Vom Wiederaufbau zum Dialog

Vom Wiederaufbau zum Dialog Zur Entwicklung und Kulturwirksamkeit anthroposophischer Arbeit in den vergangenen fünfzig Jahren von: Bodo v.Plato aus: A...
Author: Jacob Bergmann
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Vom Wiederaufbau zum Dialog Zur Entwicklung und Kulturwirksamkeit anthroposophischer Arbeit in den vergangenen fünfzig Jahren von: Bodo v.Plato aus: Almanach 1997 – Der Weg in die Zukunft, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1997

1947 / 1897 / 1997 In den Trümmern nach dem zweiten Weltkrieg hatten Anthroposophen ohne Verzug mit der Aufbauarbeit begonnen. Die vorangegangene Zeit der Unterdrückung und des Verbots hatte Kräfte aufgestaut, die nun zur Realisierung drängten. 1947 hatte die Waldorfschulbewegung in ihrer zahlenmäßigen Entwicklung den vergleichbaren Stand vor ihrem Verbot schon hinter sich gelassen. Dreizehn Waldorfschulen mit insgesamt etwa 5.000 Schülern und knapp 200 Lehrern hatten in Deutschland die Arbeit aufgenommen - 1936, vor den ersten Schließungen unter dem Druck der Nationalsozialisten, gab es acht Schulen in Deutschland mit etwa 3.200 Schülern und 160 Lehrern. Seit Anfang 1948 gab die Schulbewegung wieder die Zeitschrift “Erziehungskunst” heraus. Anthroposophische Ärzte hatten sich zu einer Gesellschaft zusammengeschlossen und gaben seit 1946 einen Ärzte-Rundbrief heraus, der ab 1950 unter der Redaktion von Gisbert Husemann (bis 1985) in Form der “Beiträge zur Erweiterung der Heilkunst nach geistewissenschaftlichen Erkenntnissen” (heute “Merkurstab”) zur anthroposophisch-medizinischen Fachzeitschrift wurde. Die biologisch-dynamische und heilpädagogische Arbeit konnten nicht in derselben Geschwindigkeit eigene Arbeitsstätten bilden - ihr wesentlicher Entfaltungsraum, besonders jener der Landwirtschaft, hatte in Ost- und Mitteldeutschland gelegen, wo nicht in derselben Weise an einen Wiederbeginn der Arbeit wie in den westlichen Besatzungszonen zu denken war. Ein Zentrum wurde der schon im Herbst 1945 gegründete Forschungsring für biologisch-dynamische Landwirtschaft mit einer Geschäftsstelle in Stuttgart. Die seit 1947 herausgegebenen “Mitteilungen des Forschungsrings” wurden 1950 als “Lebendige Erde” zur öffentlichen Zeitschrift der biologischdynamischen Bewegung. Sprachgestaltung und Eurythmie wurden gepflegt, in Köngen bei Stuttgart hatte die Ausbildung wieder begonnen. Regelmäßige Künstlertreffen fanden statt und die immerhin dreißig über ganz Deutschland verteilten sozialwissenschaftlichen Arbeitsgruppen bildeten eine entsprechende überregionale Arbeitsgemeinschaft; an einigen Orten bestanden naturwissenschaftliche Arbeitsgruppen. Der Urachhaus-Verlag der Christengemeinschaft hatte bereits 1946 die Arbeit aufgenommen, in dem wieder, wie bis 1941, die Zeitschrift “Die Christengemeinschaft” erscheinen konnte. In Freiburg arbeitete der Novalis Verlag, der Bücher von Rudolf Steiner und die Zeitschrift “Die Kommenden” herausgab. Vor fünfzig Jahren, im März 1947, wurde von der amerikanischen Militärregierung in Stuttgart die Lizenz für einen “allgemeinen anthroposophischen Verlag mit dem Werk Rudolf Steiners im Mittelpunkt” erteilt1 - im Verlag Freies Geistesleben erschienen als erstes Neuauflagen von grundlegenden Werken und Vorträgen Rudolf Steiners in ansehnlichen Auflagenhöhen: 1 “Lesen im anthroposophischen Buch - ein Almanach. Vierzig Jahre Freies Geistesleben”, Stuttgart, 1987.

“Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft” (35.000), “Praktische Ausbildung des Denkens” (10.000), “Theosophie” (10.000), “Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?” (8.000), “Anthroposophischer Seelenkalender” (6.000). Zwei Jahre nach Kriegsende bestanden also bereits Arbeitsfelder und Einrichtungen, die die weitere Entwicklung anthroposophischer Arbeit in Deutschland bis heute maßgeblich bestimmten. Eine erste öffentliche Tagung mit programmatischem Charakter fand unter dem Thema “Von der Wirklichkeit des Geistes - Anthroposophie als Quelle einer neuen Kultur” 1947 in Stuttgart statt vor ca. 2000 Teilnehmern sprachen Anthroposophen über Geistesgeschichte, europäische Zukunftsaufgaben, Schulungsweg und Gemeinschaftsbildung, über Erziehung, Medizin, Heilpädagogik und Religion. Stuttgart, aber auch Hamburg, Nürnberg und Freiburg waren die Orte, an denen sich die Aktivitäten in erster Linie entfalteten. Die publizistische Tätigkeit entstand im gleichen Zuge, sie dokumentierte den jeweiligen Entwicklungsstand, sie war selbst Teil anthroposophischen Lebens. Ein Jahr später, im Februar 1948, gab die gesellschaftlich noch nicht überregional organisierte Anthroposophische Bewegung im Verlag Freies Geistesleben “ihre eigene Zeitschrift” heraus: “Die Drei - Monatsschrift für Anthroposophie, Dreigliederung und Goetheanismus” - Papiermangel ließ die Monatsschrift zunächst allerdings nur alle zwei Monate erscheinen. Sie hatte nach den Worten ihres Herausgebers, Erich Schwebsch, die Aufgabe, “zu bezeugen, wie aus dem Menschenbilde der von ihm (Steiner) begründeten Geisteswissenschaft nun eine echte Freiheit des Geisteslebens hervorgehen kann”2. Als erstes wurde das fundamentale menschenkundliche Forschungsergebnis Steiners über die ”physischen und geistigen Abhängigkeiten der Menschen-Wesenheit”, das er 1917 in dem Buch “Von Seelenrätseln” veröffentlicht hatte, abgedruckt. Damit wurde der Boden, auf dem sich eine zukünftige anthroposophische Arbeit in Deutschland weiterentwickeln sollte, eindeutig gekennzeichnet: geisteswissenschaftliche Anthropologie. Fünfzig Jahre zuvor, 1897, schloss Rudolf Steiner seine Arbeiten an der Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes ab und seine zusammenfassende Arbeit über “Goethes Weltanschauung” erschien in Weimar. Berlin und die dortige literarisch-kulturelle Avantgarde wurden Steiners Lebensraum. Zahllose Aufsätze in dem von ihm und Otto Erich Hartleben herausgegebenen “Magazin für Litteratur” zeugen von seiner kritischen Beschäftigung mit den geistigen Strömungen seiner Zeit. Seine publizistische Arbeit diente einem eindeutigen Ziel: “Alle bedeutenden Erscheinungen auf dem Gebiete der Literatur, Kunst, Wissenschaft und des sozialen Lebens werden in diesem Blatte ihre Beleuchtung finden. (...) Ohne einseitig Strömungen zu begünstigen, möchten wir der fortschreitenden Entwicklung dienen. (...) Niemals wird der Dilettantismus im “Magazin” eine Stätte finden; aber immer werden wir uns bemühen, individuellen Äußerungen, wenn sie auf gediegenen Grundlagen beruhen, volles Verständnis entgegenzubringen”.3 Steiners Auseinandersetzung mit den geistig-kulturellen Entwicklungen seiner jeweiligen Gegenwart und seine unausgesetzte Forschung auf geistigem Gebiet führten dann in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts zur Geburt und ersten Entwicklungsphase der Anthroposophie. Sie erschien zunächst als ein Gedankengebäude, als Methode einer Anschauung. Diese und die mit ihr gewonnen Ergebnisse wurden in Wort und Schrift dargestellt. Auf einen maßgeblichen Unterschied aber zu anderen Gedankengebäuden oder Weltanschauungen machte Steiner selbst früh und häufig aufmerksam, besonders markant in einem Brief vom 12. Juli 1915: “Gerade dies, glaube ich, ist das Unterscheidende der “anthroposophischen Weltanschauung”, wie ich sie meine, von anderen, daß sie zwar ein Gedankengebäude ist, aber ein solches, das durch seine Art sofort den Gedanken 2 Erich Schwebsch, in: “Die Drei”, 1948, S.1 3 Rudolf Steiner, “Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887-1901”, GA 31, Dornach 1966, S.629f.

überwindet, wenn es gilt, sich dem Leben gegenüberzustellen. Der lebendige Gedanke ist nicht wie der tote; jener individualisiert sich in der Empfindung, im Erlebnis, während der tote Gedanke sich dem Erlebnis gegenüber aufdringlich verhält.”4 Bereits als Weltanschauung will Anthroposophie, wo sie dem Leben gegenübertritt, Praxis werden. Daß sie in den menschlichen Arbeits- und Kulturbereichen sichtbar tätig wurde, war nur eine Frage der Zeit, der Entfaltung und - der Mitarbeiter. Nach dem zweiten Weltkrieg ging es den Anthroposophen nicht darum, alle bedeutenden kulturellen Erscheinungen zu beleuchten, ohne “einseitig Strömungen zu begünstigen”, sondern erkennen zu lassen, was freies Geistesleben sein kann, das aus der von Rudolf Steiner begründeten Geisteswissenschaft bereits hervorgegangen, aber während der nationalsozialistischen Diktatur unterdrückt worden war und weiterhin hervorgehen sollte. Die Dilettantismus-Frage aber und auch jene der “individuellen Äußerung”, d.h. die Bedeutung der individuellen Leistung auf “gediegenen Grundlagen”, blieb und bleibt eine entscheidende bei jeder anthroposophischen Arbeit. Bis heute sind die vor fünfzig Jahren begonnenen oder bestehenden Aktivitäten in zahlenmäßig bemerkenswertem Maße angewachsen und zu der Reihe der damals aufgenommenen Tätigkeitsgebiete kam manch weiteres hinzu - etwa das sicherlich in erster Linie zu nennende und schon von Steiner ersehnte Bankwesen, aber auch Drogentherapie, Altenpflege oder die erst Ende der sechziger Jahre zu beachtlicher Entfaltung gelangte Kindergartenbewegung, um nur einige zu nennen. Unabhängig von ihrer fachlich oder in bestimmten Lebensgebieten unterschiedlichen Akzeptanz ist die Präsenz der Anthroposophie in der heutigen Kultur zu einer Realität geworden - zumindest in Deutschland, Skandinavien, Holland, der Schweiz und in gewissem Maße auch in den angelsächsisch geprägten Ländern. Früchte anthroposophischer Arbeit wie Waldorfschule, biologisch-dynamische Landwirtschaft und Lebensmittel, anthroposophisch orientierte Medizin, pharmazeutische Produkte oder Kosmetika begegnen jedem normalem Bürger, ob er nun Sucher nach neuen Wegen des Menschen- und Weltverständnisses ist oder nicht. Daß mit dem Begriff “Anthroposophie” oder “anthroposophisch” jeder etwas verbinden kann, wird vorausgesetzt; eine noch in den sechziger Jahren nötige Erklärung, die spöttische, anpreisende oder sonstige Charakteristika benutzte, tauchte seit den achtziger Jahren nur noch bei den ewig Gestrigen auf. Im A lltag ist eine gewisse Akzeptanz, oder besser: eine Gewöhnung an die Präsenz der Anthroposophie und ihrer Kulturwirksamkeit eingetreten. Ganz anders verhält es sich mit einem Verständnis für die Anthroposophie selbst, auch wenn dem Interessierten heute reichliches Material zur Verfügung steht - sei es in der Rudolf SteinerGesamtausgabe oder in dem ausgedehnten und bibliographisch gut organisierten anthroposophischen Schrifttum. Drei Haltungen lassen sich unterscheiden: Die einen halten sie für eine etwas obskure, nicht ernst zu nehmende, bisweilen gefährliche spirituelle Spielart der Orientierungssehnsucht des heutigen Menschen in einer immer undurchschaubarer werdenden Welt, die nicht mehr von gewohnten Stützen getragen wird. Die anderen - wohl die breite Masse - fragen nicht weiter nach ihr und benutzen ihre Früchte in dem Maße, wie sie ihnen begegnen und brauchbar scheinen. Einigen wenigen wird sie zum bestimmenden Lebensinhalt - sei es in rezeptartig verstandenen Anweisungen, als interessanter Erkenntnisgegenstand oder aber als Anregung zu einem indviduellen Arbeits- und Entwicklungsweg. Besonders Letztere - und zu ihnen muß wohl die Mehrzahl der initiativen und Verantwortung tragenden Anthroposophen gezählt werden - sehen sich immer wieder neu zum einen vor die Aufgabe spirituell-lebensmäßiger Individualisierung und zum anderen vor die Dilettantismus-Frage 4 Rudolf Steiner, “Briefe”, Band II, GA 39, Dornach 1987, S.464.

