Vom Handeln zur Therapie

282 11  Vom Handeln zur Therapie bewährt (▶ Tab. 11-7), der nicht unbedingt konkret materiell eingerichtet werden muss, sondern auch als eine imagi...
Author: Heiko Gerstle
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bewährt (▶ Tab. 11-7), der nicht unbedingt konkret materiell eingerichtet werden muss, sondern auch als eine imaginierte Notfallhilfe hilfreich sein kann. Dieser Notfallkoffer ist eine Anregung. Es gibt noch viele weitere Möglichkeiten, die sich manchmal erst im Gespräch mit den Jugendlichen erschließen. Ein weiterer Weg, mit unerträglichen Zuständen umzugehen, ist, sich mit Aktivitäten abzulenken, beispielsweise zu joggen, in die Stadt zu gehen, Essen zu kochen, zu basteln oder zu werken, Gartenarbeit zu machen, kreativen Beschäftigungen nachzugehen, wie Gedichte oder Tagebuch schreiben, zu lesen, Musik und Kassetten zu hören oder sich im Entspannungsraum zu beruhigen, auf Entspannungstechniken zurückzugreifen, Yoga, Imaginations- oder Atemübungen zu machen oder Aromatherapie auszuprobieren. Die zuletzt genannten Beschäftigungen bedürfen einer Anleitung. Wenn Jugendliche in solchen Aktivitäten keinen Sinn erkennen können, greifen sie nicht auf sie zurück. Konfrontiert mit ihrer Hoffnungslosigkeit und ihrem Selbsthass können sie solche Angebote leicht als Abweisung und ein Auf-sich-selbst-zurückgestoßen-Werden erleben. Deshalb braucht es oftmals Zeit und Begleitung, ehe sie erkennen können, dass sie selbst davon profitieren.

Tab. 11-7 Notfallkoffer. Weckglasgummi für Handgelenke yy Eisstücke in die Achselbeuge yy harte Bürste zum Abreiben yy barfuß durch dem Schnee oder in den yy eiskalten Bach kalte oder heiße Dusche yy scharfe Gewürze (Chilischote) yy saure Bonbons yy scharfer Geruch, z. B. Salmiakgeist yy Boxsack yy

Umgang mit Piercen und Tätowieren Piercen und Tätowieren sind zu einem immer beliebteren Mittel der Selbstdarstellung und -inszenierung geworden. Diese Modeerscheinung kommt Jugendlichen mit Traumatisierungen besonders entgegen. Ihnen reichen oft nicht nur ein oder zwei Ohrringe, sondern die ganze Ohrmuschel ist von oben bis unten mit Piercings oder Ketten versehen. Löcher in den Ohrläppchen werden vergrößert und gedehnt; Augenbrauen, Nase, Kinn, Lippen und die Zunge werden gepierct. Tätowierungen finden sich auf dem Rücken, den Armen, im Lendenbereich, an den Beinen oder auf der Brust. Der Körper ist übersät von Markierungen. Piercen und Tätowieren kann ein geeignetes Mittel sein, sich in einer sozial mehr oder weniger akzeptierten Form Schmerz zuzufügen. Während Jugendliche bei uns in psychotherapeutischer Behandlung sind, verlangen wir von ihnen, dass sie sich keine neuen Piercings und Tätowierungen machen lassen. Wir vermitteln ihnen, dass wir das als einen Austragungsort für Konflikte betrachten, die während ihrer Therapie nicht handelnd erledigt werden, sondern in therapeutischer Arbeit behandelt werden sollen. Für die Jugendlichen ist das mitunter schwer zu ertragen, hat jedoch längerfristig positive Auswirkungen. Sie akzeptieren diese Einschränkung eher, wenn ihnen klar gemacht wird, dass es nicht bedeutet, dass sie sich nie wieder piercen dürfen, sondern, dass sie nur während der Therapie auf dieses Verhalten verzichten müssen.

