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Suchthilfe im Wandel

Warum es so wurde, wie es heute ist Das Suchthilfesystem im Wandel der Zeit

Jost Leune Egal ob sie erlaubt sind oder verboten - Rauschmittel sind Teil der menschlichen Daseinsbewältigung und wurden seit jeher in eine Kultur eingebettet, von der man nicht weiß, ob sie Voraussetzung oder Entschuldigung des Drogenkonsums war. Alkoholische Getränke waren Grundnahrungsmittel und halfen, den Kampf ums Dasein zu ertragen - gelegentlich verbunden mit der Empfehlung, Bier zu trinken, um die teuren Importe von Kaffee und Tee zu umgehen. Da war ein Alkoholproblem bereits im 19. Jahrhundert die logische Konsequenz. Schon damals zeigte sich: Wer die gesellschaftlichen Anforderungen erfüllte, konnte trinken so viel er wollte. Wer wegen Alkohol jedoch unangenehm auffiel, war arm dran. Nicht nur im materiellen, sondern vor allem im gesellschaftlichen Sinne: „Trinker” und noch viel schlimmer „Trinkerinnen” waren willen-, halt- und bestimmt auch schamlos, und wenn sie nicht im Abseits starben, endeten sie häufig in „Irrenanstalten”.

Trunksucht: von der Willensschwäche zur Krankheit Wenige Fachkliniken hatten sich bereits der Alkoholkranken angenommen, auch die Selbsthilfe kümmerte sich um das Alkoholproblem - eine Suchthilfe im eigentlichen Sinne gab es aber noch nicht. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Konturen ins System und es dauert bis 1968, als ein regional begonnener Rechtsstreit es bis ins Bundessozialgericht schaffte. Dabei stritten sich die Beteiligten darüber, ob die beklagte Betriebskrankenkasse (BKK) verpflichtet sei, dem klagenden Sozialhilfeträger die Kosten zu erstatten, die durch die Unterbringung der Ehefrau eines Mitglieds der Krankenkasse im Rheinischen Landeskrankenhaus Süchteln zur Durchführung einer Alkoholentziehungsbehandlung in Höhe von 770,00 DM entstanden waren. Schon im Jahr 1962 hatte das Ordnungsamt beim Amtsgericht beantragt, die Frau wegen Alkoholismus in einer geschlossenen Anstalt unterzubringen, weil sie „seit Monaten übermäßig Alkohol getrunken und sowohl ihr Kind als auch ihren Haushalt vernachlässigt habe”. Das Bundessozialgericht stellte am 18. Juni 1968 fest, dass die Beklagte nach § 1531 RVO (Reichsversicherungsordnung als gesetzliche Grundlage der Rentenversicherung) die Kosten der Unterbringung zu erstatten habe, weil die betreffende Frau an einer Krankheit gelitten habe, die eine Krankenhausbehandlung erforderlich machte. Damit war es heraus: „Trunksucht” war Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung.

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Drogensucht: von der Straße in die Häuser In den sechziger Jahren kamen immer mehr illegale Substanzen ins Land. Von Westen - aus den USA - Cannabis, Marihuana und LSD; von Osten Mohnstroh und Opiate. Das war für einen kurzen Moment ganz lustig („Summer of Love” 1967 in San Francisco, der aber gerade mal vier Wochen gedauert hat) und dann zunehmend problematisch. In „Release-Gruppen” (engl. to release: freigeben, loslassen) boten ab 1970 engagierte und meistens studierte junge Menschen den Betroffenen psychosoziale und medizinische Hilfen an. Sie orientierten sich an Londoner Release-Gruppen und der Free Clinic von San Francisco. Die Angebote waren sehr akzeptierend und sehr begleitend. Aber schon im selben Jahr reagierte auch die Politik. Ein Aktionsprogramm des Bundes zur Bekämpfung des Drogen- und Rauschmittelmissbrauchs wurde am 12.11.1970 verabschiedet. Schwerpunkte waren die Bekämpfung des Drogenhandels durch Polizei, Bundesgrenzschutz, Zoll und Justiz sowie Empfehlungen zur Aufklärung der Bevölkerung und nur sehr vage Hinweise für therapeutische Hilfen. Ein Jahr später wurden die Anweisungen schon deutlicher.

