Welche Statistik braucht das 21. Jahrhundert?

Workshop der Deutschen Statistischen Gesellschaft Ausschuss für Unternehmens- und Marktstatistik sowie der Stiftung Brandenburger Tor „Welche Statist...
Author: Hanna Holtzer
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Workshop der Deutschen Statistischen Gesellschaft Ausschuss für Unternehmens- und Marktstatistik sowie der Stiftung Brandenburger Tor

„Welche Statistik braucht das 21. Jahrhundert ? “ Berlin September 2003

Korreferat zu dem Beitrag von Henning Ahnert (EZB)

Elmar Stöß Deutsche Bundesbank

1) Einleitung

Ausrichtung des Referats von Henning Ahnert: europäische bzw. EWU-Wirtschaftsstatistik

Aufgabe meines Beitrags: Kommentierung des Referats sowie darüber hinaus auch eigene Anmerkungen zur Thematik.

Diese Aufgabe ist durch verschiedene Ambivalenzen geprägt:



EZB-Vertreter versus BBk-Vertreter



EZB vor allem in der Rolle als anfordernde Stelle von Statistiken versus BBk, die sich eher als Produzent von Primärdaten versteht. Dadurch resultiert u.U. ein unterschiedliches Verständnis bzgl. der Kosten/Machbarkeit von Statistiken.



große versus kleine Länder Deutschland kommt besondere Rolle/Verantwortung zu: ohne D kein EWU-Aggregat möglich. D oft als „Bremser“ bei neuen Datenanforderungen fungierend ! warum ? (bereits etabliertes Statistiksystem, Belastung von Unternehmen)



Produzent versus Nutzer (eigene Erfahrungen: seit 4 Jahren auch Produzent einer Statistik – gesamtwirtschaftliche Finanzierungsrechnung. Von daher Belange des Nutzers und des Produzenten im Blick)

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2) Anmerkungen zum Referat Kein Zweifel: durch die Schaffung der Währungsunion ist Euro-Raum in Vordergrund gerückt; das gilt insbesondere auch für die Wirtschaftsstatistik. Einheitliche Geldpolitik benötigt adäquate Datengrundlagen. Ahnert gibt Überblick über verschiedene Aspekte der Wirtschaftsstatistik des Euro-Raum aus dem Blickwinkel der EZB. Meine Ergänzungen zum Referat sowie eine nähere Beleuchtung einiger kritischer Punkte möchte ich an Hand von drei Fragen vornehmen: Welche Statistiken sind vorhanden und wie sind sie entstanden ? Woran mangelt es ? Welche Anforderungen sind an europäische Daten zu stellen ? Zu 1: Welche Statistiken sind vorhanden und wie sind sie entstanden ? •

Bestandsaufnahme des inzwischen Erreichten (siehe EZB-MB April 2001 und April 2003): Verbesserungen bei HVPI, VGR, Konjunkturdaten (Industrieproduktion Erzeugerpreise, Löhne, Beschäftigung), Konjunkturumfragen...



Katalysatoren der Verbesserungen waren Einheitlicher Binnenmarkt Maastricht-Vertrag (Konvergenzkriterien) Vorarbeiten vor EWU und Arbeiten nach Eintritt in Währungsunion (EWI, EZB, WA, WFA, ECOFIN-Rat)

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Datenproduzenten für die europäische Statistik: Eurostat /

EZB

(enge Zusammenarbeit gemäß EU-Vertrag, Memorandum of Understanding)

Reale

/

monetäre Statistiken

In gemeinsamer Verantwortung von Eurostat und EZB erstellt: Finanzierungsrechnung Zahlungsbilanz

Zulieferer für Eurostat und EZB: Nationale Statistische Ämter und Notenbanken Problem: Kosten der Datenproduktion – wer trägt sie ? („wer anschafft, zahlt !“)



ESVG 95: einheitliches Konzept für nahezu alle Primärdaten – wesentliche Grundlage für den Aufbau der europäischen Statistik. Seit Frühjahr 1999 bindend. Problem: Existenz eines solchen Konzeptes kann „perfekte“ Umsetzung nicht garantieren. Bei der Entwicklung des ESVG stand Machbarkeit bzgl. Primärdaten nicht im Vordergrund. Zudem zahlreiche Statistiken nicht auf sektorale Gliederung ausgerichtet.

