Wege aus dem Schattental. Zur Dichtung Patrick Roths. Laudatio auf Patrick Roth zur Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung

Wege aus dem Schattental. Zur Dichtung Patrick Roths Laudatio auf Patrick Roth zur Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung Weimar...
7 downloads 0 Views 125KB Size
Wege aus dem Schattental. Zur Dichtung Patrick Roths Laudatio auf Patrick Roth zur Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung Weimar, 22. Juni 2003 Prof. Dr. Ruprecht Wimmer 1. Christus tritt auf Im frühen Hochmittelalter warnte die Schultheologie davor, Christus in Person vorzuführen – und man folgte ihr zunächst: in den liturgischen Zeige-Feiern des Osterfestes, auf den Schauplätzen des damals allmählich entstehenden geistlichen Spiels kam er nicht vor. Doch bald kapitulierte die Theologie vor der “Bühne”, wie immer diese in jenen Jahrhunderten ausgesehen haben mag – oder die Bühne emanzipierte sich ihrerseits von theologischen Bedenken: Christi Leben und Leiden wurde immer breiter und mit ihm selbst als Hauptdarsteller vor Augen geführt. Die im Spätmittelalter einsetzenden Passionsspiele halten sich bis heute, wenn auch mit Mühe und als Einzelerscheinungen. Mit Mühe: denn die Unbefangenheit, Christus zu “zeigen”, verlor sich allmählich wieder – mit Beginn der Frühen Neuzeit. Die Schwierigkeiten, ihn – erzählend oder darstellend – zu präsentieren, nahmen zur Moderne hin zu. Trotzdem sehen wir uns bis heute, in der epischen, aber auch in der dramatischen Literatur, und speziell im Film immer wieder der Christusgestalt gegenübergestellt – ohne freilich als Leser oder Zuschauer jedes Mal damit zurecht zu kommen. Die erwähnten Schwierigkeiten – eine Art schlechtes Gewissen der Autoren und Filmemacher – werden immer wieder sichtbar: man arbeitet mit Übertragungen des biblischen Geschehens in eine andere Zeit, eine andere Welt, und man erzählt Vorläufergeschichten so, dass ER gewissermaßen in die Zukunft projiziert wird. Aus dieser Perspektive heraus könnte man auch Thomas Manns JosephsTetralogie einen Zyklus von “Christusromanen” nennen – freilich

1

ohne dass gerade in diesem Fall etwas Abwertendes gesagt sein soll. Wie auch immer: die neuere “Christusliteratur” ist umfangreich und findet ihre mehr oder weniger wissenschaftliche Entsprechung in den zahlreichen fachtheologischen Christusmonographien. Nun hat Patrick Roth, Jahrgang 1953, ein Jahr nach seinem literarischen Debüt (Die Wachsamen 1990), eine “Christusnovelle” mit dem überraschenden Titel Riverside erscheinen lassen, der bald – 1993 und 1996 – zwei weitere Erzählungen mittlerer Länge folgten, in denen Jesus “vorkommt”: Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten und Corpus Christi. Die drei Texte traten bald unter der Bezeichnung Christustrilogie zusammen, und auf der Taschenbuchkassette, die sie vereint, steht der Rückentitel Resurrection. Christus also wieder einmal – doch der Autor hat anderes mitzuteilen als die vielen Modernen vor ihm. Natürlich knüpft er nicht an die Unbefangenheit des Zeigens und Vorführens an, wie sie die Passionsspiele praktizierten (und praktizieren). Auch er ist befangen, doch kommt seine Befangenheit, so modern sie in vielem ist, von weit her. Die Theologen des Mittelalters hatten Angst, sie müssten ihn, Christus, wenn er denn aufträte, in corpore und dadurch verkleinert der Sicht des Publikums preisgeben; und die szenischen Auferstehungsfeiern folgten ihnen zunächst auf eine Weise, die bezeichnend ist, und die als Verfahren mit Patrick Roths Resurrection zu tun hat. Die drei Marien kommen da, ganz wie im Evangelium, zum Grab, finden es geöffnet und den bzw. die Engel darin sitzen. Was in den frühen Osterfeiern gesprochen wird, ist nur der folgende Dialog: Der oder die Engel (nur bei Joh. sind es zwei): Quem quaeritis in hoc sepulcro, o christicolae? Die Marien darauf: Quaerimus Jesum Nazarenum, (o caelicolae) Und wieder der oder die Engel: Non est hic, resurrexit, allelujah. Daran wird in der Folgezeit textlich angebaut, zunächst ganz evangeliennah, später freier; und nach einiger Zeit folgt die Erweiterung durch die sogenannte Gärtnerszene, in der Jesus dann