Die schnelle Geburt der Drogenhilfe In den 70er- und 80er-Jahren war Suchtpolitik Drogenpolitik. Die Hilfe für die vielen hunderttausend Alkoholkranken wurde in der bewährten Trias „Beratung - Behandlung - Selbsthilfe” erbracht. Für 100.000 Drogenabhängige begann aber jetzt das Räderwerk zu laufen. Mit dem Großmodell des Bundes startete 1971 die planmäßige Förderung von Vereinen und Institutionen in Absprache mit den Ländern. Über eine Laufzeit von sieben Jahren wurden mit insgesamt 32 Millionen DM Bundesförderung insgesamt 118 Einzelmaßnahmen für junge Drogenabhängige mit 68 Trägern geschaffen, darunter 57 Drogenberatungsstellen, fünf „Entzugskliniken”, zehn therapeutische Wohngemeinschaften (TWGs) und 46 Nachsorgeeinrichtungen. Ab 1973 wurde das Modell vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München wissenschaftlich begleitet. Kommunen und Länder beteiligen sich an der Finanzierung, um von den Ergebnissen der wissenschaftlichen Begleitung zu profitieren. Mit der EBIS-Dokumentation (EinrichtungsBezogenes InformationsSystem) wurde 1974 eine erste, gemeinsame ambulante Suchthilfedokumentation ins Leben gerufen, die heute als Deutsche Suchthilfestatistik wertvolle Dienste leistet, damals aber extrem nutzer/-innenunfreundlich und umstritten war.

Nach dem Auslaufen des „Großmodells” erstellten die Bundesländer eigene Maßnahmenpläne und Modellprojekte zunächst mit dem Schwerpunkt der Finanzierung von Drogenhilfe nach §§ 39 (Behindertenhilfe), 47/100 (Zuständigkeit des überörtlichen Sozialhilfeträgers) und 72 (Hilfen in besonderen Lebenslagen) BSHG (Bundessozialhilfegesetz). Die im „Großmodell” entwickelten „Mindestkriterien” wurden 1979 Grundlage der Förderung weiterer Bundesmodellprogramme und von vielen Landesministerien in die jeweiligen Förderrichtlinien für die Finanzierung von Drogenhilfeeinrichtungen aufgenommen. Auf diese Weise entstand in Deutschland ein neues Feld psychosozialer Hilfen, das unter dem Namen „Drogenhilfe” eine neue Methodik und einen neuen Arbeitsansatz bei Angeboten für durch illegale Drogen gefährdete und abhängige Menschen einführte. Das Projekt war erfolgreich: Drogenhilfe agierte stets nahe an den betroffenen Menschen, war innovativ und überwand die sozialrechtlich fest gefügten „Claims” psychosozialer Hilfen durch fantasievolle Konzepte und erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit. Erstmals gelang es, eine bis dahin als unbehandelbar geltende Gruppe suchtkranker Menschen weitgehend erfolgreich in die „Un-Abhängigkeit” zu führen und sich als Chancengeber zu profilieren, wo Medizin und Justiz längst kapituliert hatten. Dann kam Mitte 1981 Schwung in die Sache: Mit der Novellierung des Betäubungsmittelgesetzes wurde ein neuer Abschnitt mit der Überschrift „Betäubungsmittelabhängige Straftäter” in den Gesetzestext eingefügt. Er begann mit § 35, der danach ziemlich berühmt wurde und etwas regelte, was beim ersten Lesen häufig nicht verstanden wird: „(1) Ist jemand wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren verurteilt worden und ergibt sich aus den Urteilsgründen oder steht sonst fest, dass er die Tat auf Grund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hat, so kann die Vollstreckungsbehörde mit Zustimmung des Gerichts des ersten Rechtszuges die Vollstreckung der Strafe, eines Strafrestes oder der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt für längstens zwei Jahre zurückstellen, wenn der Verurteilte sich wegen seiner Abhängigkeit in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befindet oder zusagt, sich einer solchen zu unterziehen, und deren Beginn gewährleistet ist. Als Behandlung gilt auch der Aufenthalt in einer staatlich anerkannten Einrichtung, die dazu dient, die Abhängigkeit zu beheben oder einer erneuten Abhängigkeit entgegenzuwirken.” Das heißt in der Praxis, dass die Strafvollstreckungsbehörde entscheidet, ob eine Strafe von weniger als zwei Jahren im Justizvollzug oder in der Therapieeinrichtung vollstreckt wird, die aber der staatlichen Anerkennung bedarf. Das entsprach nicht unbedingt dem Selbstverständnis der Drogentherapeuten/-innen, die nun der Staatsanwaltschaft zurückmelden mussten, wenn jemand die Therapie abgebrochen hat. Und es bot mannigfach Gelegenheit zur Diffamierung der „abstinenzorientierten Therapie” als verlängerten Arm der Justiz, was aber Unfug war. Fest steht jedoch, dass hinter dieser Regelung die wichtige Einsicht von Juristen stand, dass Drogenabhängige im Vollzug denkbar schlecht aufgehoben sind und ihnen die Chance zur Behandlung gegeben werden sollte. Ansonsten diente die Betäubungsmittelgesetz-Novelle der Überführung der internationalen Suchtstoffabkommen in nationales Recht.