11.5.6 Körpertherapie Die Beziehung zum Körper ist als Folge von Traumatisierungen basal gestört. Aufgrund der traumatischen Belastungen sind sensorische und motorische Integrationen sowie Koordinationen in Mitleidenschaft gezogen. Die

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Fähigkeit, Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken zu integrieren, fehlt (Santostephano u. Calicchia 1992; Young 1992). Traumatisierte Jugendliche haben manchmal kein konsistentes Gefühl von Raum, Zeit und Entfernung entwickelt. Die traumabezogenen Überer­ regungen und Betäubungen spielen sich in und an ihrem Körper ab. Körperlichen Erregungen machen sie unfähig, sich zu entspannen. Ihr taktiles Empfinden, insbesondere ihre Schmerzwahrnehmung, ist eingeschränkt. Körpergrenzen können sie nicht wahrnehmen. Mit dem Körper und seinen Grenzen sind Erfahrungen von Überwältigung und Schmerz verbunden, die dissoziiert werden. Solche Grenzen wieder herzustellen und den Körper in seiner Begrenzung als etwas Wohltuendes und Identitätsstiftendes wahrzunehmen, ist ein basales Ziel in der Behandlung traumatisierter Jugendlicher. Betroffene Jugendliche berichten häufiger über Körperdissoziationen, z. B. dass sie kein Gefühl an ihren Oberschenkeln haben oder dass ihr Unterleib wie nicht existent ist. Die Körpertherapie, die unsere Körpertherapeutin (I. Kepper-Juckenack) durchführt, ist keine Therapie, die versucht, das traumatische Geschehen zu aktivieren und gar in kathartischer Form abzureagieren. Dies erscheint uns insbesondere im Kontext von Behandlungen nicht sinnvoll zu sein, die auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind. Sobald traumatische Inszenierungen in der Körpertherapie auftreten, werden diese im Einverständnis mit dem Jugendlichen dem Therapeuten mitgeteilt oder vom Jugendlichen selbst dort angesprochen. Solche Erfahrungen müssen in der Therapie ankommen. Die Körpertherapie soll in erster Linie Entwicklungsarbeit und Arbeit an den Traumafolgen am Körper leisten. Sowohl Entwicklungsblockaden, sensorische Abblendungen und Dissoziationen als auch motorische Erstarrungen und Blockierungen sollen aufgelöst werden.

283 Jugendliche gehen gerne in die »Bohnenkiste«, eine mit harten weißen Bohnen gefüllte zirka ein Kubikmeter große Kiste, in der sie auf ihrer Haut und mit den Händen die Berührung durch die leichten, glatten und runden Formen erfahren. Sie bauen aus Polstern Höhlen und umhüllen sich mit Decken oder greifen zu dem Igelball, um die Grenzen ihres Körpers wahrzunehmen. Sie beschweren sich mit Sandsäcken, um Teile ihres Körpers zu spüren, die bis dahin aus- und abgeblendet wurden. In anderen Übungen erlernen sie – insbesondere bei Lateralisierungsstörungen und gestörter Hemisphärendominanz – mit beiden Körperhälften gleichzeitig zu arbeiten, eine Fähigkeit, die durch traumatische Belastungen eingeschränkt wurde. Sie üben, sich in ihrem Körper wieder zu Hause zu fühlen, Reize auf ihrer Haut zu erkennen und zu diskriminieren, die Lage ihrer Körperteile zu benennen und Bewegungen miteinander zu verbinden. Sie lernen, Wahrnehmungen mit motorischen Reaktionen zu koordinieren und zu integrieren und mit passenden Handlungen zu reagieren. Probleme des vestibulären Systems werden durch Arbeiten an Gleichgewicht und Balance aufgefangen. Dabei kann ihnen helfen, in einer Hängematte zu schaukeln. Traumatisierte Jugendliche profitieren von der Erfahrung, sich einen Raum und eine Höhle unmittelbar und konkret zu schaffen und sich dort sicher zu fühlen. Positive Erfahrungen machen sie auch, wenn sie ihre abgeblockten Wahrnehmungen wieder »hochfahren«, ihre Aufmerksamkeit richten und sich wieder konzentrieren können. Diese Erfahrungen werden zu allererst am Körper geübt. Ihrer taktilen Über- und Unterempfindlichkeit entspricht häufig eine Hyper- und Hyposensibilität auch in Beziehungen infolge ihrer gestörten Grenzziehung zwischen sich selbst und anderen oder bei mangelnder Reizabschirmung. Die mangelnde Fähigkeit zur Grenzziehung ist eine unmittelbare körperli-

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che Erfahrung. Gelingt es dem Jugendlichen mit seinem Körper auf Grenzen zu achten, fällt es ihm zumeist auch leichter, im Umgang mit anderen Grenzen zu ziehen.