Zu 2: Woran mangelt es ? Detaillierte „Mängellisten“: Aktionsplan (2000) und WEWI (2002) (vgl. Übersicht 1 und 2) Besonders betont werden: Dienstleistungen sowie sektorale VGR (auf Quartalsbasis)

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Übersicht 1

Rechtsinitiativen im Rahmen des WWU-Aktionsplans Bereich Vierteljährliche Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung

Vierteljährliche öffentliche Finanzstatistik Arbeitsmarktstatistik

Konjunkturstatistik

Hauptsächliche Änderung • Verkürzung der Meldefrist auf 70 Tage • Zusätzliche Daten zu den geleisteten Arbeitsstunden • Zusätzliche Konten für einige institutionelle Sektoren (private Haushalte, nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften usw.) • Erstellung nichtfinanzieller und finanzieller Konten für die öffentlichen Haushalte (Staat) • Schaffung einer Rechtsgrundlage für den Arbeitskostenindex mit Verbesserung des Erfassungsgrades, der Aktualität und der Vergleichbarkeit • Festlegung einer Frist für die Einführung laufender Arbeitskräfteerhebungen • Festlegung harmonisierter statistischer Definitionen zur besseren Vergleichbarkeit • Gegebenenfalls Änderung der Verordnung (z.B. zusätzliche statistische Daten zu den Einfuhrpreisen)

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Übersicht 2

Wichtige Europäische Wirtschaftsindikatoren Indikatoren für das Euro-Währungsgebiet Indikatoren der Verbraucherpreise HVPI: Vorausschätzung HVPI: Endgültige Indizes Vierteljährliche Volkswirtschaftliche Gesamtrechung Erste BIP-Schätzung Erste Veröffentlichung von BIPDaten mit genauer Aufschlüsselung Konten der privaten Haushalte und Unternehmen Statistik zur Finanzlage der öffentlichen Haushalte Konjunkturindikatoren Index der Industrieproduktion Industrieller Erzeugerpreisindex (Inlandsabsatz) Index der Auftragseingänge in der Industrie Einführungspreisindex Produktion im Baugewerbe Umsatzindex für den Einzelhandel und Reparaturarbeiten Umsatzindex für Dienstleistungen Erzeugerpreisindex für marktbestimmte Dienstleistungen Arbeitsmarktindikatoren Arbeitslosenquote Quote der offenen Stellen Beschäftigung Arbeitskostenindex Außenhandelsindikatoren Handelsbilanz

Periodizität Geplante (m = monatlich; Veröffentvj = vierteljährlich) lichung

Tatsächliche Veröffentlichung (Ende 2002)

M M

0 17

0 17

Vj

45

n.v.

Vj

60

70-120

Vj

90

n.v.

Vj

90

n.v.

M

40

48

M

35

35

M M m/vj

40/50 45 45

n.v. n.v. 75

M

30

60

Vj

60

n.v.

Vj

60

n.v.

M Vj Vj Vj

30 45 45 70

30 n.v. 100 90

M

45

50 6

Zu 3: Welche Anforderungen sind an europäische Daten zu stellen ? Nicht zuletzt ergeben sich aus den Kriterien, die man an europäische Daten stellt, die oben aufgelisteten Mängel: •

Vergleichbarkeit zwischen EWU-Ländern (zumindest gibt es hier ein einheitliches Konzept: ESVG 95) und mit den USA (hier Vergleiche oft schwierig: siehe Beispiel Konsumquote)



Aktualität (Druck durch Finanzmärkte und Veröffentlichungsrhythmus in den USA)



Erfassungsgrad ökonomisch relevanter Sachverhalte (vgl. Dienstleistungen, Teilzeit...)



Konkrete Umsetzung des ESVG 95



Konsistenz zwischen verschiedenen Datensätzen



Revisionsanfälligkeit usw. ….. (Diskussion um Qualität von Daten scheint neu entfacht, vgl. dazu Mai 2004: Kongress in Mainz)

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3) Ausgewählte Probleme der Wirtschaftsstatistik •

Schwierigkeiten der internationalen Vergleichbarkeit von Daten ¾ Sparquoten privater Haushalte: z.T. irreführende Publikationen internationaler Organisationen (vgl. Übersicht 3) ¾ EWU versus USA: Sektoren unterschiedlich definiert (vgl. Übersicht 4)



Sektorenabgrenzung gemäß ESVG 95: Zuordnungs-/Erfassungsprobleme Beispiele: „öffentliche Unternehmen/Staat“, „Holdings“ Meldestellen (für unterschiedliche Statistiken) haben i.d.R. Schwierigkeiten, dass richtige sektorale Zuordnung vorgenommen wird.