Zwischenruf: Und wenn alles ganz anders wäre? Beim 12. BundesDrogenKongress 1989 in Kiel donnerte der damalige hessische Drogenbeauftragte Dr. Wolfgang Winkler zur „Bestandsaufnahme der Drogenpolitik und der Drogenarbeit in der Bundesrepublik Deutschland” eine ganz andere Sichtweise in den Saal: „Die Zuordnung (der Drogenhilfe) zum Medizinbetrieb und insbesondere die sich daraus ergebenden Finanzierungsregeln sind nicht nur ein politischer Irrtum und ein ordnungspolitischer Sündenfall, sondern sie behindern und stören auch in unvertretbarer Weise die problemangemessene, qualitative, quantitative und organisatorische Weiterentwicklung der Drogenhilfe. Wir haben jahrzehntelang auf Tagungen und Kongressen die Medizinisierung und Psychiatriesierung der Drogenarbeit beklagt. Jetzt muss aus Anlass der neu aufgebrochenen Drogendiskussion auch die Frage der ordnungspolitischen Zuordnung und damit die Frage der Finanzierung auf den Tisch. Wenn es sich im Kern bei der Drogenhilfe um pädagogisch zu initiierende Nachreifungsprozesse und um die Korrektur von Fehlsozialisation handelt, dann haben das nicht die Solidargemeinschaften zu bezahlen, sondern die staatliche Gemeinschaft, der in unserer verfassungsmäßigen Ordnung die verpflichtende Garantenstellung für Sozialisationsprobleme zugeschrieben ist.” Darüber lohnt es auch heute noch nachzudenken!

