1. Einleitung Als Antwort auf einen Brief an Sten Nadolny, in dem das Thema dieser Arbeit vorgestellt wurde, verbunden mit der Bitte um Stellungnahme zu seinem persönlichen theoretischen Verständnis von Poetik über die Münchener Poetik-Vorlesung hinaus, schreibt er: „...ich selber könnte eine solche Arbeit nicht schreiben – nach der Regel, daß der Tausendfüßler besser nicht über das Bewegungsgesetz seiner Füße nachdenke, sonst bricht er sich alle tausend.“1 Trotz solcher Bedenken, durch das Nachdenken über die eigene Tätigkeit den kreativen Schaffensprozess ernsthaft zu gefährden, hat sich Nadolny bereits intensiv mit seiner eigenen Autorschaft auseinandergesetzt und diese Überlegungen auch veröffentlicht. Im Rahmen dieser Arbeit soll aus der Zusammenschau der Veröffentlichungen das Bild nadolnyscher Poetik nachgezeichnet werden, verbunden mit der Überprüfung, ob es sich dabei tatsächlich um eine Autorpoetik, wie sie unten definiert wird, handelt und inwieweit diese sich nicht nur aus seinen theoretischen Äußerungen ergibt, sondern auch aus den Romanen werkimmanent ablesbar ist. Zunächst besteht also die Notwendigkeit der Definition des Begriffs der Autorpoetik. In Kapitel 2, in dem ausgewählte poetologische Positionen vorgestellt werden, wird ebenfalls auf die Autorpoetik eingegangen, besonders in Hinsicht auf den Wandel im Umgang mit Theorien zur Dichtkunst, also in Abgrenzung zu einem allgemeinen Poetikbegriff. Ohne zu sehr vorzugreifen, soll hier geklärt werden, was sich mit Autorpoetik verbindet. Begründet wurde die Gattung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts durch Edgar Allan Poe, der die Entstehung seines Gedichtes The Raven analysiert. In Deutschland gewinnt die Gattung der Autorpoetik nach dem zweiten Weltkrieg an Popularität.2 Im Unterschied zu Poetiken, die meist von Theoretikern als Leitfaden für Schriftsteller konzipiert sind und die zum Zwecke der Produktion guter Literatur Regeln aufstellen, die sie aus der Analyse des in der jeweiligen Tradition verankerten Kanons der besten Werke gewonnen haben, beziehen sich die Autorpoetiken, die sich aus mehreren unterschiedlichen Zeugnissen eines Autors zusammensetzen können, ausschließlich auf das autoreigene Werk. In ihnen werden keine allgemeingültigen Regeln aufgestellt, sondern sie ermöglichen einen Einblick in die individuelle Vorstellung der Autorentätigkeit. Man könnte kritisch anmerken, dass jeder 1

Sten Nadolny, eMail vom 3. Juli 2001. Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie (im Folgenden: LitKult), hrsg. v. Ansgar Nünning, 2., überarbeitete und erweiterte Aufl., Stuttgart/Weimar 2001, S. 39. 2

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Autor Kommentare zu seinem Schreiben abgibt, entweder öffentlich oder privat, z.B. in einem Tagebuch, womit eine unübersehbare Anzahl von Autorpoetiken entstünden, die zudem ständig durch neue Aussagen ergänzt würden. Daher ist es wichtig zu betonen, dass zu Autorpoetik nur „abgeschlossene Äußerungen von Autoren über ihre Schreibverfahren“3 zählen. Die Form der Äußerungen kann allerdings variieren. Werkstattberichte gelten ebenso wie poetologische Essays oder Poetikvorlesungen als Autorpoetik. Wenngleich diese Selbstreflexionen keine bindende Bedeutung für Dritte haben, leisten sie doch einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der entstehenden Werke und zur Nachvollziehung des Selbstverständnisses der Autoren, das in besonderem Maße eine Reaktion auf die historische Situation darstellt. Autorpoetik bezeichnet also selbstreflexive, auf eigene Textherstellungsverfahren bezogene, auf Allgemeingültigkeit bewusst verzichtende, in sich abgeschlossene Überlegungen eines literarisch tätigen Autors. Da durch die strikte Trennung der Werkanalyse vom theoretischen Teil die Gefahr allzu häufiger Wiederholungen besteht und zudem die Anschaulichkeit sowie der direkte Bezug eines Textzitates verloren ginge, werden in Kapitel 3, in dem Nadolnys Autorpoetik im Mittelpunkt steht, Zitate aus Romanen direkt mit der Theorie verknüpft. Wo es sinnvoll scheint, werden die Textstellen aus den Werken an den Anfang eines Unterkapitels gestellt, um von ihnen ausgehend den poetologischen Standpunkt des Autors zu entwickeln. Dieses Verfahren lässt sich jedoch nicht auf alle Aspekte gleichermaßen anwenden. Insgesamt wird versucht, möglichst vielen Aussagen, die in den poetologischen Schriften getroffen werden, ein Romanzitat an die Seite zu stellen. Ein solches Bemühen, die Deckungsgleichheit von poetologischen Aussagen des Autors und Äußerungen seiner fiktiven Figuren bzw. das Durchscheinen der autoreigenen Positionen zu Problemen des Produktionsprozesses und der Konstruktionsverfahren innerhalb der Fiktion zu beweisen, erklärt sich aus der Annahme, dass ein Autor sich immer selbst in seinen Texten zeigt. Die folgenden Äußerungen Nadolnys über das Schreiben sind Gegenstand der Untersuchung: 1990 hält er seine erste Poetik-Vorlesung Das Erzählen und die guten Absichten in München, zehn Jahre später spricht er erneut vor einem Plenum in Göttingen über seine Autorschaft unter dem Titel Das Erzählen und die guten Ideen. Beide Vorlesungen erscheinen nachträglich in bereinigter Form als Buch. Dazwischen hält er mehr oder weniger kurze

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Ebd. S. 38.

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Vorträge zu diesem Thema, die ebenfalls in gedruckter Fassung vorliegen. In der Hauptsache handelt es sich dabei um die Vorträge Roman oder Leben -? Diesseits und Jenseits des Schreibens von 1993, Zeitgemäße Literatur – Wunschziel, Unding, Selbstverständlichkeit, ebenfalls 1993 und Was heißt hier Chancen? von 1997. Außerdem werden seine bisher erschienenen fünf Romane miteinbezogen: Netzkarte (1981), Die Entdeckung der Langsamkeit ( 1983), Selim oder Die Gabe der Rede (1990), Ein Gott der Frechheit (1994) und Er oder Ich (1999).

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2. Ausgewählte poetologische Positionen In diesem Kapitel soll zunächst ein knapper Überblick über poetologische Konzepte gegeben werden, die unterschiedliche Beiträge zum Verständnis von Poetik geleistet haben. Es wird nicht der Anspruch erhoben, neue Erkenntnisse zu formulieren, es soll lediglich versucht werden, das Thema der Autorpoetik sinnvoll in den Komplex Poetik einzubetten. Aus den vielen Arbeiten zur Geschichte der Poetik wurde hauptsächlich Werner Jungs Kleine Geschichte der Poetik4 herangezogen. Falls keine gesonderte Quellenangabe erfolgt, stützen sich die folgenden Ausführungen auf dieses Werk. Poetik wird hier als Versuch der überindividuell ausgerichteten wissenschaftlichphilosophischen Bestimmung und der systematischen Abhandlung des Wesens, der Formen und Gattungen der Literatur verstanden. Die Verfasser der Poetiken sind daher seit der Antike in erster Linie Ästhetiker, Philosophen oder Literaturtheoretiker. Horaz bildet die große Ausnahme, der seine De arte poetica als Brief im Rahmen eines umfassenderen Werkes schreibt. Eine selbständige „Abhandlung“, seit Quintilian als Ars poetica bezeichnet, wird erst bei späteren Herausgebern daraus. Die erste systematische Poetik schreibt Aristoteles 330 v.Chr..5 Auf ihn berufen oder beziehen sich sehr viele der danach entstandenen Schriften. Seine Poetik geht noch den Weg der Deskription des Vorhandenen; er leitet daraus aber schon eine Art Regelsystem ab, und vor allem erstellt er eine Gattungshierarchie innerhalb der Literatur. Sein Vorbild bleibt sehr lange präsent und das Muster des Regelkanons, verstanden als Dichtungslehre, setzt sich in der Tradition der Poetik bis weit in die Neuzeit hinein durch, gestützt durch die zweite große spätantike Schrift zur Dichtkunst, der Ars poetica von Horaz. Prägend wirkt Horaz dabei vor allem durch sein Postulat des „aut prodesse volunt aut delectare poetae“6, wonach Dichtung nie losgelöst von moralischen oder vernünftigen Zwecken zu betrachten ist. Auch seine Bestimmung von Verstand und Gefühl als Grundantinomien der Dichtung soll die weitere poetologische Diskussion nachhaltig beeinflussen.7

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Werner Jung, Kleine Geschichte der Poetik (im Folgenden: KGdP), Hamburg 1997. Der deutsche Titel lautet entweder Über die Dichtkunst bei W. Jung, KGdP, S. 11 oder Poetik bei Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982. 6 Horaz, De arte poetica, V. 333, zitiert nach: Kindlers Literatur Lexikon, einmalige zwölfbändige Sonderausgabe, Zürich 1970, Bd. 3, S. 2371. 7 Ebd. 5

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Der normative Charakter der im Übrigen durchaus unterschiedlichen Poetiken dominiert bis ins 19. Jahrhundert. Von besonderem Einfluss erweist sich dabei die humanistische Vorstellung von der Vorbildlichkeit des antiken Menschenbildes und der antiken Dichtung, die sowohl antiken Autoren als auch die – vor allem bei Aristoteles durchaus zum Teil rein historisch-deskriptiv getroffenen – poetologischen Postulate zu zeitlos gültigen Mustern erhebt. „Dichtung war primär nicht Wiedergabe persönlicher Erfahrungen, sondern die Auseinandersetzung mit den durch die Tradition vorgegebenen Inhalten und Formen.“8 Die Poetiken des französischen Klassizismus wie auch die des deutschen Barock und der Aufklärung belegen dies eindrücklich. Die erste einflussreiche Poetik in deutscher Sprache schreibt 1624 Martin Opitz. Er schließt sich dem horazischen Postulat, dass Literatur zugleich belehren und gefallen solle, an. Für ihn besteht die Notwendigkeit der Poetik auf der einen Seite nämlich ganz praktisch darin, dass sich ein angehender Autor nur an seine Regeln zu halten habe, damit aus ihm ein guter Schriftsteller werde. Auf der anderen Seite sieht er auch den Nutzen der entstehenden Literatur für die Gesellschaft, so sie denn in seinem Sinne geschrieben wurde, indem sie eben belehrend wirkt. Er richtet seine Poetik an Gelehrte, womit er implizit voraussetzt, dass ein Schriftsteller gelehrt sein muss, damit er überhaupt schreiben könne. Seine Vorstellungen knüpfen somit eng an die Antike an, deren Studium für ihn unablässige Voraussetzung zum Dichten ist. Zugleich, obwohl er also an die Notwendigkeit der Lehre und Belehrung des Poeten glaubt, ist er überzeugt davon, dass eine natürliche Begabung gegeben sein muss, ohne die auch die beste Ausbildung nichts ausrichten kann. Beide Bereiche, die Begabung und die Ausbildung verhelfen dem Schriftsteller zu gutem Gelingen seiner Werke. Die Wirklichkeit solle, so Opitz, nicht direkt in die Literatur einfließen, sondern in einer idealisierten Form. Die Begebenheiten sollen so geschildert werde, wie sie sein könnten, nicht wie sie sich tatsächlich zugetragen haben. Er möchte den Lesern oder Zuschauern so die Möglichkeiten aufzeigen, wie das Leben verlaufen könnte, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt werden. Dahinter steht der Wunsch, auf die Gesellschaft in einem positiven Sinne einzuwirken, damit sie sich, wenn sie erst durch die Literatur die Ideale der Zeit kennen und ihren Wert schätzen gelernt hat, zu diesen Idealen hin bewegt. Die Poetik an sich will verlässliche Regeln vorgeben, die eine berechenbare Literatur hervorbringt, die dann wiederum in einer ganz bestimmten Art

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Metzler, LitKult, S. 511.

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und Weise auf die Gesellschaft wirkt. Die Produktionsbedingungen werden so behandelt und gleichzeitig wird der Wirkungsaspekt angesprochen. Die Barockpoetiken eines Opitz oder etwas später auch zum Beispiel eines Georg Philipp Harsdörffer9 sehen ihre eigene Relevanz und die Bedeutung der durch sie beeinflussten Literatur im gesellschaftlichen Nutzen. Es findet eine Verklärung der Antike statt und man ist um eine Erklärung der Welt und der anzustrebenden Verhaltensmuster bemüht. Der erklärende Charakter muss allerdings wohl jeder Poetik und Literatur in jeder Epoche zugesprochen werden, denn selbst das Ausdrücken von Orientierungslosigkeit als Reaktion auf eine irritierende Gegenwartssituation enthält ein erklärendes Moment. Dem Barock folgt das Zeitalter der Aufklärung. Die schwingenden Formen der Barockarchitektur und der oftmals als Schwulst bezeichnete Schreibstil der Barockliteraten werden abgelöst durch eine nüchterne Sicht auf die Welt und auch auf die Kunst. Die Vernunft gilt als oberstes Prinzip. Unverändert gültig bleibt allerdings der weitgehend normative Ansatz der Poetik. 1730 erscheint Johann Christoph Gottscheds Versuch einer critischen Dichtkunst. Er vertritt die klassischen Ideale der Aufklärung. Sein Hauptaugenmerk liegt auf dem Formulieren von Gesetzen, die das Produzieren von Literatur regeln sollen. Er geht also sogar noch einen Schritt weiter als die Anweisungspoetiken vor ihm, denn ihm reichen die Regeln alleine nicht mehr aus. Er möchte die einzelnen Vorschriften zusammenfassen und zu allgemeingültigen Gesetzen erheben. Das Ziel ist dabei eindeutig durch die Ziele der Epoche formuliert, nämlich die Erziehung und Bildung des Menschen. Es kann nicht verwundern, dass Gottsched besonderen Wert auf die Wahrscheinlichkeit des Geschilderten legt. Zwar verlangt er nicht, dass alles nach der Wirklichkeit, die den Menschen umgibt, gebildet werden soll, aber innerhalb der literarischen Welt muss alles plausibel und mit dem Verstande nach zu vollziehen sein.10 Das Wahrscheinliche als unumgängliche Bedingung in Verbindung mit einer nützlichen Lehre trägt bei Gottsched eine Erzählung. Da er die Fabel an die Spitze seiner Gattungshierarchie stellt, muss sie diese beiden Forderungen erfüllen. Daher definiert er die Fabel folgendermaßen: 9

Georg Philipp Harsdörffer, Poetischer Trichter (1647-1653), vgl. Herbert A. u. Elisabeth Frenzel, Daten deutscher Dichtung. Chronologischer Abriß der deutschen Literaturgeschichte, 31. Aufl., München 1998, Bd. 1, S. 121. 10 Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst (im Folgenden: VCD), unveränderter reprografischer Nachdruck der 4., vermehrten Aufl. (Leipzig 1751), Darmstadt 1977, 1. Teil, VI. Hauptstück, §1 S. 198; damit folgt er Aristoteles, der ebenfalls die Richtigkeit der Darstellung an der Darstellung selbst gemessen haben will.

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„sie sey die Erzählung einer unter gewissen Umständen möglichen, aber nicht wirklich vorgefallenen Begebenheit, darunter eine nützliche moralische Wahrheit verborgen liegt.“11 Er kombiniert darin den Kernsatz seiner Poetik „Zu allererst wähle man sich einen lehrreichen moralischen Satz [...]. Hierzu ersinne man sich eine ganz allgemeine Begebenheit, worinn eine Handlung vorkömmt, daran dieser erwählte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fällt“12 mit seinem Wahrscheinlichkeitsgebot.13 Ein weiterer wichtiger Punkt in Gottscheds Poetik ist die Forderung nach der dreifachen Einheit des Trauerspiels. Die Tragödie soll demnach eine Einheit der Handlung, der Zeit und des Ortes aufweisen können. Mit der Einheit der Handlung ist gemeint, dass es eine Haupthandlung geben solle, die in sich geschlossen und schlüssig ist und einem moralischen Satz folgt. Die Einheit der Zeit bezieht sich auf die Zeitspanne, die mit der Handlung umfasst wird, die identisch mit der Dauer des Spiels sein soll. Deshalb wird eine Handlung über mehrere Tage oder gar Wochen und Jahre von vornherein ausgeschlossen. Als letzten Punkt fordert Gottsched, dass alle Handlungen an einem einmal festgelegten Ort stattfinden müssen. Das bedeutet, dass jeder Schauspieler seinen Platz auf der Bühne hat und es keinen Szenenwechsel geben kann. Damit werden, aus der heutigen Sicht zumindest, die Möglichkeiten der Tragödie stark eingeschränkt. Gottsched begründet seine Forderungen mit dem größeren Realismus der Darstellung, der dadurch erreicht wird. Die moralische Wirkung auf die Zuschauer scheint ihm wegen der damit verbundenen größeren Einfühlung dann stärker zu sein. Die erzieherische und bildende Wirksamkeit der Literatur ist somit ein ganz zentrales Anliegen der Aufklärer. Ihre Literatur soll lebenspraktisch wirken, indem sie zur Bewältigung des Lebens beiträgt. Deshalb sind sie auch von der Notwendigkeit ihrer Arbeit überzeugt. Sie wollen den Menschen im Sinne einer vernunftorientierten Moral erziehen und seinen guten Geschmack ausbilden, der ihrer Meinung nach nicht angeboren sei, sondern erlernt werden müsse. Noch in der Aufklärungsepoche vollzieht sich in Deutschland ein entscheidender Paradigmenwechsel im poetologischen Diskurs. Während bisher die am antiken und klassizistischen französischen Vorbild orientierte Poetik das Kunstwerk selbst als rationale, 11

Ebd., 1. Teil, IV. Hauptstück, § 9 S. 150. Ebd., § 21 S. 161. 13 Ebd., 1. Teil, VI. Hauptstück, § 1 S. 198. 12

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von Regeln bestimmte Konstruktion ins Zentrum des kritischen Interesses stellte, tritt nun, als Folge der fortschreitenden Emanzipation des Individuums oder zumindest des Verlangens danach, das Subjekt des Künstlers mit seiner individuellen und durchaus auch irrationalen Erlebniswelt in den Vordergrund. In der sich aus der Aufklärung als Gegenströmung abspaltenden Empfindsamkeit wird daher auch das Gefühl nicht mehr länger als im Widerspruch mit der Vernunft stehend angesehen, sondern man bemüht sich um die Versöhnung der beiden Pole. Dies spiegelt sich in der wichtigsten Neuerung auf dem Gebiet der Kulturtheorie, wenn man den modernen Begriff auf die Mitte des 18. Jahrhunderts anwenden will, wider: der Einführung der Ästhetik als wissenschaftliche Disziplin, als deren Begründer Alexander Gottlieb Baumgarten gilt. Werner Jung sieht die Lehre von der Dichtkunst durch die neue Disziplin eliminiert. „Der Ansatzpunkt der Ästhetik beim Subjekt, ihre Subjektzentriertheit, suspendiert letztlich alle objektivierenden und normativen Poetiken; an die Stelle der Wirkung rückt die Frage nach dem Subjekt und seinen Produktionsbedingungen – wobei das produktive Rezeptionsvermögen dabei durchaus miteingeschlossen ist. Produktionsästhetik ersetzt Wirkungspoetik! Schlußendlich: Ästhetik ersetzt die Poetik.“14 Die zentrale Stellung des Subjekts wird besonders deutlich in der Vorstellung des Genies betont. Das Genie wird über alle Regeln gestellt und unter anderem auf die angeborenen Fähigkeiten zurückgeführt. Dieser Wendepunkt zum Geniegedanken hin kann mit dem Namen Christian Fürchtegott Gellert in Verbindung gebracht werden. Er glaubte von sich selbst, dass er ein Originalgenie sei. Auch ein Genie müsse zwar Regeln kennen, aber umgekehrt könne niemand durch die alleinige Befolgung von Regeln gute Literatur hervorbringen. Damit verschiebt er die Gewichtungen von Begabung und Lehre. Gottsched gibt zwar zu, dass ein Schriftsteller eine gewisse Begabung mitbringen müsse, aber sein Hauptaugenmerk liegt auf seiner Ausbildung und der Lernbarkeit des Berufs. Selbst das größte Talent bedarf einer Schulung seiner Fähigkeiten. Die Lehre von der Dichtkunst ist durch keine natürliche Begabung vollständig zu ersetzen. Die Vertreter der Empfindsamkeit räumen der theoretischen Ausbildung eine Berechtigung am Rande ein, glauben aber vor allem an das produktive Schöpfertum des sich selbst regulierenden Genies. Während also die Aufklärung darum bemüht war, allzu viel Phantasie zu unterbinden oder besser diese der Vernunft unterzuordnen, die ihr dann automatisch Einhalt gebiete, plädieren die

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Jung, KGdP, S. 75.

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Empfindsamen für eine Literatur, die genau dieser Phantasietätigkeit entspringen soll. Der erzieherische Aspekt verlagert sich ebenfalls von der Ausbildung des Verstandes und der Vernunft hin zu einer „Erziehung des Herzens“ und einer „Bildung des Gemüts“.15 Literatur soll weniger oder gar nicht mehr belehren, sondern nur noch gefallen. Die Verehrung des Genies geht so weit, dass Johann Adolf Schlegel sogar davon spricht, dass geniale Literatur überhaupt nicht mehr unter Regeln zu stellen sei. Damit weist er schon voraus auf die frühromantische Überzeugung, dass jedes Kunstwerk seine eigenen Regeln zu seiner Beurteilung hervorbringe. In der Zeit des Sturm und Drang wird der Geniekult fortgesetzt und das Bild des genialen Künstlers weiter überhöht. Shakespeare, der noch von Gottsched als schlechter Literat beurteilt wurde, weil er die dreifache Einheit der Tragödie sprengte, gilt dem jungen Goethe und seinem Kreis als die Inkarnation des Genies. Die Autonomie des Autors und des Werkes werden als höchstes Gut gehandelt. Wenngleich es keine eigene theoretische Schrift zur Poetik des Sturm und Drang gibt, die sich z.B. mit dem Geltungsanspruch Gottscheds für die Aufklärung vergleichen ließe, entstehen zahlreiche Einzelschriften, die, bei aller je individuellen Akzentsetzung insgesamt Einigkeit der führenden Autoren über die Ziele und Anforderungen an Werk und Künstler belegen. Besonders Johann Gottfried von Herder verdeutlicht das neue Verständnis von Produktion und Produkt. Das Genie gilt als ein Schöpfer neuer Welten, die allerdings nur subjektiv vollständig begriffen werden können. Denn Herder geht schon vom Grundgedanken des Radikalen Konstruktivismus des 20. Jahrhunderts aus, dass nämlich die Wahrnehmung der Welt eine absolut subjektive Angelegenheit sei. Da man nur erkennt, was man innerhalb der eigenen körperlichen und geistigen, worin die sprachlichen miteingeschlossen sind, Grenzen erkennen kann, gelingt jedem einzelnen auch nur die Umsetzung des individuell Erfahrenen in Sprache. Dadurch entsteht eine Distanz zwischen allen Menschen, die nicht überbrückt werden kann. Das ureigene Empfinden kann niemals vollkommen von anderen Menschen verstanden oder nachvollzogen werden. Anders ausgedrückt isoliert die Subjektivität das Subjekt, wenngleich sie ihm theoretisch uneingeschränkte Entfaltungsmöglichkeiten eröffnen sollte. Das Genie schafft Kunst, die keinen Regeln außer den eigenen folgt und somit immer als Unikat eines Einzelnen für Einzelne wirkt. Ein Nutzen wird der Kunst abgesprochen, aber nicht im negativen Sinne, sondern vielmehr im Sinne der Aufwertung der Kunst, die nur um ihrer selbst willen in der Welt ist. Als überflüssig sehen die Stürmer und Dränger ihre Kunst daher nicht an. Diesen Schritt machen erst viele Generationen nach ihnen diejenigen Literaten und 15

Jung, KGdP, S.67.

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Theoretiker, die sich selbst und das Leben nicht mehr so bitter ernst nehmen. Vielleicht ist dies eine Haltung, die erst durch die Einführung eines sozialen Netzes und insgesamt verbesserten Lebensbedingungen ermöglicht wird. Der oben dargelegte und von Jung auf den Begriff gebrachte Paradigmenwechsel weg von der Lehre der Dichtkunst hin zur Ästhetik hat noch eine weitere Verschiebung zur Folge. Indem das Subjekt des Autors in den Mittelpunkt des Interesses rückt, verlieren Allgemeingültigkeit beanspruchende Setzungen von Theoretikern an Bedeutung. Zwar gibt es nach wie vor epochentypische Ausprägungen des dichterischen Selbstverständnisses und sogenannte Epochenstile, aufgrund der Vielfalt der individuellen Ansätze ist die theoretische Reflexion der literarischen Produktion jedoch weitgehend auf poetologische Aussagen von Autoren zu ihrem Werk angewiesen. Das auf objektive Strukturen gerichtete Interesse der traditionellen Poetik verschiebt sich hin zum Interesse am individuellen Literaturverständnis der Autoren, wie es die Autorpoetik verfolgt. Dass solche individuellen Positionen nicht unabhängig von Vorgaben und Einflüssen des jeweiligen zeitgenössischen überindividuellen poetologischen Diskurses, vielleicht auch der historischen Erfahrung, sind, steht dabei außer Frage. So kann man insbesondere im 20. Jahrhundert markante poetologische Positionen der (klassischen) Moderne und der sogenannten Postmoderne, ungeachtet unterschiedlicher persönlicher Akzentuierungen der betreffenden Autoren, auf gemeinsame Erfahrungen und Haltungen zur Welt zurückführen.

