Vom Chemiebaukasten nach Estland und Kanada

Vom Chemiebaukasten nach Estland und Kanada Sebastian Perner, 25, hat es im Verlauf seiner Karriere an der Hochschule Fresenius schon zweimal ins Aus...
Author: Mina Hummel
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Vom Chemiebaukasten nach Estland und Kanada

Sebastian Perner, 25, hat es im Verlauf seiner Karriere an der Hochschule Fresenius schon zweimal ins Ausland verschlagen. Das Berufspraktische Semester im Rahmen des Studiengangs Angewandte Chemie verbrachte er am Competence Center of Food and Fermentation Technologies der Technischen Universität Tallinn (Estland). Für seine Masterarbeit zog er nach Kanada, wo er am Genome BC Protein Centre der University of Victoria (Vancouver Island, Kanada) arbeitete. © Hochschule Fresenius

Herr Perner, wie sind Sie zur Chemie gekommen? Ich glaube, ich hatte als Kind so ziemlich jeden Chemiebaukasten, den es bis dahin gab. Die Begeisterung für die Naturwissenschaften weckte meine Grundschullehrerin, sie hat mich sehr geprägt. Ich hatte eigentlich nie einen Zweifel, dass das einmal mein Bereich sein würde. Wie sind Sie an die Hochschule Fresenius gekommen? Das war eine recht kuriose Geschichte. Ich war schon an der Goethe-Universität in Frankfurt eingeschrieben, als ich zwei Freunde hier am Campus besuchte, die

gerade eine Ausbildung zum CTA machten. Ich sprach bei der Gelegenheit mit ein paar Dozenten und schaute im Unterricht vorbei – und wollte anschließend unbedingt hierher. Die freundliche und unkomplizierte Art der Dozenten sowie die lockere Atmosphäre hatten mich sofort überzeugt. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion habe ich meine Bewerbung fertig gemacht und mich in Frankfurt abgemeldet. Im Rahmen Ihres Bachelor-Studiums Angewandten Chemie waren fünfeinhalb Monate in Estland. Was Sie bewegt, gerade ins Baltikum gehen?

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Die Altstadt Tallins erstreckt sich am winterlichen Horizont.

Ich muss ehrlich gestehen, dass Estland nicht meine erste Wahl gewesen ist. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, nach Irland oder Japan zu gehen. Ich habe mich dann aber mit einem Kommilitonen ausgetauscht, der sich für Estland entschieden hatte. Das hat mich neugierig gemacht – und spätestens, als ich die Bilder der Altstadt von Tallinn gesehen habe, war die Entscheidung gefallen. So ging ich dann im Rahmen des Berufspraktischen Semesters, das für uns ja zwingend im Ausland stattfindet, für das Wintersemester 2011/2012 nach Estland. Sie waren dort im Competence Center of Food and Fermentation Technologies der Technischen Universität Tallinn tätig. Was haben Sie dort gemacht? Das Forschungsinstitut hat sich auf dem Gebiet der Lebensmittelchemie einen Namen gemacht. Eines meiner Projekte diente der Optimierung des Fermentationsprozesses. Ziel des Ganzen ist es, Mikroorganismen – in diesem Falle Bakterien – für die Synthetisierung bestimmter Komponenten zu nutzen, beispielsweise für Aromastoffe, Arzneimittel oder Farbstoffe.

Die Aussicht aus dem Büro des Instituts kann sich sehen lassen.

Ich habe Experimente durchgeführt, ausgewertet und in Absprache mit den Betreuern das weitere Vorgehen abgestimmt. Beschreiben Experiment.

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Es ging darum, die Wachstumsbedingungen für die Bakterien zu optimieren. Ziel ist es, möglichst viele, möglichst gesunde Bakterien in möglichst kurzer Zeit zu produzieren. Da lassen sich viele Parameter ändern – etwa die Temperatur, der Sauerstoffgehalt, die Rührgeschwindigkeit und nicht zuletzt die Zusammensetzung des Nährmediums, beispielsweise durch die Zugabe von Aminosäuren. Das Verfahren ist übrigens Standard und auch sehr weit verbreitet. So ein Experiment kann relativ schnell über die Bühne gehen – also in rund vier Stunden. Ich habe aber auch ganze Nächte im Institut verbracht. Das war aber kein Problem – wir durften den Konferenzraum nutzen, um Filme zu schauen, im großen Ofen haben wir Pizza gemacht und mit dem Konvektomat sind Speisen echt sehr schnell gar. Vorteil Lebensmittellabor: Es gibt immer irgendetwas zu essen.