11.5.7 Arbeit an kognitiven Fähigkeiten Traumatisierte Kinder und Jugendliche zeigen eine Reihe von unterschiedlichen Lernproblemen, die nicht als ein Beziehungs- oder Übertragungsproblem verstanden werden sollten (Palombo 1991). Die beeinträchtigte Informationsaufnahme und -verarbeitung (StreeckFischer 2000b) sind für komplexe Lernstörungen verantwortlich und müssen durch gezielte Trainings bearbeitet werden, beispielsweise mithilfe von Aufmerksamkeits- und Konzentrationsyy training, Selbstinstruktionstraining, yy Training spezieller Wahrnehmungsmodayy litäten oder Spannungstoleranztraining. yy In unserer Einrichtung werden die kognitiven Trainings von der klinischen Psychologin Frau Schrader-Mosbach durchgeführt. Um die Hoffnung entwickeln zu können, dass es sich lohnt zu lernen, brauchen die jugendlichen Patienten Erfolgserlebnisse. Über viele Jahre hinweg wurden sie damit konfrontiert, scheinbar unfähig zu sein, zustande zu bringen, was Gleichaltrige können, Bedingungen, die ihren Selbstwert und ihre Produktivität infrage gestellt haben. Neben den ausgeprägten Wissenslücken und den kognitiven Folgen traumatischer Belastungen sind meist schwere narzisstische Lern- und Arbeitsstörungen die Folge. Konfrontiert mit ihrem Versagen, das wie ein weiteres Trauma wirkt, entwickeln sie Vermeidungsstrategien, geben sich auf und setzen ihr traumatisiertes und traumatisierendes

Leben fort. Die Fähigkeit, narzisstischen Gewinn aus Arbeitsfähigkeit zu schöpfen, muss erst entwickelt werden. In der Regel haben die Jugendlichen große Entwürfe im Kopf und sind nicht in der Lage, die vielen kleinen Schritte zu sehen, die notwendig sind, um ein Ziel zu erreichen. Sie benötigen Orientierungen, positive Rückmeldungen und müssen die Erfahrung machen können, dass sich Lernen lohnt. Jugendliche mit massiven Konzentrationsstörungen können möglicherweise zunächst keinem Unterricht, auch keinem Klinikunterricht folgen. In diesem Fall führt es zunächst weiter, wenn der Jugendliche vermittelt über körperliche Aktivitäten, etwa im Rahmen eines Praktikums oder mit einem Arbeitsversuch seine körperlichen Kräfte spürt und unmittelbar sieht, was er zustande bringen kann. Hilfreich ist immer, vorhandene Ressourcen und Interessen zu nutzen, die ausgebaut werden können.

Fallbeispiel Peter, der unterhalb seiner Möglichkeiten lediglich einen Hauptschulabschluss erreicht hatte, war zunächst in keiner Weise dazu zu bewegen, seine Schulkarriere wieder aufzunehmen. Er hatte einige Zeit unter desolaten Bedingungen auf der Straße gelebt. Vorstellbar war für ihn langfristig, selbst einmal Straßensozialarbeiter zu werden. Der Arbeitsversuch bei der Göttinger Tafel, wo Not leidende Menschen verköstigt wurden, war für ihn ein erster Schritt in eine sozial integriertere Richtung.

