VIII. Wenn die Testsprache nicht der Muttersprache entspricht

VIII. Wenn die Testsprache nicht der Muttersprache entspricht ... Claudia Reiter Bitte zitieren als: Reiter, C. (2002). Wenn die Testsprache nicht der...
1 downloads 0 Views 48KB Size
VIII. Wenn die Testsprache nicht der Muttersprache entspricht ... Claudia Reiter Bitte zitieren als: Reiter, C. (2002). Wenn die Testsprache nicht der Muttersprache entspricht... In C. Reiter & G. Haider (Hrsg.), PISA 2000 - Lernen für das Leben. Österreichische Perspektiven des internationalen Vergleichs (S. 61-68). Innsbruck: StudienVerlag. „Ist Österreich beim Vergleich von Lesemittelwerten nicht benachteiligt, weil es hier so viele Immigranten bzw. Personen gibt, die zuhause nicht deutsch sprechen?” Diese Frage taucht bei Diskussionen über die PISA-Ergebnisse regelmäßig auf. Der vorliegende Abschnitt vergleicht das Ausmaß dieses Problems in den verschiedenen PISA-Teilnehmerländern. Zu diesem Zweck werden einerseits die Anteile an anderssprachigen Personen und Immigranten der einzelnen Länder gegenübergestellt; andererseits wird die Lese-Kompetenz zwischen den Sprachgruppen in den einzelnen Ländern sowie zwischen Gruppen mit und ohne Migrationshintergrund verglichen. Ein Thema, das in den Diskussionen über die Ergebnisse der PISA-Studie, vor allem bei den Mittelwertvergleichen der Länder, immer wieder zur Sprache kommt, ist die Tatsache, dass in den einzelnen Teilnehmerländern unterschiedliche Anteile der Population die Sprache, in der sie getestet wurden, nicht als Muttersprache haben. Das tritt zum einen bei Minderheiten in einem Land auf 1, zum anderen betrifft dies Immigranten. Der vorliegende Abschnitt widmet sich aus diesem Grund der Charakterisierung jener Personengruppen in den PISA-Teilnehmerländern. Als Ausgangspunkt wird gezeigt, wie groß die Anteile der Personen in den einzelnen Ländern sind, die angeben zuhause meistens eine andere Sprache zu sprechen als die des Tests. Im Anschluss wird analysiert, wie sich die Mittelwerte im Bereich Lese-Kompetenz der Personen, die zuhause meist die Testsprache und jenen, die zuhause normalerweise eine andere Sprache sprechen, voneinander unterscheiden. Eine weitere Fragestellung ist die nach dem Anteil des sozialen Status an den beobachteten Unterschieden in der Lese-Kompetenz. Mit diesem Thema eng verbunden ist die Herkunft der Schüler/innen. Durch die bei PISA erhobenen Daten kann zwischen zwei Gruppen von Immigranten unterschieden werden: bei den einen sind sowohl die Eltern als auch die Kinder - also die bei PISA getesteten Jugendlichen eingewandert, bei den anderen sind zwar die Eltern Immigranten, die Kinder wurden jedoch schon im Testland geboren. Auch für diese Gruppen werden die Mittelwerte im Bereich Lese-Kompetenz verglichen und als Abschluss zusätzlich gezeigt, wie sich Schüler/innen, die den beiden Migrationsgruppen zugeordnet werden und Schüler/innen des Testlands in der Einschätzung ihres persönlichen Wohlbefindens in der Schule voneinander unterscheiden. Schüler/innen, deren Muttersprache nicht der Testsprache entspricht Im PISA-Schülerfragebogen wurde an sich nicht die Muttersprache der Schüler/innen erhoben, sondern jene Sprache, die im Elternhaus der Schüler/innen am häufigsten gesprochen wird. In den meisten Fällen entspricht diese der Muttersprache, weshalb der sprachlichen Einfachheit halber in der Folge manchmal von der Muttersprache gesprochen wird, auch wenn dies bei Einzelfällen nicht ganz korrekt ist. Die Antwortalternativen wurden von jedem Land so festgelegt, dass sie in die folgenden vier Kategorien rekodierbar sind. Die zuhause am häufigsten gesprochene Sprache ist...

• • • •

die Sprache des PISA-Tests; ein nationaler Dialekt; eine andere offizielle Sprache; eine andere Sprache (keine offizielle Landessprache).