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3. Die Autorpoetik Sten Nadolnys „Nur der erzählende Mensch ist ein Mensch. Und nur der erzählte Mensch ist ein Mensch.“16 Der Satz Ludwig Harigs könnte auch von Sten Nadolny stammen. Nadolny versucht aus dem ganzen Leben eine Erzählung zu machen. In seiner Poetikvorlesung in München 1990 macht er sich dieses Bestreben zu Nutze, um seine Autorpoetik anhand einer fiktiven Erzählung zu erläutern. Er erfindet einen Autor, eine Biographie dieses Schriftstellers, einen Titel für einen Roman und entwirft in groben Zügen die Geschichte, die dieser Roman erzählt. Er treibt also in der theoretischen Abhandlung über den Schreibprozess ein doppeltes Spiel mit der Fiktion. Er analysiert nicht seine schon vorhandenen Romane, sondern entwickelt mit dem Entwerfen des nicht existenten Romans erzählend seine Vorgehensweise beim Schreiben. Er veranschaulicht auf diese Weise sehr glaubwürdig seine Meinung, „dass wir eigentlich immer ‚erzählen’. Und dass wir gar nicht richtig leben, wenn wir´s nicht tun.“ Sein „Begriff vom Erzählen ist weit gefasst“17. In allen seinen Schriften zur Poetik oder, will man den anspruchsvollen Begriff vermeiden, zum Schreiben und dem Schriftstellertum, versucht Nadolny seine Auffassung vom Erzählen in Bildern zu verdeutlichen. Die Verknüpfung mit dem Leben steht dabei immer im Vordergrund. Man könnte fast sagen, dass er das Schreiben oder das Erzählen (es muss nicht immer schriftlich fixiert sein) als ein Leben im Leben begreift. Das eine scheint für ihn ohne das andere nicht denkbar. In seinem Aufsatz Roman oder Leben -? Diesseits und Jenseits des Schreibens verordnet er zwar seinem Autor den Rückzug aus dem realen Leben, damit er seinen Roman zu literarischem Leben erwecken kann. Aber gleichzeitig verweist er darauf, dass dieser Rückzug nur für eine gewisse Zeit möglich sei. Danach müsse der Autor wieder am Leben teilnehmen und eine Pause von der Literatur machen.18 In dieser Pause gilt es, das Leben zu beobachten und Stoff zu sammeln, aus dem wieder neue Literatur entstehen könnte. Den Rückzugsort der

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Ulrich Greiner, Wenn der Druck steigt, in: DIE ZEIT, 57. Jahrgang, Nr. 19 vom 2. Mai 2002, S. 37, zitiert wird Ludwig Harig. 17 Sten Nadolny, Das Erzählen und die guten Absichten. Münchener Poetik-Vorlesungen (im Folgenden: GuAb), 3. Aufl., München 1997, GuAb, S. 26. 18 Vgl. dazu: Nadolny, Roman oder Leben -? Diesseits und Jenseits des Schreibens (im Folgenden: RoL?), in: Das Erzählen und die guten Ideen. Die Göttinger und Münchener Poetik-Vorlesungen (im Folgenden: GuId), München 2001, S. 194.

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Schriftsteller könnte man mit den Worten Sten Nadolnys auch den „Kontinent des Erzählens“19 nennen. Auf diesem Kontinent befindet sich der Erzähler nicht nur außerhalb seines alltäglichen Umfeldes, sondern vor allem mitten in seinem Werk. Er lässt sich auf seine Fiktion in einem Maße ein, bis er die „Autarkie seines Werkes“20 vollständig anerkennt. Darunter versteht Nadolny die Selbständigkeit der Sprache und der Literatur insgesamt. Er vertritt vehement die Ansicht, dass sich Gedanken, sobald man das erste Wort aufs Papier gebracht hat, verändern und sich niemals eins zu eins schriftlich oder auch nur mündlich wiedergeben lassen. Sie beginnen ein Eigenleben, wenn man sie festhalten will. Sie entziehen sich dem Urheber, der sie eben noch gedacht hat. Da man diesen Prozess nicht aufhalten kann, empfiehlt Nadolny, sich auf ihn einzulassen. Der Gedanke war nur der Anstoß zum Schreiben, von nun an schreibt sich der Roman sozusagen selbst weiter. Er wird, in der Vorstellung Nadolnys zu einer handelnden Person und er weiß, was für ihn gut ist.21 Pointiert formuliert, birgt der Roman also nicht nur Leben in sich, sondern lebt selbst. Am wichtigsten wird die Verknüpfung zwischen Alltag und Erzählen bei Nadolny, wenn ein reales Leben in einer Erzählung aufgehoben werden soll. Die Figuren seiner Romane haben wohl oftmals einen Paten in der Realität. Mit dem Einschreiben eines Menschen in einen Roman wird dessen Leben von den Worten getragen. Sie müssen belastbar sein und dem Leser das Gefühl vermitteln, dass er es mit tatsächlichen, nicht konstruierten Menschen zu tun hat. Folgt man Nadolny noch einen Schritt weiter, erreicht man den Punkt seiner Poetik, an dem sein Schreiben nicht nur theoretisch sondern ganz praktisch ins Leben übergeht. Er vertritt nämlich die Meinung, dass man mit dem Erzählen handelt bzw. umgekehrt, dass man mit dem Handeln immer auch erzählt.22 Damit entwirft er ein Verständnis von Poetik, das weit über dasjenige der Jahrhunderte vor ihm hinausgeht. Nadolnys Poetik bezieht sich demnach auf alle Bereiche des täglichen Lebens. Er interpretiert den Begriff der Poetik nicht nur literaturwissenschaftlich – das tut er vielleicht tatsächlich am wenigsten – sondern philosophisch. Damit öffnet er eine Tür zur Ästhetik, die ja entweder als ein Teil der Poetik, nämlich als aus dieser hervorgegangen, bezeichnet wird oder umgekehrt, die Poetik wird als ein Teilbereich der Ästhetik angesehen. Die Philosophie beschäftigt sich wiederum mit dem Leben und mit den sich immer wandelnden Bildern von der Welt. Eine Richtung, die sich in 19

Vgl. dazu: Frank Dietschreit, „Das Erzählen ist wie ein Kontinent“, Interview mit Sten Nadolny, in: Prinz, Februar 1990, S. 20. 20 Nadolny, RoL?, in: GuId, S. 192. 21 Vgl. z.B. ebd., S.185. 22 Vgl. dazu: Ders., GuAb, S. 110.

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neuerer Zeit mit den unterschiedlichsten Bildern, die es von „Welt“ gibt, beschäftigt, ist der Radikale Konstruktivismus. Es wird zu untersuchen sein, inwieweit Nadolny sich mit solchen Ideen auseinandersetzt. In alle Diskurse, aus denen sich Sten Nadolnys Autorpoetik konstituiert, spielt immer die Frage nach dem Postmodernismus hinein. Der spielerische Charakter im Umgang mit traditioneller Literatur, der bewusste und gewollt sichtbare Rückgriff auf schon Dagewesenes lässt sich deutlich im Werk Nadolnys nachweisen. Es bleibt kritisch zu prüfen, ob dieses Kriterium alleine schon ausreicht, um als postmodern zu gelten oder ob sich noch andere Hinweise finden lassen. Dieses Kapitel wird sich in vier Abschnitte gliedern. Im ersten soll die Autorpoetik Nadolnys bewusst gegen die in Kapitel 2 vorgestellten Poetiken gesetzt werden. Das Neue seiner „Theorie“, aber auch Ähnlichkeiten mit den Positionen früherer Epochen müssen diskutiert werden. Im zweiten Abschnitt geht es dann ganz konkret um produktionsästhetische Aspekte. Der Einfluss der Postmoderne steht hier im Mittelpunkt. Der dritte Abschnitt ist den Positionen des Autors gewidmet, die dieser in den verschiedenen Phasen seines Schaffens einnimmt. Im vierten Teil werden dann die rezeptionsästhetischen Aspekte untersucht. Dabei steht die Frage im Vordergrund: Wie stellt sich ein moderner Autor seine Leser vor und welche Wirkung hat Literatur in einer Gesellschaft von Individualisten, die alle eigene Vorstellungen von der Welt besitzen und sich in ihrer Konstruktion eingerichtet haben? 3.1 Nadolny und die Tradition der Poetik „Learning by doing, oder noch simpler writing by writing.“23 Die Überschrift zu diesem Kapitel sollte ursprünglich „Die bewusste Abwendung Nadolnys von der traditionellen Ästhetik“ heißen. In der intensiven Auseinandersetzung mit den Punkten, die man unter einer solchen Überschrift erwarten könnte, kamen Zweifel auf. Zweifel zum einen an der unterstellten Absicht, die hinter der Abwendung von Traditionen stehen soll, zum anderen daran, ob man tatsächlich nur von den Unterschieden sprechen kann oder ob es nicht auch Übereinstimmungen gibt. In der neu gewählten Überschrift fehlt die Benennung des Verhältnisses zwischen Nadolnys Autorpoetik und den früheren poetologischen Schriften. Wie sich die Äußerungen Nadolnys zu den traditionell vorgebrachten Anforderungen an Schriftsteller und Literatur verhalten, soll nun im einzelnen dargestellt werden. 23

Nadolny, GuId, S. 69.

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3.1.1 Regelpoetik vs. Autorpoetik Am Beginn seiner ersten Poetikvorlesung, einem in sich abgeschlossenen und in Buchform vorliegenden Werk, steht der Satz: „Was ich weiß, ist nur, daß meine Schriftstellerei aus einer Liebe entsteht.“24 Er setzt seine vom Gefühl geleitete Arbeit gegen eine von Regeln beherrschte Literaturproduktion. In Kapitel 2 wurde die wichtigste deutsche Regelpoetik, die Gottscheds, vorgestellt. Gottsched glaubt sich im Besitz unveränderlicher Regeln und Gesetze zur Produktion von literarischen Texten. Aus diesem Selbstbewusstsein heraus schreibt er sein poetologisches Werk. Seine Erkenntnisse gelten ihm als objektiver Maßstab. Die „Bescheidenheitsgeste“25 Nadolnys, die hauptsächlich an drei Stellen seiner Poetik in Worte gefasst wird, zeugt von einem anderen Geist, aus dem heraus die Theorie entwickelt wird. Die erste Stelle, in der Nadolny auf die Relativität seines Werkes hinweist, wurde oben schon zitiert. Er schickt der Liebeserklärung zu seinem Beruf noch voraus, dass er die Gesetze, nach denen Romane entstehen, nicht kennt.26 Im weiteren Verlauf der Arbeit beweist er dann aber, dass seine Produktionsästhetik doch sehr ausgereift ist. Die zweite Stelle, die hier angeführt sei, ist eine explizite Betonung, dass er eine Autorpoetik formulieren möchte, ohne allgemeingültigen Anspruch. Dort heißt es: „Bitte, ich rede von mir. Es gibt vielerlei Erzähler, und sie schaffen es [das Herstellen guter Literatur] auf vielerlei Weise. [...] Ich schreibe selbstverständlich niemandem vor, wie er erzählen soll, wehre mich nach Möglichkeit nur gegen andere, die mir etwas vorschreiben wollen.“27 Nadolny versteht sich auf keinen Fall als Regelgeber für andere und unterstreicht gleichzeitig seine eigene Unabhängigkeit. Wie sein Romanheld und Lieblingsgott Hermes möchte er sich seine Vorschriften selbst machen.28 Die dritte Passage lautet: „...mindestens können Sie entnehmen, wie ich mir meine Arbeit vorstelle – ob ich damit Recht habe, ist keinen Moment lang sicher.“29 Wiederum wird der subjektive Charakter der Theorie betont, gepaart mit einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein, auch ohne theoretischen Hintergrund, gute Literatur produzieren zu können. Der Zweifel bezieht sich nur auf die Richtigkeit der Darstellung bzw. ihre Nachvollziehbarkeit. Sten Nadolny glaubt daran, dass sein Schriftstellertum aus seinem inneren Gefühl entsteht. Daraus kann er verständlicherweise keine Regeln für andere ableiten. 24

Ders., GuAb, S. 23. Klappentext zu: Nadolny, GuAb. 26 Nadolny, GuAb, S. 23. 27 Ebd., S. 55. 28 Sten Nadolny, Ein Gott der Frechheit (im Folgenden: GdF), 8. Aufl., München 2000, S.119. 29 Ders., GuId, S. 34. 25

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Bei ihm steht nicht die Überzeugung im Mittelpunkt, einen Überblick über die Literaturproduktion zu haben, sondern das Bemühen, den individuellen Schreibprozess transparent zu machen. Woher der Wunsch danach kommt, bleibt ungewiss. Die Vermutung, er wolle „Bilanz ziehen“, weist Nadolny zurück. Sein Anliegen sei es, zu erfahren, wie es ist, eine Vorlesung zu halten.30 Eine Bilanz zieht er gewissermaßen trotzdem, denn schließlich musste er bei seinen Vorbereitungen auf die Vorlesungen eine Vorstellung von den Prozessen entwickeln, die während seines Schreibens ablaufen. 3.1.2 Vernünftige Zweckliteratur vs. Zweckfreie Rätselgeschichten „Außerdem muß eine gute Geschichte keinen Zweck haben.“31 Nadolnys zentrales Anliegen ist die Unabhängigkeit der Literatur von allen Erwartungen. Er widerspricht der Forderung nach einer Literatur, die zur Erfüllung bestimmter Aufgaben geschrieben wird. Die Poetik, die eine solche Belastung der Romane postuliert, entsteht vor allem in der Aufklärung. Die Vernunft soll, wie oben bereits zu sehen war, eine Literatur hervorbringen, die die Aufgabe, die Menschen zur Vernunft zu erziehen, transportieren kann. Klarheit über den Stoff besitzen, lautet das oberste Gebot; der oben schon in Zusammenhang mit Gottsched erwähnte moralische Lehrsatz bildet den Kern eines Werkes. Nadolny hingegen zieht der absoluten Gewissheit das Rätselhafte vor. “Gerade die noch unbegriffene, noch nicht misstrauisch abgeklopfte Inspiration ist Voraussetzung literarischer Erfindung – jedenfalls der überzeugenden.“ 32 Das Geheimnisvolle ist das Fesselnde an einer Idee und später an der Geschichte, die aus der Idee werden kann. Der Leser geht auf Entdeckungsreise, um das Rätsel zu lösen. „Das Rätsel ist Hauptbestandteil jeder Welt, die uns festhalten kann.“33 Dieser Satz leitet sich aus der Erfahrung ab, dass der Mensch vom Verborgenen angelockt wird, dass nicht die Geschichten faszinieren, bei denen alle Wendungen von vornherein klar sind und in denen nur Personen und Begebenheiten vorkommen, die man auf den ersten Blick durchschaut hat. Schon immer begaben sich Menschen auf die Reise, entweder, um neue Kontinente, Planeten oder Welten zu entdecken oder ins Innere von Lebewesen und Materie, um die Rätsel unseres Lebens zu erforschen. Mit jedem Stück, das entdeckt, beschrieben und damit enträtselt wird, bringt sich der Mensch um eine Geschichte, die nun nicht mehr interessant ist oder deren Erzähler wegen Naivität belächelt würde. Denn um erzählen zu können, muss man, davon ist Nadolny 30

Ders., GuAb, S. 39f. Sten Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit (im Folgenden: EdL), 17. Aufl., München 1990, S. 128. 32 Ders., GuAb, S. 36. 33 Ders., GuId, S. 60. 31

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überzeugt, über die Welt staunen können, denn erst das Staunen veranlasst den Menschen über die Phänomene nachzudenken, es erweitert seinen Erfahrungshorizont. Das Geheimnisvolle nimmt er der Welt dadurch nicht zwangsläufig und bewahrt sich damit die Chance, auch weiterhin zu staunen, denn staunen kann man nur über etwas, das man nicht in allen Einzelheiten begriffen hat. „[D]ie interessanteren Fragen entstehen, so lange man etwas nicht oder missverstanden hat.“34 Der nüchterne, analytische Blick zerstört die Fähigkeit, zu staunen. Daher rät Nadolny zu gelegentlichen Perspektivwechseln, durch die man die Welt immer wieder neu entdecken kann. Das Wissen, das man mit sich herumträgt, kann den Blick auf das eigentlich Interessante verhindern, weil man alles Rätselhafte mit vernünftigen Erklärungen aufzulösen versucht. Ein Unwissender, der die Dinge zunächst einmal so sieht, wie sie von außen scheinen, macht sich seine eigenen Gedanken und zieht vielleicht ungewöhnliche Schlüsse. Er kann möglicherweise in der Lage sein, eine neue Lösung zu finden, die besser erklärt, was geschieht und welche Zusammenhänge vorhanden sind, als Menschen, die meinen, alles über eine Sache bereits vorher zu wissen. Das mechanische Festhalten an bewährten Strategien ist in manchen Situationen und in manchen wissenschaftlichen Disziplinen sinnvoll und sogar unverzichtbar. Ein Mathematiker muss sich beispielsweise auf einmal festgelegte und bewährte Vorgehensweisen verlassen können. Auf Fragen aber, die nicht mit Ja oder Nein beantwortet werden können, muss es flexible Antworten und Reaktionen geben. John Franklin macht in Die Entdeckung der Langsamkeit die Erfahrung, dass eine Maschine sehr viel präziser als ein Mensch rechnen und arbeiten kann, er sieht aber auch die Grenzen, an die eine Maschine stößt. „Ihre Maschine kann nicht staunen und nicht in Verwirrung geraten, also kann sie auch nichts Fremdes entdecken.“35 Eine Geschichte, die durch die Brille eines „Unwissenden“ erzählt wird, überrascht vielleicht, weil Fremdes entdeckt wird und erregt deshalb Aufmerksamkeit. Der entscheidende Punkt ist dabei, dass Erzähler, die so vorgehen, ihr erworbenes Weltwissen dem Leser nicht aufdrängen. Sie beschweren die Literatur nicht mit Aufgaben, die sie nicht tragen kann. Denn sie verkünden nicht die eine Wahrheit, neben der es keine andere gibt. Sie übernehmen nicht die Problemlösung für die Menschheit. Solche Erzähler machen Mut, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und sich nicht fremd bestimmen zu lassen. Es bleibt dem Leser freigestellt, seine eigenen Lebenserfahrungen mit denen des Romanhelden zu vergleichen. Entweder fühlt

34 35

Nadolny, GuId, S. 28. Ders., EdL, S. 287.

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er sich der Figur überlegen, weil er glaubt, die Welt besser verstanden zu haben als diese. Oder er überdenkt sein Wissen und lässt sich auf die neue Sichtweise ein, weil er die Chance erkennt, etwas Neues über die Dinge zu erfahren, die ihm schon gewöhnlich vorkamen. Nadolny möchte, dass seine Leser sich Gedanken machen über das auch noch Mögliche, was sie noch nicht bedacht haben. Alle anderen Aufgaben, die der Literatur auferlegt werden, lehnt er ab. Er beneidet den Komponisten und den bildenden Künstler, von denen nur Kunst um der Kunst willen verlangt wird. Von einem Musikstück oder einem Bild erwartet niemand die entscheidende Antwort auf menschheitswichtige Fragen.36 Er bezweifelt, dass Literatur dieser Anforderung standhält. „Ein Roman kann daran sterben, dass er in seinem Inhalt „gerecht“ oder „aufbauend“ sein will.“37 Die Aufgaben, die man dem Roman aufgibt, setzen voraus, dass der Autor schon am Anfang des Schreibprozesses den Schluss der Geschichte kennt. Er hat alles genau berechnet, damit der Text am Ende seine Aufgabe erfüllt. Der Weg des Schreibens, auf den sich der Schriftsteller begibt, ist jedoch laut Nadolny so lang, dass das Ende nicht absehbar sei. Der Autor kennt zu Beginn die Gefahren nicht, denen er begegnen wird, und sein mitgebrachtes Wissen wird ihm nicht immer weiterhelfen. Er muss, um zu überleben und überhaupt zum Ende zu gelangen, flexibel sein und sich auf die veränderten Gegebenheiten einstellen. Anderenfalls erleidet er Schiffbruch. Der Vorsatz, eine wirkungsvolle und gesellschaftsverändernde Geschichte zu erzählen, zerstört die Wirkung der Geschichte schon im Voraus, da sie sich nicht frei entwickeln und entfalten kann. Nadolny formuliert es so: „Erzählen mit bestelltem Ausgang, das ist wie ein Schienenfahrrad: ein Unding.“38 3.1.3 Der Autor – das Genie? In allen Poetiken werden Überlegungen zur Rolle des Autors angestellt. Ist er von Regeln abhängig oder steht er als genialer Schöpfer über den Regeln? Der Autor Sten Nadolny möchte sich weder Regeln unterordnen, die andere Menschen aufgestellt haben, noch empfindet er sich als genialen Schöpfer. Er glaubt, dass der Stoff und die Sprache die Regeln vorgeben, denen sich der Autor unterordnen muss. Auf der einen Seite möchte Nadolny die Position des weltenschöpfenden Autors stärken. Der Schriftsteller sammle Erfahrungen, beobachte seine Umgebung und entwickle daraus in seiner Phantasie eine neue Welt. Er gehe souverän sowohl mit den Fakten als auch mit der Fiktion 36

Nadolny, GuId, S. 57. Ders., RoL?, in: GuId, S. 195. 38 Ders., GuAb, S. 128. 37

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um.39 Da Nadolny, wie oben dargelegt, gegen einen vorschreibenden Regelkanon für Schriftsteller ist, liegt es nahe, den Typus eines Autors seiner Vorstellung als Genie zu bezeichnen. Außerdem glaubt er nicht, „dass sehr viele Schriftsteller aus dem Entschluss hervorgegangen sind, Schriftsteller zu werden – sie haben sich vielmehr irgendwann entschlossen, es zu bleiben, sich damit abzufinden.“40 Die Schriftstellerei erscheint als eine Art Berufung, ein unumgängliches Schicksal, in das man hineingeboren wird.41 Dennoch trifft der Geniebegriff auf Nadolny nicht zu. Das Originalgenie, wie es aus der Zeit des Sturm und Drang durch die Person Goethes bekannt und geprägt ist, steht über den Regeln. Das Selbstverständnis Nadolnys beruht auf der Relativität seiner eigenen Person in Bezug auf Kollegen und, was in diesem Zusammenhang noch wichtiger ist, in Bezug auf den Stoff und die Sprache. Im Rahmen seiner persönlichen Tätigkeit strebt er nach dem Prinzip des Genies, das ausschließlich seinen eigenen Regelvorstellungen verpflichtet ist. Gleichzeitig fühlt er, dass ihm das nicht immer gelingt. Es scheint Instanzen zu geben, die über ihm stehen und ihn zum Schreiben hinführen, ihn während des Schreibens begleiten und korrigieren. Damit sind keine von Menschen aufgestellten Regeln gemeint. Nadolny spricht dem Stoff und der Sprache diese Fähigkeiten zu. Sie sind die eigentlichen Initiatoren einer Geschichte und die Führer des Autors. Die Geschichten wären demnach keine Produkte eines genialen, nur aus sich heraus schaffenden Autors. Man müsste sie sich als in der Welt bereits als Idee vorhanden vorstellen. Um manifest zu werden, suchen sie sich einen Erzähler aus, der befähigt ist, sie aufzuschreiben. „Der Stoff ruft den, der ihn aus vielerlei widersprüchlichen persönlichen Gründen schreiben will und schreiben kann.“42 Der Theorie Nadolnys zufolge handelt der Stoff, nicht der Autor. In seinen Werken lassen sich einige Aussagen finden, die das bestätigen. Über Helga wird in Ein Gott der Frechheit gesagt: „sie war längst Gefangene dieser Geschichte“43 und das, obwohl sie diejenige ist, die sich alles ausdenkt. Auch Selim wird im gleichnamigen Roman zum Werkzeug einer 39

Ausführlicher dazu: s. Kapitel 3.2.1.2. Nadolny, GuAb, S. 107f. 41 zur Position des Autors s. auch Kapitel 3.3. 42 Nadolny, GuId, S. 54. 43 Ders., GdF, S. 113. 40

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selbständig handelnden Geschichte: „Sie [die Geschichte] bediente sich seines Körpers.“44 Selbst Ole Reuter, der ausdrücklich darauf hinweist, dass er der Urheber der Engelsbriefe, Teufelsdialoge und sonstigen Episoden innerhalb des Romans Er oder Ich sei, hegt Zweifel, ob er Herr über die Erzählung ist, oder ob diese sich nicht seiner als Hauptfigur bediene.45 Diese Vorstellung ist gewöhnungsbedürftig und setzt ein gewisses Weltbild voraus, in dem die geistige Materie ein Eigenleben führt und dadurch personifiziert werden kann. Dreht man das Bild aber herum, ergibt sich eine andere Sichtweise, die plausibler erscheint. Ein Mensch fühlt in sich die Fähigkeit, dem Leben Geschichten abzugewinnen. Seine Liebe zur Sprache und seine Beobachtungsgabe ermöglichen es ihm, aus erlebten Situationen Erzählungen zu machen. Er verändert das Erfahrene nach seinen Vorstellungen, die sich allerdings wiederum an der Lebenswirklichkeit orientieren. Die Welt ist sein Ideengeber und gleichzeitig sein Korrektiv, dem er sich unterordnet. Die Stoffe und Themen scheinen zu ihm zu kommen, eigentlich geht ihr Aufspüren aber von ihm aus, wenn auch unbewusst. Er geht mit wacheren Sinnen durch die Welt als die meisten seiner Mitmenschen, weshalb ihm Einzelheiten auffallen, die andere übersehen. Deshalb ist er prädestiniert, den Beruf des Schriftstellers, wie Nadolny ihn versteht, auszuüben. Den Begriff der Genialität verwendet Nadolny nicht, um seine Fähigkeiten als Autor zu erklären. Gleichwohl unterstellt er seine Arbeit nur Regeln, die er selbst aufstellt, und er glaubt, bei seiner Berufswahl nicht vor einer freien Entscheidung gestanden zu haben. Zu seiner Art und Weise der Autorschaft passt dennoch weniger der Geniebegriff als vielmehr der des Souveräns. 3.1.4 Unsichtbarkeit des Erzählers vs. Unvermeidbare Sichtbarkeit des Erzählers Die Figur des Erzählers wandelt sich durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder. Es gibt nur selten eine Festlegung, welche Erzählhaltung die beste sei. Im Realismus stellt man sich den Erzähler allerdings unsichtbar vor. Seine Person bleibt vollkommen im Hintergrund, er ist nur das neutrale Tor zur Romanwelt. Nadolny ist davon überzeugt, dass eine solche Zurücknahme des Erzählers nicht möglich sei. Nadolny geht von einer Art Vereinbarung zwischen Autor und Rezipient aus, in der festgelegt wird, dass die Erzählung eine pseudo-reale Welt darstelle.46 Die Abläufe und Figuren eines 44

Sten Nadolny, Selim oder Die Gabe der Rede (im Folgenden: Selim), 6. Aufl., München 1999, S. 342. Ders., Er oder Ich (im Folgenden: EoI), München 1999, S. 77. 46 Vgl. Ders., GuId, S. 49f. 45

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Romans entstehen aus der Erfahrung und Phantasie des Schriftstellers. Sie können einen Bezug zur bekannten Wirklichkeit haben, müssen aber nicht wahrheitsgemäß sein im Sinne von unserer Realität entsprechend. Sie sollten in sich wahrscheinlich sein und dadurch immanent nachvollziehbar bleiben.47 Ein Gedanke, der übrigens dem Mimesis-Begriff bei Aristoteles ähnlich ist. Werner Jung definiert ihn, in Anlehnung an Hermann Koller, folgendermaßen: „Die Richtigkeit der Darstellung muß an der Darstellung selbst gemessen werden, ‚nicht aber an einem entsprechenden Gegenstand der Wirklichkeit’.“48 Der Erzähler führt den Leser in diese konstruierte Welt ein. Seine Rolle besteht entweder in der Zusammenführung verschiedener Erzählstränge – wenn es sich um einen allwissenden oder zumindest außenstehenden, neutralen Erzähler handelt - oder in der subjektiven Öffnung einer Figur – wenn es sich um einen Ich-Erzähler handelt. Bei Nadolny lässt sich der Erzählertypus häufig nicht für ein ganzes Buch festlegen. Er spielt mit unterschiedlichen Perspektiven.49 Durch diesen Wechsel rückt die Person des Erzählers automatisch in den Vordergrund. Der Leser wird sich über das Vorhandensein einer erzählenden Instanz bewusst. Neben die Protagonisten des Romans tritt eine weitere Figur, die ebenso zu dem Ensemble des Stückes gehört. Ein Autor kann in viele verschiedene Erzählerrollen schlüpfen, weshalb man den einen nicht mit dem anderen gleichsetzen sollte. Er erfindet sich als einen Erzähler, der in einer gewissen, jedes Mal neu festgelegten Weise die Geschichte erzählt. Die Konstruktion dieser für einen erzählenden Prosatext so wichtigen Figur, lässt sie für den Leser sichtbar werden. Bei vielen anderen Schriftstellern tritt der Erzähler ebenfalls hervor, z.B. durch direkte Ansprache des Lesers.50 Auf dieses Stilmittel greift Nadolny nur durch ein den Leser optional miteinschließendes „wir“ in der Vor- bzw. Nachrede seiner Ole-Reuter-Romane zurück. „Die Eisenbahn- und Schreibsucht, der wir bei Ole Reuter begegnen...“51 „Um Reuter ist es schade. Wir haben früher viel mit ihm gelacht.“52 47

Vgl. dazu Kapitel 3.2.1.2 und Sten Nadolny, Was heißt hier Chancen? (im Folgenden: Chancen?), in: GuId, S. 220. 48 Jung, KGdP, S. 19. 49 Vgl. dazu Kapitel 3.2.1.3. 50 z.B. bei Thomas Mann, Doktor Faustus, stellt sich der Ich-Erzähler ausführlich dem explizit genannten zukünftigen Leser vor, Thomas Mann, Doktor Faustus, Sonderausgabe, Frankfurt am Main 1999, S. 7 und 11. 51 Sten Nadolny, Netzkarte, Taschenbuchsonderausgabe, München 1999 (im Folgenden: NK), S. 7, Hervorhebungen nicht im Original. 52 Ders., EoI, S. 264, Hervorhebungen nicht im Original; dass es sich in beiden Fällen auch um den so genannten pluralis modestiae handelt, scheint eher unwahrscheinlich.