gestellt. Beides, Frage und Aufgabe, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten bis heute metamorphosiert. Elemente der Orientierung beim Neuaufbau anthroposophischer Arbeit nach dem Krieg Deutschland war seit Beginn der wichtigste Entfaltungsraum anthroposophischer Arbeit. Erst mit den siebziger Jahren nahm die weltweite Ausbreitung der Anthroposophie Formen an, die langsam ihr gesamtes Wirken und Erscheinen mitzuprägen begannen. Die Einschränkungen und 1941 folgende vollständige Unterbindung anthroposophischer Arbeit im nationalsozialistischen Deutschland bedeuteten daher einen ebenso markanten Einschnitt in der Entwicklung der Anthroposophie, wie die eingeschlagene Richtung beim Wiederaufbau der Arbeit bestimmend für die weitere Entwicklung werden sollte. Einige Elemente, die für diese Ausrichtung von Bedeutung waren, lassen sich kennzeichnen und von möglichen Fehlentwicklungen abheben: Zunächst war erneut ein entscheidender Wesenszug der Anthroposophie zu kennzeichnen. Es galt, ihren Wissenschaftscharakter - d.h. nicht nur ihre philosophischen und erkenntniswissenschaftlichen Wurzeln, sondern die Tatsache, daß Denken und Beobachtung im Experiment zur Grundlage jeder Lebenstätigkeit wird - ebenso vor der Öffentlichkeit wie vor denen, die ihr nahestanden, zu vertreten. Ohne diese an das moderne intellektuelle Bewußtsein anschließende Erkenntnishaltung hätte Anthroposophie unversehens und nicht zu unrecht dort angesiedelt werden können, wo sie bis heute von Unkundigen gelegentlich hingestellt wird: nahe dem Okkultistischen, Irrationalen oder hermetischer Esoterik. In den ersten Nachkriegsjahren zeigte sich ein großes Interesse vor allem studentischer Jugend. Trotz der schwierigen äußeren Verhältnisse arbeiteten während der Hochschulwochen und Jugendtagungen bis 1950 zwischen 600 und 1000 Teilnehmer engagiert zusammen. Es ist als besonderer Verdienst von Herbert Witzenmann, Emil Bock und Friedrich Kempter, von Walther Bühler, Herbert Hahn, Erich Gabert oder Otto Julius Hartmann - um nur einige namentlich zu erwähnen - zu werten, daß vor dieser Jugend Anthroposophie in besonnener und behutsamer Art von ihren Grundlagen her entwickelt wurde und bei vielen Wurzeln fassen konnte, die später anthroposophische Arbeit vor der Welt repräsentierten. Diese Leistungen fanden auch schriftlichen Ausdruck, der erste Aufsatz Witzenmanns beispielsweise in der Eröffnungsnummer von “Die Drei” untersuchte das menschliche Erkennen in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit, wie es durch Intuition und Beobachtung zur Geltung kommt.5 Zahllose Artikel und Publikationen Witzenmanns und anderer Autoren vertieften und variierten das Thema in den folgenden Jahren und Jahrzehnten. Zweitens ging es um die Fruchtbarmachung der Anthroposophie als innerer Entwicklungsweg, der zur eigenständigen, reflektierten Erfahrung einer realen geistigen Welt führen kann. Diese Aufgabe stellte einen noch ungleich höheren Anspruch. Die Gefahren des kompilatorischen Umgangs mit Rudolf Steiners Darstellungen, dann der spirituellen Spekulation, die sich selbst für geisteswissenschaftlich hält oder schließlich einer allzu persönlichen Erlebnis-Mystik - dies letztere trifft allerdings erst zunehmend für die jüngere Vergangenheit und Gegenwart zu - waren zu vermeiden. Selbst wenn damit nicht allein die neu beginnende Arbeit in Deutschland gekennzeichnet wird, sollte hier beispielhaft auf das Werk Albert Steffens verwiesen werden, um zu zeigen, daß in diesem Gebiet Fruchtbares und Eigenständiges geleistet wurde. Es liegt in der Natur der Sache, daß an dieser Stelle nur wenige herausragende Beispiele, die schriftstellerischen Ausdruck gefunden haben, angeführt werden können. Denn zum einen liegen hier hochwertige Ergebnisse nicht nahe, zum anderen floßen sie möglicherweise auf sehr unspektakuläre Weise in die tägliche Arbeit manches Anthroposophen ein. Von den immer erneuten Versuchen aber, den anthroposophischen Schulungsweg in Wort und 5 Herbert Witzenmann, in: “Die Drei”, 1948, S.36ff.

Schrift darzulegen und die Anregungen Rudolf Steiners zu verstehen und zu realisieren, legen bis heute viele Publikationen Zeugnis ab. Darüberhinaus verdienen die unmittelbar nach dem Krieg von Emil Bock, Willem Zeylmans van Emmichoven und Cecil Harwood initiierten Zusammenkünfte Erwähnung, bei denen anthroposophische Schulungsfragen auf dem Hintergrund der veränderten Zeitlage im Mittelpunkt standen. Durch die Untrennbarkeit dieser beiden Elemente - Wissenschaftscharakter und geistiger Schulungsaspekt - musste Anthroposophie notwendig dem suchenden Zeitgenossen immer ein wenig fremd bleiben: für die einen wurde sie damit allzu anspruchsvoll oder rational, für die anderen zu existentiell oder innerlich. Ein drittes Element ist in dem Aufbau der Arbeitsfelder in den verschiedenen Lebensgebieten zu sehen. Die Möglichkeiten und die Problematik lagen naturgemäß sehr unterschiedlich, ob nun die Schulbewegung, Landwirtschaft, oder Medizin, Heilpädagogik, der pharmazeutische oder künstlerische Bereich in den Blick genommen wird. Gemeinsam aber war allen neben den für jede Aufbauarbeit in der Nachkriegszeit schwierigen äußeren Umständen, ein immer neues Gleichgewicht zwischen Zusammenhanglosigkeit und Zentralisierung zu finden. Mangelnder Zusammenhang der Bestrebungen auf einem Felde hatte die Schwächung der Kräfte zur Folge, jeder konnte nur mit den eigenen, lokal-begrenzten Möglichkeiten und Fähigkeiten rechnen; eine stark zusammenfassende Tendenz konnte die Lähmung der initiativen Kräfte und ihrer individuellen Ausprägung zur Folge haben. Ein wichtiges Element in dieser Suche nach Gleichgewicht wurden die anthroposophischen Fachtagungen - in der Vorkriegszeit wurde diese Arbeitsform nicht mit derselben Intensität gepflegt, sie ist als eine charakteristische Neuentwicklung der Nachkriegszeit zu betrachten. Bezeichnend für den Neubeginn war nun ferner die Tatsache, daß fast nirgends auf bestehende Institutionen zurückgegriffen werden konnte. Von vereinzelten Ausnahmen abgesehen waren sämtliche Einrichtungen in Deutschland, die bis 1940 entstanden waren - ob Verbände, Gesellschaften, Zeitschriften oder funktionierende Arbeitszusammenhänge, aber auch einzelne Schulen, Heime, Höfe, Betriebe, Institute usf. - aufgelöst worden; mit Unterstützung aus dem Ausland konnte nur in spärlichem Maße gerechnet werden. Eine entscheidende Voraussetzung aber war gegeben: Wenn auch in Deutschland fast keine Einrichtungen den Krieg überdauert hatten, konnten doch eine ganze Reihe erfahrener Anthroposophen, die bereits bis zur Verbotszeit Initiative und Verantwortung getragen hatten, die Arbeit nun unmittelbar fortsetzen. Viele von ihnen hatten zudem nicht nur aus der Auseinandersetzung mit den totalitären Machthabern oder den Exilerfahrungen Lehren gezogen, sondern ebenso aus den Fehlern und Schwierigkeiten innerhalb der anthroposophischen Arbeitszusammenhänge der Vergangenheit. Aus ihrer individuellen Initiative und in dem Bedürfnis, den Gesamtzusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren, begannen sie mit der Aufbauarbeit, die erstaunlich rasch zur Bildung von Institutionen führte: 1947 wurde neben der bereits erwähnten Gesellschaft der Ärzte und dem biologisch dynamischen Forschungsring der Bund der Waldorfschulen gegründet, 1949 gab es bereits 23 Schulen. 1950 begann das heilpädagogische Seminar in Eckwälden, um den Mitarbeiternachwuchs für inzwischen zehn in Deutschland arbeitende Institute heranzubilden, zwei Jahre später wurde die “Vereinigung der Heil- und Erziehungsinstitute für seelenpflegebedürftige Kinder” gegründet und 1955 die Zeitschrift “Das seelenpflegebedürftige Kind” herausgegeben. Das “Institut für Biologisch-dynamische Forschung” in Darmstadt nahm 1952 seine Arbeit auf, die biologisch-dynamischen Berater schlossen sich im Bund der Berater zusammen und der “DemeterBund” als verbindliche Rechts-, Vertrags- und Gütestelle wurde 1954 gegründet. Damit hatten die klassischen anthroposophischen Arbeitsfelder Pädagogik, Landwirtschaft, Medizin und Heilpädagogik - die vielfältigen künstlerischen Unternehmungen sind hier zunächst nicht berücksichtigt - in recht kurzer Zeit jeweils einen institutionellen Rahmen mit dem entsprechenden