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zwei Tage haben dieses Bild komplett über den Haufen geworfen. Wir wurden vom Flughafen abgeholt, man ist mit uns einkaufen gegangen und hat uns geholfen, alles in das Hostel zu bringen. Das blieb auch so: Immer, wenn wir etwas benötigt haben, war sofort jemand vom Institut zur Stelle und hat geholfen. Ich habe so etwas noch nicht erlebt. Ein ganz besonderes Erlebnis war auch die Überraschungsparty am Ende des Praktikums – mit der ganzen Mannschaft von 40 Leuten ging es ins Lieblingsrestaurant – ein toller Abend! Da ist es wenig verwunderlich, dass ich bis heute noch regen Kontakt zu den Menschen habe, dort sind Freundschaften entstanden. Im Sommer 2016 werde ich auch wieder für drei Wochen im Land sein. Wie haben Sie Ihre Freizeit gestaltet? Ein typischer Versuchsaufbau für eine Fermentation.

Wo haben Sie in Tallinn gewohnt? Ich war gemeinsam mit meinem Kommilitonen im Akademischen Hostel untergebracht – übrigens eine ErasmusEinrichtung, so dass ich schnell zu vielen Studenten aus aller Welt Kontakt bekam, die in der gleichen Situation wie ich waren. Von dort waren es auch nur ein paar Gehminuten zum Arbeitsplatz. Tallinn war für mich ohnehin ein Ort der kurzen Wege – zum Stadtkern waren es vielleicht fünf Minuten mit dem Bus, in den Wald waren es kaum mehr als zehn. Die unberührte Natur mit Wald und Seen in unmittelbarer Stadtnähe hat mich sehr beeindruckt. Wie haben Sie denn den estnischen Alltag erlebt? Zunächst einmal war ich überrascht, wie unbegründet meine ursprüngliche Sorge war – ich hatte gelesen, dass die Esten eher distanziert seien. Schon die ersten

Neben der bereits erwähnten Natur, die natürlich zum Wandern, Schwimmen oder zum Ski-Langlauf animiert, gibt es erstaunlich viele Museen in Estland. In der Universitätsstadt Tartu etwa haben wir ein Museum besucht, das sich mit der Geschichte der Universität beschäftigt, das hat mich sehr beeindruckt. Außerdem waren wir auch ein paar Tage in Helsinki, dort ist man mit der Fähre in gut zwei Stunden. Während des Wintersemesters werde ich aber nie mehr im See baden gehen, das hat mir eine echt üble Erkältung beschert, das sind wir nicht gewohnt. Was ist Ihnen noch aufgefallen? Der technische Fortschritt. Jeder Este – gleich welchen Alters - hat ein Smartphone. Es gibt überall freies W-LAN, sogar im Wald. Der freie Internetzugang für jedermann ist sogar gesetzlich vorgeschrieben. Viele Menschen in Estland sprechen Deutsch. Da gab es

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lustige Erlebnisse – mancher Kollege spricht sehr gut Deutsch, hat sich aber erst bei der Abschlussveranstaltung getraut, das auch zuzugeben. Einmal waren wir auch schon ziemlich verzweifelt, weil wir in einem kleinen Supermarkt Busfahrkarten kaufen wollten, aber mit Englisch nichts zu machen war. Als die Verkäuferin meinen Kommilitonen und mich Deutsch sprechen hörte, war das Problem gleich gelöst – das hat sie gut beherrscht.

Eine Bar nach dem Geschmack eines Chemikers.

Fliegen wir nun doch mal kurz über den großen Teich und kommen zu Ihrem zweiten Praktikum, das Sie im Rahmen Ihres Masterstudiums Bioand Pharmaceutical Analysis gemacht haben. Wie sind Sie an die Stelle in Kanada gekommen? Die Idee wurde halb aus einem Spaß geboren – ich fragte zwei Kollegen, ob wir nicht die Masterarbeit zusammen machen möchten. Mit dem Vorschlag sind wir dann auf Herrn Knepper zugegangen – keine 15 Minuten später lag uns eine E-Mail vor, ob wir nicht gemeinsam nach Kanada gehen wollen. Da haben wir nicht lange nachgedacht! Drei Monate später saßen wir im Flugzeug.