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Ansonsten genügt ihm die spürbare Existenz des Vermittlers, als der die Erzählerfigur fungiert. Sie ist das Bindeglied zwischen Autor und Leser. Die Zurücknahme dieser Kontaktperson scheint für Nadolny nicht zeitgemäß und nicht durchführbar zu sein. 3.2 Produktionsästhetische Aspekte Zu den produktionsästhetischen Aspekten gehört das Interesse an den Bedingungen, unter denen ein Autor arbeitet. Dabei steht weniger seine persönliche soziale oder private Situation im Vordergrund (eine Ausweitung der Untersuchung auch dieser Bereiche erfolgt erst in den 1960er und 70er Jahren), als vielmehr der politische und gesellschaftliche Kontext. Ein Zweig der Produktionsästhetik betrachtet ein Kunstwerk vor allem als einen „unausweichlichen Reflex der historischen, ökonomischen, sozialen und politischen Konstellationen seiner Entstehungszeit“.53 Das bedeutet, dass ein Kunstwerk nie zufällig in einer bestimmten Zeit entsteht. Man könnte sagen, dass Goethe, hätte er in einer anderen Zeit gelebt, vollkommen andere Literatur geschaffen hätte. Damit widersprechen die Vertreter dieses Ansatzes den Verfechtern des Geniegedankens, die den Ursprung aller Kunst, zumindest nach außen hin, alleine im Inneren des Genies ansiedeln. Das Genie scheint als absolut autonomer Produzent über der Gesellschaft und der Zeit zu stehen. Gerade das bezweifelt aber diese marxistisch-soziologische Richtung der produktionsästhetischen Theorie und man stützt sich bei den Untersuchungen zu diesem Thema auf empirische Erhebungen, um wissenschaftlich abgesichert zu sein. Der andere Zweig der Produktionsästhetik, der für die Beschäftigung mit einer Autorpoetik der entscheidendere ist, fasst das Kunstwerk als ein Produkt eines Künstlers auf, der sich bewusst auf seine Zeit eingelassen hat und die gesammelten Erfahrungen und Beobachtungen bedingen die Art und Weise seines Schreibens. Außerdem zählt zu den produktionsästhetischen Aspekten die Frage nach der Absicht eines Autors. Man muss die Autorintention berücksichtigen, aus der heraus ein Text eine unverkennbare sprachliche, stilistische und thematische Gestalt erhält. Diese Frage kann auch negativ zu beantworten sein. Nach dieser allgemeinen Einführung in den Begriff der Produktionsästhetik rückt nun der Schriftsteller, dessen Autorpoetik diese Arbeit zum Thema hat, in den Blickpunkt. Kann sein Werk als eine bewusste Reaktion auf die momentane Situation in Deutschland gelesen werden? Falls ja, entspricht das seiner Absicht? Sten Nadolny reagiert in seinen Werken sehr deutlich auf die Situation in seinem Land und 53

Metzler, LitKult, S. 530.

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äußert auch, dass ihm der Gegenwartsbezug wichtig sei.54 Er verarbeitet kritisch aktuelle Probleme der heutigen Gesellschaft. In Selim oder Die Gabe der Rede beschäftigt er sich z.B. mit den Schwierigkeiten der Integration der türkischen Gastarbeiter und ihrer Familien und sein Bestseller Die Entdeckung der Langsamkeit gilt als wertvoller Beitrag zur Kritik am rasenden Fortschritt, der, wie Herbert Rosendorfer es formuliert, vor allem ein Fortschreiten vom Menschen weg ist.55 Der bewusste und kritische Bezug zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation ist also gegeben.56 Und mit dem Blick hinter die Kulissen, dem Erzählen über seine eigenen Vorgehensweisen beim Schreiben, ist auch der Bezug zur eigenen Person hergestellt, den die Produktionsästhetik im Laufe ihrer Entwicklung als weiteren Aspekt in sich aufgenommen hat. Nadolny liefert eine Autorpoetik und damit einen Beitrag zur Produktionsästhetik in einem ganz praktischen Sinne. Und er betont in Interviews immer wieder, dass seine Werke keineswegs unabhängig von den politischen und gesellschaftlichen Diskussionen sind. In seinen theoretischen Äußerungen zur Poetik finden sich Beiträge zur Arbeitsweise und eine Absage an eine allzu sehr von Absichten geleitete Literatur (3.2.1), zum Stand des Schriftstellers in der Gesellschaft während und nach dem Schreibprozess (3.3), zur gewünschten Art der Rezeption (3.4) und zur Einordnung seines eigenen Werkes in die kulturelle Debatte insgesamt. 3.2.1 Die notwendigen Absichten57 Sten Nadolnys erste Poetikvorlesung, die er in München 1990 hielt, trägt den Titel Das Erzählen und die guten Absichten. Als „gute Absicht“ bezeichnet er das Vorhaben, der Literatur Aufgaben aufzuerlegen. Für Nadolny sind die guten Absichten die Feinde der Literaturproduktion.58 Eine Erzählung soll nur ihre eigene Geschichte transportieren und nicht gleichzeitig die Menschheit erziehen oder für mehr Gerechtigkeit auf der Welt sorgen. Er ist sich sicher, dass die Leser am wenigsten an einer Lektüre interessiert sind, die sich das Ziel gesteckt hat, in eine bestimmte Richtung zu manipulieren. Die „Menschen wollen aber [...]

54

„Ich bin ein leidenschaftlicher Oberlehrer.“ Wolfgang Bunzel im Gespräch mit Sten Nadolny (im Folgenden: Gespräch), in: Sten Nadolny, hrsg. v. Wolfgang Bunzel (im Folgenden: SN), Eggingen 1996, S. 136. 55 Vgl. Herbert Rosendorfer, Briefe in die chinesische Vergangenheit, 20. Aufl., München 1994, S. 69. 56 Vgl. Bunzel, Gespräch, S. 136. 57 Nadolny, GuAb, S.55. 58 Ders., GuAb, S. 40; in seiner zweiten Poetikvorlesung in Göttingen im Jahre 2000 schwächt er das Feindbild ab, zumindest für sich selbst fühlt er keine akute Bedrohung durch die „guten Absichten“ mehr, er fühlt sich nach zehn Jahren der Berufspraxis gefestigter in seiner Person und nicht mehr so anfällig gegenüber Forderungen, die von außen an ihn herangetragen werden, vgl. dazu: Nadolny, GuId, S. 14.

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Lektüre ohne Lasten und Aufgaben: Sie wollen lachen, träumen, schaudern, weinen, übrigens auch denken, aber ohne Pflichtvorgabe.“59 Die einzige gute Absicht, die er zulässt, besteht in der Aufgabe der Literatur, den Menschen Mut zu machen.60 Von den gutgemeinten, aber für die Literatur eher schädlichen guten Absichten grenzt er die für die Entstehung seiner literarischen Werke wirklich „notwendigen Absichten“61 ab. Sie bilden die drei Grundpfeiler seiner Produktion. Er teilt daher seine Vorgehensweise beim Entstehen eines neuen Romans in drei Hauptabschnitte ein: Die Herstellung einer Reihe aus Einzelheiten Die Souveränität des Autors Die Festlegung der Erzählperspektive. In dieser Reihenfolge sollen die Arbeitsschritte näher betrachtet werden. 3.2.1.1 Die Herstellung einer Reihe aus Einzelheiten62 „Du hast ein Panorama vor Augen und willst es auf einen Schlag herausbringen [...] Das geht nicht, du musst dich an die Einzelheiten halten – erst die eine, dann die andere!“63 “Nicht Kreativität, sondern Wahrnehmung und Organisation von Wahrnehmungen...“64 Sten Nadolny vergleicht das Schreiben gerne mit dem Komponieren von Musik. Er betont dabei, dass er selbst nicht komponieren kann, aber er stellt sich vor, dass eine Komposition immer etwas Schönes ist und das wünscht er sich auch für die Literatur. Schönheit und Musik verbindet er auch in seinen Romanen zu einer Einheit. Die Beschreibung der Wirkung der Musik Beethovens auf John Franklin füllt eine ganze Seite, weshalb hier nur ein kleiner Ausschnitt daraus zitiert werden kann: „John meinte hier [beim Hören der Musik] die feinen Rippen allen Denkens zu erfahren, die Elemente und zugleich die Beliebigkeit aller Konstruktionen, den Bestand und das Entgleiten aller Ideen. John fühlte sich einsichtig und optimistisch.“65 Der Götterbote Hermes lauscht einem Konzert und betrachtet währenddessen die Menschen, die, „wenn sie der Musik nur zuhörten [...] entschieden schöner“ aussehen.66 59

Sten Nadolny, Zeitgemäße Literatur – Wunschziel, Unding, Selbstverständlichkeit (im Folgenden: ZL), in: Nadolny, GuId, S.205. 60 Ders., GuAb, S.59. 61 Ebd., S. 55. 62 Ebd., S. 48. 63 Ders., Selim, S. 7. 64 Ders., GuAb, S. 97. 65 Nadolny, EdL, S. 341.

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Eine musikalische Komposition setzt sich aus einzelnen Klängen zusammen, vergleichbar den Einzelheiten, aus deren Kombination die Literatur besteht. Der Musiker lebt dabei in dem unschätzbaren Vorteil, die Noten nicht erst suchen zu müssen. Sie sind ihm vorgegeben. Ein Komponist hat eine bestimmte Anzahl von Noten als begrenztes Repertoire zur Verfügung, aus denen er unzählige unterschiedliche Musikstücke zusammensetzen kann.. Der Schriftsteller steht dagegen vor dem Leben, das aus einer unendlichen Fülle von Einzelheiten besteht. Oftmals erscheinen sie von vornherein in einem bestimmten logischen oder zeitlichen Ablauf, weshalb man sie kaum als Einzelheiten erkennt. Die Besonderheit jeder Begebenheit für sich, das Einmalige oder Erzählenswerte an ihr, tritt meistens nicht ins Bewusstsein. Jeden Tag erreichen den Menschen eine ungeheuer große Menge an Informationen und Eindrücken, die das Gehirn selektiv aufnimmt und verwertet. Manche der Informationen werden zwar gespeichert, erreichen aber dennoch nicht das Bewusstsein. Es kann sein, dass sie irgendwann wieder verloren gehen oder dass sie viel später, nach Tagen oder Jahren an die Oberfläche treten und man sich „erinnert“. Um zu erzählen, ist es wichtig, dass man bewusst über die Einzelheiten seines Lebens verfügen kann. Außerdem, so stellt Nadolny fest, kann eine Erzählung nur dann entstehen, wenn es überhaupt Einzelheiten gibt. Denn sie ergeben erst das Gesamte und ohne sie passiert gar nichts. Es lässt sich jedoch nur unter großen Anstrengungen erzählen, dass nichts geschieht.67 Die Kunst des Schriftstellers ist es nun, die Einzelheiten wahrzunehmen und aufzuschreiben. Zunächst kann das eine lose Zettelsammlung von Zufallsfunden sein. Stichwortartig können Begebenheiten oder Stimmungen notiert werden. Nadolny selbst lebt tatsächlich inmitten hunderter Karteikarten, auf denen er die Einzelheiten seiner Umgebung festhält. Es ist eine „Manie, in jeder Lebenssituation auf literarisch Verwertbares zu lauern“.68 Anscheinend gibt es fast ohne Unterlass Bemerkenswertes festzuhalten. Für Nadolny, so scheint es, wird jeder Blick, z.B. aus einem Zugfenster, zum Erlebnis. Er unternimmt aber auch gezielte Recherchereisen, besucht die Orte seiner Romanhandlung und recherchiert dort die Einzelheiten, die ihm wichtig erscheinen. Der unschätzbare Vorteil des Schriftstellers fiktiver Geschichten besteht in der Freiheit der unwissenschaftlichen 66

Ders., GdF, S. 130. Ders., GuAb, S. 49ff. 68 Sven Michaelsen, Der Zauderkünstler, in: Stern (im Folgenden: Stern), Heft 8 vom 15.2.1990, S. 86. 67

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Vorgehensweise. Er muss nicht belegbar und möglichst umfassend beschreiben, was er vorfindet, sondern kann beim Spazieren gehen mit all seinen Sinnen, Ohren, Augen, Nase, Eindrücke sammeln.69 Falls er schon eine Ahnung hat, worauf es ihm besonders ankommt, ist es ihm erlaubt, mit vorgeschärften und voreingenommenen Sinnen den Ort zu erkunden. Den nächsten Schritt, das Ordnen der Notizen, durch das sie in einen neuen, teilweise überraschenden Zusammenhang gebracht werden, bezeichnet Nadolny als Narrativierung.70 Dieser Begriff birgt eigentlich die ganze Philosophie Sten Nadolnys. Um ihn dreht sich alles beim Schreiben, sei es ein Roman oder eine Poetikvorlesung. Das Wort vermittelt, dass es sich dabei um eine Tätigkeit handelt, die dem Leben die Besonderheiten abgewinnt und dadurch auf das Leben zurückwirkt. Man könnte sagen, dass das Leben durch Narrativierung eine neue Qualität erfährt, da es durch das Aufgehobensein in der Literatur zur Kunst wird. Auf der anderen Seite kann die Literatur nur dann eine direkte Wirkung auf den Leser ausüben, wenn sie voller Leben ist. Es besteht also eine Wechselwirkung zwischen Leben und Kunst und in dem Begriff Narrativierung fallen beide Seiten zusammen. Das Erkennen oder das bloße Wahrnehmen von Details bildet für Nadolny ebenfalls eine wichtige Grundlage fürs Schreiben. Der Unterschied zu den Einzelheiten besteht darin, dass es sich bei den letzteren um bereits bekannte Szenen handelt, die eben nur wahrgenommen werden müssen. Die Details hingegen eröffnen ihm eine andere Sicht auf die Welt und können so entscheidend zum Verlauf einer Geschichte beitragen. Eine einzelne Begebenheit besteht aus unendlich vielen Details, die zusammen gesehen eine Einheit ergeben. Betrachtet man aber jedes Detail für sich, verändert sich das Bild grundlegend. Ole Reuter stellt in Er oder Ich überrascht fest: „Brille abnehmen, und die Welt gewinnt.“71 Da er kurzsichtig ist, nimmt er ohne Brille nur die Details wahr: „Kurzsichtigkeit sorgt dafür, daß sich die Wahrnehmung auf Nahes und Kleines beschränkt...“72 Das Fazit, das er aus dieser Erfahrung, die ihm gute Laune eingebracht hat, zieht, klingt wie eine Lebensphilosophie: „Missstimmung verbindet sich mit einer bestimmten, zu lange beibehaltenen Brennweite. Verlagere ich für einige Minuten die Sehschärfe aufs Naheliegende oder ganz Entfernte, kehrt mein Appetit aufs Leben zurück.“73 69

Vgl. Bunzel, Gespräch, S. 121. Nadolny, GuAb, S. 56. 71 Ders., EoI, S. 65. 72 Ebd. 70

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In einem Interview vergleicht Nadolny sein Vorgehen auch mit dem Blick durch ein Mikroskop. Die Vergrößerung, der fremde Blick auf Bekanntes, das ist für ihn „der Schlüssel zum ganzen Dasein.“74 Der Blick durch das Mikroskop erlaubt es, in eine andere Welt einzutauchen, in der die vertrauten Maße und Rückschlüsse nicht mehr zutreffend sind. Aus der Reduzierung des Ganzen auf die Details entsteht umgekehrt ein neues Ganzes mit anderen kleinsten Teilen. So wird aus der Beschränkung eine Erweiterung, und zwar nicht nur eine, die mit den Sinnesorganen aufgenommen wird, sondern eine Erweiterung der Erfahrung oder der Vorstellungsmöglichkeiten. Nur so können in einer Zeit, die sich so sehr dessen bewusst ist, dass eigentlich alles schon einmal gesagt wurde und es also fast unmöglich scheint, etwas wirklich Neues zu liefern, noch interessante Geschichten entstehen. Die Einzelheiten müssen wahrgenommen und – durch einen mikroskopischen Blick z.B. - neu beurteilt werden. Sie müssen eine neue Assoziationswelt auftun und durch das Herstellen ungewöhnlicher Zusammenhänge entsteht dann doch eine neue Geschichte. Sten Nadolny möchte genau solche Geschichten schreiben, bei denen die Leser ausrufen: „Herrgott, so kann`s ja auch sein!“75 Er wehrt sich gegen das ständige Wiederholen des Immergleichen und möchte seine Leser ermutigen, selbständig zu denken und sich ein eigenes Bild von der Welt zu machen. Seinen Romanfiguren sind langsame und dafür eigenständige Gedanken ebenfalls „lieber als jene Erläuterungen, die das bereits Bekannte nur in anderen Worten wiederholten.“76 3.2.1.2 Die Souveränität des Autors „Ich schreibe das um!“77 Eine wichtige Kategorie für Nadolny ist die Selbständigkeit, sowohl des Lesers als auch des Autors. Die eigenen Gedanken zu einem Thema sind ihm stets wichtiger als das Kopieren der Realität oder, noch schlimmer, das getreue Abschreiben bei anderen. Er möchte die Wirklichkeit und die Fakten, die sie produziert oder die der Mensch aus der Wirklichkeit ableitet, für seine literarische Produktion nutzen, ohne sich unterzuordnen. „Wer der Wahrheit

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Ebd. Bunzel, Gespräch, S. 134. 75 Ebd. S. 136. 76 Nadolny, EdL, S. 307. 77 Ders., Selim, S. 433. 74

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sklavisch dient, liebt sie nicht.“78 Diesen Satz lässt Nadolny seinen Helden Selim in Selim oder Die Gabe der Rede sagen. Er lässt sich auf verschiedene Weise deuten. Zum einen ist damit ausgesagt, dass es in verschiedenen Situationen ratsamer sein kann, eine Geschichte anders verlaufen zu lassen, als die belegbaren Fakten es nahe legen würden. Zum anderen gibt dieser Satz einen Hinweis auf die Rolle des Autors. Er ist nicht länger ein Nachahmer der Natur, der sich in den Dienst der empirischen Wahrheit stellt. Der Autor ist derjenige, der die Entscheidungen über die Zusammenhänge trifft. Er nimmt bestimmte Einzelheiten auf, andere lässt er weg. Er verwaltet die Fakten und stellt aus ihnen andere Geschichten her. Gottsched schreibt 1730 in seiner Critischen Dichtkunst, dass der Dichter den Charakter historisch bekannter Personen nicht ändern dürfe.79 Nadolny setzt die Souveränität des Autors dagegen. Er ist der Überzeugung, dass ein Roman nur dann aus vorgefundenem Stoff entstehen kann, wenn der Schriftsteller eingreift und eine Auswahl trifft, die dann unweigerlich zu Veränderungen führt. Er verändert z.B. die Figur des John Franklin in seinem Sinne. Die tiefe Religiosität des historisch belegten Franklin ersetzt er durch den Glauben an die Überlegenheit der langsamen Lebensart.80 Die Realität und die historischen Figuren, die sie bevölkern, geben nur den Anstoß. Ihr Leben bildet das Gerüst, das durch die Phantasie des Schriftstellers mit neuen Einzelheiten gefüllt wird. Am Ende entsteht ein fiktives Leben auf der Folie eines realen.81 Nadolny verwendet dafür das Bild des Raupendaseins. Er vergleicht den Roman mit einer Raupe, die sich an den weichen Teilen der Blätter satt frisst, während sie die harten, strukturgebenden Rippen nicht anrührt.82 Es sei noch einmal auf Gottsched verwiesen, der für jedes Kunstwerk einen wahrscheinlichen Verlauf der Handlung fordert. Selbst wenn von einer Welt erzählt wird, die der Wirklichkeit nicht entspricht, müssen alle Handlungen und der Verlauf der Geschichte eine interne Schlüssigkeit aufweisen.83 Nadolny formuliert selbst einen ähnlichen Satz, wenn er sagt, dass die „ ‚Narrativierung’, ein Erzählbarmachen, ein fortwährendes und emsiges Herstellen von annähernd widerspruchsfreien Zusammenhängen aus dem Chaos des Geschehenen“ sei.84 Jede Erzählung lebt von ihrer Schlüssigkeit. Eine verworrene Handlung oder unwahrscheinliche Begebenheiten stoßen den Leser schnell ab. Der Ausflug in eine fremde 78

Ebd., S.418. Gottsched, VCD, S. 619 § 21. 80 Nadolny, GuAb, S.53. 81 Der Held John Franklin, den der Leser im Roman Die Entdeckung der Langsamkeit kennen lernt, entspricht nicht dem historischen John Franklin. Nadolny hat Teile der Vita übernommen, andere aus erzählökonomischen Gründen weggelassen und die Haupteigenschaft, nämlich die Langsamkeit der Wahrnehmung hat er dazu erfunden. 82 Ders., ZL, in: GuId, S. 209. 83 Gottsched, VCD, S.198 § 1. 84 Nadolny, Chancen?, in: GuId, S. 220. 79

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Welt, die voller Möglichkeiten steckt, die der Leser in seiner eigenen Lebenswirklichkeit nicht hat, ist reizvoll und durchaus gewünscht. Aber die Verhältnismäßigkeiten müssen gewahrt bleiben. Mut kann eine Geschichte nur dann machen, wenn der Leser erkennt, dass die Helden aus ihren jeweiligen Möglichkeiten das Beste gemacht haben. Greifen aber Kräfte in die Erzählung ein, die nicht in ihr angelegt sind, entsteht eine unüberbrückbare Distanz zum Leser, sodass dieser keinerlei Gewinn aus der Lektüre ziehen kann. Die Souveränität des Autors darf also nicht zu weit führen. Er muss sich innerhalb seiner einmal geschaffenen Welt bewegen. Er übernimmt gleichzeitig mit der Entscheidungsgewalt die Verantwortung für das Geschriebene. Diese Verantwortung trägt er sowohl gegenüber dem Leser als auch gegenüber dem Roman.85 Die Verantwortung gegenüber dem Roman besteht unter anderem auch darin, dass er ihn vor den Anforderungen der Gesellschaft schützt. Die Literatur an sich darf sich nicht den Zwängen einer medial vermarkteten Welt anpassen. Davon würde sie erdrückt werden. Auf die Gefahren für die Literatur, die ihr drohen, wenn sie sich in den Dienst der Marktinteressen stellen lässt, hat schon Friedrich Nicolai in der Frühaufklärung hingewiesen. Sein Gespür für die Zweiseitigkeit des Buches, das zum einen nur dem Geist verpflichtet sein soll, zum anderen aber als Ware angeboten wird und Gewinn erzielen soll, erweist sich als heute noch gültig. Die Strategien der Vermarktung haben sich dem fortschrittlichen schnellen Tempo der Gesellschaft angepasst. Immer mehr Bücher müssen immer bunter an immer mehr Kunden gebracht werden. Das Geschriebene soll leicht konsumierbar, nicht zu anstrengend, nicht zu zeitraubend sein. Eine den angeblichen Bedürfnissen der großen Masse angepasste Literatur soll die Kassen klingeln lassen. Zur Befriedigung des trivialen Geschmacks, die eine freie Literatur gefährdet, kommt noch die Angst vor dem Urteil der anderen, der Gesellschaft hinzu. Jeder möchte auf der zweifelsfrei richtigen Seite stehen, die allerdings nicht von jedem Einzelnen individuell für sich festgelegt wird, sondern die dort zu liegen scheint, wo die meisten stehen. Man möchte gut sein und richtet sich deshalb nach dem, was andere als gut bezeichnen. „[M]an hat Angst, etwas verkehrt zu machen, richtet sich danach, was andere als das richtige Mitleid, die richtige Gerechtigkeit, die richtige Art von Mut ausgeben.“86 Aus einer Mischung zwischen dem politisch und sozial korrekten Verhalten und der ständigen Forderung nach Unterhaltung entsteht eine ungute Form der Bewältigung des Erlebten. „Die

85 86

Nadolny, GuAb, S. 53 u. 95. Ders., GuId, S.35.