Wie groß der Einfluss der Personen in der Stichprobe, die zuhause eine andere Sprache als die Testsprache sprechen, auf den Mittelwert eines Landes ist, hängt von zwei Faktoren ab: der Größe dieser Gruppe und der Größe der Abweichungen ihrer Leseleistungen von denen der Schüler/innen,

die als Muttersprache die Testsprache haben. Wie groß die Anteile an Personen in den einzelnen Ländern sind, die zuhause normalerweise nicht die Testsprache sprechen, zeigt Abbildung 1. Als potentielles Problem für den Erwerb von Fähigkeiten im Bereich der Lese-Kompetenz muss angesehen werden, wenn zuhause (zumindest meistens) eine andere Sprache gesprochen wird als in der Schule, nachdem die Testsprache bei PISA der Unterrichtssprache entspricht. Bezogen auf die Lese-Kompetenz tritt dieses Problem auch dann auf, wenn diese andere Sprache eine weitere offizielle Landessprache ist, die nicht der Testsprache entspricht. Die Anteile an Schüler/innen, die zuhause meist nicht die Testsprache, sondern eine andere offizielle Sprache sprechen, sind in der Abbildung durch orange Balken repräsentiert. Der Anteil an Jugendlichen, die eine andere Sprache sprechen, die keine offizielle Landessprache ist, ist in der Grafik in Gelb dargestellt. Abbildung 1 zeigt, dass Luxemburg und Liechtenstein mit über einem Viertel extrem große Anteile an Personen aufweisen, die zuhause normalerweise eine andere Sprache als die Sprache des Tests sprechen, wobei in Luxemburg der Anteil jener, die eine andere offizielle Sprache sprechen, etwas größer ist. Ebenfalls hohe Anteile finden sich in der Schweiz, Australien, Spanien und Neuseeland. Und nur in Spanien sind dies zu großen Teilen Personen, die eine offizielle Landessprache sprechen.

Abbildung 1: PISA 2000 - Anteile an Schüler/innen, deren Muttersprache nicht der Testsprache entspricht (Download als PDF 11 KB) In vielen Ländern liegen die Anteile an Personen mit einer anderen Muttersprache als der Testsprache zwischen 4 und 8%. Darunter befinden sich auch Österreich und Deutschland. Kaum Schüler/innen mit einer anderen Muttersprache finden sich in Mexiko, Japan, Polen, Brasilien, Tschechien und Italien. Lettland und Finnland fallen dadurch auf, dass ihre (jeweils mittelgroßen) Anteile an anderssprachigen Schüler/innen ganz oder zu sehr großen Teilen aus Personen bestehen, die eine andere offizielle Sprache sprechen (Russisch bzw. Schwedisch). Oben wurde ein zweiter Faktor erwähnt, der den Einfluss der anderssprachigen Population eines Landes auf den Lese-Mittelwert bestimmt: dies ist die Größe des Unterschieds zwischen den Leseleistungen von Schüler/innen mit der Testsprache als Muttersprache und Jugendlichen, die zuhause meist eine andere Sprache sprechen. Abbildung 2 zeigt die Mittelwertunterschiede im Bereich Lese-Kompetenz für Schüler/innen, deren Muttersprache der Testsprache entspricht, in Blau und für Jugendliche, deren Muttersprache von der Testsprache abweicht, in Orange. Die weißen horizontalen Linien repräsentieren hierbei jeweils das arithmetische Mittel einer Gruppe, die farbigen Boxen zeigen das Konfidenzintervall des Mittelwerts (jenes Intervall, in dem der Mittelwert der Population mit 95-prozentiger Sicherheit liegt). Personen, die eine andere Sprache als die Testsprache sprechen und Schüler/innen, die eine andere offizielle Sprache sprechen, wurden für die Zwecke von Abbildung 2 zusammengefasst. Eine Antwortmöglichkeit waren auch nationale Dialekte. Weil es sich bei diesen in den einzelnen Ländern um sehr unterschiedliche Phänomene handelt, die der Testsprache mehr oder weniger ähnlich sind, wurden Schüler/innen, die angeben,

zuhause einen Dialekt zu sprechen (etwa Schweitzerdeutsch in der deutschsprachigen Schweiz), hier nicht berücksichtigt.