Strukturen, Zahlen und Regeln Mit dem Bundessozialgerichtsurteil von 1968 war klar, dass „Trunksucht” Krankheit ist. Nicht klar war aber, wer bezahlt. Daher gab es am 15.02.1978 ein weiteres Urteil des Bundessozialgerichts über die Kostenverteilung. Darin appelliert das Gericht an die soziale Selbstverwaltung der Träger der beiden Zweige der Sozialversicherung (Gesetzliche Kranken- und Gesetzliche Rentenversicherung), vertragliche Vereinbarungen über eine Kostenbeteiligung zu treffen. Die Spitzenverbände der Krankenkassen und der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger schlossen am 20.11.1978 eine „Empfehlungsvereinbarung über die Zusammenarbeit der Krankenversicherungsträger und der Rentenversicherungsträger bei der Rehabilitation Abhängigkeitskranker” (offizieller Arbeitstitel „Suchtvereinbarung”). Die Vereinbarung regelte die Zuständigkeit und das Verfahren bei der Gewährung stationärer Maßnahmen für Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängige (Abhängigkeitskranke), wenn Leistungen sowohl der Krankenversicherung als auch der Rentenversicherung in Betracht kamen. Damit war die grundsätzliche Regelung geschaffen, dass generell die Gesetzliche Krankenversicherung Leistungsträger für die Entgiftungs- und die Gesetzliche Rentenversicherung Leistungsträger für die Entwöhnungsbehandlung ist. Am 19.02.1981 stellt das Bundessozialgericht zur Vorleistung des Rentenversicherungsträgers bei der Langzeitbehandlung wegen Drogensucht fest, dass „eine Langzeitbehandlung wegen Drogensucht eine Rehabilitationsmaßnahme ist, weil sie dem Ziel dient, den Behinderten (!) möglichst auf Dauer wieder in Arbeit, Beruf und Gesellschaft einzugliedern.” Mit diesem Urteil begann die fast 30 Jahre dauernde Veränderung der Drogentherapie: weg von der Therapeutischen Wohngemeinschaft und hin zur medizinisch geleiteten Fachklinik.

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Männer und Frauen Bis etwa 1980 war die Identität der „sozialwissenschaftlichen Durchschnittskonsumenten” in Deutschland zu 75 Prozent männlich und 25 Prozent weiblich. Und das in einer Person! Eine Geschlechterdifferenzierung hielt bis dahin fast niemand für nötig. Mit der Fachkonferenz „Frauen und Sucht” der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren in Saarbrücken wurden erstmals die unterschiedlichen Ursachen und Formen der Abhängigkeitsentwicklung bei Frauen und Männern in den Blick genommen. Das war ein Meilenstein, aber es brauchte noch Jahrzehnte bis zum „Gender Mainstreaming”. 1987 legte der Fachverband Drogen und Rauschmittel mit seinem 10. BundesDrogenKongress nach: „Wenn Frauen aus der Falle rollen” hieß das Motto und wurde zum ersten öffentlichen Auftritt der feministischen Suchtarbeit mit deutlicher Abgrenzung zur „Lederjackenfraktion der Drogensozis”. Von jetzt an war die FrauenSuchtArbeit auch mit eigenen Einrichtungen präsent.

Mit AIDS kommt der Paradigmenwechsel Die ersten Drogenabhängigen in Deutschland stecken sich wahrscheinlich 1982 mit dem HI-Virus an. AIDS wurde zum Thema in der Drogenhilfe. Der in den zurückliegenden Jahren zwischen Hilfesystem, organisierter Ärzteschaft und Politik entwickelte Konsens hinsichtlich der Ziele der Drogenhilfe wurde durch die Gründung der AIDS-Hilfen aufgelöst und führte zu einem nachhaltigen und gravierenden Umbau der Drogenhilfestrukturen hin zu niedrigschwelliger Arbeit, in der die Hilfe auf der Szene stattfand (Streetwork und Kontaktläden) und an keine Voraussetzungen geknüpft war. Sehr umstrittene Programme zum Spritzentausch, bei denen intravenös konsumierende Drogenabhängige die Möglichkeit bekamen, gebrauchte gegen neue Spritzen zu tauschen, sollten die Ausbreitung des HI-Virus verhindern (was sie auch erfolgreich taten). Und der 25 Jahre währende Streit um die Substitution begann: Nach ersten Versuchen in Hannover, einem Landesmodell 1989 zuerst in Nordrhein-Westfalen und dann auch in fast allen anderen Bundesländern wurden am 01.01.1991 die ersten Behandlungsrichtlinien zur Substitution veröffentlicht. Die zugrundeliegende Idee war die, Opiatabhängigen ein Medikament zu verabreichen, das die Opiatrezeptoren blockiert und den „Drogenhunger” stillt. Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen formulierte diese Richtlinien im Rahmen der Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (früher NUB-, dann BUB-Richtlinien, jetzt Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zu Untersuchungsund Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung) für die Behandlung mit Substitutionsmitteln. Sie sahen präzise Indikationskriterien, eine Weiterbildung für substituierende Ärzte und umfassende Regelungen zur Behandlung vor, die Grundlage für die Vergütung der Behandlung durch die gesetzliche Krankenversicherung war. Parallel dazu formulierte die Bundesärztekammer die ethischen Rahmenbedingungen der Behandlung. Kein Behandlungsansatz war so umstritten wie die Substitution. Von den einen als wirksame Behandlung der Drogenabhängigkeit gepriesen, von den anderen als Verlängerung der Sucht gescholten, führte sie zu endlosen Fachdiskussionen, in denen es auch schon mal die eine oder andere Beleidigung der Gegenseite gab, aber ganz selten konsensfähige Ergebnisse.