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schlimmsten Dinge müssen erzählt, aber nicht gezeigt werden“, erklärt der Filmemacher Olaf im Schlussteil von Selim.87 Die permanente Beleuchtung z.B. des Dritten Reiches in zahllosen Fernsehserien, die weniger zu echter Betroffenheit als vielmehr zu Abstumpfung beiträgt, ist ein Indiz dafür, dass die Fernsehmacher in der Realität noch nicht zu dieser Erkenntnis gekommen sind. Der Schrecken der damaligen Zeit wird nicht herausgehoben aus den Schrecken, die die heutige Welt erschüttern, sondern durch das korrekte Fernsehformat nivelliert. Die Bilder, die Menschen wirklich bewegen können, sind nicht solche, die nett aufgemacht daherkommen, stets darauf bedacht, die vorgegebenen ästhetischen und moralischen Grenzen nicht zu überschreiten. Nadolny wehrt sich gegen eine solche Haltung, nicht nur der Schriftsteller. Er hält wieder das Plädoyer für die unbelastete Literatur, die durch ihre Unabhängigkeit ein Stück Freiheit in sich trägt, und verurteilt damit ein weiteres Mal die guten Absichten, unter denen er nicht nur das Vorhaben versteht, eine Literatur für eine unterhaltungssüchtige Gesellschaft zu produzieren, sondern auch die Absicht, mit der Literatur zu erziehen, Ideologien zu verfestigen, andere Menschen in ihrer Freiheit einzuengen und eben das Streben nach kritikloser Anpassung und Unterordnung, nach „political correctness“.88 Literatur, die unter der Rute der guten Absichten steht wäre das Gegenteil von verantwortungsbewusster und freier Literatur und der Autor wäre ein AntiSouverän. „Die öffentlich flottierenden guten Absichten sind, im Gegensatz zu einer schlüssig entwickelten eigenen Vorstellung von Gerechtigkeit und sinnvollem Handeln, zum großen Teil oft nur das, was bei Abwesenheit der wirklichen Freiheit, der wirklichen Tüchtigkeit, der wirklichen Verantwortung an deren Stelle tritt: ein Arsenal der Absicherung.“89 Eine Entwicklung, und noch dazu eine individuell unabhängige, würde durch die Befolgung der so definierten guten Absichten unmöglich werden. Dabei gehören für Nadolny gerade „vier Dinge untrennbar zusammen: Gedächtnis, Sprache, dann die Langsamkeit des Lebens (will sagen des allmählichen Auftauchens und Verschwindens von Sicherheiten und Identitäten je nach Lebensalter), und viertens etwas, das mit den anderen dreien sofort und immer ins Geschäft kommt: das Bedürfnis frei zu sein und auf der Basis des Gewußten, Erinnerten, Verarbeiteten etwas zu erfinden, was hätte sein können, was man sich vorstellen mag oder wovor man Angst hat.“90 Die Freiheit, aus Vorgefundenem eigene Schlüsse zu ziehen und diese zu einer Geschichte zu ordnen, ohne nach den Vorgaben anderer zu schielen, scheint Nadolny ein zentrales Bedürfnis 87

Ders., Selim, S. 483. Ders., GuId, S. 14, 36 und Ders. GuAb, S. 116. 89 Ders., GuAb, S. 117. 90 Ders., Chancen?, in: GuId, S. 220f. 88

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zu sein. Er möchte immer der Souverän seiner eigenen Lebensgeschichte bleiben, unabhängig von Vorschriften für korrektes Verhalten, die nicht seiner eigenen Überzeugung entspringen. Die Souveränität des Menschen und des Autors Nadolny besteht zu einem großen Teil aus dem Verändern der erlebten Geschichten durch ein Hinzudichten oder Nichterzählen mancher Kleinigkeiten. Das Aufschreiben oder Erzählen verhilft ihm zu der nötigen Übersicht über die Einzelheiten. Während des Prozesses der Übersetzung des Geschehenen in Sprache vergewissert er sich dessen erst und macht es haltbar. Dann kann er entscheiden, was er davon erzählen möchte, und dabei richtet er sich ausschließlich nach selbst entwickelten Maßstäben. Das Sich-des-Lebens-bewusst-Werden durch die Leistung der Narrativierung, denn nichts anderes ist mit dem verändernden Erzählen des Erfahrenen gemeint, hat sehr viel mit dem erzählenden Handeln zu tun, das unter 3.4.2 genauer untersucht werden soll. 3.2.1.3 Die Festlegung der Erzählperspektive Die dritte notwendige Absicht besteht in der Festlegung der Erzählperspektive. Es handelt sich dabei wohl um die wichtigste Entscheidung. Denn mit der Perspektive wird festgelegt, was erzählt werden kann. Ein Ich-Erzähler, der nicht mit dem Autor gleichgesetzt werden sollte, kann nicht mit Bestimmtheit von den Gefühlen anderer berichten. Er ist immer ganz bei sich und seine Sicht ist damit eingeschränkt. Eine interessante Sicht der Welt erhält man immer durch die Augen eines Fremden, der nicht in der eigenen Zeit oder Kultur aufgewachsen ist. Viele Autoren haben sich schon des fremden Blickes auf Vertrautes bedient, um Missstände aufzudecken oder im Alltäglichen die Besonderheiten zu sehen. Der oben genannte Herbert Rosendorfer etwa, der in seinem Roman Briefe in die chinesische Vergangenheit nicht nur zwei unterschiedliche Kulturkreise, nämlich Asien und Europa aufeinandertreffen lässt, sondern auch noch die zeitliche Spanne von zweihundert Jahren zwischen die Protagonisten legt, die mittels einer Zeitmaschine überbrückt werden. Aus der Perspektive des Fremden hat man die Möglichkeit, alles neu zu erleben und nichts als gegeben hinnehmen zu müssen. Aber auch diese Sichtweise ist eine beschränkte. Die umfassendste Perspektive ist sicher die des allwissenden Erzählers. Nadolny räumt ein, dass es eine Geschmacksfrage sei, ob man sich für diesen Typus entscheidet. Aber eine grundsätzliche Ablehnung des allwissenden Erzählers hält er nicht für sinnvoll. Der Autor

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erfindet eine ganze Welt, den Roman, warum sollte er nicht einen allwissenden Erzähler über diese Welt berichten lassen?91 Sten Nadolny geht noch einen anderen Weg, den er in seiner Vorlesung nicht anspricht, der einem aber in seinen Büchern immer wieder begegnet. Er bedient sich oftmals einer multiplen Erzählerperspektive. Das geschieht ansatzweise bereits in Die Entdeckung der Langsamkeit, obwohl die Erzählperspektive hier meistens ganz nah bei der Hauptperson John Franklin bleibt. Das Kapitel Der Mann am Meer beginnt jedoch mit einem unpersönlichen Bericht, der durch das Weglassen von Namen eine Distanz zum Leser schafft.92 Dieser Wechsel des Erzählstils wird wenig später als Versuch Franklins gekennzeichnet, der den Überblick über eine Situation zurückgewinnen möchte: „Auch die Vogelperspektive half nicht.“93 Die eigentlich vom Protagonisten unabhängige Erzählperspektive in der dritten Person wird für einen Moment verlassen, weil der Protagonist selbst eine andere Sicht auf sich selbst und seine Umgebung wirft. Die Perspektive ist also nur eine scheinbar vollkommen autonome. In dem Roman mit dem programmatischen Titel Er oder Ich erzählt der Ich-Erzähler von sich selbst abwechselnd in der ersten und in der dritten Person und reflektiert die Möglichkeiten der beiden Perspektiven: „Man kann, wenn man eine Beobachtung notiert, das ICH zum Subjekt machen, aber auch ein ER, obwohl man ICH meint. ICH macht die Gedanken schneller, ER lässt ihnen, des Abstandes wegen, mehr Erfindungsfreiheit. [...] ICH und ER sind zweierlei Netze...“94 Oder ein Roman im Roman entsteht, wie in dem Buch Selim oder Die Gabe der Rede. Der Tagebuch schreibende Alexander, der selbst eine fiktive Romanfigur Nadolnys ist, schreibt einen Roman und denkt währenddessen darüber nach, was sein Schreiben leistet, inwieweit es die Realität verändert. Auch er wechselt zwischen der Er- und der Ich-Perspektive. In Ein Gott der Frechheit lebt eine Figur aus einer Phantasiegeschichte auch nach dem- ebenfalls fiktiven? - Tod ihrer Erfinderin weiter.95 Mit diesen Perspektivverschiebungen innerhalb einer Erzählung entstehen immer neue Facetten ein und desselben Geschehens, andererseits zerfällt die Halt gebende

91

Nadolny, GuAb, S. 54. Ders., EdL, S. 315-317. 93 Ebd., S. 318. 94 Ders., EoI, S.11. 95 Vgl. Ders., GdF, S. 265. 92

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Gesamtübersicht, sodass „Stückwerk“ übrigbleibt.96 Das trägt einerseits zur Spannung und Abwechslung bei, andererseits kann es auch zu unnötiger Verwirrung führen, die dann jede Spannung tötet. Man hat das Gefühl, dass Nadolny mit zunehmendem Schriftstelleralter das Spiel mit der multiplen Perspektive immer weitertreibt. Von seinem Erstling Netzkarte bis zu seinem jüngsten Buch Er oder Ich lässt sich jedenfalls eine Steigerung – auch in Bezug auf die künstlerische Verwirklichung - feststellen. Eine Geschichte, die auf solch unterschiedlichen Erzählebenen abläuft, wird zwangsläufig als Konstruktion wahrgenommen. Das empfindet Nadolny aber nicht als Manko, sondern gerade als das Wesen der Literatur. Er sagt „jeder Schriftsteller erzählt, ob er will oder nicht, mit jeder Zeile, dass er ein Schriftsteller sei, und zwar ein ganz bestimmter, der so schreibe.“97 Die Literatur offenbart sich also als ein Kunstprodukt, das von gewissen Entscheidungen abhängig ist, die der Autor trifft. Nadolny macht den Entstehungsprozess im Roman transparent. Er sagt, er müsse einen Text in mehreren Facetten seines Selbsts spiegeln, bis er herausfindet, was trägt und ob der Text das aussagt, was er mit ihm aussagen möchte.98 Das Ringen um die ideale Perspektive, das eigentlich im Inneren des Autors stattfindet, wird hier an der Oberfläche des Textes ausgetragen. Die Rolle des Autors ist ihm ebenso bewusst wie dem Rezipienten. Die Realisten im 19. Jahrhundert oder gar die Naturalisten forderten noch die Unsichtbarkeit des Erzählers, der ganz und gar hinter dem Roman und dem Stoff verschwinden müsse. Eine solche Illusion kann im Verständnis Nadolnys in seiner Gegenwart nicht mehr aufrecht erhalten werden. Für ihn persönlich scheint der spielerische Umgang mit seinen Figuren, den Erzähler miteingeschlossen, und mit seiner Tätigkeit selbst als notwendiger Bestandteil seiner Produktion. Dem modernen Menschen, der über sein Leben selbst bestimmen möchte, nach größtmöglicher Autonomie strebt und eine Übersicht über die Komplexität seiner Umwelt erlangen möchte, kann man keinen Erzähler anbieten, der sich selbst absolut setzt und so tut, als sei er eine unverrückbare reale Instanz. Das Bewusstsein von der Relativität der Alltagserfahrungen und der eigenen Person prägen die Perspektive des Menschen der Gegenwart. Der Charakter des Konstruktes hängt dem Leben an. Man könnte versuchen, eine Sicherheit in Form einer festen, unumstößlichen Perspektive dagegenzusetzen, zumindest in der Fiktion des Romans. Aber Nadolny wählt die entgegengesetzte Vorgehensweise: er betont 96

Vgl. Ders., Selim, S. 282. Nadolny, GuAb, S.55. 98 Christiane Schulz, Geist in Bewegung bringen. Gespräch mit dem Schriftsteller Sten Nadolny, in: Rheinische Post, Nr. 280 vom 1.12.1990. 97

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auch in den Geschichten, die er erzählt, die Konstruiertheit des Ganzen. Zu einer Zeit, in der Alexander aus Selim auf der Suche nach sich selbst und einer Tätigkeit ist, die ihm entspricht, wird ihm bewusst, dass man das ganze Leben als Inszenierung betrachten kann, „die Inszenierung als Lebenselixier.“99 Diese Betrachtung passt zu der Feststellung, die Hanns-Josef Ortheil 1987 in einem Aufsatz zur Postmoderne getroffen hat. Er zitiert Italo Calvino, der auf die Beziehung zwischen Schriftsteller und Leser eingeht. Der Autor sei sich der Mechanismen, denen er sich bedient, sehr bewusst und der Leser kenne die Spielregeln, nach denen er einen Roman lesen muss, er kenne seine eigene Rolle in diesem Spiel.100 In dem Roman Selim oder Die Gabe der Rede stehen sich der Lexikonvertreter und die Kunden in einem ähnlichen Verhältnis wie ein Romanautor und seine Leser gegenüber. Für beide Paarungen gilt: „die gemeinsame Freude am Spiel war ihre solideste Grundlage.“101 Beide Seiten leben in einer absoluten Desillusion. Sie leben in dem Bewusstsein, dass die Moderne eine Utopie war und dass sie ihrer Lebenssituation auf eine andere Weise begegnen müssen. In der Moderne empfand man alles als schwer: die eigenen Umstände, die Weltlage, die letztendlich zwei Weltkriege hervorbrachte und die Entfremdung der Menschen von der Natur, die durch die Technisierung bedingt und immer schneller beschleunigt wurde. Die Literatur reagierte darauf mit dem Rückzug ins Elitäre, in eine Welt, die in sich verschlossen blieb. Man produzierte Kunstwerke, aber fast undeutbare, die nur Experten zugänglich waren und die man „bis zur Grenze des Möglichen mit Sinn“102 anfüllte. Man empfand die Welt als in einer Krise befindlich, die man zu überwinden trachtete. Die Krise, das war das Zerfallen der Welt in immer mehr Teile, die sich nicht mehr unter ein Schlagwort subsumieren ließen. Die Menschen der Moderne verloren ihre Mitte, die Einheitlichkeit des Lebens. Sie strebten nach der Wiederherstellung der Harmonie vergangener Zeiten, waren sich aber selbst schon der Vergeblichkeit ihres Strebens bewusst. Reinhard Baumgart formuliert das Selbstverständnis der Moderne als „antizipierte Utopie“. Das „Bewusstsein, daß nach ihr gar nichts mehr kommen kann und darf, keine Überbietung und erst recht keine Postmoderne“, dominiert.103 Dennoch hat sich eine Postmoderne durchgesetzt; die Moderne wird abgelöst durch eine Einstellung zum Leben, die das Vergangene nicht negiert, sondern es in sich aufnimmt und 99

Nadolny, Selim, S. 309. Hanns-Josef Ortheil, Was ist postmoderne Literatur?, in: Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur (im Folgenden: RL), hrsg. v. Uwe Wittstock, Leipzig 1994, S. 130. 101 Nadolny, Selim, S. 310. 102 Ezra Pound, zitiert nach: RL, S. 127. 103 Reinhard Baumgart, Postmoderne Literatur – auf deutsch? Über eine lange verschleppte, leergedroschene Frage, in: RL, S. 141. 100

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damit spielt. Baumgart zitiert Wellmer und dieser wiederum Lyotard (die Verschachtelung der Zitate passt zu einem postmodernen Text, auch zu einem über die Postmoderne, die weiß, dass alles Zitat ist): „Die Postmoderne, das wäre somit eine Moderne ohne Trauer,...ohne die Sehnsucht nach dem Ganzen und Einen, nach der Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit, nach transparenter und kommunizierbarer Erfahrung, kurz, eine den Verlust des Sinns, der Werte, der Realität in fröhlichem Wagnis auf sich nehmende Moderne: Postmoderne als ‚Fröhliche Wissenschaft’.“104 Die Ernsthaftigkeit der Moderne wird hier durch eine neue Leichtigkeit aufgehoben. Die Krise ist zwar immer noch spürbar, die Kritik an der Beschleunigung und der Kälte der Gesellschaft ist nicht verstummt. Aber die Literaten suchen einen anderen Umgang mit der Situation, wie sich am Beispiel Nadolnys zeigt. In seinen Romanen zerfällt die Erzählperspektive. Er hat es aufgegeben, den Lesern eine Perspektive anzubieten, die über allen anderen steht, wie es etwa die realistischen Autoren in ihrem allwissenden Erzähler getan haben. Eine Einheit stiftende Position kann es in einer so vielfältigen Welt nicht mehr geben. Deshalb strebt er gar nicht erst nach einer Einheit, da er sie als Verlust der Pluralität empfinden würde. Die Gleichzeitigkeit vieler unterschiedlicher Meinungen und Lebensweisen bedeutet im positiven Sinne Freiheit und Bereicherung. Die Moderne sieht nur die negative Seite, den Verlust der Gemeinschaft und der sinnstiftenden Instanzen. Die Postmoderne bedient sich der Vielfältigkeit der Perspektiven, um beide Seiten, die Krise und die Chancen, die sich aus ihr ergeben, zu beleuchten. Sie stimmt dabei einen optimistischen Ton an, im Glauben an eine gelingende Überwindung der Utopie. Nach Festlegung der drei notwendigen Absichten, wenn der Autor die wahrgenommenen Einzelheiten in eine Reihe gebracht, souverän Zusammenhänge zwischen ihnen hergestellt und die Person des Erzählers erschaffen hat, beginnt die eigentliche Arbeit am Stoff. Das bedeutet, dass mit Hilfe der Sprache das ausgedrückt werden muss, was bis jetzt nur in den Gedanken vorhanden ist. Dieses Übersetzen des Gedachten in schriftlich fixierten Text ist jedoch mit gewissen Schwierigkeiten verbunden, die sich aus dem Charakter der Sprache, den Nadolny ihr eindeutig zuerkennt, ergeben.

104

Ebd., S. 145.

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3.2.2 Die Selbständigkeit der Sprache „Das Festhalten wollen sorgt fürs Verlieren.“105 Nadolny spricht von der Sprache als sei sie eine ambivalente Persönlichkeit, die ein vom Autor unabhängiges Eigenleben entfaltet. Der Schriftsteller möchte durch sie seine Einfälle festhalten und er hat eine sehr präzise Vorstellung davon, was er ausdrücken will. Er fühlt sich zunächst als derjenige, der alle Fäden in der Hand hält und über seine Produktionsmittel sicher verfügen kann. Sobald er aber den ersten Satz schreibt, merkt er, dass die Sprache ihren eigenen Gesetzen folgt, die er nicht immer zu kontrollieren vermag. Die in seinem Kopf produzierten Bilder lassen sich nicht eins zu eins in Sprache umsetzen. Auf dem Papier entsteht eine andere Welt, eine andere Landschaft und damit auch eine andere Geschichte als die, die er in sich trägt. In seinem Roman Selim oder Die Gabe der Rede beschäftigt sich die Figur Alexander intensiv mit der Kunst des Redens und Schreibens. Ihm kommt es oftmals so vor, als ob „der laut gesprochene Text einen inneren zu verfälschen [scheint], der den wahren Zusammenhang enthielt.“ 106 1950 hält Alfred Döblin einen Akademievortrag, in dem er genau auf dieses Problem eingeht. Er führt aus, welchen Schwierigkeiten der Dichter gegenübersteht, sobald er seine Gedanken in Sprache zu „überführen“ versucht. Er sagt: „Aber die Sprache ist kein Spiegel, in den einer blicken kann, um sich zu erkennen. Man bilde sich nicht ein, sagen zu können, was man meint. Vor der machtvoll gewachsenen Sprache zerfließen die meisten Träume.“107 Genauso empfindet es auch Sten Nadolny. Er formuliert beinahe identisch mit Döblin: „Die Sprache steht niemandem so zur Verfügung, dass er alle Windungen und Spiegelungen seines erzählenden Hirns und auch noch der Wirklichkeit in ihr ausdrücken kann.“108 Die Sprache, das einzige Medium des Schriftstellers, ist also kein zuverlässiges Transportmittel. Diese Krise der Unverlässlichkeit der Sprache wurde bereits 1902 von Hofmannsthal in seinem Chandos-Brief nachdrücklich beschrieben. Aber anders als Hofmannsthal sieht Nadolny das Problem weniger in dem Auseinanderfallen von Begriff und 105

Nadolny, GuAb, S. 32. Ders., Selim, S. 7. 107 Jung, KGdP, S. 171. 108 Nadolny, GuAb, S.89. 106

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Bedeutung, wodurch das Sprechen ganz allgemein zu einer Aufgabe wird, die nicht zu bewältigen ist. Er attestiert der Sprache lediglich Eigensinnigkeit, welche ihm jedoch nicht als Mangel, sondern eher als eine Chance erscheint. Er muss zwar erkennen, dass sich seine Träume nicht adäquat in Sprache übertragen lassen, es geht immer etwas verloren und etwas anderes kommt dazu. Das Aufschreiben des Erträumten oder auch bei Tage Gedachten verändert die Bilder maßgeblich.109 Es kann sogar soweit gehen, dass durch Geschriebenes Gedanken verscheucht werden. Sie entziehen sich dem Festhalten, sie schlüpfen immer wieder durch die Maschen der Sprache, mit denen man sie zu fangen versucht. Der Schriftsteller gerät also in Not, weil die Worte und Gedanken inkongruent sind. Die sprachlich geäußerten Sätze und dadurch veränderten vorsprachlichen Gedanken irritieren den Urheber, weil aus seinen Gedanken etwas Fremdes wird. So empfindet es auch John Franklin in Die Entdeckung der Langsamkeit: „Was er aus Erfahrung kannte, verwandelte sich durch Formulierung in etwas anderes, was auch er selbst nur noch sah wie ein Bild.“110 Auf der einen Seite besteht darin eine Gefahr sowohl für den Sprecher als auch für den Text, denn „der innere Text [kann] den äußeren zu Fall [bringen].“111 Für den langsamen Franklin, der alle Bilder länger als andere Menschen vor seinem inneren Auge behält, wird diese innere Seite eines Berichtes zum Problem, wenn er keine Pause machen kann, um die nur in ihm wohnenden Gedanken zu würdigen. „Jeder Bericht hatte eine äußere Seite, die logisch zusammenhing und leicht zu begreifen war, und eine innere, die nur im Kopf des Sprechenden aufschien. Zu unterdrücken war diese innere nicht, das hätte nur lästiges Stottern und allerlei Fehler im Ausdruck verursacht. John musste ihr also Zeit einräumen, ohne sie nach außen zu wenden.“112 Auf der anderen Seite stellt der äußere Text eine Bereicherung für den Sprecher dar, denn die vertrauten Dinge erscheinen wieder in einem anderen Licht. Die „Vertrautheit“ wird durch den „Reiz der Fremdheit“ ersetzt.113 Die Diskrepanz zwischen Gedanken und schriftlich Fixiertem, um die es in allen diesen Zitaten geht, wirft die Frage auf, ob es vorsprachliche Gedanken für den Menschen eigentlich gibt. 114

109

Nadolny, GuAb, S. 32. Ders., EdL, S. 270. 111 Ders., Selim, S. 257. 112 Ders., EdL, S. 108. 113 Ebd., S. 270. 110

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Die Literatur jedenfalls besteht fast ausschließlich aus Sprache.115 Der Schriftsteller muss sich zwangsläufig mit ihr arrangieren und sie sich so gut nutzbar machen wie nur möglich. Nadolny macht in seinem Produktionsprozess die Erfahrung, dass die Sprache trotz oder gerade wegen ihrer Unvereinbarkeit mit den Vorstellungen dem Autor bei der Arbeit hilft. Er glaubt an die Korrektur des Geschriebenen durch die Sprache selbst.116 Er vertritt die Auffassung, dass sich die Sprache gegen Schwere und allzu angestrengtes Bemühen seitens des Autors wehrt. Sie bietet sich dem Literaten an oder entzieht sich ihm, je nachdem, ob er ihr genügend Spielraum lässt. Nadolny sieht die Sprache also einerseits als eine Dienerin des Autors, wenn auch als eine eigensinnige, andererseits glaubt er an die Macht der Worte und des Systems Sprache. Oben wurde bereits gesagt, daß er sich mit der Sprache wie mit einer Person beschäftigt. Für ihn nimmt sie eine konkrete Gestalt an und sie weiß immer, was ihr gut tut und was ihr schadet. Die Sätze, die aus den einzelnen sprachlichen Zeichen zusammengesetzt werden, fordern selbständig ihre Konstruktion. Nadolny vergleicht diesen Prozess mit einem Haus im Rohbau. Es entwickeln sich „ständig neue, dienliche Untergedanken, auf den Ursprung ist niemand mehr angewiesen.“117 Der Protagonist Alexander macht genau diese Erfahrung, dass nämlich seine Ideen als Romanautor nicht länger für den Entstehungsprozess des Buches ausschlaggebend sind: „Ich persönlich bin nicht sicherer geworden, aber der Roman. Während ich mir Gedanken mache und Distanz zu gewinnen suche, schreibt er sich selbst weiter, autobiographisch, Nacht für Nacht.“118 Der Gedanke von der Autonomie der Sprache ist nicht neu und originär auf Nadolny zurück zu führen. Jean-Francois Lyotard119, einer der großen Theoretiker der Postmoderne, spricht sich in seiner Schrift Der Widerstreit gegen den Anthropozentrismus in Bezug auf die Sprache aus. Er entwirft eine Sprachphilosophie, in der nicht der Mensch im Mittelpunkt steht, nicht von ihm geht die Genese eines Textes aus, sondern von der Sprache selbst. Diese eröffnet ein Spiel, in das der Mensch zeitweise eintritt. Wolfgang Welsch paraphrasiert Lyotard folgendermaßen: „die Sprache ist strukturell wie ereignishaft vorgängig“ und weiter „[e]in Satz ‚geschieht’“.120 Das System der Sprache scheint vollkommen abgekoppelt zu sein 114

Ders., RoL?, in: GuId, S. 186. Auch Satz- u.ä. den sprachlich-gedanklichen Vollzug repräsentierende Zeichen sind zu berücksichtigen, z.B. Gedankenpunkte. 116 Ebd. S. 190. 117 Ebd. S. 185. 118 Nadolny, Selim, S. 162. 119 Jean-Francois Lyotard, 1924-1998, frz. Philosoph, überträgt den Begriff der Postmoderne aus der Architektur auf die Philosophie und die Gesellschaftstheorie; seine wichtigsten Schriften für die Postmoderne sind „Postmodernes Wissen“ (1979) und „Der Widerstreit“ (1983); vgl. dazu: Metzler LitKult, S. 395. 120 Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne (im Folgenden: PMM), Weinheim 1987, S. 249. 115