Publikationsorgan für ihre Entfaltung gebildet. Bei einer ausführlicheren Betrachtung ließe sich gerade an dieser Entwicklungsphase der Weg von individueller Initiative zur Institutionalisierung sowie die Prägung von Einrichtungen und Verbänden durch einzelne Persönlichkeiten und der damit verbundenen Chancen und Gefahren zeigen. Das öffentliche Bild der Anthroposophie, sofern in diesen Jahren davon die Rede sein kann, wurde nicht durch die in Wort und Schrift hervortretende Geisteswissenschaft geprägt, sondern durch die Arbeit der Einrichtungen. Zusammenfassend lässt sich in der Aufbauphase nach dem Krieg die Wirksamkeit eines wesentlichen Charakteristikums des Anthroposophie-Tuns beobachten, wie Rudolf Steiner es an der Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24 anregte und realisierte. Es handelt sich um die Verbindung dreier Gesichtspunkte: Herstellen von Öffentlichkeit, die in dem Wissenschaftscharakter der Anthroposophie ihre Grundlage hat, verbunden mit einer Esoterik, die durchschaubar und jedem zugänglich ist sowie Berücksichtigung und Vertiefung anthroposophisch-beruflicher Tätigkeit, die in der Welt geleistet wird. Mitte der fünfziger Jahre wird nach dem Gründungsstop für die sich allzu rasant vergrößernde Schulbewegung, der Gründung des Vereins für ein erweitertes Heilwesen sowie mit einer ersten Zunahme der Publikationstätigkeit6 der Abschluß der Aufbauphase bemerkbar. Auch das gesamtgesellschaftliche Umfeld in Deutschland erstarrte in der Restaurationszeit der Adenauer-Ära. Die weitere Entfaltung der Bewegung stagnierte und in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre schätzten führende Anthroposophen die Lage zunehmend selbstkritisch ein. Nach der Aufbauphase In der allgemeinen Entwicklung Europas kam zu dieser Zeit die erste Nachkriegsphase zu einem Ende, äußere Normalität kehrte ein. Damit wurden innere Hohlräume wieder spürbar. Emil Bock charakterisierte die Situation: “Die innere Weltlage ist eine Zeitlang durch die täuschende Schicht wirtschaftlicher Scheinblüte und politischer Schein-Entspannung zugedeckt gewesen; jetzt enthüllt sie sich wieder, wie sie in Wirklichkeit ist.”7 Andere Anthroposophen beschrieben ein weiteres Phänomen der allgemeinen Kulturentwicklung, entdeckten es aber ebenso innerhalb der anthroposophischen Bewegung: Zum einen sei allein der praktische Nutzen maßgeblich, zum anderen eine autoritätshörige Glaubenshaltung. Das Interesse für wirkliche Lebens- und Erkenntnisfragen sei wegintellektualisiert. In der anthroposophischen Pädagogik, Kunst, Medizin usw. gehe es in nicht mehr tolerierbarem Maße darum “sich im Sinne des heutigen Utilitarismus bloß rezeptmäßig anzueignen, was unmittelbar praktisch verwertet werden kann...”. Demgegenüber werde “ein umfassendes geisteswissenschaftliches Wissen erworben”, welches den Charakter “eines bloßen im Gedächtnis-Habens von autoritativ aufgenommenen Mitteilungen” habe. Die erkenntniskritische Erarbeitung der Anthroposophie als die eigentliche Aufgabe der anthroposophischen Bewegung sei heute “dringender als je”. Eine derartige Arbeit erlaube einen Fortschritt, “der die Menschheit bewahrt vor dem Verfallen in Kollektive einerseits eines religiösen Glaubens, andererseits eines technisch-zivilisatorischen Robotertums.”8 Einige Jahre später, 1960, fasste Herbert Hahn die Problematik seiner Gegenwart zusammen und 6 z.B. 1955-1958 erschienen u.v.a.: W. zur Linden, “Geburt und Kindheit”, das rasch eine bemerkenswerte Verbreitung fand; W.Pelikan, “Heilpflanzenkunde”; G.Grohmann, “Metamorphosen im Pflanzenreich”; K.König, “Die ersten drei Jahre des Kindes”; A.u.O.Selawry, “Die Kupferchloridkristallisation in Wissenschaft und Medizin”; E.Pfeiffer, “Die Fruchtbarkeit der Erde, ihre Erhaltung und Erneuerung” (Neuauflage); W.Bühler, “Der Leib als Instrument der Seele”; W.C.Simonis, “Vom Wesen des Menschen und seiner Gesundheit”; eine erste Steiner Biographie war 1955 in England erschienen. 1956 wurden erstmals Steiner-Bücher auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert. 7 Emil Bock, in: “Die Christengemeinschaft”, 1957, S.1. 8 H.E.Lauer, in: “Blätter für Anthroposophie”, 1957, S.52ff.

charakterisierte den spezifischen Beitrag, den anthroposophische Arbeit zur allgemeinen Kulturentwicklung zu leisten habe: Die durch den Kolonialismus bewirkte Überspringung der Verstandeskultur in vielen Völkern, Ursachen und Folgen der Arbeitslosigkeit, Robotisierung und Informatisierung der Gesellschaft sowie die Ablösung einer fest strukturierten Welt durch sich ineinander schiebende Phänomene - “der Universalismus ist im Begriff zu einem Pluralismus zu werden” - und schließlich die Zunahme ahistorischer Spiritualität (1960!) verlange nach anthroposophischer Arbeit, für die aber keine ausreichenden Kräfte zur Verfügung stünden. Hahn dachte dabei nicht in erster Linie an Mitarbeitermangel oder ungenügende wirtschaftliche Mittel. Vielmehr meinte er die Überwindung der literarisch, rhetorisch oder akademisch gearteten Verbreitung anthroposophischer Erkenntnisse: “Erkenntnis- und Forschungsarbeit müßte sich bis zu imaginativen, bildhaften Formen verdichten. (...) Dies ist ein Werk, das sich nicht programmäßig machen lässt. Es ist eine Aufgabe der intimen inneren Methode.”9 Er selbst versuchte durch eine dreibändige Völkerkunde dieser Forderung nachzukommen, deren erster Band 1963 erschien. Symptomatisch für die Haltung der anthroposophischen Bewegung gegenüber den sich in den Nachkriegsjahrzehnten mit ungeheurer Geschwindigkeit vollziehenden technischen Fortschritten, die in den Zeitschriften im Ganzen recht aufmerksam verfolgt und kommentiert wurden, ist ein Brief Emil Bocks an einen jungen Atomphysiker. Dieser brachte seine Begeisterung über den ersten am 4.Oktober 1957 in die Erdumlaufbahn gebrachten Satelliten zum Ausdruck und fragte Bock, ob “man nun glauben (soll), dies sei alles ein Machwerk des Teufels, oder soll man nicht die Großartigkeit des Gedankens der Raumfahrt aufgreifen. Für den Anthroposophen wird es sicherlich schwer sein, das letztere zu tun, er wird an die erste Möglichkeit denken, aber was ist denn nun die richtige, von jeder Voreingenommenheit freie Antwort auf diese Frage?” Aus Bocks Antwort: “(...) Auf dem Felde, dem Sie sich gewidmet haben, ist in der Tat ein ganz entscheidender Fortschritt erzielt worden. Ich sehe nicht, warum man nicht diese Errungenschaften als solche positiv nehmen soll. Nur werden Sie ja doch wohl nicht erwarten, daß ich sogleich genau von derselben Begeisterung erfüllt sein kann wie Sie. Die ungeheuren Errungenschaften, die gerade in diesen Tagen hervortreten, sind doch auch wieder von einer grandiosen Einseitigkeit (...) Die Sorge, die mich erfüllt, beruht in erster Linie darauf, daß solchen technischen Fortschritten in der Menschheit nicht die entsprechenden inneren Fortschritte die Waage halten. Das Vordringen in den Weltraum geht ja nicht aus dem wirklich schöpferischen individuellen Genius des Menschen hervor, sondern aus der unpersönlich rechnenden Intelligenz (...).” Er warf im weiteren Fragen nach einer Erkenntnis des Ätherischen auf, die sich durch eine Überwindung der Schwerkraft, der Zeit, des Raumes und durch ein Eindringen in das Atom notwendig ergeben und fuhr fort: “Daß Fragen entstehen, soll wirklich kein Grund sein, dies oder jenes nicht zu wagen. Der Mensch darf nicht feige sein. Er darf auch nicht einfach gleich davon reden, daß jetzt der Teufel los wäre. Was erforscht werden kann, muß erforscht werden, aber es wäre eine verhängnisvolle Unwachsamkeit des Menschengeistes, wenn er sich von den Erfolgen einer einseitigen Forschung und Technik blenden ließe und den Sinn für die Fragen verlöre, die eigentlich dadurch erst aufgeworfen werden. (...) Unser Kenntnisbereich wird sich erweitern, aber was nützt das alles, wenn nicht auch die Schritte getan werden, um unseren Erkenntnisbereich hinsichtlich des eigentlichen Menschenwesens zu erweitern? Ich möchte sagen, daß die Notwendigkeit der Anthroposophie umso dringlicher wird, je größer die Fortschritte auf technischem Gebiete sind. (...) Wer wie Sie erfolgreich Gewichte in die Waagschale der Technik legt, braucht nicht gleichzeitig das andere zu tun, aber ich meine, es wäre von Bedeutung, wenn er wenigstens in seinem Gesamtempfinden den Raum für das andere frei ließe. Nur so kann er sich vor der Gefahr schützen, von den Dingen geblendet zu werden.”10 Bocks Antwort zeigt exemlarisch die Zielrichtung anthroposophischer Arbeit, wie sie auch von anderen führenden Anthroposophen vertreten wurde. Durch seine geistes- und kulturgeschichtlichen Werke, Evangelien-Übersetzungen und -betrachtungen, sowie durch seine gestaltende Wirksamkeit innerhalb der Christengemeinschaft und der Anthroposophischen Gesellschaft legte er selbst 9 Herbert Hahn, in: “Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland”, 1960, S.181f. 10 Emil Bock, “Briefe”, Stuttgart, 1968, S. 319ff; in: “Die Christengemeinschaft”, 1958, S.25ff.