11.5.8 Traumaexposition Gelingt es dem Jugendlichen, wieder ein normales Alltagsleben zu führen und sich von den traumatischen Belastungen durch Übungen zum sicheren Ort und durch Distanzierungs- und Ablenkungsübungen zu befreien,

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dann steht die Frage einer Traumaexposition an. Als vor 20 Jahren in der Behandlung von traumatisierten Jugendlichen Traumakonzepte noch keine Rolle spielten, standen Stabilisierungsaspekte sowie die therapeutische Arbeit am Hier und Jetzt im Vordergrund. Der Jugendliche sollte in seinen Entwicklungsaufgaben unterstützt, seine Problematik aber nicht tief greifend aufgearbeitet werden (Zauner 1972). Jugendliche, die schwere traumatische Belastungen durchgemacht haben und traumatisiert-traumatisierend gelebt haben, sind oft damit zufrieden, wenn es ihnen gelingt, mithilfe der verschiedenen Stabilisierungstechniken ihren Alltag zu gestalten. Sie sagen dann: »Das, was ich jetzt erreicht habe, habe ich all‘ die Jahre über nicht gekonnt, das reicht mir.« Sie scheuen sich davor, sich den erlittenen Traumatisierungen in einer Traumaexposition zu stellen. Häufig beenden solche Jugendlichen die Behandlung an diesem Punkt und kommen zu einem späteren Zeitpunkt wieder, um in einem zweiten oder dritten Abschnitt ihrer Behandlung eine Traumaexposition durchzuführen. Voraussetzung für eine Traumaexposition ist, dass sie ein stabiles Leben führen, ein Zuhause haben, in eine soziale Gruppierung eingebunden sind, zur Schule gehen oder beruflich integriert sind. Erst dann kann die traumatische Situation in dafür eingerichteten Traumasitzungen bearbeitet werden. Bei gezielter Traumaexposition ist heute das ›Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)‹ am weitesten verbreitet (Hofmann 1999; Shapiro 1998). Dessen Wirksamkeit bei akut und komplex Traumatisierten ist auch empirisch gut belegt. EMDR muss für komplex Traumatisierte in spezifischer Form modifiziert werden (Sachsse u. StreeckFischer 2009). Das Gleiche gilt für prolongierte Exposi­tion nach Edna Foa (Foa et al. 2007). Dieses

285 Verfahren wird bei komplex Traumatisierten wenig eingesetzt, da Borderline-Patienten nicht habituieren. Es muss so lange durch­ gehalten werden, bis eine Habituation ein­ setzt und die Stressphysiologie beruhigt ist. Zumindest muss die innere Stresssituation besser sein als zu Beginn der Exposition. Viele komplex Traumatisierte oder Borderline-Patienten dekompensieren aber vorher in dissoziative Zustände, in einen Affekt­ sturm oder in raptusartige Verhaltensweisen, weil sie dem Hochstress nicht mehr gewachsen sind. Dann führt die Exposition nicht zu einer Symptomverbesserung, sondern zu einem Misserfolgserlebnis und einer Verschlechterung. Bei der dritten Gruppe, den imaginativen Techniken der Bildschirmtechnik und der Beobachtertechnik (Reddemann 1998, 2004; Sachsse 2004), geht es darum, das Trauma dissoziiert wie einen alten Film zu betrachten und im Wechsel damit assoziiert in die traumatische Erfahrung hineinzugehen. Beides wechselt sich ab und trägt so zur Verarbeitung bei. Wahrscheinlich liegen diesen drei Techniken entweder ein ähnlicher Wirkmechanismus oder mehrere gemeinsame Wirkmechanismen zugrunde. Ein verbindendes Element ist, dass während der Traumaexposition die paradoxe Situation hergestellt wird, dass der Kontrollverlust der Intrusionen und des Flashbacks kontrolliert herbeigeführt und durchgestanden wird. Damit wird aus einer unkontrollierbaren, überwältigenden Stressreaktion eine kontrollierbare Stressreaktion (Hüther 1997). Die aber stärkt das Selbstgefühl, gibt Selbstvertrauen und die Zuversicht, dem eigenen inneren Prozess gewachsen zu sein. Ein zweiter Wirkmechanismus ist es, dass sich die Vergangenheit in der Gegenwart aktualisiert, dass es also zur Problemaktualisierung (Grawe et al. 1994) kommt, dass aber die

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Gegenwart gewinnt. Bei den Intrusionen und Flashbacks setzt sich die Vergangenheit gegen die Gegenwart durch. Bei einer Traumaexposition muss die gute Gegenwart gegen die schlechte Vergangenheit »gewinnen«. Alle Vorgehensweisen aktualisieren, »triggern« schlechte Erfahrungen der Vergangenheit und wechseln dann auf die Gegenwart über (Sachsse u. Streeck-Fischer 2009).

