Versammlungen für Freiheit, Gerechtigkeit, ein gutes Leben und gegen Korruption und Bevormundung

»Auf die Plätze!« Versammlungen für Freiheit, Gerechtigkeit, ein gutes Leben und gegen Korruption und Bevormundung. Noch immer werden öffentliche Anli...
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»Auf die Plätze!« Versammlungen für Freiheit, Gerechtigkeit, ein gutes Leben und gegen Korruption und Bevormundung. Noch immer werden öffentliche Anliegen als Protestkundgebungen auf den Straßen und Plätzen unserer Städte artikuliert. Dies geschieht wie immer dann, wenn den offiziell zuständigen Gremien eine Lösung der Probleme nicht länger zugetraut wird, wenn in den Augen der Bevölkerung die Sorge groß ist und nur noch außerparlamentarisch ein Weg geboten scheint, um im Sinne einer Öffentlichkeit diese zu regeln, immer wenn sich Politiker zu weit vom Willen des Volkes entfernen, ergreift dieses seine Möglichkeit zur Versammlung. Versammlungsfreiheit ist nicht von ungefähr ein bedeutendes Grundrecht und in Artikel 8 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland verankert. Eingeschränkt werden kann es nur per Gesetz: »Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.« Also weder durch persönliche noch durch staatliche Willkür.

Demonstranten in Sao Paulo, 21.06.2013

Zuletzt kennen wir die Bilder von Sao Paulo, Brasilien. 50.000 Menschen gehen auf die Straße. Bald danach ergreifen die Proteste Rio de Janeiro und halb Brasilien. Es handelt sich um Proteste, die sich an ein paar Cent Preiserhöhung für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel entzündet haben. Evident, dass dies nur ein initiierender Funke gewesen sein kann, der ein latentes Potential an Unmut entflammt hat. Im Fokus

steht,

wie

dann

auch

rasch

bekannt

wurde,

die

Schieflage

des

Finanzhaushaltes des Staates Brasilia, der sich dennoch lieber bei der Inszenierung der Fußballweltmeisterschaft verausgabt. Der Auslöser war eine Bagatelle, aber es geht um viel, wenn auf den Straßen und den Metropolen demonstriert wird.

Ausgehend von Kairo, Ägypten 2011 konnte man verfolgen, wie sich auf den Plätzen der Städte rund um den Globus der Zorn der Bevölkerung entlud: »Kairo inspirierte Madrid, Madrid inspirierte New York. Alle zusammen inspirierten Istanbul. Und nun São Paulo«1, kommentiert Sebastian Schoepp in der Münchner SZ. Als islamischer Frühling bezeichnet man die den gesamten Orient erfassten Unruhen. Dabei geht um Forderungen nach Freiheit und Demokratie in Nordafrika und dem Nahen Osten. Zum symbolträchtigen Ort der Aufstände ist seit 2011 der Tahir-Platz in Kairo geworden.

Autos und Menschen auf dem Tahrir-Platz, dem Zentrum der ägyptischen Revolution © John Moore/Getty Images, Quelle: ZEIT ONLINE 13.02.2011

Protestanten – Puerta del Sol, Madrid, 2011

1

Schoepp, Sebastian, Worin sich die Türkei und Brasilien gleichen, SZ-Online 20.06.2013

In Spanien nennen sie sich die »Indignados« (die Empörten). Sie treten in Madrid, Puerta del Sol im Mai 2011 auf den Plan. Sie protestieren gegen soziale, wirtschaftliche und politischen Missstände. In der »Movimento 15-M« gibt sich eine übergangene Jugend ein Gesicht, die sich um ihre Zukunft betrogen fühlt. Sie stürmen die Innenstadt von Madrid und wollen ausharren, bis man sie wieder anhört, bis

ihnen

der

gebührende

Respekt

von

den

verantwortlichen

Politikern

entgegengebracht wird und ihr Belange wieder dort Berücksichtigung finden wo sie bislang vernachlässigt wurden: In den parlamentarischen Auseinandersetzungen. Noch im selben Jahr versammeln sich die Bürger Griechenlands in ihrer Hauptstadt Athen auf dem Syntagma-Platz (Juli 2011). Die Europäische Banken- und Staatsschuldenkrise ist dafür der Auslöser. Korruption und Börsenspekulationen haben die öffentlichen Kassen geleert. Protest gegen die verhängten Sparkurse der EU treibt die Athener schließlich auf die Straße. Ihre Wut gegen die Korrupten Politiker, die sie jetzt auch noch für ihre eigenen Vergehen bluten lassen wollen, entlädt sich vor dem Parlamentsgebäude in Athen.

