Verschiedene Bindungsmuster

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Abbildung 2 zeigt den Bewegungsspielraum der sicher, unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent gebundenen Kinder in der Fremden Situation in Anlehnung an Ainsworth und Kollegen (1978).

Abbildung 2: Bewegungsspielraum der Kinder mit den unterschiedlichen Bindungsmustern in der Fremden Situation (adaptiert nach Ainsworth et al. 1978; Schölmerich / Lengning 2008, 204; S = Fremde Person und M = Mutter)

Wie bereits oben kurz angerissen werden Unterschiede in der Bindungssicherheit häufig auf das Verhalten der Bezugsperson, insbesondere deren Feinfühligkeit (vgl. hierzu in diesem Kapitel den Abschnitt „Einflussfaktoren auf die Bindungsqualität – Feinfühligkeit“) zurückgeführt. Das Verhalten der Bezugsperson wirkt sich auf die Bindungsrepräsentation der Kinder aus, d. h. beispielsweise darauf, wie verlässlich die Kinder das Verhalten ihrer Bezugsperson abgespeichert haben (siehe in diesem Kapitel den Abschnitt „Internale Arbeitsmodelle“). Bei unsicher-vermeidender Bindung verhält sich die Bezugsperson zurückweisend und ablehnend, wenn Kinder z. B. Unterstützung suchen oder

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Was ist die Bindungstheorie?

negative Emotionen zeigen. Folglich haben die Kinder die Bezugsperson als zurückweisend repräsentiert. Die Bezugsperson von Kindern mit einer sicheren Bindung ist in Situationen, in denen sich das Kind ängstigt oder unsicher fühlt, verfügbar und hilft dem Kind. Sie ist zuverlässig, liebevoll und sensitiv bzw. feinfühlig. Dementsprechend wird sie vom Kind auch als sensitiv / feinfühlig, liebevoll, helfend und verfügbar wahrgenommen und repräsentiert. Bezugspersonen bei unsicher-ambivalenter Bindung verhalten sich in manchen Situationen unterstützend und bieten ihrem Kind Schutz, während sie es in anderen bedeutenden Situationen nicht tun. Das Kind erlebt die Person von daher als unberechenbar und hat sie auch so repräsentiert (vgl. Bowlby 1988; FremmerBombik 2011). Aber nicht nur Unterschiede im Verhalten der Bezugsperson werden mit den unterschiedlichen Bindungsmustern in Zusammenhang gebracht, sondern auch Besonderheiten der Personen mit verschiedenen Bindungsmustern in Bezug auf Beziehungsstrategien, Selbstkonzept, Umgang mit Emotionen und Umgang mit Körperkontakt. Welche Besonderheiten mit welchem Bindungsmuster assoziiert werden, ist Tabelle 3 zu entnehmen (vgl. Lengning 2004). In den 1980er Jahren wurde als Bindungsmuster bzw. als Zusatzkategorie die Desorganisation / Desorientierung (D) mit aufgenommen, da es bei einigen Kindern schwierig war, sie anhand der drei organisierten Bindungsmuster eindeutig zu klassifizieren.

Merksatz Im Zuge der Bindungserfassung bei Kindern mithilfe der Fremden Situation werden drei organisierte sowie ein desorganisiertes Bindungsmuster unterschieden: A – unsicher-vermeidendes Bindungsmuster B – sicheres Bindungsmuster C – unsicher-ambivalentes Bindungsmuster D – desorganisiertes / desorientiertes Bindungsmuster Die Kinder mit einem desorganisierten Bindungsmuster weisen desorganisiertes bzw. desorientiertes Verhalten auf und zeigen kein deutlich definierbares Verhaltensmuster (Bowlby 1988). In der Fremden Situation schreit ein solches Kind z. B. in der Trennungsphase nach der Mutter und schaut zur Tür. Wenn die Mutter dann jedoch zum Kind kommt, wendet es sich still ab. Hier findet sozusagen eine Unterbrechung des organisierten Verhaltens statt, was als „D“-Verhalten bezeich-