Abbildung 2: PISA 2000 - Lese-Kompetenz nach zuhause gesprochener Sprache (Download als PDF 16 KB) Mittelwerte in Lese-Kompetenz werden nur für jene Länder berichtet, in denen der Anteil an anderssprachigen Personen mindestens 2% ausmacht. Für Irland und alle Länder, die in Abbildung 1 hinter Irland gereiht sind, werden demnach hier keine Mittelwerte berichtet. Es fällt auf, dass für die Gruppe der Personen, die zuhause normalerweise eine andere Sprache als die Sprache des Tests sprechen, die Konfidenzintervalle teilweise sehr groß sind. Das liegt einerseits daran, dass es sich hier oft um sehr kleine Gruppen handelt, was sich auf die Genauigkeit der Schätzung auswirkt. Zum anderen muss man davon ausgehen, dass die Streuung innerhalb dieser Gruppe in einzelnen Ländern sehr groß ist, es sich also um relativ heterogene Gruppen handelt. Die größten Differenzen zwischen Schüler/innen, die auch außerhalb der Schule normalerweise die Testsprache sprechen und anderssprachigen Jugendlichen, finden sich in Deutschland (mit 114 Punkten Differenz, das ist etwas mehr als eine Standardabweichung der Skala), Belgien und der Schweiz. Österreich liegt in der Reihung nach der Größe der Unterschiede mit 81 Punkten Differenz hinter Luxemburg an fünfter Stelle (81 Punkte entsprechen in etwa dem Abstand zwischen zwei Proficiency Levels). Luxemburg und die Schweiz gehören zu den Ländern mit sehr großen Anteilen an Personen, die normalerweise eine andere Sprache als die Testsprache sprechen. Die anderen drei Länder weisen eher mittelgroße Anteile auf. Keine signifikanten Unterschiede gibt es in Spanien. Hier besteht die Gruppe der anderssprachigen Personen aber zu großen Teilen aus Personen, die eine zweite offizielle Landessprache sprechen. Sehr kleine Differenzen sind in Lettland, Australien, Russland und Kanada zu beobachten. Vergleicht man länderweise die Mittelwerte der Personen, die zuhause normalerweise die Sprache des Tests sprechen, zeigt sich, dass dies zu keinen drastischen Verschiebungen bei den Mittelwertvergleichen im Bereich Lese-Kompetenz führt. Insgesamt rücken die Länder etwas näher zusammen: während zwischen dem besten und schlechtesten hier angeführten Land (Finnland und Luxemburg) etwa 105 Scorepunkte auf der PISA-Skala liegen, teilen die finnischen und lettischen Schüler/innen, die die jeweilige Landessprache sprechen, nur 87 Scorepunkte (Finnland und Lettland weisen den höchsten bzw. niedrigsten Lese-Mittelwert auf, wenn die Kompetenz der anderssprachigen Personen nicht berücksichtigt wird - siehe Abbildung 2). Die USA und die Schweiz würden bei Ausschluss aller anderssprachigen Schüler/innen einige Plätze gut machen. Luxemburg würde sich von dem abgeschlagenen drittletzten Platz (Mexiko und Brasilien wurden in Abbildung 2 auf Grund der sehr geringen Anteile an Schüler/innen, die normalerweise nicht die Testsprache sprechen, nicht berücksichtigt) in die Gruppe der Länder, die relativ eng beeinander unterhalb des OECD-Mittelwerts liegen und die Plätze 21 bis etwa 27 in der internationalen Reihung einnehmen, einreihen. Zu diesem Vergleich muss jedoch angemerkt werden, dass die Effektivität eines Bildungssystems nicht allein daran gemessen werden kann, wie die „einfachen” Schüler/innen, jene die