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vom Menschen. Die Sätze konstruieren sich nach einer ihnen innewohnenden Logik und werden nicht nach den Intentionen eines Menschen konstruiert. Für den Schriftsteller bedeutet das in letzter Konsequenz, dass er die Führungsarbeit der Sprache überlässt oder mit Alexander gesprochen: „Der Roman regiert mich wie eine Firma.“121 Daraus entstehen gewisse Probleme, nicht nur aus dem Absolutheitsanspruch den Lyotard für seine objektive, autonome Sprache erhebt, in allen anderen Zusammenhängen aber vollständig ablehnt, sondern vor allem, weil er gleichzeitig fordert, dass die Menschen neue Idiome bilden sollen. Wie aber sollten sie das können, wenn sie keinerlei Einfluss auf die Sprache haben, da diese in einem objektiven, abgeschlossenen System existiert? Auch bei Nadolny, der, wie oben gesagt, ebenfalls ein Anhänger der Autonomie der Sprache ist, ergeben sich aus der Radikalität eines solchen Ansatzes Probleme, auf die weiter unten eingegangen wird. Zunächst aber noch einmal zu den Vorteilen der Eigenständigkeit der Sprache, von denen Nadolny überzeugt ist. Die autonome Sprache bringt den Roman voran und sie warnt den Autor vor Sackgassen, aus denen er nicht mehr herauskommen wird.122 Damit trägt sie entscheidend zum Gelingen des Werkes bei. Wenn eine Situation zu verfahren ist, kann „Gelingen“ auch bedeuten, auf einen Text ganz zu verzichten. Die Sprache wehrt sich in einem solchen Fall gegen ein Umbiegen seitens des Autors. Ein Satz, der dies belegt, findet sich wieder in Selim, als Alexander ein Referat verändern möchte: „Aber der Vortrag widerstand, durch eine eigentümliche Solidarität seiner Sätze, jedem Versuch des Umschreibens.“123 Die Sprache verfügt also über destruktive Kräfte, indem sie durch ihre Eigenart und durch ihr Eigenleben die Quelle der Inspiration, nämlich die vorsprachlichen Vorstellungen, aus dem entstehenden Text vertreibt. Aber sie gleicht die Zerstörung durch ihre konstruktiven Forderungen, die sie an den Autor stellt, aus. Nadolny empfindet beides: den Gewinn und den Verlust, der durch die Sprache entsteht. In einem Aufsatz des Jahres 1997 Was heißt hier Chancen? verwendet er sogar das Bild des Todes und der Auferstehung, um die zwei Gesichter der sprachlichen Fixierung zu verdeutlichen.124 Gelungen erscheinen ihm Texte dann, wenn sie „unbeschwert, daher beweglich[]“ sind. Er versucht, alles aus den Texten herauszunehmen, was nicht unbedingt hinein muss. Er nennt 121

Nadolny, Selim, S. 267. Vgl. Ders., GuAb, S. 87f. 123 Ders., Selim, S. 122. Nimmt man die These der selbständigen Sprache wirklich ernst, könnte man ein solches Beharren auf der bestehenden Form auch als Hinweis der Sprache auf die Falschheit der Änderungsbemühungen des Autors verstehen. 124 Ders., Chancen?, in: GuId, S. 222. 122

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diesen Vorgang „Entschlackung“.125 Ein Textstück, das von allen belastenden Zusätzen befreit wurde, lässt sich, so die Überzeugung Nadolnys, problemlos vorlesen. Es bedarf keiner Anstrengung dabei, man muss nicht auf die Interpunktion achten, damit man die Aussage erfasst, sondern es entsteht ein Fluss. Angestrengte oder bemühte Sprache, der man die Arbeit an ihr anmerkt, verteidigt Nadolny nur im Notfall. An manchen Stellen scheint sie notwendig zu sein und er gewinnt ihr dann eine positive Seite ab, wenn sie sich von einem ansonsten fließenden, leichten Text durch ihre Anstrengung abhebt und dadurch eine große Wirkung erzielen kann.126 An solchen bemühten Stellen ist der Autor der Schriftführer. Der Erzählfluss entsteht jedoch nur dann, wenn der Erzähler sich ganz der Sprache und der Handlung überlässt, „dann produziert der Stoff alle Wendungen und Überraschungen [...]mit großer Zuverlässigkeit selbst.“127 Der Erzähler vergleicht in dem Roman Die Entdeckung der Langsamkeit das Schreiben mit einer Schiffsreise: „Schreiben war mühselig, aber wie eine Schiffsreise: es erzeugte die Kräfte und Hoffnungen, die es erforderte, selbst, und sie reichten auch noch für das sonstige Leben.“128 Der Roman übernimmt also tatsächlich die Führung des Unternehmens und dem Schriftsteller bleibt nichts anderes übrig, als die „Autarkie seines Werkes“129 anzuerkennen. Aus der Selbständigkeit der Sprache hat sich nach und nach eine Selbständigkeit des gesamten Buches entwickelt. Der Stoff verbündet sich mit der Sprache zu einer Einheit, der Erzähler verwaltet diese nur noch. Damit nimmt er nicht mehr die Rolle des Navigators ein, ein Begriff, den Nadolny sehr liebt, höchstens noch die des Steuermannes auf festgelegtem Kurs.130 Das Erzählen navigiert sich selbst. Darunter ist eine Fortbewegung zu verstehen, die frei von allen Fremdbestimmungen ist.131 Es ist vielleicht eine schwer vorstellbare Szenerie: das Buch entscheidet über seinen Inhalt und die Sprache filtert die Ideen des Autors aus dem Text heraus, sodass Romane entstehen, die zwar welthaltig sein mögen, die aber kaum mehr als eine Leistung des Autors angesehen werden können. Die Radikalität des Ansatzes – oben wurde bereits darauf verwiesen – steht in krassem Widerspruch zu der ebenso zentral dargelegten und in immer neuen Formulierungen 125

Beide Zitate: Ders., GuAb, S. 88. Ebd.; in: Nadolny, GuId S. 66 gibt er ein Bsp. für eine bemühte Stelle in seinem Werk Selim, nämlich die rezensionsartige Beschreibung des Filmes Shoah, S. 406 und 414f.. 127 Ders., GuId, S. 64. 128 Ders., EdL, S. 269f. 129 Ders., RoL?, in: GuId, S. 192. 130 Vgl. dazu auch: Ders., GdF, S. 113: „Und man konnte eine Geschichte nicht plötzlich annullieren. Allenfalls ließ sie sich steuern wie ein Schiff: In angemessen weitem Bogen musste sie jetzt die Richtung ändern...“. 131 Ders., GuId, S. 15; vgl. auch Kapitel 3.2.1. 126

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ausgedrückten Souveränität des Erzählers, die Nadolny sich wünscht. Die beiden Forderungen scheinen auf den ersten Blick unvereinbar. Ein Autor, der in allen Situationen „die Hosen anhaben [möchte] gegenüber dem Stoff“132 verkommt hinter einem mächtigen, sich selbst konstruierenden Werk zu einem bloßen Mitspieler. Das Problem einer absolutgesetzten Autonomie der Sprache führt quasi zur Abschaffung des selbständigen, kreativen Schriftstellers. Er übernimmt in einem großen Spiel, dessen Regeln er nicht bestimmt, lediglich die Rolle des Autors, immerhin eine Hauptrolle. Das Neue, das aus der Souveränität gegenüber den Fakten entsteht, hätte in diesem Spiel keine Chance. Denn ein objektives System, zumindest im Sinne Lyotards, produziert Sätze immer nach einem gleichen logischen Muster. Besteht aber nicht gerade im Aufbrechen gewohnter Systeme die Leistung der Literatur? Die unerwartete Wendung sowohl auf sprachlicher als auch auf inhaltlicher Ebene veranlassen den Leser zu einem Überdenken der eigenen, eingefahrenen Sichtweise. Was meint Nadolny also mit der Selbständigkeit der Sprache und des Werkes? Er will sicher nicht den Autor zu einem Handlanger der eigenen Bücher und Texte degradieren. Er möchte damit lediglich aussagen, dass es beim Schreiben, wie er es versteht, darauf ankommt, sich ganz der Sache anzuvertrauen. Die Fremdbestimmungen durch eine immer oberflächlicher werdende Gesellschaft, die ausschließlich nach Unterhaltung schreit und vor jedem Tiefgang zurückschreckt, sollten keinen Einfluss auf den Literaten haben. Der Schriftsteller nimmt am Leben teil und er sammelt im Alltag seine Erfahrungen, aus denen dann im besten Falle Literatur entsteht. Aber während des Schreibprozesses selbst muss der Autor nur noch auf die Bedürfnisse seines Werkes hören und nicht mehr auf die Bedürfnisse der Gesellschaft. Alles Auferlegte, was man unbedingt transportieren will, gefährdet das Vorhaben des Schreibens. In Die Entdeckung der Langsamkeit erfahren Franklin und seine Männer, dass „[v]ieles von dem, was Europäer auf ihren Reisen mitschleppten“ zu einem „existenzbedrohende[n] Ballast“ werden kann.133 Das gilt im übertragenen Sinne auch für den Literaten, der sich auf der langen Reise des Schreibens befindet. Besser ist es, sich auf die Situation einzulassen und zu lernen, welche Strategien sie erfordert. Der Autor sollte seine geistige Unabhängigkeit und die Freiheit seiner Literatur bewahren, indem er sich nur auf sie konzentriert. So könnte man eine Brücke schlagen zwischen der Position, die der Autor gegenüber seinem Werk einnimmt, nämlich als der unbestrittene Erfinder und Urheber der fiktiven Welten und ihrer Eigenständigkeit. Der Autor trifft die letzte Entscheidung, aber er

132 133

Nadolny, GuAb, S. 55. Ders., EdL, S. 284.

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kann den Fluss nicht erzwingen. In einen Erzählrausch trägt ihn nur die Sprache selbst, wenn er sich auf sie einlässt und ihre Möglichkeiten, aber auch die Grenzen anerkennt. 3.2.3 Das Spiel mit Versatzstücken „Erzählen [...] als ein freies Spiel mit Versatzstücken aus dem Fundus der Tradition.“134 Im Folgenden geht es hauptsächlich um die Verwendung von Zitaten in postmoderner Literatur. Dabei kann es sich um Übernahmen ganzer Sätze aus eigenen Werken handeln, um Anlehnungen an bereits Geschriebenes oder um jede denkbare Form der Verfremdung von bekannten Werken anderer Künstler. Es kann sich aber ebenso gut um direkte oder indirekte Zitate aus Werbung und Film handeln. Es wird behauptet, dass dieses Spiel mit Versatzstücken typisch für die Postmoderne sei. Was aber ist unter Postmoderne genau zu verstehen? Hier beginnen die Schwierigkeiten. Man sieht sich einer Fülle von Aufsätzen gegenüber, die alle einen Beitrag zur Postmoderne liefern möchten, in Teilen auch durchaus übereinstimmen, letztlich aber alle Unterschiedliches behaupten. Verständlicherweise ist es eine heikle Aufgabe, die Entwicklungen der Gegenwart ohne historischen Abstand überblicken und einordnen zu wollen. Unsere Vorstellungen der früheren Jahrhunderte mit ihren Epocheneinteilungen entstanden immer erst im Rückblick. Die eigene Zeit scheint die modernste zu sein, im Sinne von „am Puls der Zeit“. So ist das Wort modernus bereits im 5. Jahrhundert n.Chr. als Gegensatz zu antiquus für den lateinischen Sprachraum belegt.135 Die Vokabeln modern oder antik erweisen sich aber als sehr relativ. Sie sind unmittelbar abhängig von der gesellschaftlichen Meinung zu einer Stilentwicklung. So galt der Rückgriff auf die Antike z.B. in der Renaissance als modern, während eine wirkliche Weiterentwicklung eines innovativen Stils nicht erwünscht war. Es scheint, als könne man nicht immer fortschrittlich mit modern gleichsetzen. Außerdem etabliert sich in der Literaturwissenschaft der Begriff der Moderne immer mehr zu einem zeitlich festgelegten Epochenbegriff, der die Jahrhundertwende und die ersten drei Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts, die sogenannte klassische Moderne, umfasst, wie heterogen die Erscheinungsformen jener Zeitspanne auch sein mögen. Damit steht die Moderne als Bezeichnung der neuesten Entwicklungen nicht zur Verfügung. Das Gegenwärtigste ist deshalb in diesem epochenbezeichnenden Sinne nicht „modern“.

134 135

Anne Bohnenkamp, Von der Freiheit des Erzählens. Zur Poetik Sten Nadolnys, in: Bunzel, SN, S. 32. Metzler, LitKult, S. 448; in der deutschen Sprache taucht der Begriff erst im 18. Jh. auf.

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Welcher Begriff trifft dann auf das Heute zu? Er soll eine Abgrenzung zur Moderne darstellen, ohne den eigenen Modernitätsanspruch preiszugeben. Der Begriff post-modern scheint beide Optionen gleichermaßen zu erfüllen. Er bedeutet zunächst einmal „nach der Moderne“, gerät dabei jedoch nicht in die Nähe der Konnotation „überkommen“ oder „veraltet“. Wolfgang Welsch betont in seiner sehr engagierten Abhandlung über die „postmoderne Moderne“, wie er sie nennt, dass die Postmoderne die Moderne nicht beende oder in eine Anti-Moderne verkehre, sondern lediglich transformiere.136 Sie nimmt die Tendenzen der Moderne in sich auf, führt manches fort und findet neue Antworten auf alte Fragen. Welche Antworten das sind, darüber herrscht genauso wenig Einigkeit, wie über alles andere, was die Postmoderne angeblich ausmacht. Welsch versucht Klarheit zu schaffen, indem er die unterschiedlichen Positionen benennt und dann eine davon favorisiert. Fest steht, dass die Technisierung der Welt prägend auf die Postmoderne wirkt. Schon in der Moderne stellt sie ein zentrales Thema dar. Manche, die Futuristen beispielsweise, sehen in ihr eine Heilsbringerin und feiern sie kritiklos. Von anderen, vorherrschend im Expressionismus, wird die zunehmende Abwendung vom Menschen zugunsten einer Welt der Maschinen strikt abgelehnt. Es gibt keine einheitliche Haltung gegenüber dem technischen Fortschritt und die Dichotomie Technologisierung versus Ästhetik trifft die Sache nicht vollkommen. Es ist Welsch zuzustimmen, wenn er von dem Doppelcharakter der modernen Ästhetik spricht, die sowohl technophil als auch technophob sei.137 Beiden Ausprägungen scheint lediglich der Absolutheitsanspruch gemeinsam zu sein, mit dem sie jeweils verfochten werden. Die Postmoderne nimmt hingegen die Möglichkeiten der technisierten Welt als eine Variante eines Lebensentwurfs in sich auf, setzt sie aber nicht an die Spitze der Wahrheiten oder Wirklichkeiten, sondern nimmt abweichende Entwürfe genauso wichtig und setzt sich auch mit diesen auseinander. Weiter oben wurde schon auf die Sehnsucht der Moderne nach der Wiederherstellung der verlorengegangenen Harmonie durch Uniformierung des Lebens und der Kunst im Sinne einer einheitlichen, alle Lebensbereiche betreffenden Idealvorstellung, auf die alles ausgerichtet wird, hingewiesen. Welsch widerspricht dieser Auffassung, da er bereits in der Moderne Tendenzen sowohl der Differenzierung als auch der Uniformierung ausmacht.138 Die Postmoderne reagiert nun auf beide Ansätze mit dem genauen Gegenteil. Der Differenzierungswut setzt sie das Streben nach Ganzheitlichkeit entgegen, während sie den 136

Welsch, PMM, S. 319. Ebd., S. 50. 138 Ebd. S. 54. 137

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Uniformierungsversuchen mit gesteigerter Pluralität begegnet. Allgemein hat sich die Vorstellung, dass die Akzeptanz von Pluralität eine postmoderne Haltung ausmache, durchgesetzt. Die Aufnahme vieler unterschiedlicher Sichtweisen soll das starre hierarchische Gefüge, das auf eine einzige unumstößliche Wahrheit, die über allen anderen steht, sprengen und in ein System des gleichberechtigten Nebeneinander überführen. Jeder Versuch, das Ganze zu erfassen und darin die Wahrheit zu finden, wird suspekt. Zwar ist dem Menschen das Streben nach Ganzheit angeboren, sie kann aber nie erreicht werden. Schon deshalb nicht, weil ein Ganzes in sich begründet Abgeschlossenheit fordert. Es werden aber nie alle Positionen eingehen können, da es unendlich viele sind. Das Ganze würde also immer etwas ausschließen, womit es nicht mehr als die eine absolute Ganzheit angesehen werden könnte. Damit liefert Welsch, zugegebenermaßen auf einem sehr theoretisierenden, konstruierten Wege, den gewünschten Beweis der Überlegenheit des Pluralität fordernden Ansatzes. Die Vielheit der Welt kann nur in einem offenen System erfasst werden. Die Offenheit der Literatur spiegelt insofern die Vielheit der Welt, als man sie vielfältig interpretieren kann. Nadolny bezeichnet solche Literatur als „spielerisch, manchmal fast denksportartig, mit vexierbildhafter Einladung zu mehreren Interpretationen...“.139 Als postmodern möchte er Romane, die diese Kriterien erfüllen, nicht bezeichnen, da er in der Festlegung auf einen Begriff eine Gefahr sieht. Die Literatur würde dadurch eingeengt betrachtet, weil man nur noch den Aspekt ihrer Postmodernität beachten würde. Vor allem bietet die Zuordnung zu einem Begriff immer eine gute, weil allzu glatte Angriffsfläche für Kritiker. Die Vereinigung vielfältiger Meinungen in einem Text darf jedoch nicht zu einem bloßen Aufzählen verschiedener Meinungen verkommen. Die Zusammenhänge und Übergänge der jeweiligen Positionen müssen erkennbar gemacht werden. Nur so entsteht ein differenziertes, aber ganzheitliches Weltbild. Welsch formuliert diese Erkenntnis in dem Satz: „Die holistische Intention wird genau durch die plurale Option eingelöst.“140 Zusammenfassend kann man sagen, dass die Postmoderne die Vielfältigkeit der Welt in sich aufnehmen will, damit eine einseitige Sicht der Dinge verhindert wird. Nicht die besonders tiefe Einsicht in eine Materie steht im Mittelpunkt, wenn dadurch das Geschehen an der Oberfläche und damit die Verbindungen nicht mehr wahrgenommen werden. Übersicht wird angestrebt. Sie ist eminent wichtig in einer Epoche der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen,

139 140

Nadolny, GuAb, S. 124. Welsch, PMM, S. 63.

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in der durch Internet und rasante Transportmittel aus einem Nacheinander ein Nebeneinander wird.141 Die literarische Übersicht besteht unter anderem in der Kenntnis der ihr vorangegangenen Literatur. Schon immer gab es literarische Reaktionen auf Bücher. Besonders dann, wenn ein Text zum Vorbild für ein ganzes Genre erhoben wurde. Das geschah z.B. im Falle von Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, der als der Entwicklungsroman schlechthin angesehen wurde. Daraufhin versuchten sich andere Literaten daran, einen ähnlichen Roman zu schreiben. Man versuchte, die Regeln zu erkennen, nach denen das Vorbild entworfen war und durch die Befolgung der Regeln glaubte man, ein vergleichbares Kunstwerk erschaffen zu können. Die Künstler der Gegenwart gehen mehrheitlich anders vor. Sie bilden ihre Werke nicht „im Stile von“, sondern bleiben ihrem eigenen Stil treu, den sie, mit einem kunsthistorischen Begriff ausgedrückt, spolienartig mit Zitaten anreichern. Es entsteht kein Neo-Stil, sondern etwas ganz und gar Eigenständiges, eine Mischung gleichberechtigter Elemente. Dadurch weist die gesamte Ausrichtung der Kunstwerke nicht zurück, vielmehr werden die Übernahmen in die neuen Texte integriert. Es entsteht der Eindruck einer sehr selbstbewussten Künstlergeneration, die ohne Respekt und Scheu mit dem geistigen Eigentum, das sich im Laufe der Zeit in der Welt angesammelt hat, umgeht. Die Leichtigkeit dieses Umganges legt den Begriff des Spiels nahe, der auch in fast jedem Aufsatz über die Postmoderne verwendet wird. Mit dem Spielcharakter der Kunst ist aber keineswegs gemeint, dass nichts mehr ernst zu nehmen sei. An verschiedener Stelle wird darauf hingewiesen, dass es zwei sehr unterschiedliche Richtungen des postmodernen Schreibens gebe. Die eine Richtung wird als „banal“ und „unangestrengt“142 bezeichnet oder auch als „diffus“143. Ihr haftet das Schlagwort des „anything goes“ an, mit dem sie wissenschaftlich schon vernichtet ist. Man kritisiert die große Beliebigkeit, die aus jedem Text, der mit der Tradition bricht und eine Mischung aus Stilen und Themen aufzuweisen hat, einen angeblich gelungenen und hochwertigen macht. Die tatsächlich engagierten und bemühten postmodernen Literaten wehren sich zu Recht gegen solcherlei Vorwürfe. Wolfgang Welsch nennt diese zweite Richtung den „präzisen Postmodernismus“. Er grenzt ihn folgendermaßen gegen die diffuse Haltung ab: 141

Welsch, PMM, S. 83. Hans-Josef Ortheil, Texte im Spiegel von Texten. Postmoderne Literaturen, in: Funkkolleg Literarische Moderne (Studieneinheit 30), Tübingen 1994, S. 30/9. 143 Welsch, PMM, S. 2. 142

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„Er[der präzise Postmodernismus] frönt nicht dem Rummel des Potpourri und folgt nicht einer läppisch-beliebigen Verwirrungslizenz, sondern tritt für wirkliche Pluralität ein und wahrt und entwickelt diese, indem er einem Unterscheidungsgebot folgt. Statt die Vielheit durch Mischmasch zu vergleichgültigen, potenziert er sie durch Zuschärfung. Statt den Differenzen in freier Turbulenz ihren Stachel zu nehmen, bringt er ihren Widerstreit zur Geltung. Statt naiver oder zynischer Kompensation betreibt er einschneidende und effektive Kritik.“144 Es bleibt festzuhalten, dass es in der postmodernen Literatur zugegebenermaßen viele Zitate gibt. Das Bewusstsein, dass man nichts Neues mehr schreiben könnte, ist weit verbreitet. Hanns-Josef Ortheil bringt hierfür ein bei Eco entlehntes Beispiel, in dem die unvermeidbare Wiederholung von Sätzen, die bereits irgendwann einmal gesagt oder geschrieben wurden, sogar das alltägliche Leben betrifft. Nicht der Schriftsteller fühlt sich zu einer Quellenangabe verpflichtet, sondern der liebende Mann. Er kann nicht unbefangen seiner Geliebten seine „innigliche“ Liebe gestehen, weil er weiß, dass bereits ein Schriftsteller diesen Wortlaut gebraucht hat. Also schickt er ein „Wie jetzt Liala sagen würde“ voraus.145 Er spielt mit seinem Wissen und hofft auf das Mitspielen seiner Partnerin. Dafür wird ein bekannter Kanon vorausgesetzt, der, auf die Literatur übertragen, dem Leser ebenso wie dem Autor bekannt sein muss. Aber trotz aller Verweise darauf, dass man selbst nicht der originale Schöpfer aller Sätze ist, aus denen man einen Text zusammenstellt, entstehen durch die neue Kombination der Versatzstücke und durch das bewusste Gegeneinandersetzen von verschiedenen Meinungen oder Lebensweisen, ohne dass man dem Wunsch nachgibt, alles in einer Harmonie auflösen zu können, doch neue Geschichten. Die Innovation besteht weniger in den Themen und Motiven, sondern in einem Wandel der Struktur. Man greift unter Umständen auf eine Mischung der Genres zurück, man vermischt die sogenannte hohe Kunst mit der niederen oder trivialen. Ein Krimi ist nicht mehr länger nur ein Krimi, sondern er enthält Sozialkritik, Philosophie über eine inhumaner werdende Welt (z.B. Henning Mankells Wallander-Krimis) und ein Entwicklungsroman beschränkt sich nicht auf die Beobachtung der Entwicklung seines Helden, sondern wartet mit Szenen auf, die jeder Leser zum Beispiel aus Fernsehkrimis kennt. In Nadolnys Selim retten z.B. Alexander und Selim ein minderjähriges Mädchen aus einem Bordell. Es kommt zu einem Kampf, in dessen Verlauf eine Pistole zu Boden fällt. Alexander denkt: „Okay, handeln! [...] handeln, schießen! Er hob rasch mit der Linken die Pistole auf, ja mit der Linken, und drückte ab, mehr in Richtung Decke, er wollte einen lauten Knall, den vor allem. Aber – die Waffe war gesichert!“146 144

Welsch, PMM, S. 3. Ortheil, Was ist postmoderne Literatur? in: RL, S. 130. 146 Nadolny, Selim, S. 353. 145

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Und im Rückblick erzählt Selim den Fortgang der Geschichte: „Anna holte also wirklich ihren blöden Mantel, aber dann war der Mann, mit dem wir zuerst gesprochen hatten, plötzlich wieder mit seiner Pistole da, und zwar zwischen uns und der Eingangstür. Er beleidigte mich wieder. Der sah wohl nicht gut – ich hatte doch den Revolver in der Hand. Und er schoß als erster, ich wollte gar nicht.“147 Alexanders Gedanken erzeugen Spannung, vor allem der Gedankenstrich des letzten Satzes lässt eine Pause entstehen, ähnlich einem Atemanhalten, die sich mit allen Bedenken des Lesers anfüllt. Selims Schilderung lässt vor dem inneren Auge des Lesers die Bilder entstehen, die in jedem Fernsehkrimi zu sehen sind. Durch die Aufnahme solcher Szenen entstehen Collagen und Montagen. Die verschiedensten Lebensmuster werden nebeneinander gestellt, ohne eines davon als das wahre und einzige herauszuheben. Die Aufnahme der Pluralität, die in der Welt überall anzutreffen ist und die den Alltag des heutigen Menschen mehr als alles andere prägt, ist die eigentliche Neuerung. Das Niveau steigt allerdings nicht automatisch proportional zu der Menge der Positionen und Brüche in einem Text. Teilweise erstarren Texte in zusammenhangloser Aneinanderreihung und damit verbundener Unentschiedenheit, die keine Lösung für gar nichts darstellt. Ein reiner Eklektizismus, der eben doch nur rückwärts gewandt ist, kann nicht als postmoderne Literatur bezeichnet werden, die sich gerade durch ihren hoffnungsvollen Umgang mit der Gegenwart auszeichnet. Ihr Einverleiben des Vergangenen soll nicht für sich selbst stehen. Die Kunst der Postmoderne versteht sich nicht als einen luftleeren Raum jenseits des Lebens, in dem sich alles nur um sich selbst dreht. Der Übertrag ins praktische Leben soll vollzogen werden. Die Anstöße, die postmoderne Literatur gibt, müssen in postmodernes Verhalten übersetzt werden.148 Jene Autoren, die den innovativen Umgang mit tradierten Mitteln verstehen, sodass die Rezipienten tatsächlich einen Gewinn aus den Büchern ziehen können, verdienen den Zusatz postmodern. Die Beliebigkeit wird in diesem Fall durch eine wahre Offenheit ersetzt. Nicht alle Interpretationen sind möglich und zulässig, aber viele unterschiedliche werden gezielt angeregt und können kontrovers diskutiert werden. Erzählungen, die in diesem Sinne geschrieben sind, entsprechen genau der Vorstellung Nadolnys. Er möchte eine solche Offenheit erreichen und verurteilt „Geschichten gegen das Erzählen“.149 Die Vielfalt der Welt soll in seine Erzählungen eingehen, ohne dass eine