ƒƒZeigen vermehrt Bindungsverhalten ƒƒStrategien im Bindungsverhalten sind unklar (vgl. hierzu Verhalten in der Fremden Situation) ƒƒSuchen ständig Aufmerksamkeit der Bindungsperson ƒƒSelbsteinschätzung ist negativ ƒƒSelbstvertrauen ist gering ƒƒDas Bild von sich selbst ist negativ ƒƒEmotionen werden schlecht integriert ƒƒNegative Emotionen werden manchmal verleugnet ƒƒKontakt wird gesucht, aber sie widersetzen sich auch gleichzeitig

ƒƒZeigen ihren Wunsch nach Bindung offen ƒƒSind beziehungsorientiert ƒƒSuchen bei Belastung Unterstützung der Bezugsperson

ƒƒSelbsteinschätzung ist offen und flexibel ƒƒSelbstwertgefühl ist positiv ƒƒAchten sich selbst ƒƒEmotionen können offen kommuniziert werden ƒƒZugang zu eigenen Emotionen ist gut ƒƒKörperkontakt wird gesucht

ƒƒVermeiden Beziehungen ƒƒBrechen Beziehungen ab ƒƒSuchen keine oder kaum Unterstützung bei ihren Bezugspersonen

ƒƒSelbsteinschätzung ist vermeidend perfekt, d. h. eigene Schwächen werden nicht erkannt oder nicht zugegeben

ƒƒUmgang mit Emotionen ist nicht offen ƒƒNegative Emotionen werden verleugnet ƒƒVermeidend

Beziehungs­ strategien

Selbstkonzept

Umgang mit Emotionen

Haltung zu ­Körperkontakt

Unsicher-ambivalent Gebundene (C)

Sicher Gebundene (B)

Unsicher-vermeidend Gebundene (A)

Tabelle 3: Bindungsmuster und Besonderheiten in Bezug auf Beziehungsstrategien und Selbstkonzept sowie Umgang mit Emotionen und Körperkontakt (vgl. Lengning 2004)

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Was ist die Bindungstheorie?

net wird (Main 2011). Einige der Kinder wirken darüber hinaus in der Fremden Situation auch verwirrt bzw. als hätten sie Angst vor der Mutter (Spangler 1999). Kinder, die dieses D-Verhalten zeigen, haben vermutlich häufig Hauptbindungspersonen, deren eigenes Bindungssystem selbst noch aktiviert ist. Dadurch ist es ihnen wahrscheinlich nicht möglich, den Kindern die ausreichende Pflege bzw. Unterstützung zukommen zu lassen. Dies hat zur Folge, dass die Kinder keine eindeutige Bindungsstrategie entwickeln können (Fremmer-Bombik 2011) bzw. dass sie in bindungsrelevanten Stresssituationen keine oder nur mangelhaft adäquate Strategien zur Bewältigung einsetzen können (Wartner et al. 1994). Weiterhin besteht die Vermutung, dass diese Kinder eventuell misshandelt wurden (→ Misshandlung) bzw. dass die Mütter dieser Kinder möglicherweise unter einer psychischen Störung leiden und aus diesem Grund die Kinder nicht so behandeln können, dass diese das mütterliche Verhalten vorhersagen könnten (Bowlby 1988). Von daher haben sie keine klaren Erwartungen bezüglich des Verhaltens der Mutter bzw. Bezugsperson, die in ein Arbeitsmodell integriert werden können (Fremmer-Bombik 2011; vgl. in diesem Kapitel den Abschnitt „Internale Arbeitsmodelle“). Weil das sogenannte desorganisierte Verhalten eine Unterbrechung des organisierten Verhaltens (sicher, unsicher-vermeidend, unsicherambivalent) darstellt, wird heutzutage die D-Kategorie nicht getrennt, sondern als Zusatzkategorie zu den drei traditionellen Bindungsmustern vergeben (Main 2011). Die bisherigen Ausführungen lassen vermuten, dass die sichere Bindung die „beste“ Bindung sei bzw. mit den meisten positiven Aspekten zusammenhängt. Dieser Rückschluss kann jedoch nicht so verallgemeinert gezogen werden. Denn es konnte z. B. gezeigt werden, dass das sichere Bindungsmuster, das häufig in westlichen Kulturen als optimal angesehen wird, nicht in allen Kulturen mit dort positiv angesehenen Merkmalen / Eigenschaften / Verhaltensweisen in Zusammenhang steht. Das heißt, dass in anderen (nicht westlichen) Kulturen bestimmte – mit unsicheren Bindungsmustern assoziierte – Merkmale / Eigenschaften / Verhaltensweisen eher auf kulturelle Erwünschtheit treffen (vgl. z. B. Rothbaum et al. 2000). Als Beispiel kann hier zurückhaltendes Verhalten genannt werden. Weiterhin muss festgehalten werden, dass jedes Bindungsmuster das adaptivste für die jeweilige enge Bezugsperson-Kind-Interaktion ist. So sollte z. B. ein Kind, das immer zurückgewiesen wird, auch seltener Kontakt suchen, da es sonst immer wieder zurückgewiesen werden

