Vorwort Zur Thematisierung von Armut in Deutschland

Vorwort Zur Thematisierung von Armut in Deutschland Wolfgang Voges Die wissenschaftliche Besch¨aftigung mit Armut und gesellschaftliche Reaktionen auf...
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Vorwort Zur Thematisierung von Armut in Deutschland Wolfgang Voges Die wissenschaftliche Besch¨aftigung mit Armut und gesellschaftliche Reaktionen auf diese Erscheinungen unterliegen vielf¨altigen Konjunkturen und sind im erheblichem Maße vom historischen Kontext abh¨angig. Nach dem 1. Weltkrieg war das Armutsproblem tief in das offentliche Bewußtsein gedrungen. Der soziale Abstieg und ¨ die Verarmung breiter Bevolkerungsschichten als unmittelbare und ¨ mittelbare Folge des Krieges ließ die alte Diskussion uber wurdige ¨ ¨ und unwurdige Arme neu aufleben. Das offentliche Interesse war auf ¨ ¨ die Entwicklung neuer Sicht- und Handlungsweisen gegenuber den ¨ der Fursorge ›unschuldig‹ anheimgefallenen Kriegs- und Inflations¨ opfern ausgerichtet. Fur ¨ diese ›neuen Armen‹ galt es, der Fursorge ¨ den diskriminierenden Charakter zu nehmen. Aus der Besch¨aftigung mit dieser Frage entwickelte sich im deutschsprachigem Raum eine an kulturwissenschaftlichen Pr¨amissen orientierte Armutsforschung, die sich anderen von Verarmung bedrohten Bevolkerungsgruppen zu¨ wendete und breite gesellschaftliche Anerkennung damit erfuhr. Nach der Machtubernahme der Nationalsozialisten und der ›Neu¨ bewertung‹ von Armut und Fursorge unter eugenischen Grunds¨atzen ¨ sollte Hilfe nur noch Personen zukommen, die der ›Volksgemeinschaft‹ auch nutzlich seien, w¨ahrend die ›Unnutzen‹ ausgegrenzt ¨ ¨ wurden. Eine offentliche Thematisierung von Armut konnte es in ¨ diesem historischen Kontext nicht geben. Eine fachliche Besch¨aftigung bezog sich lediglich auf Probleme der Sicherung der materiellen Lebensgrundlagen der ›wurdigen Volksgenossen‹. Empirische For¨ schung zu ungleichen Einkommenslagen beschr¨ankte sich auf Studien der Deutschen Arbeitsfront zum West-Ost-Gef¨alle im Lohneinkommen von Arbeitergruppen. Nach dem 2. Weltkrieg und mit der Grundung zweier deutscher ¨ Staaten entwickelte sich – nicht zuletzt aus systemimmanenten Grun¨ den – die wissenschaftliche Besch¨aftigung mit Armut und die Reaktion in den beiden Gesellschaftssystemen darauf sehr unterschiedlich. 1

In der alten Bundesrepublik war bereits kurze Zeit nach dem 2. Weltkrieg absolute Armut als Fehlen der Moglichkeiten zur Si¨ cherung des physischen Existenzminimums verschwunden. Mit der Erweiterung des Systems sozialer Sicherung, der raschen Steigerung des Sozialprodukts, der Entwicklung eines stabilen Arbeitsmarkts und den erweiterten finanziellen Moglichkeiten des ›neuen‹ ¨ Sozialstaats bundesrepublikanischen Pr¨agung konnten z. B. tempor¨are Einkommensschw¨ache als eine negative Begleiterscheinungen des Wirtschaftswachstums der Aufbauphase durch sozialpolitische Strategien erheblich aufgefangen werden. Der Stolz uber die eigenen ¨ Leistungen mit dem Aufbau dieses Wohlfahrtsstaats fuhrte dazu, daß ¨ Armutserscheinungen negiert wurden. Sie paßten nicht in das Bild von der ›nivellierten Mittelstandsgesellschaft‹ (Schelsky). Diese Zeit des Wirtschaftswunders – der ›scheinbar immerw¨ahrenden Prosperit¨at‹ (Lutz) – hatten der Armut den Charakter eines unmittelbar erfahrbaren sozialen Ph¨anomens genommen. Sie war damit nicht nur unterhalb der ›Wahrnehmungsschwelle der sozialwissenschaftlichen Forschung gesunken‹ (Chass´e), sondern auch aus der offentlichen und ¨ politischen Diskussion verschwunden. Ende der 60er Jahre wurde im Zusammenhang mit der Studentenbewegung und der von ihr initiierten Diskussion um das ›gesellschaftsver¨andernde Potential von Randgruppen‹ auch die Auseinandersetzung mit Armutsph¨anomen neu belebt. Allerdings bezog sich das wissenschaftliche und politische Interesse in erster Linie auf auf ›stigmatisierte‹ Armutsgruppen wie Obdachlose, Nichtseßhafte, Straff¨allige und Heiminsassen, die bereits gesellschaftlichen Kontrollinstanzen ausgesetzt waren und Merkmale von ›sekund¨arer Devianz‹ aufwiesen. Die meisten Studien jener Zeit versuchten an der angloamerikanischen Forschungstradition anzuknupfen und befaßten sich ¨ mehr mit der Deskription der Folgen von Armut als mit der Frage nach deren Ursachen. In der offentlichen Meinung Anfang der 70er Jahre herrschte jedoch ¨ die Meinung vor, wonach Armut – wenn nicht g¨anzlich beseitigt – so doch ›auf eine exzentrische und periphere Ausnahmesituation am Rande der Gesellschaft reduziert‹ (Strang) sei. Erst Heiner Geißlers Darstellung von Armutserscheinungen als ›neue soziale Frage‹ – die 2