manche “Gewichte in die andere Waagschale”. Demgegenüber kann nicht übersehen werden, daß anthroposophische Beiträge zu Zeitfragen gelegentlich einem recht stereotypen Muster folgten: ein vorliegendes Gegenwartsproblem wurde als Symptom für den in schwarzen Farben gekennzeichneten Kulturniedergang geschildert, um dann in mehr oder weniger geistreich zusammengestellten Zitaten Steiners das Lösungsrezept vorzustellen. Im Hinblick auf eine Wirksamkeit im allgemeinen Kulturleben bleibt es ohne Zweifel, daß anthroposophische Arbeit bis in die sechziger Jahre ein nahezu unbemerktes Rand- oder Nischendasein führte. Wenn auch beispielsweise die bildungspolitische Debatte, die Mitte der fünfziger Jahre in breiter Öffentlichkeit geführt wurde, nicht an den Vertretern der Waldorfpädagogik vorüberging, so spielte doch die Waldorfschule als Modell oder Projekt in diesen Jahren der lebhaften Diskussion über Aufgaben und Ziele der Schule, über Bildungsreform, Verhältnis von Allgemein- und Berufsbildung, Vereinheitlichung bei gleichzeitiger Differenzierung der Lehrpläne, Ausleseverfahren, usw. keine nennenswerte Rolle - und das obwohl doch zu diesen Fragen ganz neue Perspektiven an der Wiege der Waldorfpädagogik gestanden hatten, die zudem einer vierzigjährigen internationalen Erfahrung standgehalten hatten. Das hatte seinen Grund. Von den Vertretern der anthroposophischen Pädagogik wurden nicht der Epochenunterricht oder die künstlerische Erziehung, die differenzierte Oberstufe oder die Absage an ein anonymes Leistungs- und Benotungssystem als Waldorfmerkmale vermarktet und zur Einführung in das staatliche Schulsystem feilgeboten. Statt dessen betonten sie - gelegentlich geradezu hartnäckig - die Notwendigkeit der Entwicklung eines neuen menschenkundlichen Denkens und die Praxis eines geistigen Übungsweges als Grundlage und Vorraussetzung pädagogischer Neuorientierung. So fand sich die Öffentlichkeit, sofern sie überhaupt Notiz davon nahm, immer wieder auf die als befremdlich und phantastisch beargwöhnte Anthroposophie zurückverwiesen. Was blieb, war die Nichtbeachtung oder Verwechslung dieses Schultyps mit historischen Reformbestrebungen - die Waldorfschulen ihrerseits verharrten isoliert in einer nicht zu Unrecht als restaurativ erlebten Umwelt. Dadurch wurde eine Aufgabe klarer erkannt, die sich in der Entwicklung des Verhältnisses von Waldorfpädagogik und öffentlichem Bildungsleben seit Kriegsende herausgebildet hatte, aber durch entsprechende Publikationstätigkeit erst Mitte der siebziger Jahre wirkungsvoll realisiert wurde: “Es scheint, als müsste man das unverwechselbar eigene der Waldorfpädagogik immer mehr herausarbeiten und betonen; (...) was in Wahrheit die Idee der Waldorfpädagogik von ihren Trägern fordert und welcher Art die Menschenbildung ist, die unserer Zeit aufgegeben ist.”11 Ebenfalls erst in den siebziger Jahren wurde etwas Vergleichbares - wenn auch mit weniger publizistischer Breitenwirkung - für die biologisch-dynamische Landwirtschaft realisiert. Sechziger Jahre Anfang der sechziger Jahre zeichnete sich ein Stilwandel in der anthroposophischen Arbeit ab. Er ist u.a. an einem sich langsam verändernden Ton der Darstellungen in der deutschen anthroposophischen Publizistik zu beobachten. Die schreibenden Anthroposophen überwanden allmählich die aus den zwanziger und frühen dreißiger Jahren stammende Tradition, den bevorstehenden Beginn einer neuen, durch Anthroposophie zu begründenden Zivilisation zu betonen oder aber durch die Preisung des Erreichten eine realistische Einschätzung des Geleisteten zu erschweren. Es waren wohl die Erfahrungen der dreißiger Jahre in Deutschland, der innergesellschaftlichen Schwierigkeiten, des Krieges und dann vor allem des Wiederaufbaus, die zu einer nüchterneren Realitätsbezogenheit führten. Dieser neue Ton war nicht resignativ, sondern durch das nicht nachlassende Bemühen bestimmt, dem Verstehen und Realisieren der Anthroposophie angemessen näher zu kommen. 11 Gerhard Mattke, in: “Die Drei”, 1958, S.273

Ganz offensichtlich ohne jeden Zusammenhang mit diesem atmosphärischen Wandel führten zwei andere Gegebenheiten zu merklichen Veränderungen. Erstens war im Laufe dieser Jahre eine größere Anzahl erfahrener und führender Anthroposophen gestorben. Schon die stagnierende Entwicklung in der Waldorfbewegung in den fünfziger Jahren hing mit dieser Tatsache zusammen. Der recht stürmische Aufbau unmittelbar nach Kriegsende wurde vorwiegend durch eine ältere Lehrergeneration getragen, eine nach 1945 ausgebildete rückte nur langsam nach; Mitte der fünfziger Jahre zeichnete sich dieser Generationswechsel ab: “Der Tod raffte manchen unserer Freunde hinweg, manche der am meisten tragenden Lehrer fielen durch Alter oder Krankheit aus. So stieß der Ausbau (...) in den jüngeren Schulen auf große Schwierigkeiten, weil nicht immer genug Kräfte, die in ihrem Fach und in der Waldorfpädagogik erfahren waren, zur Verfügung standen, um den Weiterbau von Klasse zu Klasse zu sichern. An manchen Orten trat dadurch ein allzu häufiger Wechsel ein. In unseren Schulen, die so stark auf Kontinuität in Unterricht und Erziehung aufgebaut sind, entstanden Rückschläge.”12 In dem Jahrsiebt zwischen 1957 und 1964 verstarben zahlreiche Mitarbeiter der Bewegung, deren Wirken nachhaltigen Einfluß in einem besonderen Fachgebiet oder in der allgemeinanthroposophischen Arbeit hatte. Sie waren fast alle noch im neunzehnten Jahrhundert geboren. Angesichts der Bedeutung von Lebenserfahrung und Reifung in der Verarbeitung anthroposophischer Methodik und Inhalte kann die kommentarlose Aufführung einiger ausgewählter Namen den mit dieser Tatsache verbundenen Wandel hinreichend verdeutlichen: 1957: Gottfried Haaß-Berkow, Schauspieler (12.5.1888 - 24.6.1957); Walter Johannes Stein, Historiker und Waldorfpädagoge (6.2.1891 - 7.7.1957); Gerbert Grohmann, Biologe und Waldorfpädagoge (5.6.1897 - 23.7.1957); Carl Kemper, Bildhauer (24.8.1881 - 6.8.1957); Wilhelm Petersen, Komponist und Musiker (15.3.1890 - 18.12.1957); 1958: Alexander Strakosch, Ingengieur und Waldorfpädagoge (23.8.1879 - 5.2.1958); Werner Pache, Heilpädagoge (3.9.1903 - 23.5.1958); Gerhard Suchantke, Arzt (31.12.1902 - 5.10.1958); 1959: Friedrich Husemann, Arzt (13.6.1887 - 8.6.1959); Immanuel Voegele, Landwirt (11.12.1897 - 16.11.1959); Ernst Uehli, Kulturwissenschaftler und Waldorfpädagoge (4.5.1875 - 16.11.1959); Emil Bock, Erzoberlenker der Christengemeinschaft und Kulturwissenschaftler (19.5.1895 6.12.1959); Oskar Schmiedel, Chemiker, Mitbegründer der Weleda (30.10.1887 - 27.12.1959); 1960: Johannes Hohlenberg, Philosoph und Publizist (21.5.1881 - 10.5.1960); Erhard Bartsch, Landwirt (7.1.1895 - 5.9.1960); 1961: Johannes Schöpfer, Architekt (15.1.1892 - 10.2.1961); Paul Coroze, Rechtsanwalt (1.11.1889 - 20.10.1961); Frederik Willem Zeylmans van Emmichoven, Arzt (23.11.1893 - 18.11.1961); Ehrenfried Pfeiffer, Forscher und Erfinder (19.2.1899 - 30.11.1961); 12 Ernst Weissert, in: “Erziehungskunst”, 1959, S.227.

1962: Bruno Walter, Musiker und Dirigent (15.9.1876 - 17.2.1962); Louis Locher-Ernst, Mathematiker, Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft (7.5.1906 - 15.8.1962); Albrecht Strohschein, Heilpädagoge (3.12.1899 - 1.10.1962); 1963: Ernst August Karl Stockmeyer, Waldorfpädagoge (7.6.1886 - 6.1.1963); Guenther Wachsmuth, Jurist und Naturwissenschaftler, Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft (4.10.1893 - 2.3.1963); George Adams-Kaufmann, Mathematiker, Übersetzer (8.2.1894 - 30.3.1963); Albert Steffen, Dichter und Vorsitzender der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft (14.12.1884 - 13.7.1963); Eberhard Schickler, Arzt (26.9.1895 - 15.9.1963); Max Karl Schwarz, Landwirt und Gärtner (7.11.1895 - 4.10.1963); Max Wolffhügel, Maler und Waldorfpädagoge (11.12.1880 - 25.10.1963); 1964: Karl Heyer, Historiker (30.11.1888 - 24.7.1964); Franz Dreidax, Landwirt (15.3.1892 - 14.8.1964); Kurt Magerstädt, Arzt (11.4.1899 - 21.8.1964). Zweitens führte der hundertjährige Geburtstag Rudolf Steiners 1961 zu einer größeren Berücksichtigung anthroposophischer Arbeit in der Öffentlichkeit. In der deutschen Presse beispielsweise erschienen in über sechshundert Zeitungen Artikel über Rudolf Steiner, zum überwiegenden Teil sachlich und positiv, in den wenigsten Fällen von Anthroposophen geschrieben. Dem Lob für auf Steiner zurückgehende praktische Kulturleistungen folgten nicht selten diskreditierende Bemerkungen über die Anthroposophie selbst. Immer wiederkehrende Themen der negativen oder polemischen Kritik waren Gnostizismus oder Synkretismus, Irrationalismus, Okkultismus oder Antimodernismus, der areligiöse oder aber, je nach Bedarf, der religionsstiftende Charakter der Anthroposophie. Neben diesen seit den zwanziger Jahren hinläglich bekannten und vielfach behandelten Zuordnungen tauchte erstmalig die im Zeitalter des kalten Krieges nicht überraschende Vermutung subversiver Verbindungen zum Osten auf; die von katholischer Seite vorgebrachte Konstruktion einer Nähe der Anthroposophie zur Rassenlehre der Nationalsozialisten kam erst wieder in der jüngsten Vergangenheit erneut zur Geltung. Zudem veranstalteten die Schweden Arne Klingborg und Frans Calgren eine bisher in diesem Maßstab nicht gesehene Ausstellung mit dem Titel “Rudolf Steiner - Leben und Werk”, die in vielen Städten und Ländern im Laufe der Jahre 1961/62 gezeigt wurde, meistens begleitet von in der Presse beachteten Vorträgen, Tagungen oder Kongressen. Von nachhaltigerer Wirkung war der Versuch, einzelne Phasen im Leben Rudolf Steiners genauer zu untersuchen oder Gesamtdarstellungen vorzulegen. 1961 erschienen sieben Bücher, die sich ausführlich mit Leben und Werk Steiners befassten: Emil Bock, “Rudolf Steiner - Studien zu seinem Lebensgang”; Fred Poeppig, “Rudolf Steiner - der große Unbekannte”; Rudolf Meyer, “Wer war Rudolf Steiner?” Willem Zeylmans van Emmichoven, “Rudolf Steiner”; Herbert Hahn, “Rudolf Steiner, wie ich ihn sah und erlebte”; Hans Erhard Lauer, “Rudolf Steiner - ein Bahnbrecher der Menschheit”; Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, “Rudolf Steiner - das literarische und künstlerische Werk, eine bibliographische Übersicht”.