147

Ebd., S. 356. Vgl. dazu: Ortheil, Was ist postmoderne Literatur?, in: RL, S. 126; in Kapitel 3.4.2 muss auf diesen Zusammenhang von Literatur und Leben noch näher eingegangen werden. 149 Nadolny, GuAb, S. 123. 148

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Position absolut gesetzt wird. Das hat viel mit den guten Absichten zu tun, gegen die er anredet, und wurde oben bereits gesagt. Hier geht es aber nicht um den Vorsatz, aus dem heraus man handelt und eine Geschichte so oder so erzählt, sondern um die Technik, wie man die Vielfalt des Lebens in den Text überträgt. In den theoretischen Äußerungen Nadolnys finden sich keine expliziten Aussagen über das Einbauen von Zitaten, aber er gibt doch indirekte Hinweise, dass die Aufnahme von bereits Geschriebenem unvermeidbar ist. Denn Sten Nadolny vertritt die Meinung, dass ein Schriftsteller selbst viel lesen müsse, da er die Erfahrung gemacht hat: „Ideen [gemeint sind Ideen fürs Schreiben] stammen oft, sogar meistens aus Gelesenem und Wiedergelesenem“.150 Der Autor bedient sich aus dem Fundus der vorhandenen Literatur und erzählt die gleichen Geschichten, nur eben in seinem Stil. (Das trifft übrigens nicht nur auf die Postmoderne zu, sondern wahrscheinlich auf alle Literaturen.) In seinem Aufsatz Zeitgemäße Literatur – Wunschziel, Unding, Selbstverständlichkeit unterstreicht Nadolny genau diese Feststellung, indem er sagt, dass nicht die Anzahl der Geschichten in der Welt unbegrenzt sei, allenfalls ihre Varianten. Die Besonderheit eines Autors lasse sich nicht so sehr an der Story festmachen, die er zu erzählen hat, sondern viel mehr an seiner persönlichen Art und Weise des Erzählens. Das Wie des Erzählens steht im Vordergrund, das, was erzählt wird, tritt dahinter zurück.151 In seinen Romanen lassen sich zahlreiche Verweise auf mehr oder weniger bekannte Schriftstellerkollegen und ihre Werke ausmachen (Externe Intertextualität). Ebenso arbeitet Nadolny mit interner Intertextualität, also mit spielerischen Wiederaufnahmen eigener Zitate oder Anspielungen darauf (Interne Intertextualität). Und auch gesammelte Begriffe und die Einflüsse durch Werbung und Fernsehen allgemein gehen in seine Texte mit ein (Fundstücke). Externe Intertextualität Am auffälligsten sind Bezugnahmen auf Werke Thomas Manns und den Fauststoff. Der Schlussteil von Selim oder Die Gabe der Rede weist mannigfache Anspielungen auf Thomas Manns Zauberberg sowie Doktor Faustus auf. Alexander erkrankt schwer während seiner Suche nach Selim in der Türkei. In seinen Tagebucheinträgen stellt er wiederholt die Frage, ob er über dem schreibenden Wiederfinden Selims sterben müsse152 und er bringt sogar den 150

Ders., GuId, S. 26. Nadolny, ZL, in: GuId, S. 210. 152 Ders., Selim, S. 456/458. 151

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Teufel mit ins Spiel.153 Thomas Mann selbst erkrankte während seiner Arbeit am Doktor Faustus an Lungenkrebs. Selbstverständlich verursachte nicht der Roman die Krankheit, aber in den von Thomas Mann selbst geförderten Stilisierungen seines Lebens, in denen es aufs Engste mit seinem Werk verflochten erscheint, wird eine verknüpfende Interpretation immer wieder nahegelegt. Zumal sich der Fauststoff zu solchen Mystifizierungen besonders anbietet, da die Erlangung künstlersicher Meisterschaft oftmals mit einem Pakt zwischen Künstler und Teufel in Verbindung gebracht wird. Der fiktionale Stoff wird auf die reale Situation des Autors bezogen. Hinzu kommt, dass im Werk Thomas Manns durchweg der Zusammenhang zwischen Genialität und Krankheit betont wird. Je näher der Künstler dem Tod ist, desto schöpferischer wird er. Die wahren Künstlernaturen erscheinen im Oeuvre Manns immer als blasse, lebensferne Figuren. Zuviel Gesundheit mindert offensichtlich die schöpferischen Produktionskräfte. Auf Nadolnys Alexander trifft diese Gleichung aber gerade nicht zu, da ihm der Schluss seines Romans – trotz Krankheit – nicht gelingen will. In seinem Romantext nennt Alexander dann auch nicht Doktor Faustus als Parallele, sondern das Sanatorium des Zauberbergs, das er als „Zauberberg-Hotel“ bezeichnet, an das er sich durch seine eigene Situation, krank in einem Hotel liegend, erinnert fühlt.154 Der Zauberberg scheint überhaupt ein wichtiges Werk für Sten Nadolny zu sein, da er auch in seiner ersten Poetik-Vorlesung den fiktiven Roman Glashütte bis Hautflügler auf der Idee der Fortschreibung des Thomas-Mann-Romans basieren lässt. Am Ende entsteht eine gänzlich andere Geschichte, aber den Anstoß zu diesem Romanentwurf gab Der Zauberberg und die Figur des Hans Castorp.155 Der Fauststoff taucht neben der schon angesprochenen Stelle in Selim auch in Er oder Ich auf. Ole Reuter kauft sich auf seiner Reise das Bändchen Faust. Der Tragödie zweiter Teil von Goethe und liest eifrig darin.156 Er bezieht das Gelesene als, zunächst noch hoffnungsvolle, Vorausdeutung auf seine eigene Situation. „Fühl’ es vor! Du wirst gesunden; traue neuem Tagesblick.“157 Dann geht er aber zu einer Interpretation über, in der Faust nur noch als Betrüger gesehen wird.158 153

Ebd. S. 457. Ebd., S. 455f. 155 Vgl. Ders., GuAb, S. 71. 156 Ders., EoI, S. 84ff. 157 Ebd., S. 85. 154

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In einem dritten Buch, nämlich in Ein Gott der Frechheit, verwendet Nadolny Versatzstücke aus Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig. Er dichtet die Erzählung weiter und wendet sie ins Komische, denn er erfindet einen Post zustellenden Ortsgeist Venedigs, der die Geschichte so erzählt: „Zum Beispiel dieser Aschenbach. Er hatte sich in einen gewissen Tadzio verliebt, einen ziemlichen Tunichtgut, aber er verwechselt ihn mit dir, großer Hermes! Stirbt natürlich, aus unmöglicher Liebe und wegen Venedig ganz allgemein. Kaum ist er tot, kommen Briefe über Briefe, und alle von Tadzio. Auf so was bleib ich sitzen...“159 Es werden noch viele andere Autoren in den Romanen Nadolnys genannt, jedoch keiner so häufig wie Thomas Mann.160 Aber die Texte sind ebenso reich an Eigenzitaten. Interne Intertextualität Die Wiederaufnahme einer Figur, das Weiterschreiben der in Netzkarte begonnenen Geschichte Ole Reuters in Er oder Ich bedeutet insofern Intertextualität, als die Charaktere festgelegt sind und der Leser ein Wiedertreffen mit den schon vertrauten Protagonisten erwartet. Nadolny spielt mit diesen Erwartungen, indem er beispielsweise der Szene in Jerxheim, in der Ole die Bäckerstochter erwartet, dann aber das Geschäft doch nicht betritt, eine damals noch nicht beabsichtigte Bedeutung einschreibt: die Bäckerstochter wäre der Teufel in verführerischer Gestalt gewesen.161 Er konstruiert gewissermaßen nachträglich Intertextualität. Eine andere Art des Zitierens eigener Texte ist die Übernahme ganzer Sätze. Es scheint, als gäbe es Sätze, die Nadolny sehr wichtig seien oder sehr gelungen erscheinen und die deshalb in mehreren Büchern vorkommen. Einer davon handelt von dem Unterschied zwischen Sehen und Kennen. „Das Kennen verträgt sich mit dem Sehen wenig. Manchmal ist es sogar eine schlechtere Methode zur Feststellung dessen, was ist.“162 „Das Kennen geschieht nicht so wie das Sehen, es verträgt sich nicht einmal allzugut damit, und es ist oft eine schlechtere Methode, um festzustellen, was es gibt.“163 „Er kennt mich nicht, aber oft ist das Sehen dem Kennen überlegen.“164

158

Ebd., S. 200. Ders., GdF, S. 95. 160 Z.B. ebd., S. 18f. 161 Ders., EoI, S. 238. 162 Ders., NK, S. 47. 163 Ders., EdL, S. 104. 164 Ders., Selim, S. 497. 159

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Die Formulierungen weichen nur geringfügig voneinander ab. Nadolny hat eine Erkenntnis für sich gewonnen, er hat sich eine Meinung über die Wahrnehmung gebildet und baut diese – aus Lust am „Schmuggeln“? - in den unterschiedlichsten Kontexten ein. Ein weiterer Schlüsselsatz begegnet dem Leser in Selim und in Er oder Ich: „Ich weiß über mich nicht alles, das ist eine meiner Chancen.“165 „Ich weiß über mich nicht alles, das ist meine Chance.“166 Der relativ junge Alexander aus dem Roman Selim hat noch mehr Chancen als der sich alt fühlende und des Lebens überdrüssige Ole Reuter. Aber beiden gemeinsam ist die Philosophie, dass ein Nichtwissender mehr Möglichkeiten durch mehr Offenheit in sich trägt. Er oder Ich ist das jüngere Buch, es erschien nach Selim. Daher kann Nadolny dort das Spiel noch weiter treiben, indem er den Nachsatz: „Ein Satz, irgendwoher zugeflogen, im Kopf hängengeblieben, plötzlich verfügbar und teuflisch verständlich.“167 noch hinterher schickt. Ein anderer Satz beinhaltet zwar keine Lebensphilosophie, dafür beschreibt er sehr liebenswert eine Eigenschaft bei zwei Frauen: „Das Mädchen heißt Judith. Beim Sprechen klimpert sie mit den Augendeckeln und lässt dabei den linken immer etwas länger geschlossen als den rechten, wodurch unbeabsichtigt etwas Schelmenhaftes in alles hineingerät, was sie sagt.“168 „Beim Sprechen klimperte Jane mit den Augendeckeln und ließ den linken immer etwas länger geschlossen als den rechten, wodurch etwas Schalkhaftes in alles hineingeriet, was sie sagte...“169 Der Leser begibt sich also bei der Lektüre auf eine Entdeckungsreise, von der er intertextuelle Fundstücke mitbringen kann, womit ein Beitrag zur Lesefreude geleistet wird. Denn durch das Wiedererkennen von schon einmal gelesenen Passagen oder Formulierungen fühlt sich der Leser als ein Einheimischer in den Romanwelten Nadolnys. Er wird zu einem Verbündeten des Autors, zu einem Wissenden, dem solche Stellen ein Schmunzeln entlocken, während sie bei Lesern, die nur einen Roman des Autors kennen, diese Reaktion nicht hervorrufen können. Das Gefühl des Eingebundenseins in eine Gemeinschaft von Insidern kann sehr befriedigend sein.

165

Ebd. Ders., EoI, S. 113. 167 Ebd. 168 Ders., NK, S. 59. 169 Ders., EdL, S. 288. 166

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Fundstücke Außer den fast wörtlichen Satzübernahmen finden sich noch viele einzelne Versatzstücke. Da taucht ein türkischer Frauenname, Hayrünnissa, in zwei Werken auf170, eine ursprüngliche Titelidee, die Fünfminutenfrau, wird in Er oder Ich in eine Eigenschaft von Judith umgewandelt171 oder einzelne Begriffe wie Palettenankerhemmung oder Toteiszone mit Stauchmoränen fließen als „Beigabe und Gewürz“172 in die Romane mit ein. Die Szene in Die Entdeckung der Langsamkeit, in der John Franklin seinem Jugendfreund Sherard Lound wiederbegegnet und dieser ein Brot durch ein Loch in der Backe in den Mund schiebt, ist ebenfalls ein Versatzstück, eine Anreicherung der Geschichte mit einer Episode, die den Autor berührte, als man sie ihm erzählte.173 In seinem nächsten Roman darf man wohl gespannt auf die Wippchen-Episode sein, die er in seiner zweiten Poetik-Vorlesung ankündigt.174 Nadolny nennt diese Art von Versatzstücken „Schmuggelware“.175 Das Spiel mit den Versatzstücken, das augenzwinkernde Schmuggeln, steht manchmal in einem Bedeutungszusammenhang mit der Geschichte, als Hinweis auf eine mögliche Interpretation oder als Ankündigung eines Geschehens innerhalb des Romans. Manchmal ist es nur eine Laune, eine Verliebtheit des Autors in eine Episode oder in einen Begriff, die er unterbringen möchte. Es gelingt Nadolny aber an einigen Stellen durch den Einsatz von Zitaten oder Anspielungen auch eine Kritik. So nehmen in Selim die Türken augenzwinkernd das Wort „reklamlar“ in ihre Sprache auf, das soviel bedeutet wie „pinkeln gehen“. Es leitet sich davon ab, dass viele Menschen oftmals die Reklamepause im Fernsehen zum Toilettengang nutzen.176 Das Fernsehen beeinflusst zunehmend die Sprache und diktiert den Tagesablauf der Menschen. In Er oder Ich zeigt sich eine ähnliche Beeinflussung durch die Werbung, die jedoch eher bissig wirkt. Da denkt sich Ole Reuter eine Geschichte über einen Mitreisenden aus und schreibt: „Seine Villa, seine Pferde sind jetzt Besitz der Bank, seine Frau geht eigene Wege.“177 Die Zusammenstellung ist eine ironische Brechung der Fernsehwerbung eines Finanzdienstleisters, in der zwei Männer sich treffen und Photos ihrer Besitztümer auf den

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Ders., NK, S. 37 und Ders. Selim, S. 237. Ders., GuId, S. 30 und Ders. EoI, S. 30. 172 Ders., GuId, S. 27. 173 Ders., EdL, S. 323 und Ders. GuId, S. 65. 174 Ders., GuId, S. 66f. 175 Ebd., S. 66. 176 Ders., Selim, S. 452. 177 Ders., EoI, S. 132. 171

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Tisch blättern – wozu auch die Frauen gehören - und nur die Bezeichnungen dazu sagen, also „meine Villa, meine Pferde, mein Auto, mein Haus, meine Frau“. 3.3 Die Position des Autors Der Autor steht zwischen seinem Werk und den potentiellen Rezipienten. Er ist das Glied zwischen Produktion und Rezeption, denn die Aufnahme seines Werkes wirkt auch auf ihn und seine zukünftige Arbeit zurück. Deshalb steht dieses Kapitel ebenfalls an einer Gelenkstelle, nämlich zwischen den produktionsästhetischen Aspekten, die sich auf die Tätigkeit des Autors beziehen und den rezeptionsästhetischen Aspekten, die das Wechselspiel Literatur – Rezipient – Wirkung zum Gegenstand haben. Es findet eine Unterteilung in drei kurze Abschnitte statt, die den Autor zu verschiedenen Komplexen in Bezug setzen. Die erste Position, die es zu analysieren gilt, ist diejenige, die der Autor gegenüber seinem Werk einnimmt (3.3.1). Kann man sein Leben und das Schreiben voneinander trennen oder sind beide Ebenen unentwirrbar miteinander verwoben? In Bezug auf Nadolny stellt sich im Besonderen die Frage danach, wie er die Verteilung der Machtstrukturen erlebt, wer beherrscht wen: das Werk den Autor oder der Autor das Werk? Ein Autor lebt als Mensch in einem gesellschaftlichen System. Er richtet sich darin ein oder opponiert dagegen, er hat seine persönlichen Meinungen, unabhängig von seinem Beruf und er bezieht seine Themen aus der Welt, die ihn umgibt. Die Gesellschaft stellt wiederum Ansprüche an ihre Autoren, zumindest der lesende Teil. Glaubt Nadolny an die Wahrung einer autonomen Stellung des Autors oder muss er Kompromisse eingehen, um seinen Platz in der Gesellschaft zu erobern und zu behaupten? (3.3.2) Die Person des Autors rückt mit dem Zeitpunkt des Erscheinens seines Buches mehr oder minder lange in den Blick der Öffentlichkeit. Er wird zu dem Werk befragt, seine Genese als Schriftsteller wird dargestellt und sein Gesicht erscheint auf dem Buchumschlag und in der Werbung. Meist schließt sich an die Veröffentlichung eine Lesereise an, auf der der Autor selbst seine eigenen Texte vorliest. Die Vermarktung des Buches und seines Urhebers werden vom so genannten Kultur- oder in diesem Fall Literaturbetrieb organisiert und gesteuert. Auch hier stellt sich die Machtfrage. Empfindet Nadolny sich eher als Nutznießer oder eher als Opfer des Betriebes oder spricht er überhaupt von Gewinnern und Verlierern in dieser Zweckgemeinschaft? (3.3.3)

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3.3.1 Die Position des Autors gegenüber seinem Werk „Der Roman regiert mich wie eine Firma.“178 Die „Autarkie des Werkes“ und die Selbständigkeit der Sprache sind zwei zentrale Punkte in der Poetik Nadolnys. Er drückt seine Erfahrung dem Sinn nach so aus, dass sich der Stoff den zu ihm passenden Erzähler aussucht, und teilweise entspringt der souveräne Umgang mit den Einzelheiten weniger dem Autor als dem Werk selbst. Das alles bedingt laut Nadolny die Position des Autors zu seinem Werk. Der entstehende Text fordert seinen Produzenten ständig heraus. Der Autor muss seine Ideen behaupten, dafür sorgen, dass der Text das transportiert, was er aussagen möchte. Die Sprache und der Stoff tragen seine Entscheidungen entweder mit oder verweigern sich ihm. Die Leistung des Autors besteht nun darin, sich soweit wie möglich von seinem Werk zu emanzipieren, eine Distanz aufzubauen, die es ihm ermöglicht, das Gesamte zu überblicken und den Stoff in die beabsichtigten Bahnen zu lenken und sich gleichzeitig soweit wie nötig in die Welt seines Werkes zu begeben, um sich von ihm führen und inspirieren zu lassen. Es muss ein wechselseitiges Vertrauen entstehen. Der Autor muss sowohl sich, seinen Erfahrungen und Einfällen vertrauen als auch der Sprache, die seine Fiktion tragen soll. Folgt man konsequent Nadolnys Vorstellungen, muss man umgekehrt davon ausgehen, dass sich das Werk, das man sich im Sinne Nadolnys tatsächlich als Person vorstellen muss, sich seiner Abhängigkeit vom Erzähler bewusst ist. Die Positionsbestimmung ist jedoch noch unvollständig. Das Autorsein zeigt nur eine Seite des Menschen, der dahinter steht. Er ist auch noch vieles andere, z.B. Ehemann, Vater oder politisch engagiert. Damit seine persönlichen Bedürfnisse, die sich nicht mit denen des Autors in ihm decken, nicht unterdrückt werden, muss er ihnen Zeit widmen. Die dauerhafte Beschränkung auf die Autorschaft führt zu einer Verarmung und Einseitigkeit der Persönlichkeit.179 Nadolny schlägt das unliterarische Tagebuchschreiben als Therapie vor.180 Es hilft dem Schriftsteller, sein Leben außerhalb des Romanprojekts wahrzunehmen. Durch das schriftliche, aber nicht erzählerische Festhalten des Erlebten gewinnt der Schreiber eine größere Klarheit über das Geschehen. Das außerliterarische Leben erhält so den notwendigen

178

Nadolny, Selim, S. 267. Ders., RoL?, in: GuId, S. 194. 180 Ders., GuAb, S. 97. 179

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Raum. Der Autor muss einen Mittelweg finden. Er darf sich nicht zu sehr von seinem Werk vereinnahmen lassen, er darf sich aber auch nicht zu weit von diesem entfernen. 3.3.2 Die Position des Autors gegenüber der Gesellschaft Ähnliches trifft auch auf das Verhältnis zwischen Autor und Gesellschaft zu. Das Umfeld sowie die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Abläufe im Staat liefern die Themen und den Stoff für Geschichten. Der Autor ist auf ein gewisses Maß an Gesellschaft angewiesen. Auch wenn seine erste Schreibmotivation ausschließlich aus ihm selbst heraus kommt, wenn er lediglich dem persönlichen Wunsch zu Schreiben nachgibt181, ist er ein Stück weit auf die Gesellschaft, wenigstens auf die Leser in ihr angewiesen. Dieser Abhängigkeit kann er sich nur dann entziehen, wenn er finanziell ausgesorgt hat und sich selbst vollkommen genügt. Die meisten Schriftsteller benötigen aber zumindest das Geld, das ihre Literatur einbringt. Das Interesse an einer Reaktion durch Zweite und Dritte kann bestritten werden, glaubhaft ist eine völlig gleichgültige Haltung Kritik gegenüber nicht. Bevor es aber zu einer Auseinandersetzung der Öffentlichkeit mit einem Werk kommen kann, muss es entstehen. Nadolny setzt das Schreiben mit Isolation und „Immobilismus“ gleich: Er empfindet das Schreiben als Unterbrechung des Lebens. 182 Die Kommunikation und die Fortbewegung werden unterbrochen. „Schreiben ist eine Verweigerung des Mitmachens, Reagierens, Kommunizierens.“183 Der Schriftsteller, wie er ihn sich vorstellt, bricht den Kontakt zur Außenwelt ab, woraus sich die Einsamkeit entwickelt. Er zieht sich aus dem geselligen Leben zurück an einen Ort, an dem es nur ihn und den Roman gibt. Dort taucht der Autor in den Stoff ein und lässt das andere Leben außen vor. „Entweder einen Roman schreiben oder leben!“ ruft Sten Nadolny in seinem Aufsatz Roman oder Leben –? Diesseits und jenseits des Schreibens aus und lässt seinen fiktiven Autor in die Isolation ziehen, in der er „exzessiv“ an einem Roman arbeitet.184 Oben wurde schon darauf hingewiesen, dass ein vollständiger Rückzug aus der Gesellschaft zu einer Einseitigkeit der geistigen Tätigkeit führt und die lebendigen Bedürfnisse der Person des Autors nicht vernachlässigt werden dürfen. Der Schriftsteller muss also nach einer gewissen Zeit der gesellschaftlichen Abstinenz wieder in ihren Kreis zurückkehren. Die Dosis an Gesellschaftlichkeit entscheidet laut Nadolny über den Erfolg oder Misserfolg dieser Rückkehr. Zu viele Eindrücke, die nicht ausbleiben, sobald man sich mit Menschen umgibt, gefährden den Roman, manche Informationen zum 181

Ders., ZL, in: GuId, S. 211. Ders., RoL?, in: GuId, S. 183 und 194. 183 Ebd., S. 184. 184 Ebd., S. 182 und 194. 182

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Zeitgeschehen lassen sich aber einbauen und verhelfen dem Roman erst zu Lebendigkeit.185 Der Autor positioniert sich also am Rande der Gesellschaft insofern, als er sich in regelmäßigen Abständen aus ihr zurückzieht, um zu schreiben. Andererseits darf er sich nie ganz außerhalb stellen, damit der Weg in ihre Mitte möglich bleibt. Im Allgemeinen differenziert man zwischen den Autoren und der Gesellschaft, obwohl diese ja ebenfalls ein Teil von ihr sind. Es besteht dennoch eine Distanz zwischen beiden Gruppen. Nadolny sieht vor allem die älteren Schriftstellergenerationen als Außenstehende, die sich in ihre Autorschaft wie in ein Schneckenhaus zurückziehen. Treten sie an die Öffentlichkeit, um den Kontakt zur Gesellschaft aufzunehmen, mit der sie sonst die Berührung so gut es geht vermeiden, finden sie sich nur mühsam in der Rolle eines Autorendarstellers zurecht. Vielmehr trifft auf sie das Bild des scheuen, äußerst sensiblen und medienuntauglichen Eigenbrödlers zu. Die Medialisierung der Gesellschaft verlangt jedoch eine immer professionellere Präsentation des Autors. Er muss tatsächlich als Darsteller auftreten, der ein bestimmtes Bild von sich entwirft. Den jungen Autoren, die mit diesem Wandel auf- und in eine mediale Welt hineingewachsen sind, fällt es leichter, sich in ihr zu behaupten und durchzusetzen. Sie spielen mit großer Selbstverständlichkeit den Autor und knüpfen somit den Kontakt zwischen sich und der Gesellschaft fester.186 Eine wirkliche Vereinigung von Autor und Leser kann in seltenen Fällen im Rahmen einer Lesung entstehen. Das gemeinsame Erleben der Literatur erzeugt für einen Moment einen Gleichklang der Wahrnehmung. Der Berührungspunkt zwischen Autor und Rezipient verlagert sich von der isolierten Lektüre, für die die Person des Schriftstellers nur indirekt Wichtigkeit besitzt, zu einem geselligen Miteinander, während dessen gerade die Person des Autors im Vordergrund steht. Man trifft sich nicht nur in der Welt der Fiktion, sondern auch ganz real und stimmt „ein gemeinsames homerisches Gelächter gegen den ehrpusseligen, von guten Absichten strotzenden und zugleich das Leben Tag für Tag gründlich verderbenden – Rest der Welt!“ an.187 3.3.3 Die Position des Autors gegenüber dem Literaturbetrieb Woraus setzt sich der Literaturbetrieb, der natürlich ebenfalls einen Teil der Gesellschaft darstellt, aber einen sehr spezifischen, zusammen? Verlage und Verleger, Rezensenten und Journalisten sowie das Publikum bei Lesungen machen ihn aus. Der Autor begibt sich in den 185

Vgl. Ders., ZL, in: GuId, S. 210. Vgl. Ders., Chancen?, in: GuId, S. 218f.. 187 Ders., GuAb, S. 107. 186