normalerweise auch außerhalb der Schule die Testsprache sprechen, abschneiden. Zur Zielpopulation eines Schulsystems gehören auch jene, die - aus verschiedenen Gründen außerhalb der Schule nicht die Unterrichtssprache sprechen. Wichtig scheint demnach in erster Linie, wie gut ein Land mit so einem Sprachproblem umzugehen im Stande ist. Hier stechen vor allem Kanada und Australien mit relativ großen Anteilen an anderssprachigen Schüler/innen und gleichzeitig verhältnismäßig kleinen Differenzen in der Lese-Kompetenz ins Auge. Nun sind diese Gruppen der Personen, die zu Hause eine andere Sprache als die Testsprache sprechen, in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich zusammengesetzt. Dies hängt damit zusammen, dass es sich hierbei um Minderheiten oder Immigranten handeln kann, und wenn es Immigranten sind, welche Beweggründe diese für die Einwanderung hatten, wie ihr Bildungsniveau ist, woher sie kommen, etc. Ein Faktor, der in manchen Ländern beträchtlichen Einfluss auf die Lese-Kompetenz hat, ist der sozioökonomische Status der Eltern. In einigen Ländern unterscheiden sich die Immigranten in Bezug auf diesen nennenswert von der Population des Landes, in anderen ist der sozioökonomische Status der Einwanderer eher hoch. Abbildung 3 zeigt, wie groß die Unterschiede in der Lese-Kompetenz zwischen Schüler/innen, die zuhause meist die Testsprache sprechen, und anderssprachigen Schüler/innen sind. Die absoluten Differenzen (in Scorepunkten) so wie sie auch aus Abbildung 2 hervorgehen, sind in Orange abgebildet. Die blauen Balken repräsentieren den Mittelwert bei kontrolliertem sozioökonomischen Status (SES). Dies ist die Differenz, die man beobachten würde, wenn der sozioökonomische Status in beiden Sprachgruppen gleich wäre (also die Differenz zwischen dem Erwartungswert für Lese-Kompetenz der beiden Gruppen, wenn sich diese aus Personen mit gleichem mittleren SES zusammensetzten).

Abbildung 3: PISA 2000 - Absolute und durch SES bereinigte Differenzen in der Lese-Kompetenz (Download als PDF 12 KB) In Frankreich, Deutschland, Belgien, Luxemburg, den USA und auch Großbritannien findet man große Unterschiede zwischen den absoluten Differenzen und jenen bei kontrolliertem sozioökonomischen Status. Das deutet darauf hin, dass nicht nur die andere Sprache sondern vor allem auch soziale Schlechterstellung der Familien die Leistungsunterschiede bedingt. Weniger stark, aber dennoch deutlich erkennbar ist dieser Effekt in Österreich. Nur mehr in sehr geringem Ausmaß findet man diesen Effekt in Neuseeland, Griechenland, Kanada, Australien und Lettland. In Spanien und Finnland zeigt sich genau das Gegenteil, nämlich eine Vergrößerung der Differenzen bei Konstanthalten des sozioökonomischen Status. Hier handelt es sich jeweils um Minderheiten, deren Sprache eine offizielle ist, die offensichtlich sozial nicht schlechter gestellt sind als der Rest der Bevölkerung.

Lese-Kompetenz und Migrationshintergrund Nun macht es natürlich einen Unterschied, ob Schüler/innen zuhause eine andere Sprache als die Testsprache sprechen, weil sie aus Familien mit Migrationshintergrund stammen oder ob sie - und vielleicht auch schon ihre Eltern - im Land des Tests geboren und aufgewachsen sind. Abbildung 4

zeigt, wie groß die Anteile an Schüler/innen sind, die aus Familien mit Migrationshintergrund stammen. Unterschieden wird zwischen zwei Gruppen von Schüler/innen mit Migrationshintergrund:

• •

jenen, die selbst eingewandert sind (repräsentiert durch grüne Balken) und Schüler/innen, deren Eltern eingewandert sind, die aber selbst schon im Land des Tests geboren wurden (repräsentiert durch blaue Balken).

Schüler/innen, die selbst im Testland geboren sind, und von denen zumindest ein Elternteil ebenfalls im Testland geboren wurde, bilden eine dritte Gruppe, die in Abbildung 4 implizit als Differenz auf 100% auftritt. Als zusätzliche Information sind die Anteile jener Schüler/innen, die eine andere Sprache sprechen als sonst im Land üblich, jeweils durch einen dunkleren Farbton gekennzeichnet (dunkelblau bzw. dunkelgrün). Hier wurden andere offizielle Sprachen und Dialekte zur Landessprache gezählt.