Unabhängig von der inhaltlich und literarisch unterschiedlichen Qualität dieser Arbeiten erreichte keine eine herausragende Verbreitung. Erst der zwei Jahre später von dem Naturwissenschaftler und Pfarrer der Christengemeinschaft Johannes Hemleben im Auftrag des Rowohlt Verlags vorgelegten Monographie “Rudolf Steiner” gelang ein Durchbruch. Wohl kaum eine andere Publikation trug in vergleichbarem Maße dazu bei, Anthroposophie in das zeitgenössische Bewußtsein zu heben. 1968 erschien noch in der Reihe “Köpfe des zwanzigsten Jahrhunderts” des Colloquium Verlags ein Portrait Rudolf Steiners von Klaus Petersen und ein Jahr darauf folgte eine Werkdarstellung im Paul List Verlag “Rudolf Steiner und die heutige Welt - ein Beitrag zur Diskussion um die menschliche Zukunft”, in der Walter Abendroth vor allem kulturpädagogische und sozialwissenschaftliche Aufsätze Steiners vorstellte und kommentierte. Darüberhinaus fanden die Anthroposophen in diesen Jahren noch keine angemessene Sprache, mit der sie ihre Arbeit, geschweige denn den Ursprung dieser Arbeit dem allgemeinen Zeitverständnis hätten zugänglich machen können. Manche beachtenswerte Gründung oder Initiative der sechziger Jahre ließe sich noch erwähnen etwa die Lukas Klinik in Arlesheim 1963, die Augenklinik Dr.Schad in Stuttgart 1968, oder das Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, 1969; die Hibernia Schule in Wanne Eickel, die ein originelles Konzept der Integration beruflicher Bildung entwickelte und damit vielfältigen Anlaß zur Diskussion und späteren Publikationen gab13; die diesmal nicht wirkungslosen Initiativen in schulpolitischen Fragen um den programmierten Unterricht und das Frühlesenlernen14 und die damit zusammenhängende internationale Entfaltung der Kindergartenbewegung; oder die Bochumer Bankeinrichtungen mit der Gemeinnützigen Treuhandstelle e.V. 1961, der Gemeinnützigen KreditGarantie-Genossenschaft e.G. und der GLS Gemeinschaftsbank 1967. Im Übrigen aber kann die Arbeit in den sechziger Jahren als eine stille oder vorbereitende bezeichnet werden, denn selbst die Wirkung der genannten Gründungen kam erst in der sich wandelnden gesamtgesellschaftlichen Situation des folgenden Jahrzehnts zum Tragen. Auch der veränderte Wind Ende der sechziger Jahre bedeutete wenig für die anthroposophische Bewegung. Dabei hatten einige Anthroposophen schon 1960 im Hinblick auf die damalige Jugend voller Sorgen auf die möglichen Folgen geblickt: “Die zivilisatorische Umwelt hat in den fünfziger Jahren die alten Ideale des Wohlstands und der Sicherheit, der Produktion, der Technik dargelebt. (...) Der junge Mensch kann mit ihnen nichts anfangen. Die auch ohne ihn schon fertige Welt weist den jungen Menschen hoffnungslos auf sich selbst zurück. (..) Machtwille und Erotik treten an die Stelle des Interesses für die wirklichen Probleme in der Welt wie im anderen Menschen, sofern der junge Mensch nach innen brüten muß, weil er keine erzieherische Umgebung erfährt, wo die Gedanken fest auf den Füßen stehen und doch Flügel haben.”15 Ließen sich unter diesen Gesichtspunkten einige der mit und nach 1968 zu breiter Wirksamkeit gelangten Phänomene ideologischer Marxismus, Psychoanalyse, Sexismus, Kommune, etc - verstehen? Noch im besten Sinne prophetischer schrieb Elisabeth Weissert im selben Jahr: “Mit den ganzen erschreckenden Erlebnissen, die das Jungsein heute mit sich bringt, chaotisch belastet, im Grunde stumm, denn ihnen gab wahrhaftig kein Gott zu sagen, was sie leiden, treten sie sich gegenseitig auf die Füße. Heute warten sie noch geduldig. Sie lassen sich aus den Oberstufen vertreiben, aus den Universitäten herausprüfen. Wie lange werden sie sich das gefallen lassen? Die Revolution der Jugend hat auch jetzt noch nicht stattgefunden. Aber eines Tages kann sie ausbrechen.”16 Waren dies nur vorübergehende Eindrücke ganz weniger Vertreter der Anthroposophie, die weder von ihnen selbst, geschweige denn von anderen ernst genommen wurden? Wurden Konsequenzen aus diesen Beobachtungen gezogen? Wie ist es zu verstehen, daß die anthroposophischen 13 z.B. Klaus J. Fintelmann, “Hibernia - Modell einer anderen Schule”, Stuttgart 1969; Georg Rist/Peter Schneider, “Die Hibernia Schule, von der Lehrwerkstatt zur Gesamtschule”, Hamburg, 1977. 14 Ernst Michael Kranich, “Pädagogische Projekte und ihre Folgen - Zur Problematik von programmiertem Unterricht, Frühlesenlernen und neuer Mathematik”, Stuttgart, 1969. 15 Ernst Weissert, in: “Erziehungskunst”, 1960, S.185ff. 16 Elisabeth Weissert, in: “Erziehungskunst”, 1960, S.214f.

Perspektiven in der Folge von der aufbrechenden Jugend nicht erkannt werden konnten, sondern abstrakte Theorien marxistischer Provenienz ihre Wege bestimmten? Von nennenswerten Verbindungen der revoltierenden Generation mit anthroposophischen Ansätzen konnte jedenfalls keine Rede sein, selbst wenn sich in der anthroposophischen Publizistik 1968/69 einige recht bemerkenswerte Analysen und Beiträge zu den durch die Studenten aufgeworfenen Fragen fanden. Besonders beachtenswert sind darunter konkrete Vorschläge zur Hochschulreform im Ganzen wie zu möglichen Reformen der Vorlesungs- und Seminarpraxis, der Prüfungsordnungen oder der Lehrfreiheit, die noch heute Interesse beanspruchen könnten.17 Anlässlich einer positiven Würdigung Rudolf Steiners und der Anthroposophie in einer renomierten amerikanischen Monatsschrift im Februar 1969, in der ebenso über die alte Weisheit im Orient, über die mexikanischen Maya-Mysterien und vor allem über Zen berichtet wurde, kennzeichnete Friedrich Hiebel die Situation: “Das Überhandnehmen von Yoga und Zen innerhalb der westlichen Welt bedeutet eine gleich große Gegnerschaft gegen Anthroposophie wie der dialektische Materialismus. Hermann Hesses Indienbücher erreichen in Amerika weiteste Verbreitung. Die Werke seines Jugendfreundes und Dichtergefährten Albert Steffen bleiben unbekannt. Zenschulung findet auf jedem College-Campus willige Aufnahme. Die Schulungsbücher Rudolf Steiners liegen in verstaubten Bibliotheksregalen.”18 Um so überraschender ist es daher, daß Rudolf Steiner dennoch nach dem Unesco Index Translationum1969 zu den fünfzig am häufigsten übersetzten Autoren der Welt gehörte. Siebziger / achtziger Jahre Erst mit den siebziger Jahren wurde etwas sichtbar, was der englische Historiker Eric Hobsbawn “die größte und dramatischste, schnellste und universellste Transformation der Menschheitsgeschichte” nennt. “In mancher Hinsicht begriffen viele, die diese Transformation leibhaftig miterlebten, ihre ganze Reichweite noch nicht, da die Veränderungen in ihrem Leben allmählich stattfanden oder doch nicht unbedingt sofort als permanente Revolution wahrgenommen wurden, deren dramatische Ausmaße augenblicklich erkennbar werden.”19 Diese Revolution vollzog sich nicht nur in Europa, sondern war von wenigen Ausnahmen (subsaharisches Afrika, Südasien und kontinentales Südostasien) abgesehen eine globale, die sich in dem Zeitraum zwischen den fünfziger und siebziger Jahren, in einigen Erdteilen verzögert bis in die achtziger Jahre hinein, vollzog. Gemeint ist der tiefgreifende geistige und soziale Wandel, langsam beginnend im neunzehnten Jahrhundert, der mit dem Verschwinden der landwirtschaftlich oder zumindest ländlich geprägten Lebensformen zusammenhängt. Bis vor dem zweiten Weltkrieg war selbst in den größten Industriegesellschaften, beispielsweise den USA oder Deutschland, noch etwa ein Viertel der Bevölkerung an den Boden und damit an ein gemüthaft-traditionell bestimmtes Lebensgefühl gebunden. In den Jahrzehnten nach 1945 sank dieser Anteil rapide bis auf wenige Prozent und auch dieser wurde vollständig den Bedingungen industrieller Denkungsart und Produktion unterworfen. Das seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zunächst nur in der Wissenschaft bestimmende Paradigma, daß den Lebenserscheinungen ausschließlich leblose, physikalische und chemische Kräfte zu Grunde liegen, die mit den Methoden der Naturwissenschaft erkennbar und in der Technik handhabbar zu machen sind, war zur Lebenswirklichkeit geworden. Die Tatsache, daß die lebensbedrohlichen Folgen dieses Wandels bewußt wurden - dokumentiert bespielsweise 1972 in dem ersten Bericht im Aufrag des Club of Rome, der unter dem Titel “Die Grenzen des Wachstums” eine Gesamtauflage von rund zehn Millionen Exemplaren erreichte, in über dreißig Sprachen übersetzt wurde und heftige Kontroversen auslöste - änderte nichts an der allgemeinen Gültigkeit dieses Paradigmas. 17 z.B. in “Das Goetheanum”, 1968, Nr. 20/26/27; 1969, Nr. 10/16/41. 18 Friedrich Hiebel, in: “Das Goetheanum”, 1969, S.99. 19 Eric Hobsbawn, “Das Zeitalter der Extreme - Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts”, München/Wien 1995, S.364.