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Und noch ein Paradigmenwechsel: das „Cannabis-Urteil” Anfang der neunziger Jahre haben Strafkammern an Landgerichten (z. B. in Lübeck und Hildesheim) die Frage gestellt, ob Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes, soweit sie verschiedene Formen des unerlaubten Umgangs mit Cannabisprodukten mit Strafe bedrohen, mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Am 09.03.1994 sprach das Bundesverfassungsgericht ein Aufsehen erregendes Urteil: „Nach den Ausführungen der vom Gericht gehörten Sachverständigen und unter Berücksichtigung vielfältiger Literatur stehe fest, dass Alkohol und Nikotin sowohl für den Einzelnen als auch gesamtgesellschaftlich evident gefährlicher seien als Cannabisprodukte. Übermäßiger Alkoholkonsum könne beim Einzelnen zu schweren physischen und psychischen Schäden führen; seine schädlichen Folgen für die Gesellschaft seien beträchtlich. Demgegenüber seien die individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen des Cannabiskonsums gering. Es sei nicht nachgewiesen, dass der Konsum von Cannabis physische Schäden relevanten Umfangs hervorrufe. Für den Umgang mit Drogen gelten die Schranken des Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz. Ein ‚Recht auf Rausch’, das diesen Beschränkungen entzogen wäre, gibt es nicht.” Aber auch: „Der Gleichheitssatz gebietet nicht, alle potentiell gleich schädlichen Drogen gleichermaßen zu verbieten oder zuzulassen. Der Gesetzgeber konnte ohne Verfassungsverstoß den Umgang mit Cannabisprodukten einerseits, mit Alkohol oder Nikotin andererseits unterschiedlich regeln.” Das Jubeln über die in diesem Urteil vermeintliche verfügte Legalisierung von Cannabis verging schnell. Zwar sollten Konsumdelikte nicht mehr bestraft werden, aber die Polizei ermittelte weiterhin und über die Eigenbedarfsgrenzen besteht auch 20 Jahre später noch keine Einigkeit.

Suchthilfe zusammen gedacht Obwohl sich die Suchthilfe in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bei vielen Tagungen und in unzähligen Ausschusssitzungen mit der Weiterentwicklung des Suchthilfesystems befasst hat, kamen die wesentlichen Impulse dann doch von anderer Seite. Mit dem „Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland” (Psychiatrie-Enquête vom 25.11.1975) wurde zum ersten Mal die Behandlung Suchtkranker differenziert dargestellt. Zum Beweis eine Leseprobe: „Das heutige Behandlungsangebot erfordert angesichts der multikonditionalen Entstehung des Alkoholismus ein komplexes therapeutisches Programm, das nur durch Zusammenarbeit mehrerer Therapeuten verschiedener Fachrichtungen (insbesondere Psychiater, Neurologen, Internisten, Psychologen und Sozialarbeiter) ermöglicht werden kann. In der Regel beginnt die Therapie des Alkoholkranken mit einer Behandlung der akuten Intoxikationserscheinungen (Entgiftungsbehandlung). Hieran schließt sich die Entwöhnungsbehandlung an, die durch die gleichzeitige Anwendung medikamentöser, sozialtherapeutischer und psychotherapeutischer Verfahren gekennzeichnet ist. Die besten Resultate ver­sprechen gegenwärtig Gruppentherapien, die konfliktzentrierte Einzelberatung, sozialtherapeutische Aktivitäten, sowie vor allem die Beteiligung an Selbsthilfeorganisationen.” Aufbauend auf die Psychiatrie-Enquete wurden 1988 Versorgungsempfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Bereich auf der Grundlage des Modellprogramms Psychiatrie der Bundesregierung ausgesprochen: „Die Expertenkommission vertritt die Auffassung,