Parlamentsgebäude vom Syntagma-Platz

Bevormundung und Entmündigung geben auch in im Zuccotti Park, Lower Manhatten, New York im September 2011 den Hintergrund vor dem sich Bagatellvorwürfe zum Sturm aufbauen. Hier wehrt man sich gegen die Okkupation durch die Märkte. Die sogenannte »Occupy-Wall-Street«-Bewegung formiert sich im Herzen Manhattans gegen keine geringere Bedrohung als die Herrschaft durch die Finanzsysteme. »Occupy-Wall-Street« beginnt mit einem Happening im Zuccotti Park und wird in den darauffolgenden Wochen und Monaten zu einer weltweiten Bewegung.

Juni 2013, die Welt blickt entsetzt auf Istanbul und den Taksim-Platz. Die Bewohner Istanbuls wehren sich gegen eine geplante Bebauung des bei den Einwohnern sehr beliebten und bislang öffentlichen Gezi-Parks. Die große Wut entlädt sich angesichts einer überhandnehmenden, allgemein üblichen Kommerzialisierung des Öffentlichen Raums in ihrer Heimatstadt Istanbul. Nach Einlenken der Regierung werden die Unruhen nicht sogleich beendet. Wieder geht es um mehr. Die Proteste wenden sich direkt gegen das Verhalten der Regierenden. Privatisierung von öffentlichem Raum geht alle an und gehört dennoch zu den alltäglichen, autokratischen Machenschaften einer vorgeblich demokratischen Regierung in der Türkei. Die Menschen lassen sich nicht länger gefallen, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Dazu müssen sie sich zeigen. Sie demonstrieren auf dem Taksim-Platz. In der Kritik steht der autoritäre Regierungsstil Erdoǧans. Der Öffentliche Raum ist ihr notwendiger Schauplatz. Hier muss sich das kritisches Bewusstsein artikulieren, das in den Kanälen des politischen Systems verschleppt und versenkt wurde.

Demonstranten auf dem Taksim-Platz in Istanbul (Archivbild) | © Osman Orsal/Reuters, Quelle: ZEIT ONLINE, Reuters, kmi 03.Juli.2013