die damalige sozial-liberale Koalition seiner Ansicht sozialpolitisch unbeantwortet ließ – belebte die tagespolitische Diskussion und regte die wissenschaftliche Auseinandersetzung daruber an. Angeregt wurde ¨ in diesen Jahren auch die quantitative Messung von Armut in der Folge der ›Soziale Indikatoren-Bewegung‹, die in Skandinavien und den USA ihren Ausgang genommen hatte. Allgemein war man jedoch weiterhin davon uberzeugt, daß durch ¨ das sozialdemokratisch-keynesianistische Modell der Wirtschaftssteuerung ein anhaltendes Wirtschaftswachstum und ein hohes Sozialprodukt moglich sei, daß letztlich dazu beitr¨agt, Armut dauerhaft ¨ zu beseitigen. Erst als Anfang der 80er Jahre allgemein deutlich wurde, wie die Ver¨anderung der Wirtschafts- und Produktionsstrukturen sowie der Abbau des Sozialstaats das Risiko relativen sozialen Abstiegs erhoht ¨ haben, wuchs auch die gesellschaftliche Bereitschaft, Armut als ernstzunehmendes soziales Problem zu akzeptieren. Vor dem Hintergrund der Integration der neuen Bundesl¨ander und der hier festzustellenden Verarmungsprozesse droht die Unterversorgung von Personen in der alten bundesrepublikanischen Wohlstandsgesellschaft aus dem Blickfeld zu entschwinden. Entsprechend den Vorstellungen vom real existierenden Sozialismus konnte es in der DDR eine offentliche Thematisierung von Armut ¨ nicht geben. Selbst in den umfassenden Bibliographien des Instituts fur ¨ Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR zu sozialpolitischen Fragestellungen taucht der Armutsbegriff bis zur jungsten Gegenwart nicht auf. Die Ursache ist nicht nur darin ¨ zusehen, daß die Forschungstradition so nachhaltig durch die NS-Zeit abgebrochen wurde, sondern daß es vor allem aus systemimmanenten Grunden keine Armut geben konnte und demnach auch offiziell keine ¨ wissenschaftliche Besch¨aftigung damit notwendig sei. Absolute Armut war auch in der DDR seit Ende der 50er Jahre weitgehend beseitigt und die Einfuhrung des Mindestbruttolohns war ¨ ein weiterer Beitrag zur Sicherung des Existenzminimums. Ein wesentliches Element zur Sicherstellung des Existenzminimums war jedoch die ›Subventionspolitik als Teil der Sozialpolitik‹ (Manz). Die Grundlage dieser Sozialpolitik bestand in der administrativen Festsetzung und Subventionierung von Einzelhandelsverkaufpreisen 3

