkt hat. Bis

dahin aber wird noch einige Zeit vergehen - Zeit, in der Martina Hess und ihre Kollegen täglich neu ausprobieren werden, wie das funktionieren kann mit der Teilhabe, mit der Gemeinschaft von Menschen mit und ohne Behinderung. Die Andacht, die miteinander erlebte christliche Spiritualität, ist für Hess dabei ein wichtiger Teil. Natürlich, räumt sie ein, sei auch hier noch nicht alles perfekt, täglich bestehe die Gefahr, Kinder zu über- oder zu unterfordern:

Cut 31: „Mit diesem Risiko leben wir und es wird immer so sein, dass es immer mal ne Andacht gibt, die mehr die eine Personengruppe anspricht und stimmiger ist und mal eher die andere. Das wird immer so sein. Und mit dieser Spannung müssen wir leben. Aber da das Ganze ja eine Art Feier ist, wo man jeden Tag Geborgenheit, Zugehörigkeitsgefühl, Wertschätzung, Respekt, eigentlich Liebe erlebt – das sind ja die Dinge, die kann man niemanden wegnehmen. Und die finden jeden Tag statt. Und insofern hat jeder jeden Tag auf jeden Fall Grundanteile, die ich sehr wertvoll finde.“

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