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Betrieb, wenn er auf Öffentlichkeit angewiesen ist. Er nutzt die Vermarktungsstrategien, für die der Literaturbetrieb hauptsächlich zuständig ist, um Popularität zu gewinnen. Nun herrscht aber in Autorenkreisen eine schlechte, geradezu verächtliche Meinung über das Szenarium dieser Veröffentlichungs- und Werbemaschinerie. Sie fühlen sich dem Betrieb wehrlos ausgesetzt, schlüpfen in eine Opferrolle und verlieren sich in endlosem Lamentieren über das kommerzialisierte und geistlos gewordene Kulturleben. Sie beklagen, und Nadolny räumt ein „zurecht“ ein, dass eine freie Entscheidung, ob man den Rummel um Buch und Person mitmachen möchte, in der heutigen Zeit nicht mehr gegeben sei. Die Fülle an Angeboten und die schnelle Verfallsdauer kultureller Produkte, verhindere die Wahrnehmung neuer Literatur, die nicht durch ständige Präsenz in Werbung und Presse publik gemacht worden sei.188 Nadolny versucht, trotz seiner prinzipiellen Zustimmung zur Bedenklichkeit der Entwicklung, die Stilisierung des Autors als Opfer zu vermeiden. Er macht sich bewusst, welchen Nutzen er als Schriftsteller aus dem Vorhandensein des Literaturbetriebes ziehen kann. „Denn bin nicht ich derjenige, der an die Öffentlichkeit tritt und anderen zumutet, ja sogar von ihnen verlangt – energisch! -, dass sie sich mit meinem Werk beschäftigen?“189 Die Koordination dieses Schrittes übernimmt der Betrieb für den Autor und sorgt für größtmögliche Effektivität. Nadolny deckt die Schizophrenie auf, die in der Klage über die Prominenz besteht, nach der man vorher mit allen Mitteln strebte.190 Das Erreichen eines hohen Bekanntheitsgrades vergrößert die Auflagenzahlen und damit den potentiellen Leserkreis, was sich auch finanziell positiv auswirken kann. Gleichzeitig steigen die Ansprüche, die eine Gesellschaft an berühmte Leute stellt. Sie fordert Verfügbarkeit, Kompetenz außerhalb des eigentlichen Arbeitsgebietes bei nicht nachlassender literarischer Produktivität. Der bestehende Zusammenhang zwischen dem gewonnenen Erfolg und der verlorenen Anonymität (die nicht nur bedeutet, im Abseits zu stehen, sondern eben auch für die nötige Geborgenheit und Ruhe während des Schreibens sorgt) muss vom Autor erkannt und akzeptiert werden. Er muss eine Balance herstellen. Er errichtet und verteidigt eine persönliche Schutzzone bis zu deren Grenze er die Forderungen des Betriebes erfüllt. Solange sich die Forderungen auf den Bereich seines literarischen Schaffens beziehen und seinen Überzeugungen nicht zuwiderlaufen, sollte er genau prüfen, ob er es ablehnt, auf sie 188

Ebd., S. 112. Ebd. 190 Ebd., S. 111f. 189

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einzugehen. Die Grenze verläuft da, wo er, aufgrund seiner durch den Schriftstellerberuf bedingten Popularität, um eine Stellungnahme zu aktuellen Themen gebeten wird, die er nicht in einem Roman verarbeitet hat. Denn dann spricht er als Privatperson und nicht als Autor. Nadolny besteht auf der Souveränität des Autors, die über das jeweilige Werk hinausgeht. Es handelt sich diesmal nicht um eine geliehene Überlegenheit, die eine unechte, da vom Werk abhängige ist, sondern um eine wirkliche Herrschaftsgewalt des Autors. Er navigiert sich durch den Betrieb, entscheidet, wie er sich als Autor darstellen möchte, welche Geschichte er zwischen seinen Romanen von sich erzählt.191 Ein wenig flapsig formuliert Nadolny: „Wenn ich mich [bei den Auftritten in Kulturkreisen] zu wenig als Autor und zu sehr als Autorendarsteller fühle, als Figurant in einem unproduktiven Veranstaltungswesen – ja, kann ich vielleicht nicht absagen, wenn es mir zu dumm wird?“192 In einem weiteren Punkt fordert Nadolny Unabhängigkeit des Schriftstellers von Rezensentenmeinungen. Sobald eine Festlegung auf einen einmal gewählten und gelobten Schreibstil erfolgt oder, noch schlimmer, auf eine Figur des Werkes, gelte es aufzupassen. Nadolny empfiehlt, zur Identifikation sich anbietende Helden im Roman sterben zu lassen.193 So entgehe der Autor am sichersten der Vorstellung des Betriebes und der Gesellschaft, die einmal erschaffene Figur sei man selbst. Ein solches Alter Ego hat sich auch Nadolny in dem bahnfahrenden Ole Reuter erschaffen, der nach vielen Jahren der Abwesenheit in einem zweiten Roman wieder auftaucht, um nun endgültig beseitigt zu werden. Sten Nadolny wollte sich des Ole Reuter entledigen, damit er nicht auf ihn festgelegt werden kann.194 Zuletzt gibt Nadolny zu bedenken, dass die Abhängigkeit nicht einseitig vom Autor ausgeht. Der Literaturbetrieb existiert nur, solange Literatur produziert wird. „Die Erzähler sind die Hersteller der Fiktionen, Figuren, Narrationsketten, sie bilden die Landschaft, auf der der Betrieb sich abspielen kann.“195 Die Literatur bietet die Grundlage, auf der sich der Betrieb ansiedelt und über die er streitet. Jede der beiden Seiten, die Autoren auf der einen und die Kritiker auf der anderen, lebt und arbeitet in der Vorstellung, der Wichtigere zu sein. Der Schriftsteller Nadolny sieht sich als „das Gebirge, auf dem die Kritiker herumklettern“196, während die Kritiker sich mit großem 191

Ebd., S. 109. Ebd., S. 112 193 Ebd., S. 109. 194 Vgl. Iris Radisch, Die Leiden des 68ers. Warum Sten Nadolny seinen Helden nicht mag, Gespräch mit Sten Nadolny, in: DIE ZEIT, 54. Jahrgang, Nr. 41 vom 14.10.1999, S. 58. 195 Nadolny, GuAb, S. 113. 196 Ebd., S. 114. 192

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Selbstverständnis als die alleinigen Besitzer der Wahrheit und des richtigen Urteils über ein Buch sehen. Der Autor ist sowohl in der Position des Belieferers des Literaturbetriebes, als auch in der des Nutznießers. Die Methoden der Vermarktung und Publizierung müssen ihm nicht gefallen und er hat das Recht, wenn nicht sogar – im Interesse seines Werkes - die Pflicht, sich zeitweise aus dem Betrieb auszuklinken. 3.4 Rezeptionsästhetische Aspekte Die Rezeptionsästhetik wird am Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts begründet und ihre Ausrichtung zielt auf die verstärkte Beachtung des Leserrolle. Der rezeptionsästhetische Ansatz geht dahin, den literarischen, d.h. fiktional-ästhetischen, Text nicht „ausschließlich als autonomes Objekt mit einer eigenen Ontologie“197 wahrzunehmen, sondern die Intention des Autors sowie die Reaktion des Lesers bei einer Interpretation zu berücksichtigen. Denn der Text wird als „Netzwerk von an den Rezipienten gerichteten Appellstrukturen“198 verstanden. Man geht sogar noch einen Schritt weiter, indem von der prinzipiellen Unfertigkeit eines dichterischen Textes ausgegangen wird, solange er nicht rezipiert wurde. Das Lesen vervollständigt erst die Literatur. Der Leser leistet seinen Beitrag durch die Interpretation. Die Einbeziehung der individuellen Interpretation durch jeden beliebigen Leser in die Literaturrezeption verweist auf die Nähe der Rezeptionsästhetik zur Hermeneutik. So formuliert ein Hermeneutiker einen der wichtigsten Gedanken der rezeptionsästhetischen Theorie. Hans-Georg Gadamer spricht einem Text eine eindeutig eingeschriebene Bedeutung ab und dem Leser die entscheidende Rolle des Wahrnehmenden und Verstehenden zu, wodurch der Roman als ästhetischer Gegenstand erst vervollständigt erscheint.199 Die Wahrnehmung und Interpretation eines ästhetischen Textes durch den Leser hängt dabei entscheidend von dessen persönlicher und der überindividuellen zeitgeschichtlichen Situation ab. „Das Ästhetische ist hier also durch den prozessualen Charakter eines interaktiven Verstehensvorganges gekennzeichnet, dessen jeweilige geschichtliche Verwurzelung unausweichlich ist.“200 Die Interpretation wird von der Intention des Autors201, der Person und Lebenserfahrung des Lesers und den jeweiligen historischen Umständen geprägt. Bei den Rahmenbedingungen, die z.B. durch die Epoche, die Staatsform und die Wirtschaft 197

Metzler, LitKult, S. 549. Ebd. 199 Ebd. 200 Ebd. 201 Gemeint ist, dass jeder Text nur einen kleinen Teil von Welt in sich trägt und damit einen zwar großen aber nicht unendlichen Spielraum der Interpretation zulässt; welche Weltansichten eingehen, entscheidet der Autor. 198

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vorgegeben sind, handelt es sich um objektive, nachvollziehbare Größen. Die Autorintention liegt verschlüsselt im Text vor. Sofern der Autor nicht außerliterarisch seine Absicht oder Motivation erläutert hat, bleibt ihre Rekonstruktion jedoch spekulativ. Schon hier begibt sich der Interpretant, will er solche Faktoren in seiner Ausdeutung des Textes berücksichtigen, auf ein Terrain, das nicht durch Empirie abgesichert ist. Einem völligen Subjektivismus wird aber dann Vorschub geleistet, so die Kritiker der Rezeptionsästhetik, wenn außer der Individualität des Autors auch die Individualität des Interpretanten selbst in die Ausdeutung einfließt. Um diesen Vorwurf zu entkräften, gibt es Bemühungen, die unendlichen Leserindividuen in Gruppen einzuordnen, woran erkennbar werden soll, dass der Rezeptionsprozess „von institutionalisierten Konventionen geleitet ist.“202 Es gilt, aus der Menge der Einzelinterpretationen ein gemeinsames Muster zu abstrahieren, das allen Deutungen zu Grunde liegt. Bei allen Zweifeln an der Wissenschaftlichkeit oder Nachprüfbarkeit des Ansatzes, bleibt festzuhalten, dass die Rezeptionsästhetik dem Leser einen vorher nie gekannten Stellenwert einräumt. Er projiziert seine persönliche Weltkonzeption auf die Lektüre und sucht nach einer Spiegelung seiner Vorstellungen im Text. Es herrscht die Erkenntnis, dass nicht der Text alleine die Richtung der Auslegung vorgibt, dass es nicht die eine, wahre Interpretation geben kann, sondern dass der Rezipient konstituierend teilhat an Botschaften, die Literatur vermittelt und dass ein Text verschieden gelesen und verstanden werden kann. Die Kombination der rezeptionsästhetischen Theorie mit anderen literatur- und verstehenstheoretischen Ansätzen, wie z.B. der Produktionsästhetik oder der Hermeneutik, ermöglicht ein umfassendes Bild der Entstehung, Wirkungsweise und Bedeutung von Literatur. Man beschäftigt sich mit dem Kontext der historischen Situation, den Produktionsbedingungen des Autors, den Rezeptionsbedingungen des Lesers und den immanenten Strukturen von Texten. Im Hinblick auf die Theoriebildung bei Sten Nadolny wurde der Komplex der Produktionsästhetik bereits ausführlich behandelt. Das Aufspüren und Erläutern der Strukturen seiner Romane übernehmen hauptsächlich Literaturwissenschaftler. Aber über die Rolle der Leser reflektiert Nadolny selbst in seinen Schriften ausgiebig. Zudem entwickelt er einen ganz eigenen konstruktivistischen Ansatz in Bezug auf die Verknüpfung von Leben und Erzählen. Beide Punkte sind miteinander verbunden und sollen nun näher untersucht werden.

202

Metzler, LitKult, S. 550.

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3.4.1 Weltbilder oder Der ideale Leser Zuerst soll erklärt werden, welcher Zusammenhang zwischen Weltbildern und einem idealen Leser besteht. Dazu muss kurz auf die Theorie des Konstruktivismus eingegangen werden. Für die Konstruktivisten gibt es keine objektive Sicht auf die Welt. Sie bestreiten sogar die Objektivität der Empirie und relativieren damit die hauptsächlich angewandte Methode zur Gewinnung überindividueller Erkenntnis, deren sich vor allem die Naturwissenschaft bedient. Sie stützen ihre Theorie auf die unbestreitbare Tatsache, dass die Welt von Menschen beobachtet wird und diese ziehen die Schlüsse aus den Beobachtungen. Es existiert keine beobachtende Instanz, die unabhängig vom Menschen ist. „Der Beobachter ist ein lebendes System, und jede Erklärung der Kognition als eines biologischen Phänomens muß eine Erklärung des Beobachters und seiner dabei gespielten Rolle beinhalten.“ 203 Selbst die Beschreibung der Beobachtungsweise ist entscheidend vom Beobachtenden selbst abhängig. Die Naturwissenschaft akzeptiert als Beweis ein häufig genug wiederholtes Experiment mit einem immer gleichen Ergebnis. Wenn verschiedene Menschen die Welt um sie herum auf eine vergleichbare Weise beschreiben und beurteilen, dann verfestigt sich dieses Modell in der Gesellschaft und die Wissenschaftler bauen darauf auf.204 Die Konstruktivisten sprechen jedoch jedem Experiment die absolute Objektivität ab, da immer der Mensch beteiligt ist oder eine vom Menschen gezogene Schlussfolgerung daraus resultiert. Eine solche Ablehnung einer allgemeingültigen Festlegung auf eine Interpretation der wahrgenommenen Phänomene muss in einer Welt, in der die Menschheit nach einer absoluten Beherrschung aller Lebensbereiche strebt und sich zur Verwirklichung dieses Zieles Systemen bedient, die von einer als objektiv geltenden Wissenschaft entwickelt wurden auf Unverständnis und Ablehnung stoßen. Denn durch sie wird in Zweifel gezogen, dass der Mensch über den Dingen steht. Man möchte außerdem gerne glauben, dass es eine 203

H. R. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, zitiert in: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus (im Folgenden: RK), hrsg. v. Siegfried J. Schmidt, 6. Aufl., Frankfurt am Main 1994, S. 24. 204 Ein solches Modell kann z.B. die Beobachtung sein, dass ein Stein immer zur Erde fällt, sooft eine Person ihn loslässt. Wiederholt sich dieser Vorgang beispielsweise tausendmal unter unterschiedlichen klimatischen und geographischen Verhältnissen und zwar auch dann, wenn unterschiedliche Personen den Stein loslassen, formuliert man daraus ein Gesetz, nämlich das der Schwerkraft. Damit muss von nun an schon vor dem Loslassen angenommen werden, dass der Stein falle. Genau diesen Rückschluss verweigern die Konstruktivisten. Sie geben zu bedenken, dass ein Ergebnis zwar in einer ungeheuer großen Anzahl von Wiederholungen erreicht werden könne, aber der Mensch hat nur eine endliche Zeitspanne zur Verfügung, um Experimente durchzuführen. Es ist rein theoretisch jedoch denkbar, dass der Stein ein einziges Mal nicht fallen würde. Dieses eine Mal tritt nicht ein, da die Wahrscheinlichkeit, dieses eine Mal aus einer unendlich großen Anzahl von Möglichkeiten zu treffen, verschwindend gering ist.

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unveränderliche, feststehende Wirklichkeit gibt, damit man den Verlust an Halt, der durch die Zurückdrängung des Glaubens und der Mythen aus dem alltäglichen Leben entstanden ist, kompensieren kann. „Reality is an interactive conception because observer and observed are a mutually dependent couple.”205 So lautet eine treffende Beschreibung der konstruktivistischen Sicht. Sie bürdet dem Menschen eine große Eigenverantwortlichkeit auf. Er muss seine Konstruktion der Welt jeden Tag neu erschaffen. Seine Vorstellungen beeinflussen sein Leben und umgekehrt beeinflussen seine täglichen Erfahrungen die Vorstellungen. Auf den idealen Leser lässt sich dieses Modell insofern beziehen, als auch er eine konstruierte Welt in sich trägt, die sich durch ständig neue Erfahrungen wandelt.206 Einen Teil seiner Erfahrungen bezieht er aus Lektüre. Die Konstruktion der Romanwelt trifft auf die Konstruktion in seinem Kopf. Zum Idealleser wird er, wenn beide Konstrukte übereinstimmen. In dem Fall der Bestätigung seiner Weltsicht durch den Roman fühlt er sich ermutigt, auf dem beschrittenen Weg weiterzugehen. Er wird sein Lebenskonzept in diesem Sinne weiterentwickeln. Es entsteht also eine Wechselwirkung zwischen dem Leben und der Literatur. Das Leben geht in die Literatur ein, denn im Roman spiegelt sich selbstverständlich die Konstruktion des Autors, die er aus seinen Erfahrungen entwickelt hat, und die Literatur wirkt auf das Leben des Lesers zurück (auch auf das des Autors, wenn er die Reaktionen der Rezipienten erfährt), der für sich fruchtbare Gedanken aus der Lektüre zieht und diese in sein Konzept einbaut. Nadolny verwendet nicht den Begriff der übereinstimmenden Konstruktion von Welt – aus welchen Komponenten sie sich zusammensetzt, muss weiter unten geklärt werden -, sondern drückt es mit Hilfe einer Allegorie aus: „Die Sprache schafft [...] ein Geäst, in dem sich die Gedanken und Gefühle der Leser niederlassen können wie Vögel. Es ist [...] gut, wenn die Schwärme, die der Autor selbst im Hirn hat, es nicht besetzen, bevor die Leser einfallen können – denn wie sollten sie dann noch landen?“207

205

H. von Foerster, zitiert in: Declaration of the American Society for Cybernetics, in: Schmidt, RK, S. 12. Die Herstellung einer Beziehung zwischen der Theorie des Radikalen Konstruktivismus und dem Bild des Ideallesers bei Sten Nadolny ist deshalb zulässig, weil Nadolny angibt, sich mit solchen philosophischen und psychologischen Ansätzen zu beschäftigen, aber immer nur im Rahmen seiner eigenen Arbeit, also dem Schreiben und Erzählen. Vgl. dazu: Nadolny, GuAb, S. 226, Anmerkung 11. 207 Nadolny, RoL?, in: GuId, S. 186; es geht in diesem Zitat auch um die Eigensinnigkeit der Sprache (s. Kap. 3.2.2), die Inkongruenz vorsprachlicher Gedanken und schriftsprachlich fixierter Begriffe. 206

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Wie aber entsteht eine deckungsgleiche Konstruktion (nicht im Sinne des Radikalen Konstruktivismus, sondern im Sinne von Nadolny) und welche Funktion oder Bedeutung hat der Idealleser für den Autor? Es muss klargestellt werden, dass es den idealen Leser zunächst einmal nur in der Phantasie des Schriftstellers gibt. Stellt sich nach Veröffentlichung des Buches heraus, dass es einen tatsächlich idealen Leser gibt, der sich zu hundert Prozent mit dem Text identifiziert, bedeutet dies den „schönsten Erfolg“208 für Autor und Roman. Der gedachte Leser, den Nadolny als den „Dritten“ bezeichnet, hat mehrere Aufgaben zu übernehmen. Die Bezeichnung als Dritter rührt von der Überlegung her, dass der Autor der erste Leser seines Werkes sei und ein konkreter Zweitleser notwendig ist. Die Rolle des Zweitlesers kann entweder ein Familienmitglied oder ein Lektor übernehmen, die Person muss aber Vertrauen in den Urheber des Manuskriptes haben, da sie sonst die Schwächen und Stärken des unfertigen Textes nicht erkennen kann.209 Der Dritte wäre dann folgerichtig der zweite fremde oder außenstehende Leser, der allerdings nicht konkret existiert und in seiner Konzeption auch auf ein nur fiktives Dasein angelegt ist. Auf der einen Seite liegt sein Vorteil in der Vagheit seiner Erscheinung210, auf der anderen Seite knüpft Nadolny sehr konkrete Vorstellungen an ihn. Er ist ein Mensch der geistigen Offenheit, der sich das Staunen der Kinder bewahrt hat, gleichzeitig aber im Besitz einer großen Weisheit ist.211 Mit diesen Eigenschaften ausgestattet, wird er dem Autor zum Freund, der ihn während des Schreibens, aber auch zwischen zwei Romanen ständig begleitet. Er fungiert als Korrektiv und zwar sowohl in Bezug auf den Roman, als auch auf das Leben des Autors. Die Vorstellung, für einen Dritten zu schreiben, der sich offen auf Neues einlässt, zugleich aber anspruchsvoll und sehr aufmerksam ist, den man nicht leicht täuschen kann und der Unstimmigkeiten, Längen und Übertreibungen sofort aufspürt, fordert den Schriftsteller heraus. Er zwingt ihn zu Pointierungen, damit größtmögliche Klarheit erzielt wird, zu Streichungen, um einen Spannungsbogen nicht durch Nebensächliches zu zerstören212 oder zu näheren Ausführungen, damit der Gedankengang präzise nachvollziehbar wird. Alle Korrekturen werden angebracht, um dem Rezipienten eine Reaktion zu entlocken.213 Dabei ist jede Form der Reaktion, ob Zustimmung oder Ablehnung, erwünscht. Was in Selim oder Die 208

Ders., GuAb, S. 106. Ebd., S. 92f. 210 Ebd., S. 52 und 105. 211 Ebd., S. 93. 212 Vgl. ebd., S. 87. 213 Ebd., S. 51. 209

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Gabe der Rede für den Erzähler Selim gilt, der den Zuhörer „packen, überraschen, bewegen , ändern“, ihn ansprechen und aus der Reserve locken will214, gilt gleichermaßen für den Romanerzähler Nadolny und seine potentiellen Leser. Um all das zu erreichen, bedarf es des Respekts vor dem Zuhörer oder Leser und „Respekt ist nichts Lebloses oder nur Regelhaftes, er verlangt Beobachtung und Gedächtnis.“215 Nadolny ist es wichtiger, den Leser überhaupt angesprochen und zu einer Stellungnahme bewegt zu haben, als seine Intention oder seine Sicht der Dinge als verbindlich darzustellen. Seinen Helden John Franklin lässt er die Überlegung anstellen, dass ein Satz gerade dann brauchbar sei, wenn er offen genug ist, damit jeder seine eigenen Gefühle hineinlegen kann oder sogar muss.216 Die Freundesqualität des gedachten Dritten, veranlasst den Autor zu einer permanenten Überprüfung der Kongruenz zwischen Literatur und Leben. Für Nadolny gehören beide Bereiche zusammen und er glaubt, dass man Werken anmerkt, wenn ihr Urheber sein eigenes Leben in Widerspruch zu den Äußerungen bestreitet, die er in den Texten formuliert. Für sich persönlich hat er die Erfahrung gemacht, dass man nicht „einerseits ein mieser Hund“ sein kann und „andererseits wunderbare Gedanken“ aufs Papier bringt.217 Er spricht von einem „bestandenen Leben jenseits der Gesammelten Werke“.218 Er plädiert für den tugendhaften Schriftsteller, da für ihn das Erzählen und das Schriftstellersein nicht mit dem Ende des Romans aufhört, sondern ins Leben übergeht. Die Weltkonstruktion des Autors und des Dritten müssen größtenteils übereinstimmen, damit dieser zum Idealleser wird. Es kommt dafür nicht nur auf eine deckungsgleiche Bedeutungszuweisung zu Begriffen an, sondern vor allem auf drei Faktoren: den Stoff, die Sprache und den Rhythmus. Als erstes muss sich der Leser durch das Thema des Buches angesprochen fühlen. Er greift zu Büchern, die ihm Vertrautes zu behandeln scheinen. Das geschieht zum einen aus dem Wunsch heraus, Fragen beantwortet zu bekommen, zum anderen, um eigene Anliegen in Büchern gewürdigt und aufgehoben zu sehen.219 Als zweites spielt die Sprache eine wichtige Rolle. Jeder Mensch hat seinen Idiolekt, seine bevorzugten Ausdrucksweisen und seinen individuellen Verstehenshorizont. Zu allen 214

Ders., Selim, S. 416f. Ebd., S. 417. 216 Ders., EdL, S. 270. 217 Bunzel, Gespräch, S. 129. 218 Nadolny, GuAb, S. 115. 219 Ders., ZL, in: GuId, S. 204f. 215

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Bestandteilen, aus denen sich seine Sprache zusammensetzt, muss die Sprache des Romans passen. Es ist nicht notwendig eine absolute Übereinstimmung zu erreichen, im Gegenteil kann der Reiz in der Diskrepanz zum Alltäglichen liegen. Aber der Leser sucht eine Sprache, „in der er sich wiederfindet.“220 Die Sprache muss in ihm Assoziationen freisetzen und ihn ganz in sich aufnehmen, um ihm den Zugang zu der Welt des Romans zu öffnen. Wirklich hineingelangen kann der Leser in diese Welt aber nur, wenn auch der dritte Faktor, der Rhythmus, mit seinem Empfinden übereinstimmt. Für Nadolny ist der Rhythmus eines Menschen ungeheuer wichtig. Daher kritisiert er auch das Fernsehen so scharf, weil es den individuellen Rhythmus durch einengleichgeschalteten überlagert. Alexander fühlt sich nach einem Fernsehabend „als Bestohlener“, der Fernseher hat seine Zeit aufgefressen.221 Das Erzählen hingegen „widersteht der Eile, es verfügt über ein unangefochtenes Volumen an Zeit und Bewegungsfreiheit.“222 Jeder Leser kann in seinem Rhythmus bleiben, zurückspringen, voraneilen wie es ihm angemessen scheint. Um eine Romanfigur zum Leben zu erwecken, braucht sie ebenfalls ein eigenes, ihr eingeschriebenes Zeitgefühl. Dieser Aspekt erlangt besonders in seinem Roman Die Entdeckung der Langsamkeit große Bedeutung. Dort weist Franklin einen ungeduldigen Zuhörer darauf hin: „Wenn ich erzähle, Sir, brauche ich meinen eigenen Rhythmus.“223 Das gilt für den Erzähler eines Berichtes ebenso wie für den Erzähler eines Romans, wobei der Romanschriftsteller bei seiner Arbeit gleichzeitig den Rhythmus seiner Figuren miterzählen und anpassen muss. Der Wechsel zwischen langsamer und rascher Wahrnehmung, der durch das Aufeinanderfolgen von angefüllten und leeren Tagen bedingt wird, trägt entscheidend zum Bild eines Menschen bei. Aus diesem Wechsel resultiert eine Spannung, die das Leben und einen, den Leser in seinen Bann ziehenden Roman ausmacht.224 Die „Zubilligung der Ich-Zeit“225 ist Nadolny wichtig und zwar möchte er sowohl seinen Romanhelden dieses persönliche Zeiterleben ermöglichen, als auch seinen Lesern. Und jeder hat die Erfahrung schon gemacht, dass beim Lesen die Zeit einen anderen Rhythmus annimmt. Stunden verfliegen und ein Moment kann zur Kostbarkeit werden.