2

doch – und doch auch wieder nicht – auftritt und Maria Magdalena begegnet: nämlich in verwandelter Gestalt und unberührbar. Noli me tangere sagt er zu ihr, als sie ihn erkannt hat. Man könnte nun argumentieren: der erste “Ostertropus” und seine frühen Erweiterungen, die Begegnung der Frauen am Grabe mit den Engeln und die Begegnung Maria Magdalenas mit dem Auferstanden-Verwandelten sind Textübernahmen aus einem der Evangelien, im Dialog stilisiert, oder ein Extrakt aus allen vieren, und sonst nichts. Sie sind aber mehr: nämlich auch das Dokument einer Scheu davor, Jesus aus den Offenbarungstexten gewissermaßen herauszuholen und festzulegen, ihm eine bestimmte und keine andere Gestalt zu geben – ihn so und nicht anders “auftreten” zu lassen. Es ist immer ein Risiko, die Motive und Verfahren eines Autors in dessen Gegenwart zu behandeln, doch riskiere ich es zu sagen, dass dem heutigen Schriftsteller Patrick Roth, ähnlich wie dem Verfasser dieser frühen, noch liturgienahen Texte, in den drei Christus-Erzählungen die erneute Mitteilung eines Geheimnisses am Herzen liegt – eines Geheimnisses, das mit uns verwachsen ist, ob wir das nun wollen oder nicht. Das wir immer wieder erfahren, das aber im Erfahrenwerden sich immer wieder entzieht. Roth verfährt indessen ganz anders als derjenige, der den ersten Ostertropus schrieb. Doch halte ich hier vorerst inne. Die sogenannte Christustrilogie ist im Werk Roths kein erratischer Block, sondern fügt sich ein in sein Verständnis von Dichtung – allgemeiner, in sein Verständnis von der Herstellbarkeit eines vordergründig fiktionalen Textes. 2. Das Andere und seine Wieder-Holung Patrick Roth ist in Freiburg geboren und erhielt als Zweiundzwanzigjähriger ein Amerika-Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes – von da an wurde Kalifornien, genauer Los Angeles, sein Schicksal. Er verlegte sich wieder, wie schon an seinem ersten Studienort Paris, auf den Film, der ihn als Medium, als andere Welt faszinierte, und arbeitete als Filmjournalist, Regisseur und Drehbuchautor, bevor er selbst ans Filmemachen ging. Seine schriftstellerische Tätigkeit – sie tritt erst nach rund fünfzehn Jahren USA in Erscheinung – geht nach seiner eigenen Aussage darauf zurück, dass er schon bald den