dass schwerwiegende Defizite in der Versorgung Abhängigkeitskranker primär nicht in zahlenmäßig unzureichenden Behandlungsangeboten zu suchen sind, sondern ihre Ursachen in strukturellen Defiziten des Versorgungssystems haben, das sich noch immer durch fehlende Orientierung am Prinzip der Gemeindenähe, Mangel an Koordination und Kooperation sowie durch Zuständigkeits- und Finanzierungsprobleme auszeichnet. Diese Auffassung wird im Grundsatz von den Ländern und Verbänden geteilt und der Aufbau eines gemeindenahen Versorgungssystems gefordert, in dem Kooperation und Koordination der interdisziplinären Dienste und Einrichtungen gewährleistet sind.” Das ist 25 Jahre später noch immer hoch aktuell! Eine ganz andere Reaktion der Politik war der Nationale Rauschgiftbekämpfungsplan, der am 13.06.1990 von der „Nationalen Drogenkonferenz” unter Vorsitz von Bundeskanzler Kohl verabschiedet wurde. Er beschrieb auf freundliche Weise die Akteure und Maßnahmen von der Prävention über die Suchthilfe bis hin zu Justiz und Zoll und wurde von unterschiedlichen Akteuren engagiert entwickelt. Impulse gab er höchstens für Sonntagsreden. Auch die Spitzenverbände der Kranken- und Rentenversicherungsträger waren nicht untätig. Schon 1985 verabschiedeten sie ein Gesamtkonzept zur Rehabilitation, das unter Beteiligung namhafter Sachverständiger erarbeitet und mit den Drogenbeauftragten der Länder abgestimmt wurde. Das Gesamtkonzept beschreibt einzelne Phasen der Gesamtbetreuung und -behandlung, die im Rahmen einer Therapiekette, bestehend aus Kontaktphase, Behandlungsphase und Nachsorgephase wirksam werden sollten. Inhalt und Umfang dieser Phasen wurden im Einzelnen konkretisiert und Anforderungskriterien für entsprechende Einrichtungen festgelegt. Das Gesamtkonzept sollte den Spitzenverbänden der Kranken- und Rentenversicherung als Grundlage dienen, die Zuständigkeiten und Finanzierung für ambulante und stationäre Maßnahme zu regeln.

Impulsgeber: das Bundesministerium für Gesundheit Seit dem „Großmodell” des Bundes hat das Bundesministerium für Gesundheit vor allem unter seinen Drogenbeauftragten Prof. Dr. Manfred Franke und Michaela Schreiber eine Vielzahl von Modellprojekten aufgelegt. Modellprojekte konnten es nur deswegen sein, weil der Bund aufgrund der föderativen Struktur der Bundesrepublik im Bereich der Drogen- und Suchthilfe keine eigenen Maßnahmen initiieren darf. Eine vollständige Auflistung dieser Modellprojekte gibt es leider nicht, aber sie lieferten eine Vielzahl von Impulsen, die häufig ihrer Zeit voraus waren. Die Mehrzahl von ihnen konzentrierte sich auf die Hilfe für Drogenabhängige. Die Modellprojekte wurden ebenso gern belächelt wie genommen, da mit ihnen bei der schwierigen Pauschalfinanzierung der Länder und Kommunen zusätzliche Mittel durch die Einrichtungsträger eingeworben und neue Methoden und Verfahren ausprobiert werden konnten. Beispielhaft sei hier das Modellprogramm „Ambulante Ganztagsbetreuung Drogenabhängiger” genannt, das am 15.06.1987 begann und die ambulante Suchthilfe nachhaltig verändert hat. Damit sollten bei der Behandlung von Langzeitabhängigen neue Wege eingeschlagen werden. Als wichtiges Angebot wurde die ambulante Therapie genannt. Von 1987 bis 1990 finanzierte das Ministerium zwölf Projekte, in denen Daten von 442 Langzeitdrogenabhängigen untersucht wurden. Die Ergebnisse zeigten, dass die ambulante