220

Ders., Chancen?, in: GuId, S. 222. Ders., Selim, S. 301. 222 Ebd., S. 365. 223 Ders., EdL, S. 108. 224 Ders., GuAb, S. 50f. 225 Michaelsen, Stern, S. 83. 221

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„Wir sind immer dann ganz bei uns, ganz in unserer Zeit, wenn wir nicht auf die Uhr schauen, nicht über Stunden und Minuten nachdenken.“226 Das Eintauchen in Literatur beschert einem dieses Ganz-bei-sich-Sein, die genormte Zeit der Uhren verliert an Bedeutung. Je mehr der beschriebene, der durch die Anordnung von Worten, Sätzen und Pausen entstehende geschriebene und der selbst erlebte Rhythmus übereinstimmen, desto aufgehobener und wohler fühlt sich der Leser. 3.4.2 Erzählendes Handeln “Erzählen ist conditio sine qua non des Daseins...“227 „[E]s wird nicht nur durch Worte erzählt. Manche tun es durch ihr Handeln und Leben und durch den Tod.“228 Es wurde bisher schon häufig auf die Verknüpfung von Literatur und Leben in der Poetik Nadolnys hingewiesen. Vor allem die erste Poetikvorlesung ist ein ständiger Wechsel zwischen literarischer Erzählung und theoretischem Sachtext. Alle Bemühungen um eine Übertragung des erzählerischen Moments in die Lebenswirklichkeit können unter der Überschrift des erzählenden Handelns zusammengefasst werden. Denn leben heißt handeln, Entscheidungen treffen, durch die etwas in Gang gesetzt wird. Nadolny möchte auf zweierlei Weise mit seinen Erzählungen handeln. Zum einen wünscht er sich ein mutiges Umsetzen neuer, bei der Lektüre seiner Romane entdeckter Impulse ins Leben der Leser. Er möchte also, dass seine Texte der Anstoß zu Handlungen sind, und zwar, weil sie kritische, geistig freie Menschen mit eigener Meinung überzeugen konnten. Zum anderen stellt er sich das Schreiben oder Erzählen selbst als eine Handlung vor, wenn es z.B. der Theorievermittlung229 oder der Aufbewahrung eines Lebens in einem Roman dient. Die erste Form könnte man auch „Handeln nach Erzähltem“ nennen, während die zweite als „Handeln durch Erzählen“ bezeichnet werden müsste. Als Selim auf dem Fischfangschiff seekrank wird, erzählt er den anderen an Bord Geschichten, um keine Übelkeit aufkommen zu lassen: „Redend und erzählend suchte er sich durch diesen Weltuntergang hindurchzuretten, mit Recht, denn noch nie hatte ihm zwischen Anfang und Ende einer Geschichte irgend etwas wehgetan.“230

226

Ders., GuId, S. 61. Ebd. S. 55. 228 Ders., Selim, S. 407. 229 Die gleiche Auffassung von erzählender Wissensvermittlung vertritt Paul Watzlawick in seinem Buch über den Konstruktivismus: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen, 24. Aufl., München 1998. Dort schreibt er auf Seite 9: „das Buch will erzählen und erzählend Wissen vermitteln.“ 230 Nadolny, Selim, S. 125. 227

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Ganz zu Beginn seines Deutschlandaufenthaltes stellt Selim eine Art Lebensphilosophie auf: erst möchte er von seinem kommenden Erfolg erzählen, dann ihn haben, um danach wieder davon zu erzählen.231 Eine ähnliche Strategie verfolgen die Menschen in Ein Gott der Frechheit, in deren Köpfen der Götterbote Hermes eine Weile saß: „sie setzten sich hin, dösten ein wenig und stellten sich einen Film vor, in welchem die Unternehmung gelang; dann taten sie, was sie gesehen hatten.“232 Beide Formen greifen auch ineinander über. So wird zum einen die Eile und Zeitnot, der sich der Leser vielleicht ausgesetzt fühlt, durch den Lesevorgang selbst aufgehoben, durch das Erzählen wurde also gehandelt, und nach der Lektüre nimmt der Leser sich auf einmal mehr Zeit für Dinge, die ihm wirklich wichtig sind, weil er erkannt hat, dass es immer auch eine alternative Sicht gibt und durch Gelassenheit vieles einfacher und er glücklicher wird. Er vollzieht damit eine Handlung, die der Botschaft der Erzählung folgt oder besser die Anlagen des Textes für sich modifiziert und nutzt. Die enge Verknüpfung zwischen der Tat und dem Schreiben über die Tat leitet Nadolny aus seiner Erfahrung ab, dass er „[e]ine gute Idee“ daran erkennt, „daß ebensogut eine Tat, ein praktischer Versuch aus ihr werden könnte.“233 Der Handelnde ist einmal der Leser, das andere Mal der Autor. Beide Parteien gehören zu manchen Zeiten der jeweils anderen an. Autoren sind Leser, nicht nur der eigenen Romane, und einige hauptsächliche Leser mit unliterarischem Hauptberuf, versuchen sich zuweilen als Autoren. Vor allem aber erzählen alle Menschen zu allen Zeiten, nämlich ihr eigenes Leben. „[W]ir erzählen schon, in dem wir nur leben“234 und „erzeugen buchstäblich die Welt, in der wir leben, indem wir sie leben.“235 Das Weitererzählen des Autors zwischen seinen Werken und das Einrichten in der Rolle des Produzenten oder Rezensenten sind ein Teil des erzählten Lebens und umgekehrt können nur aus den Erfahrungen und Begebenheiten des Alltags Geschichten werden, die einer über sich und andere erzählen kann. Ein Bericht über die letzten Ferien oder die Schilderung eines Erlebnisses, z.B. einer Autopanne oder einer Geburt oder einer Irrfahrt bei Nacht und Regen, gerät zu einer Erzählung, da Verbindungen und Zusammenhänge, mindestens chronologische, hergestellt werden. Auch die Medien erzählen Geschichten und konstruieren eine Welt in der Welt. Die Werbung erzählt von einem Leben, von dem sie annimmt, dass sich viele Menschen 231

Nadolny, Selim, S. 43. Ders., GdF, S. 277. 233 Ders., ZL, in: GuId, S. 209. 234 Ders., GuId, S. 55. 235 Klappentext zu: RK. 232

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ein solches wünschen. Und indem „wir [...] die Geschichte, die die Werbung über uns erzählt, glauben und durch unser eigenes Verhalten dann immer wahrer machen“236 werden die Menschen zu Marionetten und halten nicht mehr länger die Fäden in der Hand. Nadolny sieht in den Erzählungen der Medien eine Gefahr. Denn die Geschichten der Werbung und des Fernsehens sind immer endgültige. Die präzisen Bilder, die keinen Platz für eigene Phantasie lassen, suggerieren durch ihre dauerhafte Präsenz und einen vertraulichen Ton Allmacht und scheinen alleine dadurch schon im Besitz der letzten Wahrheit zu sein. Nadolny fasst seine Sorge über die Fremdbestimmung – und gemeint ist nicht nur der Einfluss durch Werbung und Fernsehen, sondern auch der Druck der Gesellschaft, das Streben nach Idealen, die nicht die ursprünglich eigenen sind – in dem Satz zusammen: „Es geht auch hier darum, ob wir unser Leben, indem wir es leben, noch selbst erzählen, oder ob es bereits andere tun, die unser persönliches Verhaltensprofil kennen und die Formel zu nutzen wissen.“237 „Er will [...] deine Formel, dein Konzept, [...] hinter dein Geheimnis sehen, [...] will sich deine Wahrheit ziehen“238, so singt Herbert Grönemeyer und trifft den Nerv der Zeit, in der sich Firmen um Transparenz der Kunden bemühen, damit sie noch besser beworben werden können; in der dank der Technologie von Chipkarten und Mobiltelefonen der Weg eines Menschen bis ins kleinste Detail und bis in den entlegensten Winkel nachvollzogen werden kann; in der Überwachungskameras und Satelliten das Leben beäugen und aufzeichnen. Solche allgemeinen Erzählungen vom Leben, die den Handlungsspielraum der Adressaten einengen, weil sie auf Nivellierung aus sind, lehnt Nadolny ab. Er möchte mit seinen Romanen im Gegensatz dazu die Handlungsweisen der Rezipienten erweitern. Jeder Einzelne soll wieder zum individuellen Urheber seiner Lebensgeschichten werden, die unabhängig von „political correctness“ sein sollen und gerade deshalb gelungen sind. In diesem Sinne lässt sich auch die Vorstellung eines in Literatur aufgehobenen Lebens besser begreifen. Selbst wenn das „wahre“ Leben misslingt, wenn man in Situationen versagt hat, aus denen man gerne als Held hervorgegangen wäre, kann man eine Geschichte darüber erzählen, in der alles gelingt. Und im Glauben an die sich selbsterfüllende Prophezeiung239 und den handelnden Charakter jeder Erzählung könnte das Gelingen der Geschichte auf das Leben zurückwirken. Alexander lässt in seinem Roman Selims Leben im Nachhinein gelingen

236

Nadolny, GuId, S. 36. Ebd., S. 44. 238 Herbert Grönemeyer, Energie, aus dem Album Bleibt alles anders, 1998. 239 Begriff aus dem Konstruktivismus, z.B. bei Paul Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein, 17. Aufl., München 1998, S. 57ff. 237

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„Ich schreibe das um! Schreibend werde ich ihn finden, und dafür werde ich reisen, und so, nur so wird eine Geschichte daraus, die gut endet. Das Leben steckt in den Geschichten, also kann man jemanden durch sie am Leben erhalten.“240 und dieser Tribut an einen Freund rettet ihm später das Leben. In seiner letzten Tagebuchaufzeichnung berichtet Alexander von dem Triebwerksbrand des Flugzeuges, mit dem er nach Deutschland fliegt. Anstatt das linke, brennende auszuschalten, meldet der Pilot über den Bordlautsprecher, dass er nun das rechte ausschalte und beschwört so eine Katastrophe herauf. Alexander möchte den Steward davon überzeugen, dass der Pilot sich nicht nur versprochen, sondern tatsächlich das falsche Triebwerk ausgeschaltet habe, merkt aber, dass keiner ihm glaubt. „Alle Glaubwürdigkeit ist bei dem Mann der Fluggesellschaft versammelt. Nichts kann ich tun! Ich habe keine Autorität, kann ihm nicht drohen, mir kein wichtiges Gepräge geben – ich stehe mit nichts da als einer Sorge, und die wirkt störend. Wie kann ich den Mann am schnellsten überzeugen? Blödsinniger Gedanke! Die Frage ist allein: wie kann ich ihn überhaupt überzeugen? Wie schnell das geht, und ob es dann zu spät ist, weiß höchstens Allah. Was würde Selim tun? Er würde – ja. Ich weiß es! Ich gebe mir einen Ruck: ‚Entschuldigen Sie bitte, aber es gibt etwas, was sie nicht wissen. Es war einmal...’“241 Dann folgt eine Erzählung über einen Piloten, der rechts und links verwechselt. Alexanders Reise endet glimpflich. Die Erfahrung, dass Selims Leben in der Erzählung endlich gelingen konnte, verhilft Alexander zu der lange vermissten Fähigkeit, zur rechten Zeit die richtigen Worte zu finden, weil er nun dem Prinzip „Erzählen“ vertraut und er gelangt zu der Einsicht, dass eine gut erzählte Geschichte die Menschen in ihren Bann zieht und zu den richtigen Handlungen veranlasst, weil sie besser überzeugen kann als die besten sachlichen Argumente.

240 241

Nadolny, Selim, S. 433. Ebd., S. 496.

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4. Zusammenfassung „Was von mir übrigbleibt, muß nicht jedes Mal ich selbst sein.“242 Dieser Satz stammt von John Franklin als er auf seiner letzten Expedition gefragt wird, was geschieht, wenn er vor Beendigung der Fahrt sterben sollte. Er vertraut darauf, dass die Mannschaft in schwierigen Situationen in seinem Sinne entscheiden wird, da sie sein Prinzip, seinen Lebens- und Navigationsstil kennen. Er glaubt an ein Leben seines Geistes über seinen Tod hinaus. Nicht in einem religiösen Sinne, sondern in einem historischen. Er hat nicht nur Entdeckungen gemacht, mit denen sein Name verbunden bleiben wird, sondern er hat auch Bücher geschrieben und er hat andere Menschen trotz seiner Behinderung, der Langsamkeit, dazu gebracht, ihm zu vertrauen, mehr noch, er hat sie von der Notwendigkeit seines Systems überzeugt. Das ist es, was sich auch der Autor Nadolny wünscht, fortzuleben in einem Lebensentwurf. Er legt keinen Wert darauf, zumindest äußert er sich dahingehend, berühmt zu bleiben, aber er möchte in seinen Büchern aufbewahren und niederlegen, was ihm wichtig ist und was er von der Welt verstanden zu haben glaubt.243 Von ihm bleiben seine Geschichten übrig, die unterschiedlichen Charaktere, die er erschaffen hat und, wenn er Glück hat und sein Wunsch in Erfüllung geht, dann gibt es Leute, die nach der Lektüre seiner Werke sagen: „Herrgott ja, so wie es da beschrieben ist, so werde ich jetzt auch leben.“244 Im Laufe dieser Arbeit hat sich herauskristallisiert, dass die Vorstellung von einem erzählerischen Moment, der „ins Leben hineingreift“245 ein ganz zentrales Anliegen Nadolnys ist. Er bezeichnet dieses Ineinandergreifen mit dem oben schon vorgestellten Begriff der Narrativierung: „Was der Schriftsteller macht, ist ‚Narrativierung’, eine der wichtigsten Leistungen unseres Bewusstseins, und es unterscheidet sich nicht so sehr von dem, was der Architekt, der Konstrukteur, der Erfinder, der Unternehmer und was der Wissenschaftler treibt. Mit alledem sind wir Autoren tief verwandt, oder anders: sie alle sind in gewisser Weise ebenfalls Autoren. Meine Überzeugung ist weiter, daß wir allein durch das, was wir versuchen – erzählerisch souverän zu sein, etwas anzufangen, einen neuen Zusammenhang her- oder festzustellen -, daß wir dadurch anderen Mut machen, die keineswegs schreiben, sondern vielleicht gerade ein kleines Unternehmen gründen oder eine neue Theorie wagen...“246 242

Nadolny, EdL, S. 344. Vgl. Bunzel, Gespräch, S. 127. 244 Martin Lüdke, „Hermes ist eher ein Gott der Schulschwänzer und Entdecker“. Ein Gespräch mit dem Erzähler Sten Nadolny über seinen gerade erschienenen Roman „Ein Gott der Frechheit“, in: Frankfurter Rundschau, Nr. 207 vom 6.9.1994, S. 9. 245 Ebd. 246 Nadolny, GuAb, S. 56. 243

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Seine Romane wirken also im Idealfall für einige Leser lebenspraktisch; sie helfen den Menschen, ihr Leben einzurichten und zu bewältigen, in der Fiktion werden Modelle vorgestellt, die in der Realität umgesetzt werden können. Ebenso verwirklicht Nadolny in den Romanen seine in der Autorpoetik formulierten Erkenntnisse über den Schreibprozess. Die Romane nehmen die Stellung der Realität ein, die Theorie liefert die Konzepte, die es einzubauen lohnt. Man könnte es aber auch umgekehrt ausdrücken, da bereits zwei Romane vor der ersten Poetik-Vorlesung entstanden sind, darunter Die Entdeckung der Langsamkeit, den die Kritik als das bisher beste Werk des Autors ansieht. Dass die Werke überhaupt so viele Übereinstimmungen mit den poetologischen Schriften aufweisen, liegt vor allem daran, dass in allen Romanen das Schreiben mehr oder weniger zentral thematisiert wird. Am intensivsten setzt Nadolny sich in dem Roman Selim oder Die Gabe der Rede mit dem Thema auseinander. Er bezeichnet es auch als sein „wichtigstes Buch“, weil viel Autobiographisches in die Geschichte eingeflossen ist.247 Aber auch die OleReuter-Romane Netzkarte und Er oder Ich, denen die Tagebücher der Hauptfigur zugrunde liegen, die selbstverständlich nicht für den privaten Gebrauch verfasst wurden, verarbeiten Schreiberfahrungen. Selbst John Franklin versucht sich als Autor und reflektiert diese für ihn ungewohnte Tätigkeit. Am wenigsten aufgefallen oder sogar nicht bemerkt worden ist das Konstruieren eines Romans innerhalb eines Romans in Ein Gott der Frechheit.248 Die ganze Geschichte spielt sich nur in der Phantasie der Helga Herdhitze ab. Sie erfindet sich neu in der Gestalt einer Göttin und spinnt die griechische Mythologie weiter. Das Buch ist insgesamt in einem lockeren Ton gehalten, dennoch gibt es auch dort Stellen, an denen über die Autorschaft nachgedacht wird, dass sich z.B. die Geschichten den passenden Autor aussuchen (S. 79) oder dass sich Geschichten selbst weiter erzählen und der Autor nur begrenzten Einfluss auf sie hat: „Weißt du, wie diese Geschichte weitergeht?“ „Wer weiß es genau? [...] Vielleicht müsste man den Autor selbst fragen, aber ich denke, nicht einmal er weiß es genau.“249 Damit ist der zweite große Komplex der Autorpoetik Nadolnys angesprochen, die Selbständigkeit der Sprache und daraus resultierend der gesamten Literatur. Und auch hier passt der eingangs zitierte Satz Franklins wieder. Was übrigbleibt sind Erzählungen über Menschen und Begebenheiten, die sich selbständig machen, sich von ihrer Vorlage 247

Bunzel, Gespräch, S. 126. Vgl. ebd., S. 138. 249 Nadolny, GdF, S. 196. 248

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emanzipieren und so immer neue Assoziationen ermöglichen. Zudem wird jede Geschichte von unterschiedlichen Hörern oder Lesern verschieden interpretiert. In deren Köpfen bleibt nicht haften, was sich der Autor beim Schreiben gedacht hat, sondern das, was sie davon verstanden haben. Sie ziehen andere Schlüsse aus den gleichen Vorgaben. Die Romane, die ein Stück Ich des Autors beinhalten, transformieren diese Identität. Am Ende bleibt der Roman und seine Interpretationen übrig, die in ein anderes Ich, das des Lesers, übergehen. Je mehr die Interpretation des Lesers mit der Autorintention übereinstimmt, desto idealer ist das Verhältnis. Oben wurde in diesem Zusammenhang auf den Radikalen Konstruktivismus hingewiesen. Nadolnys Art des Konstruktivismus besteht in dem Erzählbarmachen eines Lebens. Er richtet sich in seinen Rollen als Autor, Regieassistent oder Lehrer ein und baut die gemachten Erfahrungen abgewandelt oder auch als direkte Übernahme in seine fiktionalen Geschichten ein. Die Romane selbst entwerfen eine andere Konstruktion vom Leben und die Protagonisten sind ebenfalls in ihren Konstrukten gefangen. Alexander erkennt in dem Moment, in dem er Selim mit dem Romanmanuskript über dessen eigenes Leben konfrontiert, dass er in seiner Konstruktion lebt, einer Welt, die nur er genau so sieht und dass er auch die Menschen, die ihn umgeben, nur aus seinem Blickwinkel betrachtet. „Ich hätte mir denken können, daß ihn die Begegnung mit ‚meinem’ Selim befremdet.“250 Zu einem späteren Zeitpunkt formuliert er noch treffender: „Ich sollte ihn [Selim] weiterhin Romanfigur sein lassen [...] und so meine Zuneigung zu dem von mir erträumten Selim bewahren – einen anderen habe ich nie gekannt.“251 Nadolny findet eine eigene Umgehensweise mit den Ideen des Radikalen Konstruktivismus und interpretiert sie so, dass sie für sein Konzept des Schreibens fruchtbar werden. Der Problematik des Zerfalls der Welt in individuelle Konstruktionen, durch die die Verlässlichkeit der eigenen Erkenntnisse sowie der eigenen und fremder Existenz in Frage gestellt wird, begegnet er denn auch nicht mit Argumenten, wie sie von Vertretern dieser Richtung der Kognitionstheorie vorgebracht werden, sondern mit struktureller Sichtbarmachung des Auseinanderfallens der Gesellschaft. Dazu bedient er sich einer multiplen Erzählperspektive, durch die das Geschehen aus mehreren Blickwinkeln erlebt werden kann und dem Spiel mit Zitaten aus eigenen und fremden Werken, durch das das

250 251

Nadolny, Selim, S. 252. Ebd. S. 474.

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Leben im Bewusstsein verlorener Originalität betont wird.252 Außerdem vermischt er typische Szenen aus Trivialliteratur und hohe Kunst miteinander. Die Aufnahme von Pluralität in Texte, der Rückgriff auf Bekanntes und der spielerische Genrewechsel gelten als Merkmale postmoderner Kunst. Auch wenn Nadolny sich gegen das Einordnen in Kategorien wehrt, erfüllen seine Romane die Kriterien postmoderner Literatur. Er umschreibt das Wort postmodern durch „Beweglichkeit der Interpretation“ und „Bewegungsfreiheit des Lesers“ und verweist dabei auf die Artikel Hanns-Joseph Ortheils zur Postmoderne. Des Weiteren schreibt er dem Typus des Literaten, den er schätzt, die Eigenschaften „gauklersich, scheinbar mehr Entertainer, unprätentiös (auch sie füllen Säle, aber weil es ihnen Spaß macht, nicht weil sie die Wahrheit zu bieten haben)“ zu. „Sie beobachten, psychologisch scharf, beschäftigen sich mit der nahen Zukunft, nicht mit der fernen, versuchen auf keinen Fall Schuldgefühle und Druck zu produzieren oder anderen das Gefühl zu geben, daß sie mit Sünde beladen sind und nur erlöst werden, wenn sie dies oder das tun. Sie sind konstruktivistischer und [...] sie sind nicht sendungsbewußt, sondern selbstbewußt.“253 Nadolny plädiert in seiner umfassenden Autorpoetik für eine freie, geistig bewegliche, gegenwartsbezogene, mutmachende und glaubwürdige Literatur. Seine Beharrlichkeit im Vortrag einmal gewonnener Überzeugungen bei gleichzeitiger bescheidener Zurücknahme der eigenen Person und Meinung, lassen das Lesen seiner theoretischen Schriften zu einem lohnenden Vergnügen werden. Er webt in seine Romane sein gewonnenes Weltwissen ein, sodass Theorie und Roman auf zwei unterschiedlichen Ebenen die gleichen Überzeugungen transportieren. Die Forderung an den Autor, dass er sein Leben grundlegend nach den gleichen Prinzipien gestalten sollte, die er auch in seinen Büchern propagiert, damit er glaubwürdig bleibt, löst Nadolny selbst ein. Betrachtet man alle Punkte der Autorpoetik zusammen, ergibt sich mehr als ein Diskurs über den Schreibprozess aus Sicht des Autors. Nadolny hat eine Philosophie entwickelt, in der das Schriftstellertum nicht nur ein Beruf, sondern ein Schicksal ist und Literatur nicht nur der Unterhaltung, sondern in besonderem Maße der Lebensbewältigung dient.

252

Diese negative Deutung der Verwendung von Zitaten könnte jedoch auch in ihr Gegenteil verkehrt werden, wenn man bedenkt, dass das In-Bezug-setzen der gegenwärtigen Literatur zur Tradition auch einen Halt bieten kann, da die eigene Zeit mit der Geschichte verknüpft wird. 253 Nadolny, GuAb, S. 124f.

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5. Literaturverzeichnis

Quellen: Nadolny, Sten, Netzkarte, Taschenbuchsonderausgabe, München 1999. Ders., Die Entdeckung der Langsamkeit, 17. Aufl., München 1990. Ders., Selim oder Die Gabe der Rede, 6. Aufl., München 1999. Ders., Ein Gott der Frechheit, 8. Aufl., München 2000. Ders., Er oder Ich, München 1999. Ders., Das Erzählen und die guten Absichten. Münchener Poetik-Vorlesungen, 3. Aufl., München 1997. Ders., Das Erzählen und die guten Ideen. Die Göttinger und Münchener Poetik-Vorlesungen, München 2001.

verwendete Literatur: Aristoteles, Poetik, griechisch und deutsch, übersetzt und hrsg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982. Bunzel, Wolfgang (Hrsg.), Sten Nadolny, Eggingen 1996. Frenzel, Herbert A. und Elisabeth, Daten deutscher Dichtung. Chronologischer Abriß der deutschen Literaturgeschichte, 31. Aufl., München 1998. Gottsched, Johann Christoph, Versuch einer Critischen Dichtkunst, unveränderter reprografischer Nachdruck der 4., vermehrten Aufl. (Leipzig 1751), Darmstadt 1977. Gumin, Heinz und Meier, Heinrich (Hrsg.), Einführung in den Konstruktivismus, 4. Aufl., München 1998. Jung, Werner, Kleine Geschichte der Poetik, Hamburg 1997. Kindlers Literatur Lexikon, einmalige zwölfbändige Sonderausgabe, Zürich 1970. Mann, Thomas, Doktor Faustus, Sonderausgabe, Frankfurt am Main 1999. Nünning, Ansgar (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 2. überarbeitete und erweiterte Aufl., Stuttgart/Weimar 2001. Ortheil, Hans-Josef, Texte im Spiegel von Texten. Postmoderne Literaturen, in: Funkkolleg Literarische Moderne, (Studieneinheit 30), Tübingen 1994. Rosendorfer, Herbert, Briefe in die chinesische Vergangenheit, 20. Aufl., München 1994.

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Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 1994. Watzlawick, Paul, Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen, 24. Aufl., München 1998. Ders., Anleitung zum Unglücklichsein, 17. Aufl., München 1998. Welsch, Wolfgang, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987. Wittstock, Uwe (Hrsg.), Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur, Leipzig 1994.

Zeitungsartikel Dietschreit, Frank, „Das Erzählen ist wie ein Kontinent“, Interview mit Sten Nadolny, in: Prinz, Heft 2, 1990, S. 20. Greiner, Ulrich, Wenn der Druck steigt, DIE ZEIT, 57. Jahrgang, Nr. 19 vom 2.5.2002, S. 37. Lüdke, Martin, „Hermes ist eher ein Gott der Schulschwänzer und Entdecker“. Ein Gespräch mit dem Erzähler Sten Nadolny über seinen gerade erschienenen Roman „Ein Gott der Frechheit“, in: Frankfurter Rundschau, Nr. 207 vom 6.9.1994, S. 9. Michaelsen, Sven, Der Zauderkünstler, in: Stern, Heft 8 vom 15.2.1990, S. 79ff. Radisch, Iris, Die Leiden des 68ers. Warum Sten Nadolny seinen Helden nicht mag, Gespräch mit Sten Nadolny, in: DIE ZEIT, 54. Jahrgang, Nr. 41 vom 14.10.1999, S. 57f. Schulz, Christiane, Geist in Bewegung bringen. Gespräch mit dem Schriftsteller Sten Nadolny, in: Rheinische Post, Nr. 280 vom 1.12.1990.

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