3

“Sprachverlust”, den Verlust der Muttersprache befürchten musste – und sich gewissermaßen schriftstellerisch in diese Muttersprache rettete, und sich dadurch die Muttersprache rettete. Der Vorsatz, deutsch zu schreiben, deutsch zu “schriftstellern”, als Projekt der Selbstbewahrung – das ist nur allzu verständlich. Doch woher drängte ein Stoff, drängten Stoffe heran, die ja ebenfalls Teil seiner Motivation sein mussten? Auch diese Stoffe und ihr Heraufkommen haben teilweise – nur teilweise – mit der Übersiedelung in die Vereinigten Staaten und mit der schrittweisen Eingewöhnung zu tun. Der Autor hat vor kurzem während einer Lesung vor Gymnasiasten gesagt, er habe sich während der ersten amerikanischen Jahre “in einer Wüste” gefühlt und diese Wüste mit seinen Gedanken, Erinnerungen und Träumen bevölkert. Er wies auf seine Frankfurter Poetikvorlesungen hin, die hierüber, über sein Schreibenmüssen und dessen Inhalte, weiteren Aufschluss gäben. Nun sind diese fünf Vorlesungen, die den bezeichnenden Titel Ins Tal der Schatten tragen, in der Tat eine eindrucksvolle Begründung und Analyse des eigenen Erfahrens und Schreibens, sie erschienen 2002. Ins Tal der Schatten: Natürlich denkt der Leser bei diesem Titel sofort und unwillkürlich an die Unterwelt des Altertums, nach damaliger Vorstellung eine tiefe Schlucht, bevölkert von den Schatten der Toten. Und er hat recht, wenigstens teilweise. Denn schon am Anfang seiner ersten Vorlesung sagt der Autor: Schreiben ist Totensuche. Tot ist, was tief in mir vergraben, kein Bewusstsein mehr streift. Paradoxerweise ist dieses “Tote”, das ich suche, sammle, einlese, nur ein mir Totes, das heißt tot, aber gleichzeitig hochlebendig. (12) Er geht nicht wie Odysseus hinab in den Hades, um seine Zukunft zu erfahren, er macht seine Totenreise als Orpheus, der sein Verlorenes, eine tote Eurydike, zurück ins Leben, zurück an den Tag bringen will. Orpheus in Hollywood steht über der ersten Vorlesung. Und die Reise des Schriftstellers ist nicht nur eine Reise in eigene und fremde Vergangenheiten, sondern auch ein tiefenpsychologisches Hinabsteigen ins eigene Ich: Da steht mir etwas gegenüber, über das ich nicht Herr bin, ein Anderes, das ich nicht gemacht habe. Es ist wirklich und es spricht zu mir ... (127). Das sagt Roth zwar erst in der vierten Vorlesung über seine Träume, doch gilt es für alle seine Stoffe. Und Eurydike wird in seinen Darlegungen immer wieder mit dem Beiwort Anima belegt. In dieses mythische Orpheusmuster ist freilich das Scheitern, das

4

Verlieren des Gefundenen, Wiedergefundenen eingeschrieben, doch ist es für den Autor Roth eben nur eines von mehreren Mustern. Ich komme darauf zurück. Der Autor benennt – wir sind wieder am Anfang der ersten Vorlesung – explizit die Bereiche, in denen er Stoffe sucht und findet – und aus denen heraus ihn Stoffe suchen und finden (denn Stoff und Finder sind für ihn gleichberechtigt, sind dialogfähig): da sind zuerst der Film und die Filmstadt Los Angeles, dann die Literatur der Welt, dann die Bibel, und schließlich die Räume der eigenen Seelentiefe (12). Natürlich bleiben die vier Bereiche nicht voneinander getrennt, Film, Literatur und Bibel sind für den Autor keine Repertorien, sondern anderweitig ins Bild oder in den Text gehobenes eigenes, abgesunkenes seelisches Erleben. Es ist nur folgerichtig, dass Carl Gustav Jung zu Roths Vorbildern und Hilfen gehört und dass aus dem Feld der Literatur ihm vor allen anderen Hölderlin, Kafka, Joyce und Celan nahe stehen. Er nimmt in seinen Vorlesungen zunächst biographische Erlebnisse in Los Angeles/Hollywood als Beispiele für das Orpheusmuster und das Wieder-Holen eines Vergangenen ins Leben, etwa in der Geschichte des Achtundneunzigjährigen, der Orpheus überwindet. Dieser sieht, vom jungen Erzähler chauffiert, nach langen Jahren sein Haus und seinen Garten wieder und erkennt sie kaum mehr, nimmt aber, sich an Worte seiner verstorbenen Frau und sich an seine verstorbene Frau erinnernd, einen Ast des noch vorhandenen Feigenbaumes mit, der, ins Wasser gestellt, wieder sprießen soll. Er überwindet in diesem Wieder-Holen Orpheus, der sein Vergangenes endgültig verliert. Der alte Mann sieht wie sein jugendlicher Begleiter die kalifornische Stadtlandschaft vorwiegend als Topographie von Filmereignissen und -personen – das könnte, wie die Geschichte selbst, einen lediglich ersten Schritt auf der Reise, etwas, das ziemlich an der Oberfläche bleibt, signalisieren. Doch zeigt sich schon hier, dass das Erlebnis “Film” auf Roth nicht nur als ein beliebiges Anderes, als eine Art Stofflieferant der banalen Sorte wirkt. Als er nämlich – auch davon spricht er in der ersten Vorlesung – in Robert Graves Griechischer Mythensammlung die Geschichte von Orpheus liest, bleibt er an der Stelle hängen, die davon spricht, dass die Eichen beim Gesang des Orpheus getanzt hätten, und unterstreicht den Satz In Zone in Thrakien stehen noch immer alte Bergeichen in der Stellung von Tänzern, so, wie er (Orpheus) sie verließ. Und er kommentiert: Sie sind schön, Bemerkungen wie