Wieso muss man physische Gewalt mobilisieren und Opfer riskieren in einer Zeit der Virtualität und des Internets? Wieso werden im World Wide Web zu Flash-Mobs aufgerufen, die sich dann handfest auf öffentlichen Straßen mobilisieren? Weshalb die Notwendigkeit zur Physis und weshalb belässt man es nicht ausschließlich bei verbal formuliertem Protest? Jeder der Teilnehmenden verfügt mittlerweile über Zugang zu globalen Kommunikationsmöglichkeiten. Sie sind sogar ihr Instrument der Synchronisation und Organisation, um solche Ereignisse stattfinden zu lassen und auch sich gegenseitig zu inspirieren. Verlangt Wut immer nach Physis? Strebt Zorn nach Materialisation? Ist er erst gestillt, wenn er körperlich Befriedigung erfährt? Was ist verschüttet unter unserer autodisziplinären Dünnhäutigkeit? Die Auflösung innerer Konflikte scheint nur über die Abwicklung äußerer Destruktion möglich. Auf den Plätzen unserer Städte, – und wo sonst? – konnte und kann man als »Laie« Aufmerksamkeit generieren. Dafür waren die Räume der Stadt immer ein probates Mittel physischer Artikulation. Präsenz ganz allgemein ist, über die Extremsituationen der Empörung hinaus, ein Merkmal funktionierender Stadtviertel. Die Straßen und Plätz der Städte sind die Urinstitutionen physischer Präsenz und sozialer Interaktion. Das bemerkenswerte, an der »Renaissance« des öffentlichen Raums ist, dass man sich dessen Funktion »entsinnt«, in dem Moment da unsere sonst üblichen Funktionssysteme und ihre Kommunikation zu knirschen beginnen, und ihnen etwas entgleitet. Mit anderen Worten, Demonstration und Anwesenheit treten auf, wenn verbale und argumentative Ignoranz überhand nehmen. Wenn es um substanzielle Belange geht, wie etwa Zorn und Ungerechtigkeit, kehren wir zurück auf unsere Plätze. Dort sind wir wahrnehmbar einfach indem wir uns zeigen, der rudimentärsten Form der Kommunikation, der Anwesenheit. Die Notwendigkeit des Raumes für die Politik ist in ihren Urzeiten der Erstehung zu finden. Als öffentlicher Raum ist er begründet in der sozialen Tatsache der Anteilnahme durch Anwesenheit. Die Nachfolge der urbanen, politischen Räume haben die Parlamentsgebäude angetreten. Aber auf den Straßen wurden die Probleme zuerst verhandelt. Im kollektiven Reflex reformieren sich diese »UrParlamente« immer wieder dann, wenn hinter verschlossenen Türen zu viel geschieht, das am Volk vorbei geht. Hier wurzelt die Demokratie und sie greift eruptiv immer wieder im Falle der Not darauf zurück; als außerparlamentarische Opposition. Daher lässt sich genau beobachten, wo urbane Zerstörung wirklich wirkt. Nämlich dort, wo sie für die Eliminierung physischer Präsenz sorgt. Dazu eine wehmütige Skizze von Michael Thumann aus der ZEIT: »Ein Teehaus in Tarlabasi. Männer hocken mit ihren Gläsern auf dem keine zwei Meter breiten Bürgersteig. Sie schnippen die Kippen in den Rinnstein. Kinder spielen Fußball. Sie schauen auf die Abrissbirnen, die ihr Leben abräumen, ein historisches Viertel der Istanbuler Innenstadt.

Auf

großen

Plakaten

werden

die

Neubauten

mit

Büros

und

Luxuswohnungen angepriesen: weiße Fassaden, vor denen Frauen mit hohen Absätzen und blonden Kindern spazieren. Tarlabasi stand für die Gleichberechtigung in der Vielfalt Istanbuls. Einst war es ein Viertel von Griechen und Armeniern, heute von Kurden und anderen anatolischen Migranten. Kein Haus hat mehr als vier Etagen. Orthodoxe Kirchen stehen neben Moscheen, die armenische Schule neben dem

Nachbarschaftsbordell.

Schwarzmeerdackel.

Das

Die

Wägelchen

Bosporuskatze des

neben

dem

Sesamkringel-Verkäufers

läuft

parkt

selbstbewusst neben dem Mercedes des arrivierten Großhändlers. Keiner ragt zu weit über den anderen hinaus.« 2 Bleiben uns nur mehr

Erinnerungen an den öffentlichen Raum

und

die

Extremsituationen ihn wiederzubeleben? Wie hoch sensibel diese Räume behandelt werden müssen sollte klar sein. Wie kontraproduktiv ihre Überwachung und jede Herrschaft über öffentlichen Raum sein muss, weil sie an der Herrschaftsform der Demokratie sägt, ist evident. Das letzte Wort in Konflikten ist deshalb auch immer dann gesprochen, wenn die Räumung und Militarisierung dieser Räume ansteht. Wenn die Wasserwerfer auffahren ist auch schon das meiste hingegeben, was die Demokratie ausmacht. Verständlich, denn es geht um die »Lufthoheit« des öffentlichen Raumes, und damit um nicht weniger als den »Schmelzkern« der Macht. Man nenne es das Gründungsmotto der Demokratie: »Auf die Plätze!« Jürgen Mick - 03.09.2014

2

Thumann, Michael, Kein Mokka mehr, kein Raki, in: ZEIT-Online v. 22.10.2013