Abbildung 4: PISA 2000 - Migrationshintergrund und zuhause gesprochene Sprache (Download als PDF 16 KB) Luxemburg führt auch diese Auflistung wie jene nach Sprache an. Ebenfalls sehr große Anteile an Immigranten weisen Lettland, Australien, die Schweiz, Liechtenstein, Kanada und Neuseeland auf. Mittelgroße Anteile an Immigranten finden sich zum Beispiel in Deutschland, den USA, aber auch in Österreich. Besonders wenig Immigranten gibt es in Japan, Polen und Brasilien. In Dänemark, Österreich, Deutschland und Schweden sprechen sehr große Anteile (bis zu 80%) der Schüler/innen aus Familien mit Migrationshintergrund - auch jene, die selbst schon im Testland geboren wurden - zuhause normalerweise eine andere Sprache als die Unterrichtssprache. Zum Beispiel in Kanada und Neuseeland zeigt sich, dass die Anteile an anderssprachigen Personen unter den Schüler/innen aus Familien mit Migrationshintergrund, die selbst schon im Testland geboren wurden, wesentlich geringer sind als bei Schüler/innen, die selbst eingewandert sind. Das ist etwa in Österreich, Deutschland, Schweden und Dänemark nicht in dieser Form zu beobachten. Hier sind die Anteile an anderssprachigen Personen in beiden Migrationsgruppen etwa gleich groß.

Abbildung 5 zeigt, wie sich diese drei Gruppen, die beiden Gruppen mit Migrationshintergrund und Schüler/innen des Testlands in Bezug auf ihre Lese-Kompetenz unterscheiden. Die weißen Linien zeigen den für die Gruppen berechneten Mittelwert, die farbigen Boxen stellen das Konfidenzintervall der Mittelwerte dar. Blau repräsentiert wie in Abbildung 4 die Schüler/innen aus Familien mit Migrationshintergrund, die selbst im Testland geboren wurden; in Grün sind die Werte für die selbst eingewanderten Jugendlichen dargestellt; die orangen Boxen repräsentieren die Schüler/innen des Testlands (Mittelwerte werden nur für jene Gruppen berichtet, die zumindest 2% der jeweiligen Landesstichprobe ausmachen).

Abbildung 5: PISA 2000 - Lese-Kompetenz nach Migrationshintergrund (Download als PDF KB)

19

Erwartet werden kann, dass die Mittelwerte im Bereich der Lese-Kompetenz zwischen Schüler/innen, die im Lauf ihres Lebens in das Testland eingewandert sind, voneinander abweichen. Schüler/innen, die selbst im Testland geboren sind, jedoch im Ausland geborene Eltern haben, haben eigentlich die gleiche Schullaufbahn hinter sich wie Schüler/innen des Testlands und sie sind (zumindest außerfamiliär) im gleichen sprachlichen Umfeld aufgewachsen. Dementsprechend sollte man auch ähnlich gute Leistungen erwarten können. Abbildung 5 zeigt, dass in Luxemburg, Mexiko, Österreich und der Schweiz besonders große Unterschiede zwischen den immigrierten Schüler/innen und den Jugendlichen des Testlands bestehen. Keine statistisch signifikanten Unterschiede finden sich in Russland, Lettland und Australien. Entgegen der Erwartung, dass sich Schüler/innen aus Familien mit Migrationshintergrund, die selbst schon im Testland geboren sind, weniger stark von den Schüler/innen des Testlands unterscheiden, als Jugendliche, die selbst eingewandert sind, zeigen sich die Ergebnisse in Österreich, Belgien, Dänemark, Deutschland, Liechtenstein und Luxemburg: Hier weichen die Mittelwerte der immigrierten Schüler/innen sowie jene der Schüler/innen mit im Ausland geborenen Eltern etwa gleich weit vom Mittelwert der Schüler/innen des Testlands ab. Mit anderen Worten: in diesen Ländern weisen die Schüler/innen aus Familien mit Migrationshintergrund, die selbst schon im Testland geboren wurden, durchschnittlich kaum bessere Leseleistungen auf als die Schüler/innen, die selbst eingewandert sind. Erfolgreiche Integration in der Schule zeigt sich aber nicht nur durch keine - oder zumindest geringe - Unterschiede in der Leistung, sondern auch daran, wie wohl sich die Schüler/innen in ihrer Lernumgebung fühlen. Ein grober Indikator dafür kann aus einigen Items des PISASchülerfragebogens gebildet werden. Hier wird das persönliche Wohlbefinden in der Schule auf der Basis von Selbstaussagen der Schüler/innen zu verschiedenen Statements wie zum Beispiel „Meine Schule ist ein Ort, an dem ich mich einsam fühle” oder „Meine Schule ist ein Ort, an dem ich leicht Freunde finde” eingestuft. Abbildung 6 stellt das mittlere Wohlbefinden der Schüler/innen aus den beiden Migrationsgruppen und den Schüler/innen des Testlands gegenüber. Orange Karos stehen für das mittlere Wohlbefinden der Schüler/innen des Testlands, blaue Quadrate repräsentieren das Befinden der im Testland geborenen Schüler/innen mit im Ausland geborenen Eltern; das Wohlbefinden der im Ausland geborenen Schüler/innen ist durch grüne Kreise dargestellt. Extreme Unterschiede im selbstberichteten Befinden in der Schule sind in Luxemburg, den USA und Mexiko festzustellen. In einigen Ländern fühlen sich die immigrierten Schüler/innen wohler als jene mit ausländischen Eltern, die selbst im Testland geboren und aufgewachsen sind, wie zum Beispiel in Österreich, Griechenland und Dänemark. In anderen Ländern hingegen stufen die Schüler/innen aus Familien mit Migrationshintergrund, die selbst im Testland geboren sind, ihr Befinden sogar besser ein als die Schüler/innen des Testlands, z. B. in Schweden, Belgien oder Kanada. In der Schweiz, Deutschland und Neuseeland sind zwar relativ große Differenzen im Wohlbefinden zwischen den Schüler/innen des Testlands und den eingewanderten Schüler/innen zu beobachten. Im Testland geborene Schüler/innen, deren Eltern im Ausland geboren sind, zeigen im Befinden aber keine nennenswerten Abweichungen von den Werten der Schüler/innen des Testlands.