Fehler in der Behandlung In der Arbeit mit den schwer gestörten Jugendlichen werden, in der ambulanten ebenso wie in der stationären Therapie, initial leicht Rettungs-, Größen- und Helferfantasien bei den Therapeuten und dem Team aktiviert, die auch die wichtige Funktion haben, die Bereitschaft bei den Beteiligten zu unterstützen, sich überhaupt auf das schwierige Therapie-Unternehmen einzulassen. Sie werden allerdings dann zum Problem, wenn der Therapeut oder eine Person im therapeutischen Team die Fähigkeit zur kritischen Distanzierung verliert und die Realität des Jugendlichen und dessen massive Beeinträchtigungen nicht erkennt. Zudem kann sich ein »furor sanandi« entwickeln, der bereits Ausdruck eines malignen Prozesses ist und mit traumatischen Reinszenierungen verbunden sein kann (Streeck-­ Fischer 2000b). Bei Tendenzen zu maligner Regression kann es sinnvoll sein, dem Jugendlichen zu vermitteln, dass eine Therapie nur dann möglich ist, wenn damit nicht eine erhebliche Verschlechterung seines Zustandes einhergeht. Es ist ein Unterschied, ob die Therapie ein Ort ist, an dem gearbeitet wird oder suchthaft traumatische Ereignisse wiederhergestellt werden. Für Letzteres sollte der Therapeut sich nicht zur Verfügung stellen. Absprachen dienen zur Vermeidung von maligner Regression. Hilfreich kann auch ein frühzeitiges Ansprechen der zeitlichen Begrenzung der

Therapie sein. Bei drohendem Therapieabbruch, Lügen oder fremddestruktivem Verhalten sind Vorgehensweisen angebracht, wie sie für die Erwachsenenbehandlung entwickelt wurden.

Kunstfehler Besonders schwer gestörte Patienten brauyy chen eine besonders intensive Beziehung. Identifikation mit den Omnipotenzzuyy schreibungen des Patienten. Kein klarer Eingangskontrakt. yy Unterwerfung unter die Aggression des Payy tienten anstatt Konfrontation. Vergangenheitsorientierung, Verleugnung yy der Realität. Abtreten der Beziehungskontrolle an den yy Patienten. Verlust der Zeitperspektive. yy Werden diese therapeutischen Fehleinstellungen nicht erkannt, besteht die Gefahr, die Bindungstraumatisierung zu aktivieren (vgl. Rohde-Dachser 1995).

11.5.9 Die Behandlungsphasen – an einem Fallbeispiel Die Behandlung von traumatisierten Jugend­ lichen verläuft in Phasen, die durch die ent­ wickelten therapeutischen Konzepte vor­ gegeben sind. Sie werden jedoch jeweils von den Jugendlichen entsprechend ihrer Bedingungen sehr unterschiedlich gestaltet und ausgehandelt. An einem Fallbeispiel sollen die Behandlungsschritte dargestellt werden.