Geschlechtsunterschiede

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würde, was erneute schmerzhafte Erfahrungen zur Folge hätte. Hier sind somit Strategien einer unsicher-vermeidenden Bindung sehr sinnvoll (vgl. Kapitel 3). Somit scheinen alle Bindungsqualitäten mit positiven Aspekten in ­Zusammenhang zu stehen. Lediglich die desorganisierte Bindung kann als beginnendes → pathologisches Verhalten gesehen werden (vgl. Kapitel 4).

Prävalenz der Bindungsmuster Zur → Prävalenz der unterschiedlichen Bindungsmuster liegt eine Meta­ analyse von van Ijzendoorn und Kroonenberg (1988) vor, in der 32 Studien daraufhin untersucht wurden, wie häufig die drei organisierten Bindungsmuster, gemessen mithilfe der Fremden Situation, durchschnittlich vorkommen. Im Mittel wurden 65 % der Kinder als sicher klassifiziert, 21 % zeigten eine unsicher-vermeidende Bindung und 14 % waren unsicher-ambivalent gebunden. Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang, dass die Verteilung der einzelnen Bindungsmuster in unterschiedlichen Kulturen schwankt. Für Deutschland fanden z. B. Gloger-Tippelt und Kollegen (2000) bei der Überprüfung zahlreicher Studien eine Verteilung von 44,9 % sicher Gebundenen, 27,7 % unsicher-vermeidend Gebundenen und 6,9 % unsicher-ambivalent Gebundenen sowie 19,9 % Personen mit desorganisierter Bindung im Mittel, wenn das Kriterium Desorganisation berücksichtigt wurde. Da nicht in allen Studien die DKlassifikation ausgewertet wurde, konnten von den anfänglich 15 berücksichtigten Studien nur elf mit in die Analyse aufgenommen werden (N = 593) (Gloger-Tippelt et al. 2000).

Geschlechtsunterschiede Im Rahmen der Bindungstheorie wird nicht davon ausgegangen, dass es Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die Bindungssicherheit oder deren Auswirkungen auf die weitere Entwicklung beispielsweise im sozialen und emotionalen Bereich gibt. Grossmann und Kollegen (2003) konnten z. B. in der Bielefelder Längsschnittstudie ähnlich wie in vielen weiteren Studien keine Geschlechtsdifferenzen (z. B. bezüglich der Bindungsqualität im Kleinkindalter oder auch in der Jugend) feststellen. Obwohl in vereinzelten Studien auch geschlechtsspezifische Befunde ermittelt wurden,