Ganztagsbetreuung eine sinnvolle Ergänzung bewährter Versorgungsangebote im Drogenbereich ist. So war es folgerichtig, dass mit der Empfehlungsvereinbarung Ambulante Reha Sucht (EVARS) , die am 01.10.1991 in Kraft trat, auch die Renten- und Krankenversicherungsträger die ambulante Rehabilitation Suchtkranker möglich machten, deren Wirksamkeit bis dahin von Vielen vehement bestritten wurde.

Kein Glück beim Spiel: neue Herausforderungen Mit dem Staatsvertrag zum Glücksspielwesen in Deutschland haben die Bundesländer einheitliche Rahmenbedingungen für die Veranstaltung von Glücksspielen zu schaffen versucht. Er wurde nach seinem Auslaufen ab 1. Januar 2012 vom Glücksspieländerungsstaatsvertrag abgelöst. Ziel der Staatsverträge ist es, die Spielsucht zu bekämpfen bzw. ihre Entstehung bereits zu verhindern und hierbei insbesondere den Jugend- und Spielerschutz zu gewährleisten. In dieser Konsequenz haben viele Länder „Fachstellen Glücksspielsucht” geschaffen, deren Aufgabe die Prävention des Glücksspiels ist. Zunehmend tauchen Glücksspieler/-innen jetzt auch in den Beratungs- und Behandlungseinrichtungen der Suchthilfe auf ‑ die Suchthilfe ist für das Thema sensibilisiert und hat schon ein neues auf der Agenda: den pathologischen Computer- bzw. Internetgebrauch.

Neue Gesetze, neue Regelungen ‑ neues Denken! Das 21. Jahrhundert ist in der Suchthilfe geprägt von einem immer schnelleren Rhythmus der Veränderungen bei den Rahmenbedingungen. 2001 wurde von der Weltgesundheitsorganisation die „International Classification of Functioning, Disability and Health” (ICF) verabschiedet, die ein neues diagnostisches Denken erforderte. Nicht mehr die Defizite der Betroffenen waren Mittelpunkt der diagnostischen Betrachtung, sondern ihre Fähigkeiten und ihre Ressourcen. Die ICF fand ihren Ausdruck im Sozialgesetzbuch IX, das zum 01.07. 2001 unter der Überschrift „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen” in Kraft trat. Im Jahr 2004 gab es ein neues Sozialgesetzbuch II „Grundsicherung für Arbeitssuchende” (Schlagwort „Hartz IV”) mit Hinweisen auf Leistungen der Suchtberatung im § 16. Im selben Jahr wurde das Bundesozialhilfegesetz durch das Sozialgesetzbuch XII und der Fürsorgegedanke durch den Leistungsgedanken abgelöst. Seit 2009 gilt in Deutschland die UNBehindertenrechtskon­vention mit ihrem Zusatzprotokoll. Zweck dieses Übereinkommens ist es, „den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.” Das daraus resultierende Schlagwort lautet „Inklusion” und bietet Anlass für vielerlei Experimente zur Beendigung tatsächlicher oder gefühlter Ausgrenzung. Auch die Deutsche Rentenversicherung regelte nach. In schneller Folge traten Empfehlungen oder Vereinbarungen in Kraft, mit denen die medizinische Rehabilitation strukturiert wurde: • 1997: Klassifikation therapeutischer Leistungen (KTL) • 2001: Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen • 2007: Rahmenkonzept zur medizinischen Rehabilitation in der gesetzlichen Rentenversicherung • 2008: Gemeinsames Rahmenkonzept der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung zur ambulanten medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker • 2010: Strukturqualität von Reha-Einrichtungen – Anforderungen der Deutschen Rentenversicherung („100 Betten Konzept”)

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