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Erste Phase – Ankommen in der Therapie Fallbeispiel Der 17-jährige Anton hat bereits mehrere schwere Suizidversuche hinter sich. Sein Körper ist übersät mit Narben, die von Selbstverletzungen herrühren. Nach einer Diagnostikzeit von 4 bis 6 Wochen werden in einer gemeinsamen Besprechung, an der der Jugendliche im zweiten Teil teilnimmt, alle Befunde und bisher erhoben Daten zusammengetragen. In der Zweitsicht wird die weitere Behandlung geplant und organisiert. Er berichtet hier, dass es ihm seit drei Jahren so schlecht gehe. Zusammenhänge zwischen seinem Verhalten und besonderen Belastungen sieht er nicht; wahrscheinlich sei es vererbt. Den Mitarbeitern im Team fällt auf, wie wenig sich die Eltern um seine Belange kümmern, ihn geradezu vernachlässigen. Beobachtete Verhaltensweisen im Alltag wie z. B. Erregungszustände mit Bedrohung anderer, Rückzüge in Apathie und Passivität, Selbstverletzungsneigungen und Ähnliches weisen auf traumatische Belastungen hin. Anton wird damit konfrontiert: Er verhalte sich wie einer, der Schlimmes durchgemacht hat. Anton meint jedoch, er könne sich an nichts erinnern. Vielleicht komme er ja im Laufe seiner Therapie darauf, ermuntert ihn die Zweitsichterin, er brauche eine Therapie und sie hoffe, er könne sich darauf einlassen. Wichtig sei zunächst, dass er es hinkriege, wieder einen einigermaßen normalen Tagesablauf zu haben, z. B. zur Klinikschule zu gehen, wieder lernfähig zu werden, den Alltag zu bewältigen und Abstand zu sich und den anderen zu bekommen. Ihm komme offenbar Vieles zu nahe, sodass er Mühe habe, Grenzen zwischen sich und anderen zu ziehen; dies sei häufig eine Folge von traumatischen Überwältigungen. Anton erfuhr in der ersten Zeit der Behandlung, dass er mit seinen Problemen gesehen wurde und man ihm wohlwollend, vorsehbar und verlässlich begegnete. Anton vermittelte den Eindruck, dass er die Rückmeldungen hinsichtlich seines Verhaltens und der darin deutlich werdenden Störungen (kognitive Mentalisierung) hilfreich fand, wenngleich er an dieser Stelle nicht zu erkennen gab, dass er sich möglicherweise verstanden fühlte. Hier

287 spielten vermutlich Autonomiewünsche eine wichtige Rolle. Seine Verhaltensweisen hatten jetzt einen Sinn bekommen. Gleichzeitig wurde ihm vermittelt, dass er sich, wenn er nicht lernen würde, sich von seinen Verhaltensweisen, den traumatischen Inszenierungen zu distanzieren, in einer Sackgasse befand, in der alles nur schlimmer würde. Er war damit einverstanden, Distanzierungstechniken einzuüben. Anton richtete sich auf der Station ein und schien sich mit seinen Belangen unterstützt zu fühlen. Er gewöhnte sich an einen normalen Tagesablauf (er ging morgens in die Klinikschule), wurde mit Stabilisierungstechniken vertraut gemacht und arbeitete in der Einzeltherapie an aktuellen Problemen.

Zweite Phase – Erkennen und zunehmende Distanzierung von bisherigen traumatischen Reenactments Fallbeispiel Indem Anton im Alltag immer wieder auf Verbindungen zwischen seinem Verhalten und seiner inneren Situation aufmerksam gemacht wird, erkennt er allmählich seine im Alltag und in seinen Beziehungen gehandelte Problematik als Folge innerer Konflikte. Traumatische Inszenierungen können zunehmend erfasst werden. Allmählich kann er auf bis dahin gewohnte Selbsthilfemaßnahmen wie Alkohol und Selbstverletzung verzichten. Im Alltag wird er gleichzeitig mehr gefordert, indem er in die Schule in der Stadt geht oder an gezielten Trainings teilnimmt. Anton konnte es aufgeben, sich selbst zu verletzen. Allmählich akzeptierte er, dass sein Verhalten mit früheren Erfahrungen zusammenhing. Nun wollte er unbedingt die Außenschule besuchen. Einige therapeutische Mitarbeiter meinten, dass er dazu in der Lage sei. Andere – insbesondere die Körpertherapeutin – hielt diesen Schritt für zu früh, da Anton nach wie vor sehr reizoffen und ohne sichere Grenzen erscheine, auch ohne stabile Hautgrenzen. Die Einzeltherapie erlebte Anton als Kränkung. Die ursprünglich idealisierte Therapeutin hatte ihn ein-

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