5

[diese], ein Bild geben sie, sind ein freeze-frame, der gerade in seinem Eingefrorensein, seinem Aufgehobensein-aus-der-Zeit, sein zeitloses Anwesen in ihr behaupten will ... (20). Freeze frame: das ist ein Fachausdruck der Filmemacher für einen angehaltenen Film, für ein Bild, das aus der Bewegung, aus dem Ablauf genommen wird. Roth verwendet die Fachvokabel für ein Phänomen, das für ihn wesentlich ist, für die Bezeichnung eines zeitlos Mythischen, in dem das Andere sich äußert, sich gegenwärtig hält, für das sprachliche Zeichen einer Schwellenüberschreitung, eines Wendepunktes; er sagt: eines Anfangspunktes ins Zurück, in ein Wieder-Holen hinein. (21) Und so werden auch andere Filmvokabeln dieser Art zur Kennzeichnung des Anderen, des wieder zu Holenden verwendet. Ich denke hier vor allem an den Dissolve, deutsch “die Überblendung”. Gemeint ist damit die allmähliche Auflösung eines Filmbildes in ein anderes hinein – etwa wenn in der Großaufnahme eines Gesichtes nach und nach die Lichter einer abendlich erleuchteten Stadt sichtbar werden. Der Dissolve macht also etwas immer schon Seiendes [...] unter der Realität sichtbar (50), er bricht Gesehenes auf, und das kann so weit gehen, dass Gegenbilder, dass das Gegenteil des bislang Gesehenen in dieser Bildauflösung präsent werden können und auf eine Einheit gesehener Gegensätze deuten. Der Begriff wird zentral verwendet in der zweiten Vorlesung: Dissolve. Mit Joy(ce) ins Bett der Toten. Der Autor ist hier bei der Literatur angelangt, er befasst sich mit einer Erzählung aus Joyce’s Dubliners. Ohne ins Einzelne zu gehen: Auf einer Abendgesellschaft ist ganz fach- und filmbezogen von einem Dissolve die Rede – in der Großaufnahme eines bekannten Films erscheint nach und nach die Todesszene der Frau, die soeben im Kuss gezeigt worden war –, und dann muss einer der Teilnehmer erfahren, wie das bisherige Bild seiner Frau langsam zerstört, langsam aufgelöst wird durch das Heraufkommen eines Ereignisses ihrer Vergangenheit. Dieser Gabriel Conroy steigt dann hinab in diese Vergangenheit und taucht wieder auf, das Andere, nun für ihn Veränderte mit sich heraufnehmend. Filmische Verfahren als Einsicht verschaffendes Vokabular, als Wegweiser zurück zum Anderen und hinab ins Andere, der Film aber auch als inhaltlicher, als stofflicher Vorrat des Anderen: so trägt das Kino und die Summe der gesehenen und in Erinnerung