Der weit überwiegende Teil der in diesen Jahrzehnten herangewachsenen Generation hatte weder einen Bezug zu einer natürlich bestimmten Umgebung noch zu einem geistig-tragfähigen Wertesystem. Die Alternativbewegungen der westlichen Welt, von den Stadtflüchtlingen bis zu den Esoterik-Suchern, brachten die aus diesem Lebensdefizit hervorgehende Sehnsucht zum Ausdruck. In der anthroposophischen Arbeit machten sich dieser Umschwung und die daraus entstehenden Suchbewegungen bemerkbar. Entsprechend der bisherigen Entwicklung richtete sich das zunehmende Interesse nicht in erster Linie auf die konsequente Erarbeitung eines neuen Menschenund Weltbildes, d.h. auf die Geisteswissenschaft selbst, sondern auf die drei klassischen Tätigkeitsfelder Pädagogik, Medizin und Landwirtschaft. Waldorfpädagogik Seit den siebziger Jahren kam es bekanntlich zu einer beachtlichen Ausweitung der Waldorfschulen, die zahlenmäßig bei weitem die Gründungswelle unmittelbar nach 1945 überstieg. Seit 1974 entstanden jährlich vier bis fünf neue Schulen in Deutschland. Von 1946 bis 1951 waren 25 Schulen gegründet worden, dann stieg die Zahl bis 1974 langsam auf 37, bis Ende der achtziger aber auf über hundert. Aber nicht nur diese zahlenmäßige Entwicklung ist im Vergleich zu der knapp dreißig Jahre zurückliegenden Situation hervorzuheben; ein weiteres Element charakterisiert den sich vollziehenden Wandel: Nach dem Krieg und von wenigen Ausnahmen abgesehen bis Anfang der siebziger Jahre gingen die Schulgründungen immer von engagierten Anthroposophen oder Waldorflehrern aus. In den sechziger Jahren erwachte dann das Bewußtsein für die Notwendigkeit der Eltern-Mitarbeit - 1963 beispielsweise fand die erste Eltern-Lehrer-Tagung des Bundes der Waldorfschulen statt. Bei der neuen Gründungswelle der siebziger Jahre verschob sich nunmehr die Initiative zu Schulgründungen fast ausnahmslos auf Eltern oder Elterngruppen, die sich dann mit dem Bund der Waldorfschulen berieten. Diese Entwicklung galt bekanntlich nicht nur für Deutschland, sondern für viele europäische und außereuropäische Länder. In Dänemark, Holland, Skandinavien und der Schweiz wie auch in den USA, Australien oder Neuseeland, dann, unmittelbar nach dem Fall des eisernen Vorhangs, auch in den östlichen Ländern breiteten sich die Waldorfschulen sprunghaft von weltweit ca. 150 Schulen 1970 auf über 600 im Jahr1992 aus. Wäre diese Entwicklung ausschließlich auf Deutschland bezogen geblieben, so hätte die Vermutung nahegelegen, daß die ebenfalls Anfang der siebziger Jahre beginnende Publikationstätigkeit, die erstmals ein zeitentsprechendes Gesamtbild der Waldorfpädagogik vermittelte, Ursache dieser neuen Ausbreitungsphase gewesen sei. Diese Veröffentlichungen antworteten auf ein allgemeines Interesse, das sich in einem gesamtgesellschaftlich veränderten Klima engagiert der Erziehungsfrage zuwendete. Frans Calgren und Arne Klingborg, die nicht nur publizistisch aktivsten Anthroposophen Skandinaviens, legten 1972 “Erziehung zur Freiheit - die Pädagogik Rudolf Steiners” vor, ein Jahr später gefolgt von Johannes Kiersch, “Die Waldorfpädagogik. Eine Einführung in die Pädagogik Rudolf Steiners” und 1975 erschien von Christoph Lindenberg bei Rowohlt das neben der Rudolf Steiner-Bildmonographie von 1963 meistverkaufte Buch mit anthroposophischer Thematik: “Waldorfschulen: Angstfrei lernen, selbstbewußt handeln. Praxis eines verkannten Schulmodells”. Ganz zweifellos trugen diese Veröffentlichungen, die bis heute Gültigkeit beanspruchen können, entscheidend zur Entfaltung, vor allem aber zum Abbau von Vorurteilen und damit zur wachsenden öffentlichen Anerkennung der anthroposophischen Pädagogik bei. Der Lehrerbedarf, schon in den fünfziger Jahren ein gravierendes Problem, stieg ebenso sprunghaft und neugegründete Lehrerseminare in Witten 1973 und Mannheim 1978, sowie die in den achtziger Jahren zunehmenden berufsbegleitenden Ausbildungswege zum Waldorflehrer versuchten auf die neuen Anforderungen zu antworten. Interessant ist, daß dieselben Vorwürfe, die der Anthroposophie als solcher traditionell entgegengebracht wurden (s.o. 1961), nun auch in der wachsenden Kritik gegenüber den Waldorfschulen, die mit den achtziger Jahren zunächst von konfessioneller, dann von erziehungswissenschaftlicher Seite einsetzte, geltend gemacht wurden. Daß die “wissenschaftliche”

Kritik, sofern sie nicht allein polemisch motiviert war, zu einem fruchtbaren Dialog führte, markiert einen wichtigen Entwicklungsfortschritt. Das wachsende Bewußtsein von der Unzulänglichkeit rein schulwissenschaftlicher Weltinterpretation bei einigen ihrer Vertreter, wie eine kompetentselbstkritische Haltung führender Vertreter der Waldorfpädagogik lieferte die Voraussetzungen, gemeinsam die neuen Aufgaben von Erziehung und Schule in einem tiefgreifend veränderten gesellschaftlichen Umfeld kritisch zu durchleuchten und dabei voneinander zu lernen.20 Anthroposophisch erweiterte Medizin Nachdem sich die anthroposophisch-medizinische Bewegung in Deutschland unmittelbar nach dem Kriege um Friedrich Husemann und andere wieder sammelte, begannen 1951 - besonders durch die integrierende Kraft von Eberhard Schickler - die jährlichen Ärzte-Tagungen auf der Comburg bei Schwäbisch Hall. Sie wurden nicht nur zum Mittelpunkt der Arbeit in Deutschland, sondern waren von den meisten führenden anthroposophischen Ärzten des umliegenden Auslandes mitgetragen. Viele der dort gehaltenen Vorträge erschienen in den “Beiträgen zu einer Erweiterung der Heilkunst”. Die Arbeit der Ärzteschaft war in diesen Jahren neben der pädagogischen die aktivste. Die Tagungen und publizistischen Zeugnisse dokumentieren neben der Fortentwicklung spezifisch anthroposophisch-medizinischer Fragen eine Auseinandersetzung mit der jeweiligen Gegenwart in Medizin, Wissenschaft und allgemeinem kulturellen Leben von recht hohem Niveau. Zudem wurde 1954 durch Walther Bühler eine “anthroposophisch orientierte sozial-hygienische Laienbewegung” ins Leben gerufen; der “Verein zur Förderung eines erweiterten Heilwesens” sollte der Ausbreitung eines Verständnisses für die anthroposophische Medizin und Therapie, sowie der Förderung von entsprechenden Einrichtungen dienen. Die bis heute von dem Verein herausgegebenen Merkblätter zur sozialen Hygiene (seit 1958) erreichten bald mit ihren in knapper, populärer Form geschriebenen Aufsätzen und Ratschlägen über Fragen aus fast allen Lebensgebieten große Verbreitung. Dennoch ging im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre der Anteil anthroposophischer Medikation in den Praxen zurück und die Anzahl der praktizierenden anthroposophischen Ärzte verringerte sich. Es war dieselbe Phase, in der das öffentliche Gesundheitswesen durch die Entwicklung einer der Allgemeinheit zur Verfügung gestellten technischen und medikamentösen Versorgung - z.B. Impfungen, Antibiotika, Vigantol, Hormone, Röntgenuntersuchung, etc. - große Fortschritte machte. Allein die fortgesetzten Forschungen und Versuche zur Krebstherapie und die Weiterentwicklung der Mistelpräparate zeigten Früchte und eine zunehmende Verbreitung. Nur wenige einzelne Ärzte erreichten in ihrem Wirken eine über engere Kreise hinausgehende Ausstrahlung wie etwa Karl König. Auch in diesem Gebiet trat mit den siebziger Jahren ein Wandel ein, der zu einem neuen Gesundheitsbewußtsein, einer langsam wachsenden Skepsis gegenüber der ausschließlich symptomorientierten Apparate-Medizin und einer beginnenden Sensibilisierung für alternative medizinische Konzepte führte. Neben dieser für die anthroposophisch-medizinische Arbeit günstigen klimatischen Veränderung waren darüberhinaus zwei Vorgänge von Bedeutung. Zum einen sind die in den stillen sechziger Jahren gesammelten Kräfte zur klinischen Verwirklichung der anthroposophischen Medizin zu verfolgen. Noch in der Vorkriegszeit waren die Klinik von Friedrich Husemann in Wiesneck und die Burghalde in Bad Liebenzell, wo Walther Bühler 1957 das Paracelsus-Haus eröffnete, entstanden. 1969 realisierte sich der klinische Impuls in dem mit knapp 200 Betten zunächst größten anthroposophischen Krankenhaus in Herdecke und 1975 in Öschelbronn sowie in der Filderklinik, die ihren Vorläufer in der nach dem Krieg von Walter Bopp in Stuttgart geleiteten Carl-Unger-Klinik hatte. Durch diese Gründungen wurde die Öffentlichkeit über Fernsehen, Radio und Presse in vorher ungekannten Maße auf die anthroposophische Medizin aufmerksam. 1977 bildeten die deutschen klinischen Einrichtungen den 20 z.B.: Otto Hansmann, “Pro und Contra Waldorfpädagogik”, Würzburg, 1987; Fritz Bohnsack/Ernst Michael Kranich, “Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik”, Weinheim/Basel, 1990; Ernst Michael Kranich/Lorenzo Ravagli, “Waldorfpädagogik in der Diskussion - eine Analyse erziehungswissenschaftlicher Kritik”, Stuttgart,1990