Sektorale VGR auf Quartalsbasis (vgl. Übersicht 5) ¾ Nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften: Zuverlässigkeit der Quartalsdaten u.U. begrenzt, da kaum originäre Quartalsinformationen vorhanden. ¾ Verbindung von VGR mit Finanzierungsrechnung unbedingt notwendig: um die Konsistenz beider Rechenwerke und damit auch deren Qualität sicherzustellen, aber auch um Analyse zu verbessern (z.B. Investitionen und Verschuldung von Unternehmen; Vermögenseffekte bzgl. privater Verbrauch)



Betriebliches Rechnungswesen ¾ Informationsgehalt für Wirtschaftsstatistik ? (Umsatz, ..., VGR) ¾ Zu wenig genutzt ! Situation in Deutschland (Daten in den Unternehmen an sich vorhanden, aber trotz Vorschriften nicht eingefordert bzw. zentral aufbereitet) deutlich schlechter als z.B. in Frankreich ¾ IAS: nur börsennotierte Unternehmen (Auswirkung auf Statistik wird derzeit von Eurostat und EZB intensiv diskutiert) ¾ Internationale Vergleichbarkeit von Jahresabschlüssen generell schwierig

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Übersicht 3

Sparquote privater Haushalte im internationalen Vergleich *) (Angaben für das Jahr 2002) Länder

Quelle: EU- Kommission 1)

Quelle: OECD 2)

Deutschland

15,6

10,4

Spanien

10,3

10,6

Frankreich

15,9

11,9

Italien

15,5

15,8

Niederlande

14,6

13,1

5,1

5,1

12,3

8,0

4,0

3,7

Großbritannien Schweden USA

*) in % des verfügbaren Einkommens. - 1) Bruttokonzept. 2) Netto- und Bruttokonzept gemischt.

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Übersicht 4

Abgrenzung der Sektoren private Haushalte und nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften in der EWU und in den USA

EWU (ESVG 95)

Private Haushalte • einschl. Einzelkaufleute und Freiberufler

• Investitionen >0 USA • enge/weite (SNA 93 ?) Abgrenzungen

Nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften • einschl. Personengesellschaften (sog. QuasiKapitalgesellschaften) • i. d. R. nur Kapitalgesellschaften

• eng: ohne noncorporate sector • weit: einschl. noncorporate sector • keine Investitionen lt. VGR (NIPA) (anders in der FinR der Fed)

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Außenfinanzierung z.B. Aktien z.B. Kredite --------------------------Nettogeldvermögensbildung

Geldvermögensbildung z.B. Einlagen z.B. Aktien

Statistische Differenz

Sachvermögensbildung u. Sparen Nettoinvestitionen Nettozugang an nichtpr. VG Sparen und VÜ -----------------------------Finanzierungssaldo

Positionen Staat

MFI's

Versicherungen/ Sonstige PensionsÜbrige Finanzinstitute einrichtungen Welt

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Übersicht 5

Im Idealfall sollten Finanzierungssaldo und Netto-Geldvermögensbildung identisch sein. Um eine statistische Differenz zu vermeiden, ist eine enge Abstimmung von VGR und FinR erforderlich.

Private Haushalte

Nichtfinanzielle KapitalgesellSchaften

Sektorale VGR - Verbindung mit der Finanzierungsrechnung

4) Fazit

Ausgewählte Beispiele zeigen, dass gravierende Schwachstellen der internationalen Wirtschaftsstatistik vorhanden sind – es gibt also noch viel zu tun – aber: Statistik kann kaum 1:1-Abbild der Realität sein, sondern nur Versuch, die Realität zahlenmäßig abzubilden. Perfekte Umsetzung von ESVG 95 kaum möglich. Was bedeutet die (vermutlich) fortschreitende Globalisierung im 21. Jahrhundert ? Gerade im Unternehmensbereich (nichtfinanzielle und finanzielle Sektoren) ist mit starken Veränderungen zu rechnen (durch verstärkte Privatisierungen, wechselnde Holdingkonstruktionen, zunehmende Bedeutung von Leasing....). Daraus können neue Verwerfungen (Schwierigkeit der Sektorenabgrenzung...) für die Datenqualität und die wirtschaftspolitische Analyse resultieren. Wie damit umgehen ? Offensive oder defensive Informationspolitik ? Produzenten sind oft zu defensiv und betonen die Probleme der Daten ! Nutzer: sie übergehen gerne alle Probleme, da sie vornehmlich an der Auswertung und der Produktion von Veröffentlichungen interessiert sind. Aber: eine gute Interpretation der Daten verlangt gründliches Wissen um Schwächen der Statistik – „ex falso quodlibet“ ! Lösungen ?? Verbesserte Kommunikation zwischen beiden Seiten notwendig........ Workshops wie dieser gehen in die richtige Richtung, freilich müssten die Nutzer noch wesentlich intensiver mit einbezogen werden; den Nutzern muss klar werden, dass „Statistik“ durchaus „prickelnd“ sein kann.

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