6

gerufenen Filme bei Roth denselben Namen wie seine Stoff- und Traumwelt insgesamt: Das Tal der Schatten! (50) Wir konnten sehen, dass auf den verschiedenen Ebenen von Menschen die Rede war, die ihr Anderes heraufführen, ins Leben führen – in logischem Anschluss daran ist in der folgenden, der dritten Vorlesung nunmehr die Rede von der Auferstehung der Auferstehungen, von der Resurrectio Christi. Es geht um die Begebenheit, die an den einleitend erwähnten Ostertropus grenzt und nur im Johannesevangelium steht. In Hollywood wollen junge Schauspieler die biblische Szene proben, in der Maria Magdalena ans leere Grab, das sie schon vorher gesehen hatte, zurückkehrt, zwei Engel darin sieht, die ihr die Auferstehung verkünden, sich umwendet, den erstanden-verwandelten Jesus sieht, der sich in der Folge zu erkennen gibt. Durch das Spiel und durch die Tatsache, dass die Bibel einen “Gang” der Magdalenenfigur ausspart – sie wendet sich nämlich nochmals zu Jesus um, als er sie anruft, muss also an ihm vorbeigegangen sein – wird einem der beiden, dem Erzähler nämlich, klar, wie das nicht erzählte Vorbeigehen Magdalenas an Jesus und die folgende Magdalenensekunde, in der Jesus sie anspricht, wie beides sie den Anrufenden erkennen lässt und als für sie Auferstandenen zur Welt bringt. (110) Das ist mehr und ein grundsätzlich Anderes als die Orpheussekunde des Sichumwendens, das Heraufführen an den Tag ist geglückt. (111) Wie so oft bei Roth, bildet sich das Gespielte auch in der alltäglichen Welt der Schauspieler ab und nach, so dass eine Schichtung von Wieder-Holungen, von Wieder-Erweckungen sichtbar wird. Ein Dissolve übrigens auch hier, wenn es heißt: Mir schien, dass Magdalena mit ihren Tränen diesen harten, konkreten Ort der Grabstelle [...] schon aufzulösen begann. (91) Hollywood, Joyce, die Bibel – bliebe von den Bereichen, aus denen für Roth die Stoffe kommen, noch die Raumtiefe der eigenen Seele, in der vierten Vorlesung unter dem Titel Aktive Imagination behandelt. Wie der Autor in den Dialog mit seinen Träumen und Stoffvisionen tritt, haben wir schon andeutungsweise erfahren – doch wird hier noch eine Vision lebendig, eine Vision, stammend aus der Situation der Bedrängnis, dem Ausbruch des Erdbebens von Los Angeles im Januar 1994. Das Bild nämlich eines Riesenbuches, dessen linke Seite, während die rechte sich bereits wendet, im Grau liegt und plötzlich Gestalten erstehen lässt, die auf die neue Seite “durchschlagen” (117f.). Wieder erscheint ein