“Verband der gemeinnützigen Krankenhäuser für anthroposophisch erweiterte Medizin”. KlinikGründungen in anderen Ländern - Schweden, Holland, England und auch in Südamerika - kamen hinzu. Zwanzig Jahre später, 1995, wurde ein neues Element dieser Entwicklungslinie sichtbar: Ein großes städtisches Krankenhaus in Berlin wurde einem anthroposphischen Trägerverein übergeben und der bisher konventionelle Betrieb wird in das “Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe - Klinik für anthroposophisch erweiterte Heilkunst” umgewandelt - nicht mehr allein durch den Willen entsprechend motivierter Gründer, sondern durch das Umfeld mitbestimmt realisierte sich anthroposophische Arbeit. Zum anderen ist auf den Kampf im Zusammenhang mit der Arzneimittelgesetzgebung hinzuweisen. Anders als durch das Arzneimittelgesetz von 1962 entstand in den siebziger Jahren eine ernste Bedrohung für die weitere Ausübung anthroposophisch erweiterter Medizin und die Ärzteschaft schloss sich zusammen. Auch hier wurde erstmalig durch die “Ärztliche Aktiongemeinschaft für Therapiefreiheit” in der breitesten Öffentlichkeit gewirkt - und mit Erfolg. Rudolf Steiner stellte sich vermutlich 1923 den Weg der anthroposophisch erweiterten Medizin zur Kulturwirksamkeit anders vor: “Es handelt sich um den guten Willen, auf dem Gebiet der Medizin umzudenken aus den geisteswissenschaftlichen Grundlagen heraus. (...) Es handelt sich nicht darum, der Welt bloß Heilmittel zu empfehlen. (...) Es handelt sich darum, die Methode zu vertreten. (...) Es ist eine Frage des medizinischen Denkens. (...) Es handelt sich um eine medizinische Methodik, wie Homöopathie oder Allopathie.”21 Nachdem die damals verantwortlichen Ärzte der Forderung nach Darstellung dieser Methode nicht nachkamen - “Aber unser Ärzte-Kollegium hat daraus die Konsequenz gezogen, es müsse eine pedantisch-methodologische Abhandlung geschrieben werden.”22 -, arbeitete er bekanntlich selbst mit Ita Wegman in seinen letzten zwei Lebensjahren an einer solchen Darstellung23. In der Folge entstanden weitere Arbeiten, die sich um eine entsprechende Darstellung bemühten.24 Offen bleibt die Frage, ob sie der Forderung genügten und ob diese, in der konkreten Entwicklungssituation Anfang der zwanziger Jahre gestellt, noch Gültigkeit beanspruchen kann. Jedenfalls war es der anthroposophischen Ärzteschaft nie leicht, einen Konsens im methodischen Selbstverständnis zu finden. Biologisch-dynamische Landwirtschaft Die landwirtschaftliche Bewegung, mit dem Verlust der meisten Betriebe, die in Ost- oder Mitteldeutschland lagen, am nachhaltigsten durch die politischen Konsequenzen des zweiten Weltkrieges getroffen, konzentrierte sich zunächst auf den Aufbau neuer Höfe. Hans Heinze, der die Geschicke der Bewegung nach dem Krieg maßgeblich prägte, schrieb 1951: “Deutlich ließ sich auf jeden Fall an der Erfahrung der letzten Jahre wiederum ablesen, daß der Kampf nicht an den Hochschulen und auf den Ämtern gewonnen werden kann, so notwendig die Kontakte dort auch sind, um Freunde im Vorfeld zu haben. Vor allem muß die Entwicklung der Höfe unserer Mitarbeiter gepflegt werden (...).25 Diese Betriebe sollten als “Beispielhöfe” zeigen können, daß nicht nur eine qualitative Fortentwicklung landwirtschaftlicher Produkte durch die biologisch-dynamischen Methoden möglich ist, sondern auch die Erzeugungsquantität mit der konvetionellen Landwirtschaft Schritt halten könne. Experimentelle und wissenschaftlich gesicherte Belege dafür wurden in zahlreichen 21 “Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft”, GA 259, Dornach, 1991, S.230ff. 22 ebd., S.237. 23 Rudolf Steiner/Ita Wegman, “Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen”, GA 27. 24 Friedrich Husemann/Otto Wolff: “Das Bild des Menschen als Grundlage der Heilkunst”, Bd I, 1941, Bd II, 1974-78; Lothar Vogel, “Der dreigliedrige Mensch”, Dornach 1967; Herbert Sieweke, “Anthroposophie und Medizin - Studien zu ihren Grundlagen”/“Gesundheit und Krankheit als Verwirklichungsformen menschlichen Daseins”, Dornach, 1967; Hugo S. Verbrugh, “Medizin auf totem Gleis”, Stuttgart, 1975. 25 Hans Heinze, in: “Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland”, 1951, S.49ff.

vergleichenden Ertragsstudien im Laufe der folgenden Jahre und Jahrzehnte erarbeitet.26 Wenn einzelne Ergebnisse der biologisch-dynamischen Arbeit - wie beispielsweise die Kompostierungsmethoden - schon in den fünfziger Jahren Interesse und Anerkennung bei den Landwirtschaftskammern fanden, so waren damit auch Probleme verbunden. “Einerseits bewirkt diese Anerkennung natürlich das Wachwerden der starken industriellen Gegenkräfte, die großen Einfluß durch das Besetzen von Schlüsselstellungen haben, andererseits werden meist nur einzelne Maßnahmen herausgegriffen und übernommen und die Wirksamkeit derselben zwangsläufig materialistisch (...) gedeutet.”27 Wie in den anderen Arbeitsgebieten war auch hier den verantwortlich Tätigen das Problem bewußt, daß manche Früchte anthroposophischer Arbeiten zwar geschätzt wurden, ihr Ursprung in einem Erkenntnisweg zu einem spirituellen Menschen- und Weltverständnis aber wenig Interesse und Verständnis gewann. Die Bemühung um den “Wahrheitsnachweis für die Angaben Rudolf Steiners auf landwirtschaftlichem Gebiet”28 bildete demgemäß ein wesentliches Motiv für die Arbeit der Höfe und der Forschung. Mit dem wachsenden Umwelt- und Ressourcen-Bewußtsein endete die seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre anhaltende Stagnationsphase. Vertreter der biologisch-dynamischen Bewegung hatten diesen Umschwung seit dem Erscheinen der deutschen Übersetzung von Rachel Carsons “Der stumme Frühling” (1963) erwartet. Städtische Jugend drängte aufs Land, sodaß die anerkannten biologisch-dynamischen Lehrbetriebe und die 1974 begründete Landbauschule Dottenfelderhof nur einem Teil der Nachfrage genügen konnten. Die Zahl der Höfe stieg weltweit bis in die neunziger Jahre kontinuierlich - in Deutschland von knapp 400 (1977) auf etwa 1200 (1995). Für die landwirtschaftliche Fachwelt war die erste, 1973 erschienene Dissertation zu einem biologisch-dynamischen Thema29 von nicht geringer Bedeutung. Sie war am Institut für Ackerbau und Pflanzenzucht der Universität Gießen entstanden, das schon seit zwei Jahrzehnten analytische oder experimentelle Projekte in Zusammenarbeit mit dem Institut für biologisch-dynamische Forschung betrieben hatte. Weitere zwei Jahrzehnte später waren an vier Hochschulen in Deutschland Lehrstühle für ökologischen Landbau eingerichtet und an den meisten landwirtschaftlichen Fakultäten fanden entsprechende Lehrveranstaltungen statt. In den fünfziger und sechziger Jahren war zwar innerhalb der landwirtschaftlichen Bewegung ähnlich wie in der pädagogischen und medizinischen Arbeit - ein reichhaltiges Schrifttum entstanden, das sich aber vorwiegend mit Einzelfragen befasste oder spezifisch anthroposophischen Problemstellungen nachging. 1974 veröffentlichte Herbert H. Koepf die erste zusammenfassende Darstellung der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise, die den grundsätzlich neuen methodischen Ansatz nachvollziehbar darstellte und unter Einbeziehung der vieljährigen Erfahrung der Höfe wie der Forschung konkrete Aussagen zu Bodenkunde, Planzenbau, Tierhaltung, Präparaten usw. machte. Das Buch richtete sich gleichermaßen an die interessierte Öffentlichkeit wie an die Fachwelt und erschien 1996 in vierter, überarbeiteter Auflage.30 Nachdem Handel und Vertrieb von Bio-Produkten in den späteren siebziger Jahren nennenswerte Dimensionen angenommen hatten, wurden gesetzliche Regelungen hinsichtlich der Qualitätsbestimmung notwendig. Die Vertreter der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise wirkten innerhalb der “International Federation Of Organic Agricultural Movements” (IFOAM) maßgeblich an der Erstellung von Rahmenrichtlinien für den ökologischen Lanbau mit, die der weiteren Gesetzgebung als Grundlage dienten. 1988 gründeten der Forschungsring und fünf weitere Verbände biologisch oder organisch ausgerichteter Landwirte die “Arbeitsgemeinschaft für 26 A.Ronnenberg, “Ökonomische Aspekte der Biologisch-Dynamischen Wirtschaftsweise”, Göttingen, 1973; R.Diercks, Alternativen im Landbau”, Stuttgart-Hohenheim, 1983. 27 s.Anmerkung 25. 28 ebd. 29 U.Abele, “Vergleichende Untersuchungen zum koventionellen und biologisch-dynamischen Landbau unter besonderer Berücksichtigung von Saatzeit und Entitäten”, Gießen, 1973. 30 Herbert H.Koepf u.a., “Biologisch-dynamische Landwirtschaft - eine Einführung”, Stuttgart-Hohenheim, 1974.

ökologischen Landbau” (AGÖL), Plattform der politischen Interessenvertretung ökologischer Anbaumethoden in Deutschland und darüberhinaus auf EG-Ebene. An diesen Entwicklungen auf wissenschaftlicher- und Verbandsebene wird die zunehmende Integration anthroposophischer Ansätze und Erfahrungen in die Bemühungen um Neuorientierung in der krisengeschüttelten Landwirtschaft sichtbar, die in den achtziger Jahren einsetzte. Kunst Anders als die genannten Tätigkeitsfelder blieben die anthroposophisch-künstlerischen Aktivitäten, die in allen Disziplinen ebenfalls auf eine expansive Entwicklung und Schulenbildung zurückblicken können, überraschenderweise mehr auf die eigenen, d.h. anthroposophischen Kreise beschränkt. Überraschend deshalb, weil noch in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren in erster Linie die künstlerischen Unternehmungen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für anthroposophische Arbeit gewannen. Allein die Tatsache, daß die zahlreichen Waldorfschulen meistens über eine für Aufführungen geeignete Turnhalle verfügten, später dann über große Festsäle - sie waren und sind wie auch die Schulgebäude selbst und die Kirchen der Christengemeinschaft das vorwiegende Realisierungsfeld anthroposophisch orientierter Architekten31 -, führte dazu, daß schauspielerische, musikalische oder eurythmische Veranstaltungen anthroposophischer Provenienz allmählich aus dem öffentlichen Kulturleben fast ganz verschwanden. Kaum eine Eurythmie- oder Theatergruppe konnte längerfristig das finanzielle Risiko bestehen, das mit Auftritten in öffentlichen oder gar renomierten Häusern verbunden ist. In den Waldorfschulen dagegen war es möglich und gern gesehen, das Publikum aber von vorn herein ausgewählt. Wenige Ausnahmen, wie beispielsweise Else Klink und das von ihr gegründete EurythmieEnsemble, bedeuteten über die gesamte Zeitspanne seit 1945 ein zunehmend beachtetes Element im allgemeinen Kulturleben. Durch Mitwirkung an wichtigen Inszenierungen anderer Theater, ihre jahrzehntelange Forschungs-, Lehr- und Darstellungstätigkeit sowie die Programme und Choreographien für deutsche, europäische und weltweite Tourneen mit Gastspielen an bedeutenden Bühnen, Festspielhäusern und internationalen Festivals trug Else Klink maßgeblich zur Weiterentwicklung und Verbreitung eines der wichtigsten Kulturimpulse der Anthroposophie bei.32 Bei den wenigen Künstlern von Weltruf, die eine enge Beziehung zur Anthroposophie hatten, wie beispielsweise Bruno Walter oder Joseph Beuys, wurde diese Beziehung berechtigterweise als Privatangelegenheit gewertet. Die künstlerische Arbeit in Pädagogik, Betrieben und Therapie bedurfte immer des entsprechend engagierten Umfeldes und erst mit den fortschreitenden achtziger Jahren lässt sich in nennenswertem Maßstab beobachten, wie beispielsweise die Kunsttherapie über ihre angestammten Zusammenhänge in Waldorfschulen, Therapeutika oder anderen anthroposophischen Einrichtungen hinaus praktiziert wurde, oder wie die Eurythmie in der Jugend- und Erwachsenenbildung, schließlich auch im Strafvollzug eingesetzt wurde.33 Neben der einer weitgehend traditionell bestimmten Kultur ohnehin ungewohnten Vorstellung, daß Kunst anderem als nur der schöngeistigen Erbauung dienen kann, lagen auch andere Gründe für den Verbleib innerhalb eng gesetzter Grenzen vor. Schon 1958 kennzeichnete Bernhard Lievegoed im Zusammenhang mit seinem politisch-sozialpädagogischen Engagement den Mangel an Anthroposophen, “die z.B. künstlerische Kurse geben können für Menschen, die guten Willens sind, die aber erwarten, daß man sie in einer für sie begreiflichen Sprache anspricht.”34 Jüngere Vergangenheit Das letzte Jahrzehnt könnte von einem quantitativen Gesichtspunkt aus als das Jahrzehnt des 31 “Die Waldorfschule baut - 60 Jahre Architektur der Waldorfschulen”, Stuttgart, 1986. 32 Wolfgang Veit, “Eurythmie - Else Klink, ihr Wirken in einer neuen Bühnenkunst”, Stuttgart, 1985. 33 Brater/Büchele/Herzer, “Eurythmie am Arbeitsplatz”, Stuttgart, 1988. 34 Bernard Lievegoed, in: “Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland”, 1958, S.55f.