Abbildung 6: PISA 2000 - Vergleich des Befindens in der Schule zwischen Schüler/innen mit unterschiedlichem Migrationshintergrund (Download als PDF 13 KB) Zusammenfassung Um einen häufigen Diskussionspunkt in Bezug auf die Ergebnisse der PISA-Ländervergleiche im Bereich Lese-Kompetenz zu beleuchten, zeigt dieser Abschnitt die Anteile an Personen mit einer Muttersprache, die nicht der Testsprache entspricht, sowie von zwei Gruppen von Schüler/innen aus immigrierten Familien. Vor allem Luxemburg, Liechtenstein und Australien weisen hohe Anteile an anderssprachigen Schüler/innen und auch viele Immigranten auf. Lettland gehört ebenfalls zu den Ländern mit den meisten Immigranten; diese sprechen aber zu großen Teilen die Testsprache oder eine andere offizielle Landessprache. Weiters werden die Leseleistungen zwischen den Sprach- bzw. Migrationsgruppen verglichen. Besonders große Unterschiede zwischen den Sprachgruppen findet man in Deutschland, Belgien und der Schweiz, aber auch in Österreich. Bei einigen Ländern, z. B. den meisten deutschsprachigen Ländern, sind diese aber teilweise auf soziale Schlechterstellung der anderssprachigen Bevölkerung zurückzuführen. In den angeführten Ländern finden sich diese großen Unterschiede in der Leseleistung auch im Vergleich der Immigranten mit den Schüler/innen des Testlands wieder. In Kanada und Australien finden sich keine nennenswerten Unterschiede zwischen den Leseleistungen der verschiedenen Migrationsgruppen. Zusammenfassend kann man sagen, dass das Problem der Beeinflussung des Lese-Mittelwerts durch große Anteile von anderssprachigen Personen bzw. Immigranten kein österreichisches ist, sondern in vielen Ländern, in einigen sogar wesentlich massiver auftritt. Angemerkt werden muss auch, dass durch verschieden große Anteile an Immigranten und unterschiedliche Zusammensetzung dieser Population natürlich unterschiedliche Voraussetzungen in den einzelnen Ländern herrschen. Dies trifft aber nicht nur auf das Problemfeld anderssprachiger Personen zu, sondern auch verschiedene andere Bereiche. Die unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen in den einzelnen Teilnehmerländern zeigen einfach die Situation, mit der die Länder zurecht kommen müssen. Es geht demnach wohl weniger um die Anzahl der Immigranten, sondern vielmehr darum, ob eine Gesellschaft, insbesonders ein Schulsystem adäquat mit der vorliegenden Situation umgehen kann. Wenn in einem Land mehr als 5% der Schülerpopulation des Zieljahrgangs in einer anderen Sprache unterrichtet werden, muss der PISA-Test für diese Schüler/innen in ihrer Sprache angeboten werden. 1)