7

Vergangenes, Totes, das sich aufbewahrt hat und irgendwann heraufgeführt, gelesen werden kann, wieder wird die Bewegung des Hinab- und Heraufkommens sichtbar, und auch hier, wo vom eigensten Anderen die Rede ist, fällt der Ausdruck Tal der Schatten. (122) Es ist die Bewegung, die in der kürzlich erschienenen Erzählungssammlung Die Nacht der Zeitlosen sich abbildet und dort bezeichnet ist mit den Stationen sundown – night – sunrise. 3. Christusbegegnungen Diese Art der Stofffindung, dieses Hinabsteigen und dieses Heraufkommen – diese Wege in das Tal der Schatten und aus dem Tal der Schatten: sie charakterisieren auch die bereits genannte Christustrilogie. Roth findet und “wiederholt” Begebnisse vor seinen Lesern, in denen Figuren ihrerseits ein Anderes wiederaufrufen oder wiederaufzurufen versuchen: Autor, Personen des Textes und Leser begeben sich also gleichermaßen auf eine Erkenntnisreise und sie erleben ihre Überraschungen. Das aber gerade deshalb, weil ihre Neugierde, ihr Erkennwollen, sich auf den Einen Anderen, auf Christus richtet. Dass ein derartiges Verfahren die Literaturkritik zu Reizwörtern wie Bibelkrimi und spiritueller Thriller motivierte, war zu erwarten – und die zitierten flotten Prägungen gehen so haarscharf an der Sache vorbei, dass sie diese auch schon wieder kennzeichnen. (Erkennen im Vorbeigehen: eine typisch Rothsche Bewegung übrigens, wir wissen es!) Sie gehen vorbei: Denn die Gemeinsamkeiten von Roths Erzählungen mit Schauer- und Kriminalgeschichten sind einerseits offenkundig: er arbeitet mit Spannung und auflösender Pointe, er hält seine Leserschaft in Atem. Doch andererseits hat es mit diesen Pointen eine besondere Bewandtnis: nichts, aber auch gar nichts ist mit ihnen zu Ende, und keine der Lösungen lässt uns zur Ruhe kommen. Das Ausatmen und die geklärte Sicht auf die Welt, die uns das Auslesen von Thrillern und Krimis beschert, wird uns von Roth nicht zugestanden; nicht umsonst fügt er in seine Texte – manchmal beiläufig, manchmal an zentraler Stelle – Geschichten ein, die ohne Ende sind oder ein Ende haben, das sich selbst schreibt und dem Autor entgleitet; ich kann hier die Kenner des Œuvres nur erinnern an die Gruselstory, die Hitchcock im Fahrstuhl zu erzählen pflegte, und deren Ende nie zu Tage kam,

8

weil der Fahrstuhl sich immer vorher im Hotelfoyer auftat und die Leute hinaustreten mussten (Frankfurter Poetikvorlesungen, 11 f.), dann an die Geschichte in Johnny Shines, in der der junge Jesus “vorkommt”, der, von den Königen in eine verlassene Löwengrube geworfen, den jungen Judas, der ihn nicht hören kann, töten soll und dies schließlich tut. Und der anschließend den Befehl erhält Mache ihn wieder lebendig –, womit das Erzählen – es ist der Vater, der die Geschichte Johnny erzählt – ein Ende hat (21ff., 102107). Oder an die Geschichte vom fremden Reiter in der fünften Frankfurter Vorlesung, deren Ende dem Autor gewissermaßen aus den Händen gerät: Ich habe Angst, Sie mit diesem Ende zu sehr im Dunkeln zu lassen. Warum ende ich auf dieser Note? Ich frage mich und frage mich hier vor ihnen, wie ich zu diesem Ende kam ... (169). Mir scheint es typisch und bezeichnend, dass Roth in seiner LosAngeles-Vorlesung aus der Christustrilogie immer Binnenszenen und nie ein Ende liest; nur einmal kommt er auf ein solches Ende – dasjenige von Corpus Christi – zu sprechen, doch nur, um darauf hinzuweisen, dass man mit diesem Ende sich wieder am Anfang der Trilogie befände. In allen drei Erzählungen des Zyklus Resurrection also begleitet der Leser Menschen auf einer Erkenntnisreise, innerhalb der biblischen, der neutestamentlichen Welt in der ersten und dritten, im südwestlichen Nordamerika in der zweiten. Und immer sind die Reisenden, und wir mit ihnen, überlieferten, “geoffenbarten” Wundern Christi – des Einen Anderen – auf der Spur. Dem Wunder der Heilung vom Aussatz, dem Wunder der Totenerweckung und schließlich demjenigen der Auferstehung. Sie alle sind Zweifelnde und zugleich Liebende und versuchen die Erfahrung der jeweiligen Wunder für sich herzustellen oder beglaubigen zu lassen. Das geschieht durch die Wege zu anderen, durch die Wendung an andere, die hier helfen können: in Riverside wenden sich die Jünger Andreas und Tabeas an den Einsiedler Diastasimos, der angeblich durch seinen Unglauben seine Heilung vom Aussatz verhindert hat, in Johnny Shines gerät die Titelfigur, die unermüdlich Christi Totenerweckungen nachahmen und damit ihre Vergangenheit – das verschuldete Ende der Schwester – bewältigen will, an ein weibliches Ich, mit dem sie sich in einer Seelenrede – so der Untertitel des Textes – auseinandersetzt, in Corpus Christi ist es der zweifelnde Apostel Thomas, genannt Didymos (der Zwilling), der von einer gewissen Tirza, die man im leeren Grab Christi