(EVP) fur und Dienstleistungen. ¨ lebensnotwendige Konsumguter ¨ Demgegenuber wurden Konsumguter fur ¨ ¨ ¨ den gehobenen Bedarf oder langlebige Gebrauchsguter mit einer produktgebundenen Abgabe ¨ belegt, die dazu diente, die Mittel fur ¨ die Subventionierung abzuschopfen. Verdeckte Preiserhohungen erfolgten durch einen schein¨ ¨ baren ›Produktwandel‹. Dabei wurden geringerwertige Konsumguter ¨ aus dem Warenangebot genommen oder bei neuen und scheinbar verbesserten Waren gingen die Preiserhohungen weit uber die tats¨achli¨ ¨ chen Verbesserungen des Produkts hinaus. Obwohl sich bereits 1988 im Neuen Deutschland Beitr¨age fanden, die auf die volkswirtschaftlichen Probleme einer derartig uber die Preis¨ politik betriebenen Sozialpolitik hingewiesen haben, war man stets davon uberzeugt, daß auf diese Weise fur ¨ ¨ alle Personen mit niedrigen Renten oder geringen Erwerbseinkommen das Existenzminimum optimal gew¨ahrleistet sei. Man befurchtete, daß bei Abschaffung oder ¨ Einschr¨ankung der Subventionierung bei den weniger bemittelten sozialen Schichten eine Verarmung einsetzen konne. ¨ Eine große Anzahl von Studien und Forschungsberichten, die h¨aufig als ›Dienstsache‹ deklariert wurden und viele Publikationen verdeutlichen die politischen bzw. politisch gesteuerten oder zumindest zugelassenen Bemuhungen, den Lebensstandard in der DDR ¨ zumindest empirisch nachzuverfolgen oder gar zu beeinflussen. Gegenuber den in den alten Bundesl¨ander in den 80er Jahren zumeist auf ¨ Einkommensarmut fokussierten Studien, hoben diese Arbeiten auf die Bedeutung der verschiedenen Lebenslagen ab und verweisen damit auf das Konzept der relativen bzw. multiplen Deprivation. Dahinter steht ein Verst¨andnis von Armut als ein unmittelbar wahrnehmbares Ph¨anomen, daß direkt anhand des Versorgungsniveaus mit Konsumgutern, ¨ Dienstleistungen oder Wohnraum ›gemessen‹ werden kann. Zu den damit verbundenen Fragen nach dem Lebensstandard und Lebensqualit¨at wurden auch in der DDR Untersuchungen durchgefuhrt, deren Ergebnisse allerdings niemals veroffentlicht werden ¨ ¨ durften. In der vorliegenden Studie wird die Konsumtions- und Versorgungssituation mit der Wirtschaftsentwicklung der DDR verknupft. ¨ Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Existenzminimum und Armut wird verdeutlicht, daß es auch in der DDR Armut gab, das Sys4

tem der sozialen Sicherheit die hiervon betroffenen Menschen jedoch trotz burokratischer Hemmnisse und qualitativer M¨angel vor einer ¨ sozialen Marginalisierung bewahrte. Der Autor der vorliegenden Studie, Gunther ¨ Manz, hat sich seit nahezu vierzig Jahre mit Fragen des Lebensstandards und der Konsumtion der DDR-Bevolkerung befaßt. Aufgrund seines Wirkens als ¨ Planungsfachmann von 1950–1956 und sp¨ater als ordentlicher Professor und bis zur Emeritierung 1987 als Leiter des Instituts fur ¨ Konsumtion und Lebensstandard an der Hochschule fur ¨ žkonomie in Berlin kann er uber Lebenslagen, Konsumtion und Sozialpolitik quasi ¨ als Insider berichten. In dieser Studie werden seine Forschungen zur Armut erstmals vorgestellt. Dabei bel¨aßt er es nicht bei einer historischen Betrachtung der Verarmungstendenzen in der DDR, sondern betrachtet auch die gegenw¨artige Ver¨anderung der Lebenschancen in den neuen Bundesl¨ander. Denn in einem weitaus großerem Maße als im Konzept der Subven¨ tionspolitik als ›Anti-Armutsstrategie‹ angenommen, hingen in der DDR Lebenschancen von Ressourcen, Dienstleistungen und Schutzrechten ab, die an Erwerbst¨atigkeit bzw. an die Zugehorigkeit zu einem ¨ bestimmten Betrieb geknupft waren. Dies wurde einem Großteil der ¨ ›DDR‹-Bevolkerung erst bewußt, als infolge des Zusammenbruchs ¨ der DDR-Wirschaft, eines sich dadurch verengenden Arbeitsmarktes und eingeschr¨ankter Erwerbsmoglichkeiten Arbeitslosigkeit als ¨ das wesentliche Risiko der Einschr¨ankung von Lebenschancen auftrat. Durch die wirtschaftliche Umstrukturierung mußten uber 40% ¨ der bislang Erwerbst¨atigen aus dem Arbeitsprozeß ausscheiden. Ein Ergebnis dieses Prozesses ist die hohe Anzahl von Îbersiedlern und Arbeitspendlern in die alten Bundesl¨ander, aber eben auch soziale Abstiegsprozesse der in den neuen Bundesl¨andern verbliebenen Frauen, M¨annern und Familien.

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