Durchbruchs anthroposophischer Arbeit zu breiterer Kulturwirksamkeit betrachtet werden. Durch die Entwicklungen der letzten fünfzig Jahre hat sich eine beeindruckend umfassende anthroposophische Lebenswelt herausgebildet. Beeindruckend nicht deshalb, weil sich ein ganzes Leben, vom Geborenwerden bis zum Sterben, vom Kindergarten über Schule, Ausbildung und Beruf bis zum Altersheim, innerhalb dieser Lebenswelt abspielen könnte, sondern weil die Grenzen zur “Außenwelt” durchlässiger geworden sind, wie an den beispielhaft skizzierten Entwicklungen in Pädagogik, Medizin und Landwirtschaft abzulesen ist. Berührungsängste werden zunehmend abgebaut, Dialoge entstehen und die zunächst vielleicht berechtigte eigenweltliche Realisierung steht nicht mehr im Vordergrund; vielmehr aber die Mitwirkung bei dem Versuch, Menschlichkeit in dem heutigen, “Technik genannten Weltzustand” (G.Anders) zu verstärken. Aus einem anderen Blickwinkel aber lassen sich in der jüngeren Vergangenheit Problemstellungen und Aufgaben beobachten, die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten keine nennenswerte Rolle spielten. Den Anthroposophen, die nach dem Krieg die Aufbauarbeit leisteten, war Rudolf Steiner noch nahe. Die Begegnung oder Zusammenarbeit mit ihm hatte ihre Lebensentwürfe bestimmt. An der Mitte der fünfziger Jahre zuerst aufkommenden Erinnerungsliteratur35, die bis heute erheblich anwuchs, ist die gar nicht zu überschätzende Bedeutung dieser persönlichen Begegnung abzulesen. Zweifel an dem Wie der inneren anthroposophischen Kultur, an der Quelle und lebendigen Grundlage ihrer Arbeit hatten kein Gewicht und aus dieser inneren Gewissheit schufen oder betrieben sie Initiativen und Einrichtungen. Auch die in der Verantwortung nachrückende Generation lebte noch von diesem an sie weitergereichten Fundus der Unmittelbarkeit. Heute, umgeben von einer Vielzahl anthroposophischer Arbeitsfelder, Realisierungen und Einrichtungen, ist die Frage nach dem Wie innerer anthroposophischer Kultur zu einer zentralen geworden. Sie tritt weniger als Erkenntnisfrage in Erscheinung - als solche wurde sie selbstverständlich auch früher gestellt und bearbeitet -, sondern sie stellt sich immer mehr als existentielle Lebensfrage. Die Schwierigkeit, nicht selten gar die Unfähigkeit, das Leben als solches zu bewältigen, führt mehr oder weniger bewußt zu der Frage: Wie kann ich eine innere Kultur entwickeln und pflegen, die aus meiner eigenen Lebenssituation hervorgeht, ihr entspricht und doch zur Selbstverwandlung führt? Eine innere Kultur, die darüberhinaus befähigt, die immer komplexer werdende Gegenwart über den persönlichen Rahmen hinaus mitzugestalten. Bloße Hinweise auf entsprechende Werke, Ausführungen und Taten Rudolf Steiners oder deren erklärende Darstellung können diesen Fragen oft nicht genügen. Sie zielen auf die gelebte Praxis eines in der Empfindung, im Erlebnis individualisierten Denkens - wie eingangs erwähnt -, zunächst als orientierender Maßstab, dann als eigene Lebens- und Arbeitsgrundlage. Die Überlieferung, ihrer Unmittelbarkeit entkleidet, behält nur insofern sinnstiftende Gültigkeit, als sie durch diese Fähigkeit gedeckt, d.h. zur “individuellen Äußerung auf gediegener Grundlage” geworden ist. Eine andere Facette dieses Individualisierungs-Problems zeigt sich im Ganzen der anthroposophischen Arbeit, nicht zuletzt aber auch an jüngeren Publikationen oder Beiträgen in anthroposophischen Zeitschriften. Die heute ganz allgemein ungleich schwieriger als noch vor einem oder zwei Jahrzehnten zu gewinnende Urteils- und Entscheidungssicherheit lässt ein Vakuum entstehen, das persönliche Sinnfindung und Initiative ebenso erschwert wie die Erhaltung oder Bildung von Arbeitszusammenhängen. Als Emil Bock 1946 mit der erneuten Herausgabe der Zeitschrift “Die Christengemeinschaft” begann, schrieb er an seinen Kollegen Wilhelm Kelber: “Ich sehe, wie außerordentlich schwer es ist, neben allem anderen jeden Monat ein Heft zusammenzubekommen. Es treten ja durch die technischen Schwierigkeiten sehr viel Zeitverluste ein (...). Ich weiß auch nicht, wie ich mit dieser Sache durchkommen soll, und werde mich deshalb an einige wegen einer möglichst prompten Mitarbeit wenden müssen. (...) Die Freunde aus den anderen Ländern, die ich um Beiträge (...) 35 1956 erschienen beispielsweise als erste Veröffentlichungen dieser Art: M.Krück von Poturzyn, “Wir erlebten Rudolf Steiner”; H.Wiesberger, “Aus dem Leben Marie Steiners”; F.W.Zeylmans van Emmichoven, “Der Grundstein”.

gebeten habe, haben zum größten Teil ewas geschickt. Aber es ist so, wie ich es mir eigentlich vorher hätte sagen sollen: die Veränderung der inneren Situation, die wir hier erlebt haben, ist draußen nicht in dem gleichen Maße eingetreten. Die Freunde schreiben ziemlich noch genau so, wie sie auch 1940 geschrieben hätten. Und so sind die Beiträge als repräsentative europäische Stimmen unzureichend.”36 Neben den schwierigen äußeren Bedingungen, unter denen damals begonnen werden musste, und dem selbstgestellten Anspruch - etwas später nannte Bock ihn “den Ton der kulturellen Repräsentation”37 - wird Folgendes deutlich: er hatte eine klare Einschätzung von der “Veränderung der inneren Situation” und fällte dementsprechend ein sicheres Urteil über die Art der zu leistenden Arbeit. Daraus konnte sich ein funktionierender Arbeitszusammenhang entwickeln. Heute scheint der Sachverhalt häufig geradezu umgekehrt zu liegen: Die äußeren technischen Verhältnisse sind gelegentlich überperfektioniert, Urteilsfähigkeit und Entscheidungssicherheit aber, wie sie Bock und manchen anderen damals tätigen Anthroposophen noch gegeben war, ist heute ungleich schwieriger zu gewinnen. Nicht nur, daß sich gültige Kenntnisinhalte ständig in kaum nachzuvollziehender Geschwindigkeit verändern, auch die “innere Situation” des Einzelnen, seines Umfeldes und der Gesellschaft sowie ihre Bezüge untereinander sind individueller, komplexer und damit undurchschaubarer geworden. Mit diesem Problem taucht auch die eingangs erwähnte Gefahr des Dilettantismus auf, und zwar in zweifacher Gestalt. Zum einen kann Unsicherheit in der Urteils- und Entscheidungsfindung Dilettantismus zur Folge haben. Intakte Verhältnisse der Zusammenarbeit wirken ihm entgegen. An Stelle dieser intakten Lebens- oder Arbeitsverhältnisse macht sich aber häufig gerade eine zweite Erscheinungsform des Dilettantismus geltend, der zwischenmenschliche. Er wird in einer Zeit, in der vormals tragende Selbstverständlichkeiten verloren gegangen sind, immer gravierender. Die konstruktive Zusammenarbeit setzt neben Sachkenntnis und verbindlichem Engagement zunehmend Takt, Einfühlung und Mut im Hinblick auf den anderen voraus. Diese Qualitäten können nicht von anderen eingefordert, sie können nur selbst gebildet werden; die Notwendigkeit eigener Arbeit zur Überwindung des Dilettantismus im Zwischenmenschlichen wird allerdings nicht selten durch Kritik und den Ruf nach neuen Arbeitsformen ersetzt. Beides - die Notwendigkeit wirklicher Individualisierung sowie die der Überwindung des zwischenmenschlichen Dilettantismus - äußert sich in der jüngeren Zeit ganz allgemein, nicht nur in anthroposophischen Lebenskreisen. Ob in Politik oder Wirtschaft, in Kultur oder persönlicher Lebensführung sind Kreativität und Kooperationsfähigkeit längst an die Stelle alter Ideale getreten. Ohne selbständige geistige Schulung und Entwicklung können weder Kreativität (wirkliche Individualisierung), noch Kooperationsfähigkeit (überwundener zwischenmenschlicher Dilettantismus) wirksam ausgebildet werden. In der zunächst langsam, dann immer schneller anschwellenden Esoterik-Welle, die längst nicht mehr nur auf resignierte Intellektuelle oder junge Aussteiger beschränkt blieb, verschaffte sich dieses Bedürfnis nach geistiger Entwicklung unmissverständlich Ausdruck. Daraus erwachsen der anthroposophischen Arbeit nicht nur zur Lösung drängender Probleme in den eigenen Einrichtungen neue Aufgaben. Um ihnen gerecht zu werden, bedarf es der positiven Darstellung anthroposophischer Schulungsmöglichkeiten und ihrer Differenzierung von den in unübersehbarer Fülle angebotenen Innenwegen. Diese Darstellung ist wohl immer weniger durch literarische Formen zu leisten, sondern vielmehr durch Lebensentwürfe, die weder aus Traditionen noch nach Modellen vorgenommen werden; durch je individuelle Lebensentwürfe, die aus geistiger Selbstverwandlung, d.h. aus einer Fähigkeit des aktiven Werdens entstehen. In den Mysteriendramen versuchte Steiner noch vor jeder Entfaltung “praktischer” Arbeitsfelder zu schildern, welche Formen Lebenswandlungen aufgrund individueller Geistesschulung annehmen und wie sie das Verhältnis zusammenarbeitender oder-lebender Menschen verändern können. Das vierte Drama “Der Seelen Erwachen” erweist sich in diesem Sinne als ein vorgreifendes Bild der 36 Emil Bock, “Briefe”, Stuttgart 1968, S.246ff. 37 ebd.

Entwicklungen, die seither, besonders aber in den letzten fünfzig Jahren Gestalt angenommen haben.