9

verhaftet hat, das letzte Wort über die Auferstehung oder aber den Diebstahl des Leichnams erfahren will. Es war davon die Rede: es gibt Pointen, Überraschungen auf diesen Reisen und in diesen Gesprächen, Pointen, die an der Handlungsoberfläche ebenso liegen können wie im Tiefenbereich der Erfahrung – aber diese Pointen beenden nichts: etwa dass Tabeas in Diastasimos seinen Vater erkennt und damit für sich erweckt, seinen Vater, der entgegen der überlieferten Meinung geheilt wurde, vom Aussatz und von seinem Unglauben, oder dass das weibliche Ich in Johnny Shines von diesem in der letzten Zeile als meinem Bruder (163) spricht, oder dass der zweifelnde Zwilling in Corpus Christi auf dem Scheiterhaufen, auf dem der angeblich wiedergefundene Leichnam des Gekreuzigten gerade verbrannt wird, sich selbst, nämlich dem verlorengeglaubten Bruder ins Antlitz blickt, der sich als Doppelgänger geopfert hatte, um die These von der Auferstehung zu widerlegen. Die Erfahrungen des Suchers – ob Leser, ob Textfigur – öffnen für diesen jeweils einen neuen Raum – doch bleibt der überlieferte “Wunderkern” des jeweiligen Geschehens erhalten. Nie können wir sagen: “So war das also!” Dies auch deshalb, weil die Suchenden Christus nie selbst sehen, weil er ihnen immer “erzählt” wird: von Diastasimos, von Johnnys Vater, von Tirza. Die erzählten Christus-Begegnungen vollziehen sich in typischen, fast leitmotivisch verwendeten Bewegungsabläufen: im Vorbeigehen, in der halben oder ganzen Wendung, in der Berührung – ja im “Hineinfallen”. Ein Erzählen von Wegen, von Erkenntnis- und Erfahrungsreisen, spannend, vereinnahmend, doch nichts beendend. Wer kann sich wundern, dass alle diese Wege Grenzüberschreitungen sind, dass sie alle übers Wasser führen – wie jede Fahrt ins Tal der Schatten. Und wer kann sich wundern, dass diese Wege ihre Rückkehr in sich enthalten – eine Rückkehr, die ein neues Aufbrechen immer wieder notwendig macht. Bücher, spannend und den Leser in Atem haltend; Bücher, hinter denen ein Abgrund ist (146), die, wenn nicht weitererzählt, so doch weitergedacht werden wollen – damit hat sich Patrick Roth einen Platz in der Gegenwartsliteratur geschaffen. Seine Art, zu erkunden, seine Figuren erkunden zu lassen, und das zu Erkundende zugleich zu bewahren – ich lenke Ihre Gedanken nochmals zurück zum mittelalterlichen Ostertropus –, lässt ihn Überliefertes, heute nachlässig Geglaubtes oder

10

Bezweifeltes, in der Tat wieder holen, auferwecken. Er bringt das unmöglich Geglaubte fertig, von alten Wundern der Menschheit so zu erzählen, dass sie uns aufs neue bedrängen. Dass er uns dadurch heute wieder zum Umgang mit diesen Wundern zwingt, macht ihn selbst unwiederholbar.

Literatur : Karl Young: The Drama of the Medieval Church. 2Bde, 2. Aufl. Oxford 1951. Patrick Roth: Ins Tal der Schatten. Frankfurter Poetikvorlesungen (edition suhrkamp 2277), Frankfurt a. M. 2002. - : Die Nacht der Zeitlosen, Frankfurt a.M. 2001. - : Riverside. Christusnovelle (suhrkamp taschenbuch 2568), Frankfurt a.M.1996. - : Johnny Shines oder die Wiedererweckung der Toten. Seelenrede (suhrkamp taschenbuch 2783), Frankfurt a.M. 1997. - : Corpus Christi (suhrkamp taschenbuch 3064), Frankfurt a. M. 1999.