Sie waren dort am Genome BC Proteine Centre der University of Victoria. Wie ist es Ihnen dort ergangen? Die hier bearbeitete Aufgabenstellung war um Längen anspruchsvoller als in Tallinn, aber es handelte sich ja auch um eine Masterarbeit. Ich untersuchte ein Protein mit Bezug zu Krebs, welches in nahezu jeder Tumorart vorkommt und im Zusammenhang mit der Ausschleusung nahezu aller Medikamente steht. Ich sollte ein massenspektrometrisches Essay entwickeln, mit dem man die Aufkommenswahrscheinlichkeit des Proteins untersuchen kann. Außerdem ging es darum, eine möglicherweise erhöhte Resistenz gegenüber Medikamenten festzustellen. Das Problem ist nämlich, dass dieses Protein auf der einen Seite den Körper vor Vergiftung schützt, auf der anderen Seite aber Medikamente aus der Zelle herausschleust und damit vom ursprünglich vorgesehenen Wirkungsort entfernt. Wenn Sie das mit Estland vergleichen – wie ist es Ihnen auf Vancouver Island menschlich ergangen? Im Alltag sind die Kanadier – solange man sie nicht näher kennt - eher oberflächlich. Es fragt zwar jeder, wie es einem geht und was der Beruf so macht, die Antwort ist aber eigentlich vollkommen uninteressant. Ich habe schnell gemerkt, dass das nur Floskeln sind, die Resultat einer anerzogenen Höflichkeit sind. Das ändert natürlich nichts daran, dass Kanadier ein sehr angenehmes Maß an Freundlichkeit und Höflichkeit besitzen – im Kontrast zu den Esten fühlen sich diese allerdings nicht so herzlich an. Wenn die Bekanntschaft enger wird, ist Tiefgang

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aber absolut möglich. Mit den Kollegen am Institut war das Verhältnis wunderbar. Die Dame, bei der wir drei wohnten, entwickelte sich sogar zur „Ersatzoma“ und mit den Nachbarn haben wir quasi jedes Wochenende ein Grillfest gemacht. Eine tolle Abschiedsparty gab es auch hier, 30, 40 Gäste, ein extra geschmücktes Haus, zwei Künstlerinnen mit Gitarre und Harfe – und nicht zuletzt eine Torte mit beinahe unfallfreiem deutschen Schriftzug. Ein Abend, an den wir uns noch lange erinnern werden. Unsere „Ersatzoma“ kommt übrigens diesen Herbst zu Besuch nach Deutschland.

gefreut, die Straße war abgesperrt, es gab Stände. Bei näherem Hinsehen haben wir aber festgestellt, dass es sich um ein Marihuana-Fest handelte. Der Verkauf war ganz offen und die Polizisten hatten Ihren Spaß mit den vielen „Verrückten“. Für uns Deutsche war es eher befremdlich.

False Creek in Vancouver, BC.

Vancouver Harbour mit Blick auf North Vancouver, BC.

Wo hat man Sie treffen können, wenn Sie gerade nicht am Institut waren?

Was nehmen Sie aus Ihren Erfahrungen in den beiden Ländern für Ihre weitere Entwicklung mit?

Wir haben viele Ausflüge gemacht, die Landschaft ist wirklich faszinierend. Sehr beeindruckt hat mich das Whalewatching die Orcas kamen hier sehr nahe ans Boot heran. Wenn man in British Columbia ist, sollte man natürlich auch unbedingt Vancouver besuchen. Wir haben dort fünf Tage verbracht. Ein lustiges Erlebnis hatten wir bei einem Fest – wir hatten uns aus der Ferne schon auf einen Ostermarkt

Wie beurteilen Sie die Vorbereitung auf die Praxis durch Ihr jeweiliges Studium? Ich habe mich sehr gut vorbereitet gefühlt. Ich konnte nach kurzer Einweisung jeweils ab dem 2. Tag eigenständig meiner Tätigkeit nachgehen.

Insgesamt sind die Menschen sowohl in Estland als auch in Kanada offener und freundlicher als in Deutschland. In beiden Ländern ist mir auch die große Hilfsbereitschaft aufgefallen – wobei ich bezüglich Kanada einschränkend sagen muss: Voraussetzung ist, dass man sich besser kennt. Wobei die allgemeine Hilfsbereitschaft in Kanada weit über der

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in Deutschland liegt! Ich versuche, diese universelle Hilfsbereitschaft zu adaptieren und auch hier in meinem Alltag anzuwenden. Im Übrigen prägen die Auslandsaufenthalte ungemein und ich habe eine ganz neue Einstellung zu internationalen Partnern bekommen. Insofern kann ich jedem einen Auslandsaufenthalt nur sehr empfehlen, auch wenn es eine Herausforderung ist. Wie geht es nun für Sie weiter?

Der „Versunkene Garten“ in den Butchart Gardens, Victoria, BC.

Aktuell sitze ich an meiner Doktorarbeit, die mich auch noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Außerdem betreue ich Studierende im Bioanalytik-, Biochemie- und Masterpraktikum. Nicht zuletzt bin ich auch für die Koordination der Auslandsaufenthalte zuständig. Die Dozententätigkeit macht mir sehr viel Spaß.

(Das Gespräch führte Alexander Pradka, Teamleiter Marketing & PR an der Hochschule Fresenius gem. GmbH, Idstein)

Könnten Sie sich vorstellen, auch einmal im Ausland tätig zu sein? Momentan ist mein Plan, in Deutschland zu bleiben – aber man weiß nie, was kommt.

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