Erste, verworfene Fassung des dritten Kapitels, 2. Teil: Figuren auf Erkenntnisreise: in Riverside sind es Andreas und Tabeas, die den aussätzigen Einsiedler Diastasimos besuchen, von

11

dem die Rede geht, dass er durch seinen Unglauben seine Heilung durch Jesus verhindert hat. Die beiden Männer wollen eine feste Wahrheit hören, die kodifizierbar, überlieferbar ist. Im Verlauf eines langen Frage- und Streitgesprächs – alle drei Christuserzählungen bestehen überwiegend aus solchen Gesprächen – beginnt sich die Geschichte ganz anders darzustellen, und es zeigt sich, dass das Heilungswunder schon vor langer Zeit eingetreten ist und zwar durch einen neuen erkennenden Blick des Diastasimos auf Jesus nach der bislang bekannten Begegnung. Und die zweite Pointe: wieder erkennt einer – es ist diesmal Andreas – im Vorbeigehen und im anschließenden Herunterholen des zu hochhängenden Mantels: das Kleid aber in Händen, und das Springen noch in den Gliedern, erkennt er ihn, dem das Kleid gehört. Und erinnert, wer früher so sprang, als Neunjähriger nämlich, am Eingang des Hauses, das Kleid zu holen dem Vater. (92) Geht es in dieser ersten Geschichte um Heilung und um die in der Erkenntnis herbeigeführte Auferstehung des Vaters, so handelt die zweite , Johnny Shines von der Erweckung der Toten. Der Drang Johnnys, bei Beerdigungen Särge aufzubrechen und die Toten darin zu erwecken, bringt ihn in Polizeigewahrsam, dem allerdings die Freilassung folgt, weil seine Selbstbezichtigung, einen Mord begangen zu haben, sich nicht bewahrheitet. Dieser Drang läßt ihn aber auch in einer ausgedehnten Seelenrede mit einem weiblichen Ich ins Gespräch kommen, das ihm nach und nach seine Vergangenheit heraufruft, die ihn zum ständig wiederholten Versuch der Totenerweckung getrieben hat: die unbeabsichtigte Tötung seiner kleinen Schwester Sharon. Als später nach dem großen Erdbeben -, die Särge des Friedhofs bloßliegen und die Toten umgebettet werden sollten, findet man Sharons Sarg leer, nur ein Päckchen Geld, ein Silberbesteck ist darin und eine Karte mit ihrem Namen und ihrem Geburtsdatum. Das erzählende Ich schließt wieder mit einer unsichermachenden Pointe: Einige vermuteten, jemand habe die Überreste der Toten [...] entwendet. Andere: die Leiche des Mädchens sei weder geraubt noch je ausgegraben worden [...] Manche sprachen von einem Wunder. Die schrieben es meinem Bruder zu Und in Corpus Christi schließlich: Nach der Heilung, nach der Erweckung, die Auferstehung. Der Apostel Thomas Judas, genannt Didymos, der alleingebliebene Zwilling, ist kurz nach dem Tod Christi auf der Suche nach der Auferstehungswahrheit, auf der Suche nach dem Körper, der gestohlen worden sein soll. Als er

12

erfährt, daß eine gewisse Tirza im Grab Christi ergriffen worden sei und trotz Folterung kein Geständnis hinsichtlich der Entwendung des Leichnams abgelegt habe, macht er, der stets zweifelnde Wahrheitssucher, sich auf den Weg zu ihr. Er erfährt wieder in einer Traumund Seelenrede die Geschichte von einem Doppelgänger, der sich geopfert habe, damit ein Körper gefunden werde. Bei der öffentlichen Verbrennung springt der Suchende auf den schon brennenden Scheiterhaufen und sieht sich selbst, d.h. seinem einstmals ausgesetzten Zwillingsbruder, ins Gesicht. Eine Pointe hinwiederum, doch bleibt das Auferstehungswunder unberührt.

13

Suggest Documents